J. Campe: Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre

Besichtigung eines Lebens

von Wolfgang-Armin Rittmeier

Mit Gioachino Rossini verbindet sicher jeder Freund klassischer Musik etwas – sei es nun die berühmte Ouvertüre zu seiner Oper „Wilhelm Tell“, die Arie des Figaro aus dem „Barbier von Sevilla“ oder irgendeine andere jener sanglichen Melodien, die dem 1792 geborenen Komponisten so intensiv aus der Feder flossen, dass sie problemlos für das Oeuvre einer ganzen Schar von Tonsetzern gereicht hätten.
Ebenso wahrscheinlich ist es, dass fast ein jeder, der den Namen Rossini hört, auch ein bestimmtes Gesicht mit diesem Namen verbindet, sei es nun das berühmte Portrait aus den 1820er Jahren, das der Scuola pittorica italiana entstammt, die Fotografie von Étienne Carjat oder jene augenzwinkernde Karikatur, die den „Schwan von Pesaro“ bei der Zubereitung eines grossen Topfes Pasta am heimischen Herd zeigt

Komponist zwischen Opern und Nudeln?

Joachim Campe: Rossini - Die hellen und die dunklen Jahre, Biographie, Theiss Verlag
Joachim Campe: Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre, Biographie, Theiss Verlag

Beides – Musik und Optik – haben sich nun im kollektiven Unbewussten zu einem ganz bestimmten Rossini-Bild amalgamiert, das auch immer wieder gerne bedient wird: Rossini – als Mensch ein freundlicher, den leiblichen Genüssen zugewandter und darum leicht adipöser Typ, als Komponist ein Meister der Melodie, der Heiterkeit, der Buffa. Und so kann man auch, ohne dass es in irgendeiner Form geschmacklos schiene, CDs wie „Pasta classics – Kochen mit Rossini“; „Rossini – Eine kulinarisch-musikalische Biographie“; oder auch „Rossini – Bonvivant und Gourmet – mit 45 Rezepten“ kaufen. Mit Bach wäre in dieser Sache kein Staat zu machen. Aber Rossini, der Italiener, das Kind der Sonne, der zwischen Nudeln und Chianti eben flott schmissige Opern auf das belsamicobefleckte Notenpapier bringen konnte, der eignet sich…

Schlimm ist, dass man eigentlich wenig Gelegenheit hat, dieses Bild zu überprüfen, zu differenzieren, ja: zu relativieren. Klar, auf dem Markt gibt es Volker Schierless’ kleine Rowohlt-Monographie von 1991. Richard Osbornes „Rossini – Leben und Werk“ ist schon seit längerem vergriffen. Arnold Jacobshagens verdienstvolles Buch „Gioachino Rossini und seine Zeit“ aus der Laaber-Reihe „Grosse Komponisten und ihre Zeit“, 2015 erschienen, ist für den ersten Zugriff vielleicht etwas zu wuchtig. Da kommt Joachim Campes gut 200 Seiten starke, beim Konrad Theiss Verlag erschienene Biographie „Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre“ dem Leser, der einigermassen zügig sein Rossini-Bild zurechtrücken möchte, gerade recht.

Zeitgenosse einer bewegten Epoche

Rossinis Ehefrau und Muse: Die spanische Opernsängerin und Komponistin Isabella Colbran (1785-1845)
Rossinis Ehefrau und Muse: Die spanische Opernsängerin und Komponistin Isabella Colbran (1785-1845)

Schon der Titel suggeriert, dass Rossinis Leben ganz offensichtlich nicht ununterbrochen von italienischem Sonnenschein durchflutet war. Tatsächlich gab es da – das sei gar nicht abgestritten – eine Menge Licht. In flüssig erzählendem Stil berichtet Campe von der Kindheit als Wunderkind, von den Erfolgen, aber auch den zahlreichen Misserfolgen, die Rossini – so wollen es dem Leser die entsprechend vorgebrachten Quellen zumindest nahelegen – mit einer gewissen positiven Grundstimmung, mit Humor und einem guten Schuss Selbstironie hinnahm. Man erfährt von der besonderen Beziehung Rossinis zu seinen Eltern, die stets positiv war, bis es zu seiner Hochzeit mit der Sängerin Isabella Colbran kam, die einen Schatten auf das an sich gute Verhältnis warf. Daneben ordnet Campe die historische Figur Rossini, den Zeitgenossen einer der bewegtesten Epochen der europäischen Geschichte trefflich in die Historie ein, was wiederum eine ganz besonders treffliche Leistung darstellt, ist Rossini doch selbst kaum je einmal als „Homo politicus“ aufgetreten. Tatsächlich äusserte er sich in Briefen und aufgezeichneten Gesprächen nur selten politisch, lediglich manch eine seiner Opern kann sich einer politischen Deutung nicht vollständig verschliessen.

