«…was sonst jeder Beschreibung spottet»
Inhaltsverzeichnis des Beitrages
von Walter Eigenmann
Ein Mann, den manche für weise
hielten, erklärte, nach Auschwitz
wäre kein Gedicht mehr möglich.
Der weise Mann scheint
keine hohe Meinung
von Gedichten gehabt zu haben –
als wären es Seelentröster
für empfindsame Buchhalter
oder bemalte Butzenscheiben,
durch die man die Welt sieht.
Wir glauben, dass Gedichte
überhaupt erst jetzt wieder möglich
geworden sind, insofern nämlich als
nur im Gedicht sich sagen lässt,
was sonst jeder Beschreibung spottet.
Hans Sahl, der Autor dieses Gedichtes «Memo», schrieb so in seinem zweiten zu Lebzeiten eigenhändig redigierten Lyrik-Band «Wir sind die Letzten» (1933-1975). Und die Zeilen fokussieren programmatisch, was mit Sahl einer der fruchtbarsten und zugleich am wenigsten bekannten Exil- und Nachkriegs-Lyriker deutscher Sprache zu sagen hatte. Sein lyrisches Schaffen legt nun der Luchterhand Verlag in einer Gesamtausgabe «Die Gedichte» vor – und dokumentiert damit erstmals vollständig eine Lyriker-Stimme von hoher Intensität und Authentizität.
Lyrik als lebenslängliche Konstante
Es scheint, als wäre diesem Schriftsteller, Übersetzer, Theaterkritiker und Kulturkorrespondent einfach alles zu Lyrik geronnen, was an Biographischem zugestoßen ist – Poesie als lebenslängliche Konstante.
Schon 1926 schreibt der 24-Jährige:
Ich wäre gern in einer Zeit geboren
Mit Blumenmustern, bunt gestickten Decken
Gedämpftem Saitenspiel von Schlossemporen
Und Schäferspielen hinter Taxushecken.
[…] Doch weil ich nun in diese Zeit verschlagen,
will ich sie auch mit Anstand für mich brauchen
und seine Meinung zu den Dingen sagen
und zu ihr stehn und meine Pfeife rauchen.
Dann Jahre später, 1943 in New York, als Geflüchteter:
Ja, ich bin allein, und ich weiß es
Viele sind wie ich, aber es kümmert sie nicht
und sie zeugen Kinder nach altem Brauch
sitzen in eisgekühlten Palästen
gehen umher und tragen bunte Krawatten
wie das Gesetz es befahl
Ich aber bin gefangen im Stein

Schließlich 1973 der zurückgekehrte Mahnende:
Wir, die wir unsre Zeit vertrödelten
aus begreiflichen Gründen
sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden
Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz
Unser bester Kunde ist das
schlechte Gewissen der Nachwelt
Greift zu, bedient euch
Wir sind die Letzten
Fragt uns aus
Wir sind zuständig
Und endlich ganz zum Schluss, ungefähr ein Jahr vor seinem Tod:
Ich gehe langsam aus der Zeit heraus
in eine Zukunft jenseits aller Sterne
und was ich war und bin und immer bleiben werde
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
als wäre ich nie gewesen oder kaum.
Nein, Formalismus, Hermetik, abstrakte Ästhetik oder besondere Artistik ist dem Schaffen dieses zeitlebens moralisch wie politisch hochbeteiligten Bekenntnis-Lyrikers nicht zuzuordnen. Wohl aber bilderreichste, fast sinnlich greifbare Metaphorik – und immer seine Omnipräsenz der Aufrichtigkeit und der Unbestechlichkeit:
Gib dich zufrieden mit dem
was du noch hast
deinen Mund, deine Gebeine
freue dich darüber
weine.
Zähle nicht bis drei.
Eins genügt.
Vielleicht auch zwei
Bei drei wird’s schon wer
bei drei gibt’s dich nimmermehr.
Da fressen dich die Raben.
Amen.(aus «Dann», 1985)
Schicksal, Liebe, Nacht, Gott, Ich, Zeit, Herz, Lust, Tod – solche Jahrtausende alt-mächtigen Wörter auch am Ende des katastrophalen 20. Jahrhunderts noch mitten in den Lauf der eigenen und aller Dinge zu stellen scheute sich Sahl nie; er wusste um ihre Wirkung aus dem Munde eines Dichters, der sie hautnaher als die meisten zu spüren bekommen hatte:
De Profundis
Ich bin der Zeit und ihrem Reim entfremdet,
Es hat die Zeit mir meinen Reim entwendet.Wo Welten stürzen, Völker sich vernichten,
Kann sich das Wort zum Reim nicht mehr verdichten.Wer wagt es noch, das Grauen zu besingen,
Dem Ungereimten Reime zu entringen,Wer, der noch Worte hat, im Wort zu wildern,
Den Knochenfraß der Sprache zu bebildernUnd leichten Sinn’s, wo alle Worte fehlen,
Den Totentanz nach Silben abzuzählen?Ich bin dem Reim in dieser Zeit entfremdet,
Es hat die Zeit mir meinen Reim entwendet.Schwer ist mein Mund, und meine Lippen finden
Die Kraft nicht mehr, die Sätze zu verbinden.Hier liege ich, verworfen von Epochen,
Es ist das letzte Wort noch nicht gesprochen,Es ist der letzte Reim noch nicht gefunden
Auf diesen Jammer und auf diese Wunden.Der tiefste Schrei, den je ein Mensch vernommen,
Er wird von uns, aus unserem Schweigen kommen.

