Den schönsten Blick von Warschau hat man von hier oben soll Ernst Bloch gesagt haben, als er auf der Aussichtsplattform des Kulturpalastes stand, weil, fuhr er fort, von hier aus dieser „Palast“ nicht zu sehen ist. Der stalinsche Zuckerbäckerstil, sozialistischer Barock, beleidigte offenbar das Architekturverständnis des Philosophen.
Heute wurde in eben diesem Palast die >>> 53. Internationale Buchmesse eröffnet. Diese Messe war für mich, als wir noch an der Elbe unsere Zelte aufgeschlagen hatten, in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Muss. Es war glaube ich 1977, die Charta 77 in der damaligen CSSR hatte sich wenige Wochen vorher gegründet, als wir uns, ausgerüstet mit Informationen aus Prag, per Schlafwagenzug nach Warschau aufmachten. Kontakte sollten geknüpft werden und wir wollten uns Bücher bei den ausstellenden Westverlagen ansehen und notfalls stehlen, die bei vergangenen Buchmessen in Leipzig uns schon ins Auge stachen. Klauen in Leipzig, unter den Augen der Staatssicherheit, wäre zwar möglich gewesen, aber das Risiko dort auffällig zu werden schien uns wesentlich größer als in Warschau, das schon damals mehr Liberalität verkörperte, was auch einen gewissen polnischen Schlendrian dortiger Sicherheitskräfte geschuldet war. Ein großer Mantel, eine Art langes Cape, wurde vorher erstanden und auf sein Futter nähten wir große Innentaschen, spätere Herbergen für Bücher. Ich war zum ersten Mal in Warschau. Der damals hypermoderne Bahnhof begeisterte mich. Von den Decken rieselte Musik, die >>>Roten Gitarren sangen, als wir den Bau verließen und den Weg zum Kulturpalast suchten. Von Passanten, die wir in Deutsch oder Russisch nach dem Weg fragten, bekamen wir keine Antwort. Nicht, dass man uns nicht verstand schien das Problem, sondern dass wir Deutsch oder Russisch sprachen stieß offenbar auf Ablehnung. Denn erst als wir unsere Frage in Englisch wiederholten bekamen wir die gewünschte Auskunft. Auf der Buchmesse selbst verlockten uns vor allem zwei Bücher zum geistigen Mundraub: Kafkas Tagebuch, erschienen bei Fischer und Leo Navratil „Schizophrenie und Sprache. Zur Pychologie der Dichtung.“ . Den Navratil müssen schon vorherige Besucher gestohlen haben, denn als am zweiten Tag unseres Besuches wir ihn für uns bergen wollten, war er weg. Blieb nur noch Kafka. Kurz vorher hatte ich mir noch Oswald Wieners „die verbesserung von mitteleuropa“, lag bei Rowohlt, in meine weite Innentasche gesteckt. Ihn kannte ich von Rundfunkvorträgen aus dem NDR 2, den ich schlecht und recht, meist rauschend, bei meiner Mutter, die in Westsachsen wohnte, empfangen konnte. NDR 2 war damals, in den sechziger und siebziger Jahren für einen jungen, ausgehungerten Geist ein Fest. Die Sendungen, eine Woche Pound, eine Woche Joyce Ulysses oder eben eine Woche Oswald Wiener, ließ ich mir von einem Freund mitschneiden. Dieter Wellershoff war damals, glaube ich, einer der Redakteure. Zurück zu Kafka. Wir schlenderten betont unauffällig zum Fischerstand. Ein langer Kerl mit Brille und ungewöhnlich lockigen relativ langen Haaren, ca. 40 Jahre alt, fläzte dort auf einem Stuhl , die Beine weit von sich gestreckt und blickte gelangweilt und wohl auch etwas müde in die Besucherlandschaft. Ich nahm die kleine Taschenbuchausgabe in die Hände, blätterte in ihr und wartete bis der Typ durch irgendetwas abgelenkt wurde. Es dauerte. Dann endlich stand er auf, um mit einem Besucher, der sich später als ein weiterer Mitarbeiter des Verlages zu erkennen geben sollte, von uns abgewandt zu plaudern. Kaum aber hatte ich den Kafka im Mantel, klopfte der lange Kerl mir auf die Schultern und meinte, in leichten Leipziger Slang: Das können sie einfacher haben. Von da an begann eine lange und noch heute anhaltende, immer mal wieder von Zeitläufen unterbrochene Bekanntschaft, die freundschaftlich genannt werden kann. Kurzum: Er schenkte uns den Kafka und als ich dann noch nach Trotzkis „Oktoberrevolution“ schielte, schob er mir auch dieses Buch noch in meine Manteltasche. Später, im Westen, half er mir meinen ersten Job zu finden. Und noch später begegneten wir uns auf der Buchmesse in Frankfurt, da war er schon nicht mehr bei Fischer. Das aber ist eine andere Geschichte, die eigentlich auch erzählt gehört.
Meta
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