Unruhige Persönlichkeit voller Widersprüche

...und der junge Rossini, 1822 gemalt von Friedrich Lieder
Der junge Rossini, 1822 gemalt von Friedrich Lieder

Als Folge seines Ansinnens, ein möglichst differenziertes, aber nicht ausuferndes Bild des Komponisten zu entwerfen, nimmt Campe den Leser seiner kleinen, aber doch substanziellen Biographie an die Hand und besichtigt mit ihm schlaglichtartig viele Orte in Rossinis Leben. Und viele Orte zu vielen Zeiten waren wie gesagt glanzvoll: Neapel, Paris, London und Wien begrüssten, beherbergten und feierten den grossen Komponisten – man möchte sagen: gebührend. Sicher gab es da Alltagskonflikte, eine kriselnde Ehe, Probleme mit Profilneurotikern, (opern-)politisches Ränkespiel. Aber es gab eben auch Glanz, Ruhm und sehr viel Geld, besonders in Paris.

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Doch da finden sich auch besonders dunkle Orte in der Biographie Rossinis, Orte von denen man vielleicht nicht so gerne spricht, die Campe dem Leser aber nicht vorenthält. Einer dieser Orte ist der offenkundig sehr starke Sexus Rossinis, den er mit grosser Begeisterung in Bordellen auslebte, wo er sich in Folge einer Gonorrhoe eine Urethritis, also eine üble Harnröhrenentzündung zuzog, die ihm das Leben schwer machte, und die in Paris – nicht ohne Risiko – operiert werden musste. Ein anderer der dunklen Orte, an dem sich Rossini im Laufe seines Lebens immer wieder und mit zunehmender Intensität aufhalten sollte, war die schwarze Welt der Depression. Mit nüchternem Blick zeigt Campe, wie Rossini nach 1823 immer wieder in höchst niedergeschlagene Stimmungen verfiel, schliesslich wohl auch aufgrund dieser Erkrankung aufhörte, Opern zu komponieren und sich phasenweise komplett isolierte. Gerade in den letzten Jahren scheint – so zeigt es Campe – Rossini eine eher unruhige Persönlichkeit gewesen zu sein, von Schlaflosigkeit und Schmerzen geplagt, überhaupt anfällig für alle möglichen Erkrankungen, bisweilen auch für Kränkungen, immer wieder den Wohnsitz wechselnd, sich mit Todesängsten herumquälend.

Differenzierte Beschreibung jenseits aller Hagiographie

Das Bild vom heiteren Rossini ist, das macht die Lektüre von Campes Buch sehr differenziert deutlich, also ein höchst eindimensionales. Das Schöne ist letztlich, dass der Autor keine Hagiographie schrieb, sondern Rossini als Menschen aus Fleisch und Blut präsentiert, mit allen Stärken und Schwächen, die damit einhergehen.

Fazit: Die neue Biographie von J. Campe: Rossini zeigt differenziert auf, dass das Bild vom heiteren Rossini ein höchst eindimensionales ist. Hier wird vielmehr Rossini als Mensch aus Fleisch und Blut präsentiert – also keine Hagiographie, sondern die Darstellung eines Musik-Genies mit allen Stärken und Schwächen. Ein Buch, dessen Lektüre Freude macht.

Es spricht eine Menge Zuneigung zu seinem Gegenstand aus Campes Zeilen, die man aufgrund des höchst angenehmen Konversationstones ausgesprochen gerne liest. Einziges Manko des Buches mögen des Autors streckenweise zu intensiv aneinandergereihten Nacherzählungen der Opernhandlungen im Verbund mit angerissenen Deutungshinweisen zu den Werken sein. Nicht nur, dass das so wirkt, als wolle der Autor hier ein wenig zu deutlich auf seine Gelehrsamkeit hinweisen. Es fehlt manch einem Deutungsansatz auch an Stimmigkeit, weil das Format des kleinen Werkes den Raum für tiefschürfende Werkbetrachtungen und ausgefeilte Argumentationen letztlich nicht hergibt. Nicht selten langen die interpretatorischen Fingerzeige Campes ins Leere oder setzten beim Leser einer solchen knappen Schrift zu viele Kenntnisse der Materie selbst voraus. Hier wäre eine klarere Abgrenzung wünschenswert gewesen.
Insgesamt jedoch ein Buch, dessen Lektüre Freude macht. ♦

Joachim Campe: Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre, Biographie, 222 Seiten, Konrad Theiss Verlag (WBG), ISBN 978-3-8062-3671-2

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musiker-Biographien auch die neuen
Musiker-Anekdoten (2)

… sowie aus der Reihe „Musik-Zitat der Woche“ von
Urs Frauchiger: Über das Konzert-Publikum

