Was unterscheidet sehr gute Spieler am stärksten von Anfängern und durchschnittlichen Amateuren? Der gravierendste Unterschied ist wohl die enorme Geschwindigkeit, mit der ein Titelträger die wesentlichen Elemente einer Stellung erfassen kann. Er weiss in den meisten Situationen sofort richtig einzuschätzen, was die Hauptmerkmale einer Position sind, und worauf er hinarbeiten muss. Hingegen zermartert sich der normale Vereinsspieler – vom Anfänger gar nicht erst zu reden – lange Zeit den Kopf, um zu einem der gegebenen Stellung angemessenen Plan zu gelangen. Und dennoch ärgert man sich oft nach der Partie trotz aller Bemühungen über schwere Einschätzungsfehler, die zum Partieverlust geführt haben.
Nun wird zwar gesagt, dass ein schlechter Plan besser sei als überhaupt kein Plan, dem ehrgeizigen Spieler werden solche frustrierenden Erlebnisse aber kaum genügen. An diesem Punkt setzt der Internationale Meister Herman Grooten in seinem neuen Buch „Chess Strategy for Club Players“ – „Schachstrategie für Klubspieler (Der Weg zum positionellen Vorteil“ – an. Sein Ziel ist es, dem Amateur die richtige Denkweise während einer Schachpartie zu vermitteln. Durch seine langjährige Trainererfahrung, während der er mit jungen Talenten wie Loek van Wely oder Jan Werle zusammen arbeitete, kennt der Niederländer genügend Methoden zur Vermittlung eines tieferen Einblicks in die Zusammenhänge auf dem Schachbrett. Und so ist auch sein Buch didaktisch sehr sinnvoll angelegt: Anhand der Steinitzschen Prinzipien fügt er Stück für Stück das Mosaik eines modernen positionellen Schachverständnisses zusammen.
Von Steinitz über Nimzowitsch bis zu Karpov
Schach-Genie, -Weltmeister und -Lehrer für Generationen: Wilhelm Steinitz
Neben den Prinzipien von Wilhelm Steinitz, die das Grundgerüst seiner Arbeit bilden, finden auch die Lehren Nimzowitschs oder die Methoden der Stellungsbeurteilung von Karpov und Mazukevich Erwähnung, die sie in ihrem bekannten Werk „Stellungsbeurteilung und Plan“ vorstellen. Grooten geht ausführlich auf die einzelnen positionellen Merkmale wie Materialvorteil, Zentrum, Läuferpaar, Kontrolle von Feldern oder Königsstellung ein. Das alles garniert er mit Partiematerial aus der Grossmeisterpraxis, wobei ein Querschnitt durch die Schachgeschichte erfolgt. Aber auch Partien aus der eigenen Praxis bzw. derer seiner Schüler bringt der Internationale Meister fortlaufend ein, um anschaulich die Pläne im Mittelspiel auf eine für den Amateur begreifliche Art darzustellen. Ausserdem gelingt es ihm, die einzelnen Themen auf den Punkt zu bringen, und wenn nötig nochmals zusammen zu fassen.
Damit der Leser während der Lektüre auch üben kann, ergänzen Aufgaben zu verschiedenen positionellen Themen das Buch. Sie sind nicht immer einfach zu bewältigen, dafür aber für denjenigen, der noch nicht zu Meisterehren gelangt ist, höchst instruktiv. Sollte man eine Aufgabe einmal nicht verstehen, so greift man einfach auf den umfangreichen und mit zahlreichen Anmerkungen versehenen Lösungsteil am Ende des Buches zu.
Exkurs: Zwei Beispiele
Um zu illustrieren, wie Grooten seine Frage-Antwort-Lektionen konzipiert, seien hier aus dem Buch zwei Beispiele zitiert.
White´s position is superior, but he must make progress. How can he go about this? – –
The black knight is an important defender, so it must be put to the test. White does this by bringing up new reserves.
33.h4!
If the knight has to move, the bishops will gain in strength, and also the e7-square will become accesible for the rook. Also attractive-looking is 33.Bxg6 hxg6 34.Re7, but then Black defends with 34…Re8, and due to the opposite-coloured bishops White probably cannot win.
