Inhaltsverzeichnis
- 1 Über die Genesis eines Genies
- 1.1 Kafka als Schüler: Weder Stärken noch Schwächen
- 1.2 Zwänge der jüdischen Hochschul-Karrieren
- 1.3 „Nur die Juden glauben noch, das Deutschtum verteidigen zu müssen“
- 1.4 Germanist oder Jurist?
- 1.5 Mit der Note „genügend“ zum Doktor promoviert
- 1.6 Einflussreicher Lehrer: Strafrechtler Hans Gross
- 1.7 Der Rechtsphilosoph Franz Kafka
Über die Genesis eines Genies
von Dr. Janko Ferk
Im 18. Juni 1906 wurde der Dichter Franz Kafka in Prag zum Dr. jur. promoviert. Für die deutschsprachige Literatur undenkbar, dass er statt Rechtswissenschaften Chemie studiert und statt der „Verwandlung“ „Die Umwandlung“ geschrieben hätte.
Als unabdingbarer oder vielmehr unvermeidlicher Bestandteil der Rettung des Abendlands war und ist, abgesehen von sog. Berechtigungs-Prüfungen, die Matura als Initiationsritus für die Aufnahme unter die – bereits vom Leben geprüften – Erwachsenen vorgesehen. Waren um die Wende zum vorigen Jahrhundert leicht übertriebene Geschenke wie Cabrios und dergleichen noch nicht vorgesehen, so blieb man doch gewissermassen im Bereich der Mobilität.

Franz Kafka, beispielsweise, wurde für die am 11. Juli 1901 bestandene Matura von den Eltern mit einer ausgedehnten Reise beschenkt. Der knapp Achtzehnjährige war der jüngste von vierundzwanzig Maturanten seines Jahrgangs. Die schriftliche Reifeprüfung legt er in den Hauptfächern alte Sprachen, Deutsch und Mathematik ab, die mündliche konzentrierte sich auf Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen. Franz K. wäre nicht Franz K., wenn er die Prüfungen nicht wie einen drohenden Gerichtstag erwartet hätte, an dem sich sein Schicksal entscheiden sollte, wie er sich später in seinen Schriften erinnerte.
Kafka als Schüler: Weder Stärken noch Schwächen

Zuvor musste er aber noch einen zeittypisch chauvinistischen Matura-Aufsatz mit der Überschrift „Welche Vorteile erwachsen Österreich aus seiner Weltlage und aus seinen Bodenverhältnissen?“ verfassen. Franz Joseph I., der in Prag am 12. Juni 1901 als Kaiser buchstäblich einritt, hätte bei der Lektüre wohl seine Freude gehabt. Das Maturazeugnis zeigt einen leicht überdurchschnittlichen Schüler, der in keiner Disziplin nennenswerte Stärken oder Schwächen aufweist. Sechs „lobenswerte“ und sechs „befriedigende“ Leistungen sagen in ihrer numerischen Sprödigkeit zwar nicht allzu viel aus, attestieren aber einen nicht besonders schlechten Abiturienten.

Die geschenkte Reise führt Franz Kafka erstmals über die Grenzen des Königreichs Böhmen. Zum Begleiter wird Onkel Siegfried Löwy, der Landarzt (!) aus Triesch in Mähren. Onkel und Neffe reisen im August 1901 nach Norderney und Helgoland. Später fährt Kafka lieber nach Venedig, an die Adria, in die Toskana, nach Südtirol oder Berlin und sonst wohin.
Kafka muss den für Maturanten vorgesehenen Militärdienst als Einjährigfreiwilliger nicht antreten, weil ihm ein ärztliches Zeugnis eine „Schwäche“ bescheinigt, die ihn zum Dienen unfähig macht. Dem Studienbeginn stehen also weder Drill noch Drillich, soll heissen Uniform, entgegen.
Zwänge der jüdischen Hochschul-Karrieren
Bei der Auswahl des Studiums scheint der achtzehnjährige Franz Kafka eher unschlüssig gewesen zu sein. In ein Verzeichnis in seinem Gymnasium hat er kurz vor der Matura Philosophie als Studienwunsch eingetragen. Ein Meinungswechsel dürfte beim Nachdenken im Juli 1901 eingetreten sein. Der Staatsdienst war für Juden mit wenigen Ausnahmen unzugänglich und kamen für Akademiker nur freie Berufe in Frage. Der k.u.k. Sonderfall waren Fächer, die für eine Tätigkeit in der Privatindustrie qualifizierten. Der spätere Jurist und Dichter zog offensichtlich einen Posten in der Wirtschaft ins Kalkül. Chemie war zu Beginn des vorigen Jahrhunderts nichts weniger als eine besonders ungewöhnliche Studienwahl. Der Leiter des Chemischen Instituts, Guido Goldschmidt, war getaufter Jude und ein exemplarisches Beispiel für die Zwänge, denen jüdische Hochschulkarrieren unterworfen waren. Viel mehr als Privatdozent oder höchstens Extraordinarius war nicht zu schaffen.