Zum 150. Todesjahr von Adalbert Stifter

Und noch ein Fleisch auf dem Sauerkraut

Zum 150. Todesjahr von Adalbert Stifter

von Günter Nawe

Es gibt Bücher, die jeder kennt und die doch nur ganz wenige gelesen haben. „Der Nachsommer“ von Adalbert Stifter ist ein solches Buch: ein Tausend-Seiten-Roman mit wenig Inhalt und doch voller Zauber, eine „Utopie von Raum und Zeit“, ein „Traum vom Glück“, von grosser Genauigkeit des dichterischen Blicks und von einer Tiefe, „die in neuer Zeit nur von Göthe übertroffen ist“ (A. S.). Ein solches Diktum teilten viele Kollegen und Leser beileibe nicht. Hebbel war es, der jedem, der freiwillig diesen „Nachsommer“ zu Ende lesen werde, die Krone Polens versprach. Und Stifters grösster „Feind“ Thomas Bernhard verstieg sich in einer grandiosen Beschimpfungssuada dazu, den Dichter des „Nachsommer“ als den „langweiligsten und verlogensten Autor“ zu bezeichnen.
Was Wunder, dass die Romane „Nachsommer“ und „Witiko“ und die Erzählungen „Bunte Steine“ und „Studien“, sowie „Die Mappe meines Urgrossvaters“ nach den grossen Erfolgen zu Lebzeiten des Dichters etwas in Vergessenheit geraten sind. Das bevorstehende Jubiläum – vor 150 Jahren, am 28. Januar 1868 gestorben – bietet einen willkommenen Anlass, sich Albert Stifters und seiner Bücher zu erinnern.

Ein Leben – „einfach wie ein Halm wächst“

Adalbert Stifter (1805-1868)
Adalbert Stifter (1805-1868)

Das Leben Stifters war „einfach wie ein Halm wächst“. Und doch war dieses Leben, das am 23. Oktober 1805 in Oberplan im südlichen Böhmen begann und im Januar 1868 in Lenz durch einen Schnitt eines Rasiermessers durch den Hals endete, voller Konflikte und Spannungen. Früh schon verlor Adalbert seinen Vater. Der Besuch des Benediktiner-Gymnasiums Kremsmünster allerdings wurde von Stifter selbst als eine besonders glückliche Zeit bezeichnet. Hier wurden die Grundlagen für sein späteres Verhältnis zur Natur, zur Literatur und Kunst gelegt. Weniger glückliche Zeiten sollten folgen. Das Jura-Studium in Wien endete ohne Abschluss. 1827 gab es die ersten dichterischen Versuche im Zeichen von Klopstock, Herder und Jean Paul. Und die erste Liebe – zu Fanny Greipl. Unerfüllt sollte sie bleiben, dafür erfüllten Selbstzweifel den jungen Mann.

Genialer Vielfrass bei Fleisch, Sauerkraut und Bier

Erste dichterische Versuche sind zu vermelden. Und das endgültige Zerwürfnis mit Fanny. Ihr sollte Amalie Mohaupt folgen, die er 1837 heiratete. Stifter malte (übrigens sehr beachtlich) und veröffentlichte 1840 die Erzählung „Der Condor“. Erfolg stellte sich ein, was auch notwendig war. Immer noch war der Dichter ohne feste Anstellung und Amalie sehr verschwendungssüchtig. So fristet er als Hauslehrer in Wien sein Leben. Nach und nach erschienen jedoch weitere Erzählungen: „Feldblumen“, „Brigitta“ und „Der Hochwald“, und 1842 die Erzählung „Abdias“, die den Durchbruch brachte. Nicht nur literarisch. 1848 war Stifter Wahlmann in der Frankfurter Nationalversammlung. Er siedelte nach Linz über, wurde endlich Schulrat und erhielt 1853 eine feste Anstellung.

Die Ehe mit Amalie war alles andere als glücklich. Die Ziehtochter Juliane nimmt sich das Leben. Längst hatte den Dichter auch die Fress- und Saufsucht endgültig erreicht. Der geniale Vielfrass vertilgte in einer Mahlzeit Brotsuppe, Geflügel, Fleisch und „noch ein Fleisch auf einem Sauerkraut“, dazu Rüben und Krautsalat und eine Unmenge dunkles Bier.

Der Biedermeier-Dichter Adalbert Stifter als Maler: "Mondlandschaft mit bewölktem Himmel" (1850)
Der Biedermeier-Dichter Adalbert Stifter als Maler: „Mondlandschaft mit bewölktem Himmel“ (1850)

Am Leben entlanggeschrieben

Als „Gegenentwurf“ zu diesem Leben kann „Der Nachsommer“ (1857) gelesen werden, mit dem er sich „am Leben entlanggeschrieben hat“, als eine Sehnsucht nach Harmonie, die ihm das Leben nicht zu bieten hatte. Ein Buch, das gerade deshalb ausgesprochen interessant, sprachlich unvergleichlich schön und sehr modern ist; von einem Meister der „Entschleunigung“, angeschrieben gegen die stete Beschleunigung der Welt. Nietzsche zählte den „Nachsommer“ – vielleicht gerade wegen seiner Unzeitgemässheit – zu den wenigen Werken deutscher Prosa, die es verdienten, „wieder und wieder gewesen zu werden“.

1865 erschien der Roman „Witiko“, und Adalbert Stifter wurde der Hofratstitel verliehen. Zunehmende Depressionen jedoch und eine Leberzirrhose wurden nahezu zur Lebensplage. Der Erfinder des sanften Gesetzes der Schönheit philosophierte am Ende sehr unschön mit dem Rasiermesser. Denn „…es war Glanz, es war Gewühl, es war unten…“. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin von Günter Nawe auch über den Roman von José Saramago: Die Reise des Elefanten
… sowie zum Thema Literatur-Biographie über Armin Mueller-Stahl: Die Jahre werden schneller

500 Jahre Reformation: Bücher zu Luther, Zwingli & Co.

Die Reformation und ihre Protagonisten

von Günter Nawe

Was am 31. Oktober 1517 geschah, hatte den Charakter einer „Revolution“; der Anschlag der 95 Thesen an der Schlosskirche in Wittenberg sollte die Welt verändern. Martin Luther (1483 bis 1546), der ehemalige Mönch, setzte mit diesen 95 Thesen die Reformation in Gang. Und setzte dabei die Einheit der Kirche aufs Spiel, provozierte politische Ereignisse und hat mit seiner Bibelübersetzung sozusagen die deutsche Sprache „erfunden“. Damit begann ein Modernisierungsprozess in Kirche, Staat und Gesellschaft – mit weltweiten Auswirkungen bis heute.