33… Re8 34.h5 Ne7
Even worse is 34…Nh8 35.Rxe8 Qxe8 36.Qb1 (also after 36.Qxe8+ Bxe8 37.Be5 the endgame is a hopeless affair for Black) 36…h6 37.Bh7+ Kf8 38.Qxb6, and White wins a crucial pawn, since 38… Qe3+ 39.Kh2 Qxc3 fails to 40.Qd8+ Be8 41.Qd6+ Kf7 42.Qe6+ Kf8 43.d6, with mate threats on e7 and on g8 that cannot both be parried.
35.Re5
35. Qb1 wasn´t bad either.
35… g6 36.Qh4
The queen makes optimal use of the weakened dark squares.
36…Bf5 37.Bxf5?!
White parts with his bishop pair, just when he had a killer move available. Winning was 37.d6!, when Black could have thrown in the towel straightaway: 37…Nc6 38.hxg6 Bxg6 39.Bxg6, and the mate threats cannot be warded off any more.
37…Nf5 38.Qxf4 Nd4 39.Qxf8+ Rxf8
Black gave up the fight, since in the rook ending that ensues after 39… Rxf8 40.hxg6 hxg6 41.Bxd4 cxd4 42.Re4, he didn´t see any prospects.
Verwertung von Raumvorteil (Anmerkung: MT) – (Capablanca – Treybal 1929)
White has an enormous space advantage. How can he make progress? Indicate a plan for White and, if possible, also a variation. – –
In this closed position, with only one open file, White can still force a win. For this purpose, he must pinpoint the most vulnerable point in the enemy position.
52.Nd2
White plays his knight to a 5 via Nf3-d2-b3, in order to take aim at the weak point b7.
52…Bd7
Black must hurry if he wants to be able to play the protecting move …Nf7-d8. He cannot give the b7 pawn extra protection with …Rd7, as he will then lose material with Ra8.
53.Nb3 Re8 54.Na5 Nd8
Black has managed to protect everything, but with the following hammer-blow, he is counted out nonetheless.
55.Ba6!
Thus White makes a hole in the black pawn formation and clears a path along the seventh rank.
55… bxa6 56.Rxd7 Re7
Parrying Rxh7 for the moment, but allowing a decisive blow.
57.Rxd8+! Rxd8 58.Nxc6 1-0
Taktische Grundfertigkeit als Voraussetzung
Gewisse taktische Grundfertigkeiten sollten beim Leser allerdings vorhanden sein, da man schliesslich kein gutes positionelles Schach spielen kann, ohne die taktischen Probleme der Stellung zu erfassen. Dies betont auch Grooten selbst zu Beginn, so dass der Schachneuling zunächst wahrscheinlich besser mit dem Lernen taktischer Motive beraten ist, bevor er sich durch dieses umfangreiche Lehrbuch der Schachstrategie arbeitet. Für alle anderen, die ihre ersten taktischen Lektionen bereits erfolgreich gemeistert haben, ist „Chess Strategy for Club Players“ in der Tat eine Überlegung wert.
Allerdings sind die über 400 Seiten – liest man das Buch mit Ambitionen – ob ihres Gehalts und der Systematik, mit der Grooten zu Werke geht, keine leichte Kost, wenngleich Grooten den Lehrstoff auf unterhaltsame Weise zu vermitteln mag. Für diejenigen Turnier- und Vereinsspieler, die jedoch ernsthaft an ihrem Spiel arbeiten wollen, bietet „Chess Strategy for Club Players“ – solide Englischkenntnisse aufgrund des hohen Textanteils vorausgesetzt – interessantes Material von hohem Lehrwert. Da das Ganze aber wirklich sehr verständlich und locker – mit hier und dort eingeworfenen Anekdoten und interessanten Gedanken – präsentiert wird, lässt sich gut damit leben.
Aber wir erinnern uns: Es ist die schnelle Urteilskraft, bedingt durch die Kenntnis positioneller Elemente, die die Meister vom Rest unterscheidet. Man kann als Amateur „Chess Strategy for Club Players“ nicht lesen, ohne etwas darüber zu lernen. ♦