Brilliant Correspondence Chess Moves BCCM (07)

In der Top-Etage des Fernschachs (07)

von Walter Eigenmann

Der Computer veränderte und verändert noch immer bekanntlich alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens – und geradezu dramatisch dokumentierte sich diese Veränderung u.a. im Bereich der Unterhaltungsindustrie. Hier genauer gemeint: des Schachspiels.
Denn seit dem in den letzten Jahren die sog. Chess Engines (= die eigentlich rechnenden „Motoren“, eingebettet in diverse verfügbaren Schach-User-Interfaces GUI) eine derart hohe Spielstärke erreicht haben, dass jeder menschliche Grossmeister (der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen inklusive) absolut chancenlos ist, hat das Schach seinen einstigen Nimbus des zauberhaften Königlichen Spiels, des unerschöpflichen Meeres an genialen Kombinationen und seiner vielhundertjährigen Kulturgeschichte für viele seiner Adepten verloren.

Legendäre Schachkombinationen entzaubert

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Die Drucksensoren des uralten „Kasparov“-Tischrechners kämpfen mit einer Stellung Fischer-Petrosjan (7. Match-Game 1971)

Die buchstäblich unmenschliche Präzision und Tiefe des maschinellen Berechnens ist denn auch heutzutage nicht mehr dazu angetan, irgend einen Zauber des menschlichen Geistes zu beschwören, der auf (zwangsläufiges) Patzen in den Turniersälen (gestern und heute) oder auf jahrzehntelang hochgelobte Zugkommentare in Schachbüchern voller grober Fehler und Ungenauigkeiten basiert. Schätzungsweise 90% aller vor der letzten Jahrhundertwende geschriebenen Schachbücher dürften im Lichte des modernen Computerschachs betrachtet inzwischen Makulatur sein – Kult-Bücher einst legendärer Schach-Genies von Steinitz bis Karpow eingeschlossen. Die damals weltweit gefeierten Super-Kombinationen von Bobby Fischer & Co. entpuppen sich heute unterm Mikroskop von Houdini & Co. als sekundenschnell gefundene Simplizitäten, wo sie nicht überhaupt gar unkorrekt sind. Dass dies der schachgeschichtlichen Leistung der damaligen Genies allerdings nichts anhaben kann, muss nicht extra betont werden. Trotzdem: Das Schachspiel mag nach wie vor (gemäss Goethe) „ein Prüfstein des Gehirns“ sein – aber nicht für Computer…

Das Fernschach als Labor des schachlichen Erkenntnisgewinns

Eines der aktuell stärksten, sogar dem amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen Paroli bietenden Schachprogramme ist die Freeware-Engine Stockfish.
Eines der aktuell stärksten, sogar dem amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen Paroli bietenden Schachprogramme ist die Freeware-Engine Stockfish.

Wenn also der (frühere wie heutige) menschliche Turnier-Schachbetrieb (ob online oder on-the-board) unergiebig geworden ist, wenn es darum geht, nach wirklich „tiefen“, nach besonders „schwierigen“ Kombinationen und Strategemen zu fahnden, so verhält es sich mit dem modernen Fernschach FS (Correspondence Chess CC) mittlerweile anders. Denn hier sind die Topspieler der internationalen FS-Szene längst dazu übergegangen, den Computer in ihre (oft tagelangen) Stellungsanalysen einzubeziehen.
Und die interaktive Verbindung von menschlichem „Planen“ bzw. Lenkung des „Mainstreams“ einer Schachpartie mit der ungeheuren Akkuratesse der heutigen Engines zeitigt inzwischen wirklich bewunderswerte Schachzüge, die nicht nur in ästhetischer Hinsicht faszinierend sind, sondern auch quasi schach-„erkenntnistheoretisch“ grossartige Leistungen darstellen, die das Fernschach ausweisen als regelrechtes Schach-Forschungslabor.

Die neue Reihe „Brilliant Correspondence Chess Moves“ BCCM will denn auch genau solche Fernschach-Kombinationen präsentieren, die zwar frappant, aber auch korrekt, zwar schwierig zu finden, aber nicht „unlösbar“ sind. Züge also, die vom menschlichen Meisterspieler erst nach langer Analyse aufspürbar sind – mithilfe des Computers…