Martin Luther (1483-1546 - Lucas Cranach d.Ä.)
Martin Luther (1483-1546 – Lucas Cranach d.Ä.)

Auslöser des Ganzen waren Luthers Thesen zum Ablass, ein Verfahren der Kirche, mittels dessen die Gläubigen gegen Geld Vergebung ihrer Sünden erlangen sollten. Luther monierte dieses Verfahren und forderte stattdessen, dass die Kirche die Gläubigen lehre, das „Evangelium und die Liebe Christi“ zu lernen. Was sich daraus entwickelte, war vergleichbar einem Erdbeben mit unabsehbaren Folgen.
Dieser Mann war Vieles in Einem: Reformator, Mönch und Theologe, Mystiker, Professor, Fürstenfreund und Bauernfeind, Antisemit, Vater und Ehemann, Übersetzer und Schriftsteller und Publizist. Ihm widmete die Evangelische Kirche, die Christenheit insgesamt und Deutschland im Besonderen ein ganzes Gedenkjahr.
Vor allem waren (und sind es noch immer) Bücher und Artikel, Biographien und historische sowie theologische Abhandlungen, die versuchen, Martin Luther auf die Spur zu kommen, die Bedeutung der Reformation für Religion und Geschichte auszuloten und nicht zuletzt Luthers überragende Leistung als Sprachschöpfer zu würdigen.

Ein deutscher Rebell: Martin Luther

Heimo Schwilk: Luther - Der Zorn Gottes
Heimo Schwilk: Luther – Der Zorn Gottes

Als einen „deutschen Rebellen“ sehen ihn Autoren wie Willi Winkler und Heinz Schilling. In ihren ausgezeichneten Biographien, zu denen auch die grossartige Arbeit von Lynda Roper, und die Luther-Arbeit von Volker Reinhardt zu zählen ist, zeigen sie ihn uns als ein Mann der Zeit, geben Orientierung und bringen uns den Menschen Luther näher. Das gilt auch für die Biographie von Heimo Schwilk: Luther – Der Zorn Gottes, der seiner Arbeit den Untertitel „Der Zorn Gottes“ gibt und damit aufzeigt, dass Luther vom „Furor des Gottsuchers“ angetrieben sowohl Gottesbindung als auch Obrigkeitstreue als wichtige Elemente seines Lebenswerks sah. So gelingt es Schwilk, dem Leser deutlich zu machen, was Luther bewegt hat. Seine Biographie bietet wenn schon nicht einen ganz neuen, doch einen frischen Blick auf den Reformator, auf sein Leben, seien Theologie und sein Werk.

Die Entwicklung der Reformation und ihre Folgen

Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte - Eine Geschichte der Reformation
Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte – Eine Geschichte der Reformation

Die volle Wucht der Reformation können wir erahnen, wenn wir über ihr Entstehen, ihre Entwicklung und die Folgen Bescheid wissen. Einen solchen Bescheid vermittelt uns Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Kaufmann hat ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung abgeliefert. Kaum einer weiss mehr über das Thema – und kaum einer weiss besser darüber zu erzählen. So haben wir die Geschichte der Reformation, einer Epoche voller Dramatik, bisher noch nicht gelesen: faszinierend geschildert, kenntnisreich, packend und kritisch.

Johannes Calvin (1504-1569 - Hans Holbein d.J.)
Johannes Calvin (1504-1569 – Hans Holbein d.J.)

Wenn wir aber schon von Reformation reden, ist ein Blick von Wittenberg nach Zürich und nach Genf unausweichlich. Denn Luther war kein einsamer Gestalter. In der frühen Neuzeit gab es religiöse Bewegungen und Zeitgenossen wie Philipp Melanchthon und Thomas Müntzer, im weitesten Sinne auch Erasmus von Rotterdam, vor allem aber Huldrych Zwingli (1484 bis 1531) und Johannes (Jean) Calvin (1509 bis 1564), deren Denken und Tun für die Zeit ebenso prägend und folgenreich war. Beide begründeten mit Luther und doch unabhängig von ihm einen recht eigenständigen Protestantismus.