Im Oktober 1901 schreibt sich Franz Kafka gemeinsam mit seinen Freunden Oskar Pollak und Hugo Bergmann für das Chemiestudium an der k. k. Deutschen Karls Ferdinands-Universität in Prag, wie sie mit vollem Titel heisst, ein, und studiert diese Wissenschaft ganze zwei Wochen, um dann zu den Juristen zu wechseln.
Die Universität, die im Jahr 1348 gegründet wurde, teilte sich im Jahr 1882 in eine deutsche und eine tschechische. Die Lehrveranstaltungen wurden im „Carolinum“ abgehalten. Die Prager Juden entschieden sich in der Mehrheit für die deutsche Universität, so auch Franz Kafka, wobei nicht die Muttersprache entscheidend war, sondern das – der deutschsprachigen Hochschule zugeschriebene – Bildungspotential. Die Karls-Universität betonte in nationaler Hinsicht das Deutsche, die Studenten trugen bei öffentlichen Auftritten schwarz-rot-goldene Schulterbänder mit der eingenähten Jahreszahl „1848“.
„Nur die Juden glauben noch, das Deutschtum verteidigen zu müssen“
Der Einfluss des Deutschsprachigen verlor in diesem Zeitraum zusehends an Bedeutung. Leo Hermann, der Obmann des zionistischen Vereins „Bar-Kochba“ schreibt schon im Jahr 1909 an Martin Buber: „Nur die Juden glauben noch, das Deutschtum verteidigen zu müssen.“ Der Briefschreiber hat nicht wissen können, dass in seiner Nähe einer der grössten deutschsprachigen Dichter heranreift. Man stelle sich vor, Franz Kafka wäre bei der Chemie geblieben, seine Meisterstücke hiessen dann nicht „Der Prozess“, „Die Verwandlung“ oder „Das Urteil“, sondern vielleicht „Die Formel“, „Die Umwandlung“ und „Der Stoff“…

Die Universität, an der Kafka (aus)gebildet wurde, konnte rund um seine Zeit mit einigen wahren Kalibern aufwarten. Die Physiker Ernst Mach und Albert Einstein lehrten, der Philosoph Franz von Brentano, der Völkerrechtler Heinrich Rauchberg, der Rechtsgeschichtler Heinrich Singer und der Verwaltungsrechtler Josef Ulbrich stehen für die Qualität des damaligen „Juridicums“. Natürlich könnte man weitere klingende Namen aufzählen. Sie lauten Christian von Ehrenfels, Anton Marty und Alfred Weber, wobei letzterer Kafkas Promotor bei der Promotionsfeier war.
Innerhalb der Universität bildeten die Juristen die zahlenmässig stärkste Fakultät. Mehr als die Hälfte der jüdischen Studenten inskribierte Rechtswissenschaften, weil sie nach dem Abschluss freiberuflich als Rechtsanwälte und Notare tätig werden konnten. Auch Franz Kafka tauchte bei ihnen unter, um ungestört in seine Gedankenwelten reisen zu können, seine literarischen Anfänge fallen aber bereits in das Jahr 1896, als er zum ersten Mal den Wunsch preisgibt, Schriftsteller werden zu wollen.
Germanist oder Jurist?

Im Frühjahr 1902 belegt er noch Vorlesungen aus Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie. Die Unentschlossenheit dürfte damals noch nicht zur Gänze ausgeräumt gewesen sein. Zu Beginn des Wintersemesters 1902/03 überlegt er kurz, nach München zu wechseln. Prag lasse ihn, wie er Ende Dezember 1902 seinem Freund Oskar Pollak schreibt, aber nicht los. Im Herbst 1903 denkt Kafka vermutlich noch einmal über einen Wechsel zur Germanistik nach. Wahrscheinlich hindert ihn letztlich der Widerstand des Vaters.
Das Jusstudium war für Franz Kafka nicht das reizvollste, obwohl er es letztlich nach nur sieben Semestern absolviert. Im nachhinein schreibt er im Jahr 1919 über es: „Ich studierte also Jus. Das bedeutete, dass ich mich in den paar Monaten vor den Prüfungen unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies schon von tausend Mäulern vorgekaut war.“

Kafka wohnt während der Studienzeit zuhause und ist im Vergleich zu seinen Schwestern privilegiert. Er hat ein eigenes Zimmer, kann Freunde empfangen und muss seinem Vater nicht Gesellschaft leisten oder sein Partner beim Kartenspiel sein.
Mit der Note „genügend“ zum Doktor promoviert
Im 18. Juli 1903 besteht Franz Kafka nach „drei verträumten Semestern“, wie der Literatur-Wissenschaftler Peter-André Alt konstatiert, die erste Staatsprüfung aus den rechtshistorischen Fächern mit „gutem Erfolg“. Am 7. November 1905 macht er das sogenannte Rigorosum II aus Zivil-, Handels- und Wechselrecht, Zivilprozess und Strafrecht, also den judiziellen Teil des Studiums, und besteht es mit „genügendem“ Erfolg. Das Rigorosum III aus Allgemeinem und Österreichischem Staatsrecht, Völkerrecht und politischer Ökonomie legte er am 13. März 1906 ebenso mit der Note „Genügend“ ab. Das abschliessende Rigorosum I aus Römischem, Kanonischem und Deutschem Recht fand am 13. Juni 1906 statt. Auch bei diesem erreicht er nicht mehr als seine offensichtlich abonnierte Beurteilung. Am 18. Juni 1906 wird Franz Kafka zum Doktor der Rechte promoviert.