Strategisches Planen versus taktisches Rechnen

Unser siebtes BCCM-Exemplar – siehe unten – ist ein Damenendspiel, sein Fokus liegt aber auf dem materiellen Ungleichgewicht „Turm gegen Läufer“. Eine extrem schwierige Stellung, die vom Menschen präzise Intuition (was nur scheinbar ein Widerspruch ist) und von der Maschine sehr breites und tiefstes Rechnen erfordert. Auf den ersten Blick scheint Schwarz komplett chancenlos zu sein. Und legt man diese Stellung den führenden Computerschach-Programmen vor, bestätigen sie diesen Eindruck und wähnen den Nachziehenden im hoffnungslosen Aus, mit Negativ-Bewertungen zwischen 3 bis 5 Pawn-Points. Mehr noch: je länger man die Engines an der Aufgabe knabbern lässt, desto höher werten sie die Gewinnaussichten des Weissen.
Als Beleg sei der Analyse-Output der Assembler-Engine „AsmFish“ aufgeführt, des zurzeit schnellsten Derivats des führenden Progammes „Stockfish-9“:

Analyse AsmFish 2018-04-08:
[...]
23/44 00:02 27'059k 13'389k +2.59 Db5 Te1 Ld4 Dd2 Da4 Td1 Le5 De2 Df4 Tg1 Kg8 [...]
[...]
31/52 00:26 376'407k 14'435k +3.18 Db5 Te1 Ld4 Dd2 Lf6 De2 Db6 Tb1 Db4 Tg1 Ld4 [...]
[...]
42/54 04:17 3'324'992k 12'914k +3.67 Db5 Te1 Kg8 Dc2 Lf6 De2 Db7 Tb1 Dc6 Dxg4 Dc2 [...]
[...]
48/58 07:20 5'494'019k 12'462k +3.74 Db5 Te1 Kg8 Dc2 Lf6 De2 Db7 Tb1 Dc6 Dxg4 Dc2 [...]
[...]
49/65+ 18:04 13'475'747k 12'430k +4.00 Db5 Te1 [...]
Wer unter den Schachfreunden der "Glarean"-Leserschaft eine (noch unveröffentlichte) Fernschach-Stellung kennt, die in unsere BCCM-Reihe passen könnte, ist gerne eingeladen, die entspr. PGN an die Redaktion zu senden. Vielleicht kann sie unter Namensnennung des "Finders" hier veröffentlicht werden. (Aus der Serie Brilliant Correspondence Chess Moves BCCM)
Wer unter den Schachfreunden der „Glarean“-Leserschaft eine (noch unveröffentlichte) Fernschach-Stellung kennt, die in unsere BCCM-Reihe passen könnte, ist gerne eingeladen, die entspr. PGN an die Redaktion zu senden. Vielleicht kann sie dann unter Namensnennung des „Finders“ hier vorgestellt werden!

Während also hier der Computer auch nach viertelstündigem Rechnen (auf einem Intel7-3.6Ghz mit 8 CPU’s)  versagt, sucht die findige Kreativität des (Fernschach-)Menschen nach jenem einen Strohhalm, der die Stellung wie durch ein Wunder doch noch ins Remis zu retten vermag. So der russische Grossmeister Gregory Sanakoev, der als Schwarzer in dem Post-Jubiläumsturnier CAPA 1999 gegen seinen argentinischen GM-Kollegen Roberto Alvarez die einzige Chance entdeckt, nämlich die Option „Ewiges Schach“. Der weisse König wird mittels Läuferopfer aus seinem Bau geholt und mit Nonstop-Schachgeboten übers ganze Brett hin unter Dauerfeuer genommen, bis ihm schliesslich „die Puste ausgeht“; auf offenem Feld hat der Hase keine Chance gegen seinen Jäger.

Auch hier sind es also einmal mehr grundsätzliche Überlegungen, indiziert durch taktisch zugespitzte Stellungsmerkmale, deren späten Konsequenzen weder von Menschen noch von Maschinen auf die Schnelle ausgerechnet werden können – und weder direkt am Brett vom Grossmeister noch aus dem Stande heraus vom Computer. Die weitsichtige, wengleich natürlich zeitintensive Planung des Menschen, dieses tagelange detektivische Aufspüren von versteckten Ressourcen, immer abgesichert mittels interaktiver taktischer Verifizierung durch den Computer – das ist das eigentliche Faszinosum des Korrespondenz-Schachs heute, und das dürfte es noch lange bleiben. ♦

Brilliant Correspondence Chess Moves BCCM – 07

FEN-String: 7k/6p1/p5p1/4b3/6p1/8/PP2q1QP/K5R1 b

Ein Mausklick auf eine Stelle in der Partie-Notation öffnet ein neues Partie-Fenster; dort lassen sich die Züge nachspielen und die Partie als PGN-Datei downloaden.
Um die Aufgaben selber schnell (mittels copy&paste) in ein Programm bzw. in ein Schach-Interface laden zu können, ist jeder Stellung auch der zugehörige FEN-String beigegeben.

Hier finden sich alle bisherigen BCCM-Aufgaben

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach auch die neue Biographie von Carsten Hensel: Wladimir Kramnik – Aus dem Leben eines Schachgenies

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