Besonders strenger Bibel-Interpret: Johannes Calvin

Volker Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend - Calvin und die Reformation in Genf
Volker Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend – Calvin und die Reformation in Genf

So ist es nur recht und billig, im zu Ende gehenden Reformationsjahr auf sie mehr als nur hinzuweisen. Volker Reinhardt, mit Luther ebenso vertraut wie mit Johannes Calvin, hat in seinem bereits 2009 erschienenen Buch Die Tyrannei der Tugend – Calvin und die Reformation in Genf aufgezeigt, wie der Prediger Johannes Calvin, Reformator der zweiten Generation, zum Begründer des Calvinismus, einer besonders strengen Auslegung der Evangelien, wurde. Mehr noch, so Reinhardt, hat Calvin, hat der Calvinismus nicht nur die Welt durch seine Sittenstrenge, Askese und Bilderfeindlichkeit verändert, sondern auch zur Entstehung des Kapitalismus wesentlich beigetragen. Reinhardt erzählt zudem anschaulich, wie es dem wortgewaltigen Prediger Calvin gelungen ist, Genf zu einem „reformierten Rom“ zu machen.

Schlüsselfigur der Reformation: Erasmus von Rotterdam

Ueli Greminger: Im Anfang war das Gespräch - Erasmus von Rotterdam und der Schatten der Reformation
Ueli Greminger: Im Anfang war das Gespräch – Erasmus von Rotterdam und der Schatten der Reformation

Die Zürcher Reformation und überhaupt die Reformation hat ohne Zweifel Erasmus von Rotterdam (mit-) geprägt. Nicht zuletzt durch seine Bibelübersetzung aus dem Griechische ins Lateinische (Novum Instrument – Neues Testament), die auch zur Grundlage der lutherischen Übersetzung ins Deutsche wurde. So hat er den Anfang des Johannes-Evangeliums nicht mit dem üblichen „Im Anfang war das Wort“ übersetzt, sondern mit „Im Anfang war das Gespräch“. Dies ist auch der Titel eines kleinen Büchleins von Ueli Greminger: Im Anfang war das Gespräch – Erasmus von Rotterdam und der Schatten der Reformation. Er zeichnet im Rahmen eines Gesprächs zwischen einem Theologen und einem Psychologen das Menschen- und Gottesbild des Erasmus und lässt damit den Denker als eine Schlüsselfigur der Reformation erkennen.

Älteste protestantische Bibel-Übersetzung: Huldrych Zwingli

Peter Opitz: Ulrich Zwingli - Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus
Peter Opitz: Ulrich Zwingli – Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus

Eine Schlüsselfigur der Reformation ist zweifellos auch Huldrych Zwingli. Ihm hat die protestantische Welt die Zürcher Bibel zu verdanken. Sie entstand bereits fünf Jahre vor Luthers Übersetzung und gilt als die älteste protestantische Übersetzung der gesamten Bibel. Damit nicht genug: In 67 Thesen (auch hier gibt es Parallelen zu Martin Luther), die in mehreren Disputationen zur Diskussion gestellt wurden, hat er seine Ansichten deutlich gemacht. In seinem Kommentar zum wahren und falschen Religion zeigte Zwingli sich in vielen Punkten mit Luther einig. Was die Liturgie betraf, war er radikaler als Luther. Und was das Abendmahl betraf unterschied er sich wesentlich vom deutschen Reformator. Nachzulesen ist dies und mehr in der Biographie des Zwingli-Forschers Peter Opitz: Ulrich Zwingli –  Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus.

Die Frauen an der Seite der Reformatoren

Luther, Zwingli, Calvin – alle drei Reformatoren hatten Frauen an ihrer Seite. Über Luthers Frau Katharina Bora, die ehemalige Nonne, gibt es Literatur in Hülle und Fülle. Wogegen wir von Idelette Calvin, der Frau des Genfer Reformators, relativ wenig wissen. Und Zwingli? Er war neun Jahre, von 1522 bis 1531, mit Anna Reinhard verheiratet. Sie, die als Tochter eines Gastwirts zur Frau des Reformators wurde, war die starke Frau an seiner Seite. Am Ende verlor sie Mann und Sohn auf dem Schlachtfeld von Kappeln.
Ihrem Leben und Wirken ist die Romanbiografie von Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli gewidmet. Sigrist, Pfarrer am Grossmünster in Zürich und damit Nach-Nachfolger des Leutpriesters Zwingli, hat, wie Klara Obermüller in ihrem Vorwort schreibt, „einer Frau, die im grossen Schatten ihres Mannes zu verschwinden drohte, ihre Stimme und ihr Gesicht zurückgegeben. Und er lässt uns den Mann, Zwingli, noch einmal ganz neu sehen durch die Augen seiner Frau.“

Reformatorisches Liebespaar: Anna und Ueli

Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli
Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli

Sigrist hat eine fiktive Biographie geschrieben, die in Form eines Tagebuchs nachträglich das Zusammenleben vorstellbar macht. Anna, der ihr Ueli fehlt, schreibt über ihre Liebe zueinander, über die Kinder, das Hauswesen, aber auch über seine Theologie und ihr Verständnis davon – und das beileibe nicht unkritisch. So gelingt Sigrist ein brillantes Psychogramm des Reformators und eines aussergewöhnlichen Paares in aussergewöhnlicher Zeit. Beide, Ulrich und Anna, treten auch in dem Mysterienspiel Die Akte Zwingli auf, für das Christoph Sigrist den Text geschrieben hat und Hans Jürgen Hufeisen die Musik. Das Libretto ist – sie schön ergänzend – der Romanbiografie angefügt.