Der 31-jährige Sahl muss, als Sohn eines jüdischen Industriellen in Dresden geboren, vor der Hitlerei fliehen – auf einem Fluchtweg, den so mancher Emigrant vor ihm schon gegangen war: Frankreich, Portugal, dann an die amerikanische Ostküste, nach New York. Hier entstehen – und werden gar gedruckt! – seine «Hellen Nächte», der Lyrik-Erstling. Er erscheint allerdings erst 1942, aufgrund des überzeugten Verlegers Barthold Fles – da ist Autor Sahl (bis anhin «nur» Kulturkorrespondent, Feuilletonist und Kurzprosaist) bereits ein 40-jähriger, doch nahezu unbekannter Literat. Ungeachtet der misslichen Situation der Publikationsmöglichkeit für Lyrik in Amerika schreibt und schreibt Sahl jedoch weiter, einfach für die Schublade, Gedicht an Gedicht, zum Beispiel:
Selbstportrait
Was bleiben wird von mir? Nur Dunkelheiten,
Und ein Gesicht, das manchmal schüchtern lachte
Und sich Gedanken über dies und jenes machte
Und in den Abend sah und zu gewissen ZeitenSich über fremde Züge liebend neigte
Und Worte sagte, die man ihm nicht glaubte,
Und nichts verstand und manchmal sich erlaubte
Ein Mensch zu sein und keine Reue zeigte.Was bleiben wird? Nur dies. Ein Unterfangen,
Zu groß begonnen und dann abgebrochen,
Ein Wort, verwundert in die Nacht gesprochen
Und mit den andern in die Nacht gegangen.

Gleichzeitig ist der Dichter Sahl ein bedeutender Übersetzer, widmet sich vielbeachtet insbesondere den Amerikanern Maxwell Anderson, Arthur Miller, Thornton Wilder und Tennessee Williams. Schließlich geht er 1953 nach Deutschland zurück – wo der Sozialist Sahl im rechtskonservativen Adenauer-Klima, aber auch wegen Zerwürfnissen mit linksideologisch Bornierten zu einer literarischen Unperson wird, von der das kulturelle Europa keinerlei Notiz nimmt. Sahl ist abermals Emigrant, diesmal im eigenen Land. Wie hatte er damals in «Marseille III» geklagt?
Warum bin ich nicht längst schon ausgezogen
Aus diesem Loch, wo mich die Würmer fressen
Und tote Seelen umgehn im Gemäuer?
Fern über dem Atlantik ziehn Gewitter,
Es kam schon lange nichts mehr mit dem Clipper,
Man gibt mich auf, bald bin ich ganz vergessen
Und will nichts mehr und streck‘ mich nach der Decke
In dem Hotel, in dem ich hier verrecke.
Flucht vor der Ignoranz des Literaturbetriebes
Erneut flieht Sahl, diesmal nicht ums Leben bangend, sondern enttäuscht über die Ignoranz des Literaturbetriebes der frühen 50-er Jahre links wie rechts, geht 1953 zum zweiten Mal in die USA, wo Gedichte entstehen wie:
Schlaflos in New York
Hörst du
sehr fern in der Nacht
die apokalyptischen Rosse
den Schlaflosen wecken?
Kamen sie,
um ihn zu erschrecken
mit dem Gedröhn
ihrer Propeller?
Siehe,
es wird schon heller
hinter dem Fenster,
aber unter dem Bett
schläft noch immer
das Dunkel,
schläft die Nacht
mit offenen Augen.
Und wartet
auf dich.
1989 kehrt schließlich der in jeder Beziehung ewige Exilant endgültig in sein Geburtsland zurück, wo er inzwischen erkannt und bekannt wurde. Doch der Ton des nun 87-jährigen Dichters ist bitter und mischt sich mit Angriffslust. «Zu spät», antwortet der Zurückgekehrte auf die Bemerkung, dass mittlerweile doch eine Wiederentdeckung des Vergessenen stattgefunden habe – und in seinen Zeilen «Exil» heißt es:
Es ist so gar nichts mehr dazu zu sagen.
Der Staub verweht.
Ich habe meinen Kragen hochgeschlagen.
Es ist schon spät.Die Winde kreischt. Sie haben ihn begraben.
Es ist so gar nichts mehr dazu zu sagen.
Zu spät.
Trotz Auszeichnungen keine Rehabilitation
Das kulturoffizielle Deutschland ehrt zu schlechter Letzt den Heimgekehrten mit verschiedenen Auszeichnungen, u.a. 1982 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz und in seinem Todesjahr mit dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen. Doch angekommen in einem allgemeinen literarischen Bewusstsein oder gar im Deutschunterricht ist er als einer der wichtigsten Lyriker der Nachkriegszeit noch immer nicht.
In dieser Situation leistet das nun vorliegende, umfassende lyrische Sahl-Kompendium wertvollste Mitarbeit. Der Band weist Hans Sahl aus als einen hochsensiblen Stenographen eines ganzen Jahrhunderts, als einen, der gezwungen war, künstlerisch mitzuschreiben bei all dem vielen, auch vielen Ungeheuerlichen, das in seine Zeit fiel. Bleibt zu hoffen, dass diese Edition der beiden Herausgeber Nils Kern und Klaus Siblewski eine – endlich – breite Sahl-Rehabilitation einläutet. ■
Hans Sahl, Die Gedichte, Luchterhand Verlag, 336 Seiten, ISBN 978-3-630-87288-9
Lesen Sie im Glarean Magazin auch über Hans Sahl: Der Mann, der sich selbst besuchte – Erzählungen
Eine kluge, treffende und mutige Rezenesion für das mahnende Werk eines großen Menschen.