Breitkopf & Härtel: „Chorbibliothek“ für Männerchor

Quo vadis, Chorgesang?

von Walter Eigenmann

Der im Januar 1719 gegründete und somit älteste Musikverlag der Welt Breitkopf & Härtel hat sich für sein bevorstehendes 300-Jahr-Jubiläum insbesondere für den Chorgesang – schon immer eine tragende, intensiv gepflegte Domäne dieses Verlages – ein ehrgeiziges Projekt vorgenommen. Denn in einer sog. Chorbibliothek will er auf schliesslich mehreren tausend Seiten mit geplanten zehn Bänden sein komplettes Chornoten-Angebot als eine Art Basisrepertoire des Genres neu auflegen. Dabei soll das originale Notenbild der einzelnen Werke beibehalten werden, „um die weiterhin lieferbaren Einzelausgaben parallel zu den Bänden nutzen zu können“.

Männerchor-Lieder des 19. Jahrhunderts

Die neue "Chorbibliothek" für Männerchor aus dem Musikverlag Breitkopf & Härtel: Klick auf das Bild führt zu Leseproben
Die neue „Chorbibliothek“ für Männerchor aus dem Musikverlag Breitkopf & Härtel: Klick auf das Bild führt zu Leseproben

Der jüngste Band dieser 10-teiligen „Chorbibliothek“ ist der Männerchor-Literatur vorwiegend des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewidmet. Die entsprechenden Komponisten der Romantik (als der Blütezeit des Männerchores) heissen also v.a. Franz Schubert, Johannes Brahms, Felix Mendelssohn-Bartholdy oder Robert Schumann; das vergangene Jahrhundert ist (in wenigen Liedern) mit den „Spätromantikern“ Johann Nepomuk David, Jean Sibelius und Othmar Schoeck vertreten, während das aktuelle Männerchor-Schaffen nur gerade durch Siegfried Thiele (geb. 1934) marginal gestreift wird.
Insofern ist also der Titel der Ausgabe: „Chorbibliothek – Für Männerchor“ leicht irreführend und hätte das präzisierende Stichwort „Romantik“ gut vertragen. Im Sinne einer puren „Verlagschronik“ in Sachen Männerchor mag man diesen „Etikettenschwindel“ durchgehen lassen; dass hingegen dutzende bedeutender Männerchor-Komponisten der zweiten Hälfte im 20. Jahrhundert komplett ignoriert werden, macht den Band für heutige Männer-Gesangsvereine leider eher unattraktiv…

Schubert & Co. verstaubt?

Eine der Keimzellen genialer Männerchor-Literatur: Die legendären "Schubertiaden" (Der Meister mit Brille am Klavier)
Eine der Keimzellen genialer Männerchor-Literatur: Die legendären „Schubertiaden“ (Der Meister mit Brille am Klavier)

Es stellt sich überhaupt die Frage, wer sich diese Sammlung eigentlich zulegen soll. Zuallerletzt werden die Männerchöre selber (bzw. ihre Verantwortlichen) diese „Chorbibliothek für Männerchor“ kaufen! Denn die in ihrem Repertoire betont traditionell ausgerichteten Chöre haben alle diese zahllosen Trink-, Jagd-, Tanz-, Natur- und Liebeslieder von Schubert & Co. längst jahrzehntelang und tausendfach rauf- und runtergenudelt (und darob ihre Konzertsääle leerer und leerer erleben müssen), während die eher popmusikalisch oder gesangsperkussiv bzw. „crossover“ orientierten Chöre von diesem vorgeblich „verstaubten“ Liedgut ohnehin längst die Finger bzw. Kehlen lassen.

Der Männerchor im Sinkflug

Geniale Männerchor-Musik mit prophetischem Titel: Der Anfang von Schuberts "Im Gegenwärtigen Vergangenes" für vier Männerstimmen und Klavier D710, nach Goethes "West-Östlicher Diwan" (Quelle Chorpartitur: Breitkopf & Härtel Verlag)
Geniale Männerchor-Musik mit prophetischem Titel: Der Anfang von Schuberts „Im Gegenwärtigen Vergangenes“ für vier Männerstimmen und Klavier D710, nach Goethes „West-Östlicher Diwan“ (Quelle Chorpartitur: Breitkopf & Härtel Verlag)

Ein weiteres Handicap für diesen Band ist ein musiksoziologisches: Entgegen andererslautender Beteuerungen, ja Beschönigungen der traditionellen Chorverbände befindet sich der „organisierte“ (und in teils starren Vereinsstrukturen verhaftete) Gesang im Sinkflug – allen voran die Männergesangsvereine, die wegen grassierendem Mitgliederschwund mehr und mehr fusioniert oder gleich ganz aufgelöst werden müssen. Dem Männerchor sterben die Sänger weg, gerade auch in seinen Stammlanden Deutschland, Österreich und der Schweiz. Es mag noch ein paar Jahre dauern, aber der Zeitpunkt ist absehbar, da der traditionelle, einst so enorm verbreitete, in der Bevölkerung stark verwurzelte, nicht selten mit 100-köpfigen Mitgliedschaften auftrumpfende Männerchor als der Dinosaurier des Gesangs von der Bildfläche verschwinden wird.