Am Ende: Ohne das gedruckte Wort hätte es wohl keine Reformation gegeben. Bücher und Schriften, Flugblätter, Pamphlete und Karikaturen verbreiteten die Ideen und Überzeugungen der Reformatoren in Windeseile. Grossmeister des Metiers war zweifellos Martin Luther. Und 500 Jahre danach sind es wieder Medien der unterschiedlichsten Art, die uns die Reformation, dieses Weltereignis, und ihre Protagonisten einmal mehr näher bringen. Historisches, Theologisches, Biographisches – alles zu diesem Thema ist mehr oder weniger lesenswert. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Mittelalter und Renaissance“ auch das
Interview mit Rebecca Gablé („Der dunkle Thron“)

… sowie zum Thema Mittelalter auch über
Martin Grubinger: Drums `N` Chant (Audio-CD)

Barbara Beuys: Maria Sibylla Merian (Biographie)

Über die Schönheit von Raupen und Schmetterlingen

von Günter Nawe

Maria Sibylla Merian (1647 bis 1717) war alles in einem: Künstlerin, Insektenforscherin, eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die sich – man würde heute sagen – zu vermarkten wusste. Auch das für eine Frau in dieser Zeit erstaunlich – und bewundernswert. Kurz: Maria Sibylla Merian war eine selbstbewusste und selbstständige, ja emanzipierte Frau.
Aus einem sogenannten guten Hause, Tochter des berühmten Matthäus Merian, also künstlerisch vorbelastet, entdeckte die Forscherin Maria Sibylla Merian früh ihre Liebe zu Raupen und Schmetterlinge, deren Schönheit sie begeisterte. Joachim von Sandrart, Maler, Kupferstecher und Kunsthistoriker, beschreibt 1665 das Interessengebiet der Maria Sibylla Merian wie folgt: Sie konzentriere ihren grossen Fleiss und ihren Geist…darauf, „besonderlich auch in den Excrementen der Würmlein, Fliegen, Mucken, Spinnen und dergleichen Natur der Thieren abzubilden, mit samt dem Veränderungen, wie selbe Anfangs seyn, und hernacher zu lebendigen Thieren werden, samt dern Kräutern, wovon sie ihre Nahrung haben….“.

Beobachtungsgabe und unermüdlicher Forschergeist

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Ein „Fachgebiet“, dem sie sich ausführlich widmete und in dem sie mit wissenschaftlicher Akribie forschend erfolgreich arbeitete. Sie wurde zur Expertin und ihr erstes „Raupenbuch“ („Der Raupen wunderbare Verwandlung, und sonderbare Blumennahrung“) war eine Pionierleistung erster Klasse. Beobachtungsgabe und unermüdlicher Forschergeist waren es, die sie in diesem Fachgebiet Bedeutendes leisten liess. Und es war mehr: Es war ihre Liebe zur Natur, die sie zeichnerisch in Kunst verwandelte – eine reproduzierende Kunst, die sie von ihrem nicht minder berühmten Vater gelernt hatte.

Plastische Natur-Beschreibungen

Merian - Das kleine Tropenwunder - Glarean Magazin
Merian: „Das kleine Tropenwunder“

Ihre Bücher fanden Freunde, nicht zuletzt dank ihrer Fähigkeit zur Beschreibung ihre Forschungsergebnisse von Pflanzen und Insekten. Weil dabei immer ihr Herz mitspielte. Als Beispiel die Beschreibung einer Pampelmuse: „Die grosse und herrliche Frucht wird in Surinam Pampelmuse genannt. Die Bäume wachsen so hoch wie Apfelbäume.Sie hängen sehr voll von Früchten, so dass die Zweige oft Gefahr laufe, wegen des Gewichtes der Früchte zu brechen… Hierauf befinden sich Raupen mit blauen Köpfen, deren Körper voller langer Haare ist, die so hart sind wie Eisendraht.“

Maria Sybilla Merian (1647 bis 1717)
Maria Sybilla Merian (1647 bis 1717)

Ihr Erkenntnisse hat sie auch künstlerisch umgesetzt. Ihre Stiche, sie war auch eine hervorragende Kupferstecherin, zählen bis heute zu den den bedeutendsten und schönsten Naturbildern, zu den schönsten Blumen- und Insektenbildern der Barockzeit.
Über all dies schreibt die Biographin Barbara Beuys in ihrem wunderbaren Buch über Maria Sibylla Merian. Sie zeichnet dabei nicht nur ein faszinierendes Lebensbild einer ebenso faszinierenden Frau, sondern gleichzeitig ein Bild der Gesellschaft, in der Maria Sibylla Merian gelebt, geforscht und gearbeitet hat. In einer Zeit, die von den reformatorischen und gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt war. Selbstbewusst hat sie sich als Frau in einer weitgehend männerdominierten Welt, die dennoch neue Spielräume für Frauen eröffnete, durchgesetzt.

