Sie hatte einen guten Tag, aber war viel mehr bei sich als bei mir, was eigentlich sehr wünschenswert ist: die Menschen sollten mehr bei sich sein. Als ich kam und mich zu ihr setzte, aßen wir Kuchen, tranken Riesling – Sekt, der wie eine französische Sängerin hieß und Kaffee, natürlich mit Kondensmilch, was ich überaus eklig finde. Ich ging dazu über ihn schwarz zu trinken. Aufgekratzt vom recht starken Kaffee und dem Alkohol, begann ich ihr Fragen zu stellen. Sie schweifte sehr weit ab in alte Tage. Hin und wieder erwähnte sie ihre Schwester Moira, die 5 Tage nach meiner Geburt starb. Ich kenne sie nur aus Erzählungen und wäre ihr gerne einmal begegnet, für mich wird sie immer nur eine Fotographie sein. In der Welt meiner Oma ist sie an diesem Morgen erst da gewesen, hat die gelben Rosen, die nun auf dem Tisch standen, gebracht und ist wieder gegangen, weil sie so viel zu erledigen hatte. Erst nach einer Weile bemerkte ich, daß sie nicht von Moira sprach sondern von meinem Onkel, ihrem Sohn, der, nach der Trennung von seiner Frau, wieder zu seiner Mutter gezogen ist. Wie kommt es zu dieser Verwechslung, frage ich mich. Wie kann sie ihren eigenen Sohn für die seit 25 Jahren verstorbene Moira halten? Für einen Augenblick überlegte ich ernsthaft, ob meine Oma nicht ver- rückt ist sondern mein Onkel sich tatsächlich ab und zu auf- draged, um auf Stöckelschuhen durch die Wohnung zu laufen. Einen Augenblick nur.
Als ich sie fragte, wer ihre erste große Liebe gewesen sei, verwechselte sie ihren ersten Mann mit ihrem zweiten, meinem Großvater, der 1991 verstarb. Ihren ersten Mann hatte sie kurz nach dem Krieg verlassen, weil er ein „Arschloch“ gewesen ist, wie sie zu sagen pflegt. Sie hat sich damals etwas Geld besorgt und ist in einer Nacht- und Nebelaktion verschwunden. Sie erzählt mir mittlerweile am Liebsten von früher, wie das oft bei alten Menschen der Fall ist. Ich höre diese Geschichten auch am Liebsten. Sie bildet für mich eine Welt. Da ihr das Zeitungslesen und das konzentrierte fernsehen mittlerweile schwer fällt, bringe ich sie meistens auf den neuesten Stand. Als sie mich fragte, was in der Politik los sei, sagte ich zu ihr: „Omchen, die SPD ist keine Volkspartei mehr. “ Meine Oma ist seit ich denken kann, Mitglied der SPD, noch vor ein paar Jahren war sie sehr aktiv und engagiert, ebenso beim Roten Kreuz. Sie echauffierte sich über die Wählerschaft: Sie seien wankelmütig, untreu und unloyal, man müsse hinter seiner Partei stehen, solange es geht und es ginge noch, ja, es ginge ja noch, die CDU mache weitaus mehr Mist.
Mir hat das gefallen aus ihrem Mund: diese Treue, die nicht verklärt ist sondern sich weigert einem schnelllebigem Politzirkus anzupassen. Ich halte mich für einen flexiblen Menschen, der Flexibilität auch sehr schätzt, aber ich finde, es ist an der Zeit, sich endlich wieder auf einen Standpunkt zu besinnen, von dem aus man ja gerne weiter in alle Richtungen schauen kann, als ständig zwischen zwei Standpunkten hin und her zu springen, je nachdem, wo man sicherer steht.
Als ich sie verabschiedete, weinte sie stumme Tränen, so wie sie es, seit dem Tod meines Großvaters, immer tut, wenn jemand sie verlässt.
Draußen erwartete mich ein sonderbarer Regen, der weich war und kühl auf der Haut. Ich habe mich von ihm vollkommen durchnässen lassen, um jetzt, heute Abend, die Wohltat eines heißen Vollbades sowie das Tragen dicker Strickstrümpfe vollends genießen zu können.
Meta
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