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Legendenhafte Stimmung trifft manische Vehemenz
von Wolfgang-Armin Rittmeier
Seit jeher haben es Komponisten Albions schwer auf „dem Kontinent“. Schon Elgar wird auf deutschen Podien – sieht man von den „Enigma-Variationen“, dem „Cellokonzert“ und dem Marsch „Pomp and Circumstance Nr. 1“ einmal ab – nicht eben häufig gespielt. Ralph Vaughan Williams‘ ergeht es noch schlechter, und von Holst, Bridge, Walton, Scott, Moeran, Alwyn, Brian, Arnold, Howells und vielen, vielen anderen muss man an dieser Stelle schweigen. Noch unbekannter sind die meisten schottischen Komponisten – Komponisten, für deren Werk sich seit vielen Jahren der britische Dirigent Marytn Brabbins einsetzt.
Einer jener grossen Unbekannten ist Erik Chisholm. Auf einer jüngst bei dem britischen Label Hyperion erschienenen CD präsentieren Brabbins und das BBC Scottisch Symphony Orchestra nun verschiedene Orchesterwerke des aus Glasgow stammenden Komponisten und Dirigenten. Es sind keine Werke, die in irgendeiner Form einen romantisierenden Schottland-Topos bedienen würden. Nicht umsonst nennt John Purser (in seinem hervorragenden einleitenden Essay) ihn darum „Den Modernen aus Schottland“.
Denn ein Moderner war Chisholm durch und durch. Als Konzertveranstalter hat er Bartók und Hindemith nach Glasgow geholt, hier hat er auch immer wieder Werke von Florent Schmitt und Karol Szymanowski und Casella aufgeführt, und als Komponist entwickelte er – wie es Purser zurecht anmerkt – eine moderne „Tonsprache ohne Vorbild“ und hinterliess ein Werk, das ein „wahres Abenteuer in emotionaler und intellektueller Hinsicht“ ist.
Grosses Interesse zeigte Chisholm sein Leben lang an gälischer und – nach seinem kriegsbedingten Aufenthalt in Bombay – an der reichen Musik Indiens. Und diese beiden Interessensschwerpunkte fokussiert auch die vorliegende CD.
Pendeln zwischen Meditation und Ekstase

Das Violinkonzert aus dem Jahr 1950 bezieht sich im ersten und im dritten Satz auf zwei nordindische „Ragas“, dem Raga Vasantee und dem Raga Sohani. Aus beiden leitet Chisholm thematisches Material für seine Komposition ab. Gleich der Eingangssatz beinhaltet – gleichsam als Pars pro toto – die Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten Chisholms. Es handelt sich hier um eine formal weiterentwickelte Passacaglia, die inhaltlich – dem Raga Vasantee gemäss – um den Frühling kreist. Dieser Frühling ist allerdings nichts weniger als eine romantische Vision. Vielmehr pendelt er – daran an Strawinskys „Sacre“ erinnernd – kontinuierlich zwischen Meditation und vehementer Ekstase, zwischen Depression und Manie hin und her. Chisholms Musik setzt ungeheuer stark auf Rhythmik, hat einen wilden Zug nach vorn, steht emotional unter enormen Druck, entlädt sich gleichsam zyklisch und fällt schliesslich immer wieder zurück in Momente des Dunklen und Düsteren. Ob eben in der eröffnenden Passacaglia, dem sich anschliessenden „Allegro scherzando“, der „Aria in modo Sohani“ und in der abschliessenden „Fuga senza tema“: Der Hörer erlebt im Rahmen des gut halbstündigen Violinkonzertes einen unablässigen Rausch, der seinesgleichen durchaus sucht.

Sowohl der Orchestersatz als auch im Besonderen der Solo-Part stellen dabei höchste Ansprüche an die Ausführenden. Glänzend bestehen hier das BBC Scottish National Orchestra und Geiger Matthew Trusler. Obwohl seinem Ton etwas der Körper abzugehen scheint, so ist er der Virtuosität der Partie vollkommen gewachsen und erweist sich als hervorragender Gestalter dieser hochkomplexen Herausforderung. Tatsächlich eignet sich die etwas flache, kühle Brillanz seines Tones als ideal für die Durchleuchtung dieses Werkes.
Weites emotionales Spektrum

Ähnliches kann man zu der sich mit traditionellen gälischen Musikformen auseinandersetzenden „Dance Suite for orchestra and piano“ aus dem Jahr 1932 (man beachte die ungewöhnliche, aber vollkommen richtige Reihung) sagen. Auch in diesem Werk, das eben kein Klavierkonzert ist, obwohl das Klavier – durchweg hervorragend zwischen Analyse und Verzückung gespielt von Pianist Danny Driver – durchaus eine wichtige Rolle spielt, wird ein weites emotionales Spektrum aufgezogen. So findet sich als ein Pol der zarte, impressionistische Beginn des zweiten Satzes, der sich in Struktur, Melodik und Stil mit der „Pìobaireachd“, der grossen gälischen Variationsform beschäftigt. Auf der anderen findet sich die atemlose Vehemenz des Eingangssatzes „Allegro energico“ und das in einem rasanten Reel gipfelnde brachiale Gelärme des letzten Satzes, der dem Hörer nur so um die Ohren fliegt. Zwischen diesen beiden Werken platziert finden sich drei von Chisholm orchestrierte aus den ursprünglich für das Klavier komponierten Preludes „From the True Edge of the World“ aus dem Jahre 1943. Hier zeigt sich ein musikalisch gemässigterer Chisholm, der sich mit altem gälischen Liedern auseinandersetzt, die aus Amy Murryas Buch „Father Allan’s Island“ stammen.
In „Song oft he mavis“ zieht Chisholm alle Register seiner Orchestrationskunst, um ein idyllisch-impressionistisches Frühlingsbild mit nachgeahmtem Drosselruf zu gestalten. Im „Ossianic lay“ zaubern Brabbins und das schottische Spitzenorchester eine legendenhafte, ja magisch-mythische Stimmung (der Ossian beschäftigte Chisholm auch ausführlich in seiner zweiten Symphonie) und der abschliessende Reel entpuppt sich als bodenständiger, wuchtiger aber dennoch mit wunderbaren Drive gesegneter Tanzsatz. Diese zweite Produktion aus dem Hause Hyperion mit Musik Erik Chisholms ist ein echter Hinhörer und es bleibt zu hoffen, dass sich das Label dazu entschliessen wird, die begonnene und bislang höchst gelungene Werkschau in Zukunft noch etwas zu erweitern. ♦
Erik Chisholm: Violinkonzert / Dance Suite for Orchestra and Piano / Preludes from The True Edge of the Great World, Matthew Trusler (Violine), Danny Driver (Klavier), BBC Scottish Symphony Orchestra, Martyn Brabbins, Audio-CD, 63 Minuten, Hyperion CD-Label
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