Von Frankfurt über Hamburg in die Tropen

Kursorisch der Lebenslauf: Kindheit und Jugend in Frankfurt/Main, dann Nürnberg, Heirat und Kinder, wieder nach Frankfurt, Eintritt in eine radikal religiöse Gemeinschaft in Holland, nach zwanzigjähriger Ehe Trennung von ihrem Mann, Umzug mit ihren Töchtern nach Amsterdam, Gründung des Merian-Studios. Und letztlich – im Alter von zweiundfünfzig Jahren – eine Forschungsreise in die tropische Inselwelt von Surinam. Sie war, sie wurde nun endgültig berühmt, nicht immer geliebt, aber anerkannt und gerühmt von Gottfried Wilhelm Leibniz.

Wohl niemand vor ihr hat die Natur so prächtig gemalt und beschrieben wie Maria Sibylla Merian - eine aussergewöhnliche Frau, Künstlerin und Forscherin, deren Biographie Barbara Beuys nicht zuletzt aus Anlass des 300. Todestages vorlegt.
Wohl niemand vor ihr hat die Natur so prächtig gemalt und beschrieben wie Maria Sibylla Merian – eine aussergewöhnliche Frau, Künstlerin und Forscherin, deren Biographie Barbara Beuys nicht zuletzt aus Anlass des 300. Todestages vorlegt.

Natürlich beschreibt Barbara Beuys sehr akribisch Lebenslauf und Lebenswelt der Maria Sibylla Merian. Doch der Autorin geht es um mehr. Sie versucht, sich mit weiblichem Blick der Gefühlswelt dieser Frau zu nähern, sie zu erkunden. Und das gelingt Barbara Beuys hervorragend.
Wenn es ein Geheimnis um des erfüllte Leben der Maria Sibylla Merian gegeben haben sollte – sie selbst hat es gelüftet. Im Vorwort zu ihrem surinamischen Insektenbuch schreibt sie, warum sie für dieses Buch die besten Kupferstecher und das beste Papier gewählt habe: „…damit ich sowohl den Kennern der Kunst als auch den Liebhabern der Insekten Vergnügen und Freude bereite, wie es auch mich freuen wird, wenn ich höre, dass ich meine Absicht erreicht und gleichzeitig Freude bereitet habe.“ Sie hat – ebenso wie uns Barbara Beuys mit dieser Biographie. ♦

Barbara Beuys: Maria Sibylla Merian – Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau, Biographie, 284 Seiten, Suhrkamp Verlag, ISBN 978-3-458-36180-0

Lesen Sie im Glaran Magazin zum Thema „Frauenbiographien“ auch über Simone Frieling: Ausgezeichnete Frauen (Mysteriöse Gender-Aspekte des Literatur-Nobelpreises)

… sowie über Kerstin Decker: Lou Andreas-Salomé (Biographie)

Efrat Gal-Ed: Niemandssprache – Itzig Manger

Prinz der jiddischen Ballade

von Günter Nawe

„Jiddische Literatur gehört den kleinen Literaturen an und weist einen ungewöhnlichen Reichtum an literarischen Genres auf“. So steht es in dem aussergewöhnlichen interessanten, wichtigen und schönen Buch der Malerin, Autorin und Jiddistik-Professorin Efrat Gal-Ed. Zu diesem „ungewöhnlichen Reichtum“ dieser Literatur hat der jiddischen Dichter Itzik Manger (1901-1969) mit seinem Werk Wesentliches beigetragen. Seine Biographie – „der erste Versuch einer kritischen Biographie“ – hat Efrat Gal-Ed jetzt unter dem Titel „Niemandssprache: Itzig Manger – ein europäischer Dichter“ veröffentlicht.

Niemandssprache - Itzik Manger – ein europäischer Dichter - SuhrkampAussergewöhnlich ist dieses Buch auf vielerlei Weise. Einmal ist es der Dichter, dem diese Biographie gewidmet ist, zum anderen die typografische „Konstruktion“ dieses Buches, die sich an den Talmud anlehnt. „Auf Seitenmitte steht der Haupttext,… um ihn herum, in einer anderen, kleiner gesetzten Schrift, stehen Erörterungen und Auslegungen aus späteren Jahrhunderten…“, so erklärt die Autorin ihr typografisches Konzept. Und so war auch der Gestaltungsmodus der jiddischen Bücher, den sich Efrat Gal-Ed für dieses Buch zu Eigen gemacht hat. Die jiddischen Texte werden – wie seinerzeit üblich – zudem in hebräischer Schrift zitiert. Allerdings dann ins Deutsche (in lateinischer Umschrift) „übersetzt“. Für den Leser eine Herausforderung, der er sich allerdings gern stellt.
Ist doch das Thema, das auf diese Weise präsentiert wird, von grösstem Interesse. Die jiddische Kultur, die Sprache – sie waren doch lange Zeit für viele Menschen von grösster Bedeutung. Noch im vorigen Jahrhundert war „Jiddischland“ innerhalb Europas ein säkularer Kulturraum – eine Kultur und eine Sprache, die weitestgehend in Vergessenheit geraten ist. Heute sind es leider nur noch etwa 1.5 Millionen Menschen, die Jiddische sprechen.

