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In der Top-Etage des Fernschachs (03)
von Walter Eigenmann
Der Computer veränderte und verändert noch immer bekanntlich alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens – und geradezu dramatisch dokumentierte sich diese Veränderung u.a. im Bereich der Unterhaltungsindustrie. Hier genauer gemeint: des Schachspiels.
Denn seit dem in den letzten Jahren die sog. Chess Engines (= die eigentlich rechnenden „Motoren“, eingebettet in diverse verfügbaren Schach-User-Interfaces GUI) eine derart hohe Spielstärke erreicht haben, dass jeder menschliche Grossmeister (der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen inklusive) absolut chancenlos ist, hat das Schach seinen einstigen Nimbus des zauberhaften Königlichen Spiels, des unerschöpflichen Meeres an genialen Kombinationen und seiner vielhundertjährigen Kulturgeschichte für viele seiner Adepten verloren.
Legendäre Schachkombinationen entzaubert

Die buchstäblich unmenschliche Präzision und Tiefe des maschinellen Berechnens ist denn auch heutzutage nicht mehr dazu angetan, irgend einen Zauber des menschlichen Geistes zu beschwören, der auf (zwangsläufiges) Patzen in den Turniersälen (gestern und heute) oder auf jahrzehntelang hochgelobte Zugkommentare in Schachbüchern voller grober Fehler und Ungenauigkeiten basiert. Schätzungsweise 90% aller vor der letzten Jahrhundertwende geschriebenen Schachbücher dürften im Lichte des modernen Computerschachs betrachtet inzwischen Makulatur sein – Kult-Bücher einst legendärer Schach-Genies von Steinitz bis Karpow eingeschlossen. Die damals weltweit gefeierten Super-Kombinationen von Bobby Fischer & Co. entpuppen sich heute unterm Mikroskop von Houdini & Co. als sekundenschnell gefundene Simplizitäten, wo sie nicht überhaupt gar unkorrekt sind. Dass dies der schachgeschichtlichen Leistung der damaligen Genies allerdings nichts anhaben kann, muss nicht extra betont werden. Trotzdem: Das Schachspiel mag nach wie vor (gemäss Goethe) „ein Prüfstein des Gehirns“ sein – aber nicht für Computer…
Das Fernschach als Labor des schachlichen Erkenntnisgewinns

Wenn also der (frühere wie heutige) menschliche Turnier-Schachbetrieb (ob online oder on-the-board) unergiebig geworden ist, wenn es darum geht, nach wirklich „tiefen“, nach besonders „schwierigen“ Kombinationen und Strategemen zu fahnden, so verhält es sich mit dem modernen Fernschach FS (Correspondence Chess CC) mittlerweile anders. Denn hier sind die Topspieler der internationalen FS-Szene längst dazu übergegangen, den Computer in ihre (oft tagelangen) Stellungsanalysen einzubeziehen.
Und die interaktive Verbindung von menschlichem „Planen“ bzw. Lenkung des „Mainstreams“ einer Schachpartie mit der ungeheuren Akkuratesse der heutigen Engines zeitigt inzwischen wirklich bewunderswerte Schachzüge, die nicht nur in ästhetischer Hinsicht faszinierend sind, sondern auch quasi schach-„erkenntnistheoretisch“ grossartige Leistungen darstellen, die das Fernschach ausweisen als regelrechtes Schach-Forschungslabor.

Die neue Reihe „Brilliant Correspondence Chess Moves“ BCCM will denn auch genau solche Fernschach-Kombinationen präsentieren, die zwar frappant, aber auch korrekt, zwar schwierig zu finden, aber nicht „unlösbar“ sind. Züge also, die vom menschlichen Meisterspieler erst nach langer Analyse aufspürbar sind – mithilfe des Computers…
Strategisches Planen versus taktisches Rechnen
Während das erste Beispiel der neuen BCCM-Serie von Testaufgaben noch verhältnismässig „human“ war (wenngleich nicht im wörtlichen Sinne…), war das zweite und ist nun auch das dritte BCCM-Puzzle von einem anderen Kaliber. Die Stellung ist der ICCF-Fernschach-Olympiade 2012 entnommen und wurde von den beiden Spitzenspielern Daniel Fleetwood (USA) und Yoav Dothan (Israel) generiert.
Noch scheint in der untenstehenden Stellung „alles im Lot“. Der Anziehende hat, wie schon der erste Blick zeigt, allerdings die grössere Mobilität und die bessere Königsstellung. Aber wie geht es weiter, wo ist die verborgene Ressource? Der Weisse fällt nun eine weitreichende Entscheidung, die nicht von (noch so tiefer kalkulierter) Taktik, sondern von strategischer Zielsetzung geprägt ist: Mit einem Bauernopfer – die Materialbilanz des Weissen ist eh schon zu seinen Ungunsten – sollen am Königsflügel alle Schleusen für die lauernden Schwerfiguren geöffnet werden. Es ist aber Eile geboten, sonst konsolidiert sich Schwarz und führt weiteres Verteidigungsmaterial heran.
Dies alles sind planerische Überlegungen, deren gut verborgenen Konsequenzen weder von Menschen noch von Maschinen auf die Schnelle ausgerechnet werden können – weder direkt am Brett vom Grossmeister noch aus dem Stande heraus von der Maschine.
Die weitsichtige Planung des Menschen also, dieses detektivische Aufspüren von versteckten Ressourcen, immer abgesichert mittels interaktiver taktischer Verifizierung durch den Computer – das ist das eigentliche Faszinosum des Korrespondenz-Schachs heute, und das dürfte es noch lange bleiben. ♦
Brilliant Correspondence Chess Moves BCCM – 03
FEN-String: 2rq1bk1/pb6/n1p1pp2/1p4rp/3PP2R/PNN2PP1/2Q1B3/3R1K2 w Ein Mausklick auf eine Stelle in der Partie-Notation öffnet ein neues Partie-Fenster; dort lassen sich die Züge nachspielen und die Partie als PGN-Datei downloaden. Um die Aufgaben selber schnell (mittels copy&paste) in ein Programm bzw. in ein Schach-Interface laden zu können, ist jeder Stellung auch der zugehörige FEN-String beigegeben. |
Brilliant Correspondence Chess Moves BCCM (04)