Nicht unerwähnt sei, dass der Student Franz Kafka unter Prüfungsängsten litt. Ende Juli 1905 fuhr er aus diesem Grund in das nordmährische Zuckmantel, wo er sich vier Wochen lang in einem Sanatorium behandeln liess, das aus damaliger Sicht modernst eingerichtet war. Er macht dort wegen der umfassenden Studien-Verpflichtungen eine sogenannte Hydrokur mit elektrisch erhitzten Bädern gegen nervöse Spannungszustände. Aus heutiger Sicht eine doch eher sonderbar anmutende Heilbehandlung.
Einflussreicher Lehrer: Strafrechtler Hans Gross
Für den Studenten Franz Kafka wurde der Strafrechtler Hans Gross zu einem seiner wichtigsten Lehrer. Gross hat für seine Zeit einen recht progressiven Grundsatz entwickelt: „Nicht das Verbrechen, sondern der Verbrecher ist der Gegenstand der Strafe, und deswegen ist nicht das Gesetz allein, sondern das Leben der Gegenstand der Lehre.“ Kafka hört ihn im fünften, sechsten und siebenten Semester in den Gebieten Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie. Gross war jahrelang Untersuchungsrichter und ist der Begründer der modernen Kriminologie als Wissenschaft. Sein „Handbuch für Untersuchungsrichter“, das im Jahr 1893 erstmals erschien, wurde in zahlreiche Weltsprachen übersetzt und erreichte mehrere Auflagen. Als Hans Gross im Jahr 1915 starb, war das „Handbuch“ bereits in fünfundfünfzig Sprachen übersetzt.

Hans Gross hat im Sommersemester 1904 eine vierstündige Rechtsphilosophie-Vorlesung angeboten, die Kafka mit grösster Aufmerksamkeit verfolgte. Im nächsten Semester besuchte er freiwillig noch eine Philosophievorlesung bei Emil Arleth, einem Schüler Franz von Brentanos.
Der Rechtsphilosoph Franz Kafka
Aus dieser Zeit rührt wohl Kafkas rechtsphilosophisches Interesse. Kafkas Verhältnis zur Philosophie war geprägt von seinem Interesse für Aspekte der Wahrnehmung, Urteilsbildung und Sprachkonstruktion, aber auch getragen von Misstrauen gegenüber den abstrakten Ordnungssystemen einer deduktiven Methodik. Philosophische Gedanken entstehen, wenn Menschen über alternative Realitätsversionen nachdenken. In diesem Sinn ist der Dichter Franz Kafka zweifellos ein philosophierender.

Unstrittig hat Hans Gross Kafka bei der Beschreibung des Amts des (Untersuchungs-)Richters angeregt. Der Kafkologe Josef Maria Häussling meint sogar, dass der Untersuchungsrichter im „Prozess“ der „Verfahrensdreh- und –angelpunkt“ ist. Im Roman legt er – vom leidenschaftlichen Juristen Gross geschult – besonderes Augenmerk auf die Begriffe Recht und Gerechtigkeit beziehungsweise Gericht und Gerichtsbarkeit, personifiziert in der Gestalt des Richters.
Der Abschluss des Prüfungsverfahrens am 13. Juni 1906 ist, um es im Jargon der beruflichen Profession Kafkas zu sagen, de iure zugleich die Promotion zum Doktor der Rechte. Nach der akademischen Feier am 18. Juni 1906 veröffentlicht der Jurist eine Annonce, um seinen Status öffentlich zu machen: „Franz Kafka beehrt sich anzuzeigen, dass er am Montag, den 18. Juni d. J. an der k. k. Deutschen Karl Ferdinands-Universität in Prag zum Doktor der Rechte promoviert wurde.“
Danach stellt er unter Beweis, dass man mit einem Doktor iuris alles in der Welt werden kann: zunächst Rechtsanwaltsanwärter, dann Versicherungsjurist und schliesslich Franz Kafka. ♦
Dr. Janko Ferk
Geb. 1958 in St. Kanzian/A, Studium der Jurisprudenz in Wien, zahlreiche Prosa-, Lyrik- und essayistische Publikationen, Träger verschiedener Kultur-Preise, lebt als Richter, Philosoph und Schriftsteller in Klagenfurt
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Franz Kafka“ auch von Mario Andreotti: Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebes
… sowie zum Thema Nazi-Deutschland und Judentum über Jürg Amann: Der Kommandant