Exkurs: Gehört die Zukunft dem projektbezogenen Singen?

Der Vereinsgesang überhaupt erlebt momentan eine schmerzliche Baisse, die nachstehende Statistik spricht da eine unmissverständliche Sprache. Wir sehen also das widersprüchliche Phänomen, dass einerseits in allen Ländern den grossen TV-Casting-Shows die sangesfreudige Jugend abertausendfach entgegenströmt, während die etablierten, organisierten Chorgemeinschaften aller Genres über mangelnden Zuwachs klagen.

Deutlich rückläufige Entwicklung der Anzahl Chormitglieder in Deutschland (Quelle: de.statista.com 2016)
Deutlich rückläufige Entwicklung der Anzahl Chormitglieder in Deutschland (Quelle: de.statista.com 2016)

Ein Hoch erleben demgegenüber alle gesangsmusikalischen Bestrebungen, die dezidiert als Projekte angelegt werden. Der zeitlich befristete, maximal ein paar Monate dauernde Aufwand im sog. Projektchor scheint dem modernen, ungebundenen Sing-Lifestyle des „Reinschnupperns und Weiterziehens“ so sehr zu entsprechen, dass diese Form des organisierten Gesangs das Nachwuchsproblem nicht kennt. Ebenso wenig wie übrigens der Kinderchor, dem allerdings in Schule und Freizeit ein gezieltes bildungspolitisches „Staats-Sponsoring“ widerfährt und schon deswegen eine stabile Entwicklung aufweist.
Sogar grosse, anspruchsvolle Klassik- oder Musical-Chor-Events auf Stadt und Land finden nach wie vor ihre ambitionierte und zahlreiche Sängerschaft. Einzige Voraussetzung: Befristetes Engagement…

Qualitätsvolles Kompendium des „klassischen“ Männerchorgesanges

Zurück zur „Chorbibliothek“ und abgesehen von pessimistischen Prognosen: Diese neue Lieder-Sammlung ist in ihrer musikalischen Substanz sehr wohl ein höchst qualitätsvolles Kompendium all jener Männer-Chormusik, die Jahrhunderte lang die melodische, harmonische und satztechnische Genialität und Dominanz der grossen Romantiker dokumentierte. Der 366 Seiten starke Konvolut ist als Konzentrat einer ganzen Sing-Epoche tatsächlich ein Basisrepertoire des Männerchors, auch hinsichtlich der Vielfalt der Kompositionsverfahren, Sprachbehandlung und Stilistik. Thematisch zudem sehr breit gefächert fasst er von Schuberts „Entfernten“ über Mendelssohns „Wer hat dich du schöner Wald“ bis hin Sibelius‘ „Finnlandia“-Hymne, vom dreistimmigen „Cherubinischen Wandersmann“ von David bis zurück zum vierstimmigen „Walzerlied“ von Lortzing, und vom simplen „Volkslied“ bis zum Bläser-begleiteten „Über allen Gipfeln ist Ruh“ eines Franz Liszt die ganze Faszination eines Genres zusammen, das musikalisch bleibende Schöpfungen von einzigartiger Ausdruckskraft generierte. ♦

Breitkopf&Härtel/Sebastian Posse: Chorbibliothek für Männerchor, 366 Seiten, ISMN 979-0-004-16396-2

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Chormusik“ auch über
Martina Freytag: Einsingen – allein und im Chor

Ein Gedanke zu “Breitkopf & Härtel: „Chorbibliothek“ für Männerchor

  1. Danke für den interessanten Artikel/Review – aber er scheint mir doch etwas gar kritisch…
    Noch lebt der Männerchor, wie tausende entspr. Vereinigungen gerade in Deutschland beweisen.
    Zugegeben, der Trend mag nach unten zeigen, aber wenn es den Chören gelingt, ihr Liedgut dem Zeitgeist anzupassen, dürfte ein „Aussterben“ noch in weiter Ferne liegen…
    Gruss aus Berlin: T. Berger

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)