Deutsche Kultur und Sprache als Massstab für das Schaffen

Itzik Manger
Itzik Manger

Ein Vertreter dieser Kultur war Itzik Manger. Geboren wurde er in Czernowitz, in einer multi-ethnischen Stadt in der Bukowina. Für ihn waren deutsche Kultur und Sprache – wie für viele andere auch: Paul Celan und Rose Ausländer u.a. – der Massstab, an dem er sich und sein Schaffen orientierte. Dennoch entschied er sich, wie Efrat Gal-Ed schreibt, für das Jiddische als seine „Dichtersprache“. Für ihn war sie „herrenlos“, war „Jiddisch… „Niemandsprache“, war sie „Niemandsliteratur“ in einer „Niemandswelt“.
In dieser „Niemandswelt“ lebte der Itzik Manger. „Der exzentrische Dichter mit seinen originellen Versen, seinen rumänisch-zigeunerischen Weisen, mit seinen Träumen und selbst mit seinen Skandalen erweckt in Warschau grosses Interesse, auch über die literarischen Kreise hinaus.“, schreibt Efrat Gal-Ed. Er gehörte der einen und anderen literarischen Gruppe an – und war doch irgendwie isoliert. Immer mal wieder denkt er an Selbstmord.
Und er reist: Warschau, wo die zweitgrösste jüdische Gemeinschaft der Welt lebte, und wo er seine wohl glücklichste Zeit verlebte, und Wilna, Krakau und Bukarest, Riga und Berlin und endlich auch nach Paris. Ein unstetes Leben, oft auch abenteuerlich-gefährliches Leben in Kriegs- und Nachkriegszeiten. Und weiter – nach England, nach New York und schliesslich nach Israel. In Israel, in Gedera sollte der wohl grösste und bedeutendste jiddische Dichter  am 20. Februar 1969 sterben. Israel mit einem grossen Begräbnis als einen Helden der jiddischen Literatur.

Die Welt des nichtassimilierten Judentums

Als Dichter war Itzik Manger unverwechselbar. In unzähligen Gedichten und Balladen hat er eine Welt beschrieben, die mit dem Holocaust untergegangen ist. Vor allem die Welt des osteuropäischen, des nichtassimilierten Judentums. Auf diese Weise wurde er berühmt – zumindest bis zur Zeit seines Exils. Danach verlor sich seine Stimme, trotz grossen Erfolgs in Amerika.

Fazit-Rezensionen_Glarean Magazin
Mit der Biographie des jiddischen Dichters Itzik Manger hat die Autorin Efrat Gal-Ed einen vergessenen europäischen Autoren des 20. Jahrhunderts ins literarische Gedächtnis zurück geholt. Und sie hat mit ihrem aussergewöhnlichen Buch nicht nur eine spannende Lebens- und Autorengeschichte erzählt, sondern auch eine kleine, aber bedeutsame Literatur- und Kulturgeschichte geschrieben.

Nicht nur von Efrat Gal-Ed zitierten Gedichte und Balladen belegen seine literarischen Qualitäten. Ergänzend zu dieser grossartigen Biographie empfiehlt sich die Lektüre des ebenfalls von der Biografin herausgegebenen und übertragenen Bandes „Dunkelgold: Gedichte“ (Jiddisch und deutsch).
Der Sohn eines Schneiders wurde zum jiddischen Troubadour, zum „Prinzen der jiddischen Ballade“. Volkspoesie war die Quelle seines Schaffens. Auf diese Weise blieb Manger erdgebunden, blieb er mit seiner Poesie im Hier und Jetzt. Zuhause, als Kind hatte er die Volkslieder gehört. „Was für eine Orgie an Farbe und Klang. Ein verlassenes Erbe, Gold, das als Niemandsgut mit Füssen getreten wurde.“ Er hat diesen Schatz gehoben.
Und so „klingt“ es dann bei ihm:
„Stiller Abend. Dunkelgold. / Ich sitz beim Gläschen Wein. / Was ist geworden aus meinen Tagen? / Ein Schatten und ein Schein – / ein Augenblick von Dunkelgold / soll in mein Lied hinein.“

Lebensgeschichte mit der Kulturgeschichte verwoben

Sein poetisches Credo: „Der Künstler muss in menschlichen Kategorien denken, er muss nicht nur Mitgefühl mit dem Opfer haben, sondern in menschlichen Kategorien den Mörder verstehen, seine Motive, seine Pathologie, sein gesamtes Nervensystem“. Auch das ist Itzik Manger.
Sein vielfältig verflochtenes, sein abenteuerliche und immer gefährdetes Leben hat die Autorin Gal-Ed in ihrem Buch beschrieben. Eigentlich sind es zwei Bücher. Denn Efrat Gal-Ed hat nicht nur die Biographie des Dichters geschrieben, den sie – und das wird in diesem Buch ganz deutlich – als europäischen Dichter begreift; sie hat diese Lebensgeschichte verwoben mit der Literatur- und Kulturgeschichte einer Zeit, in der die jiddisch-säkulare Kultur Osteuropas eine bedeutende Rolle spielte.
Der vergessene Dichter Itzik Manger – Efrat Gal-Ed hat ihn der Vergessenheit entrissen, ihm mit Empathie, profunder Kenntnis und wissenschaftlicher Akribie ein wunderbares Denkmal gesetzt. ♦

Efrat Gal-Ed: Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter, Suhrkamp Verlag, 784 Seiten, ISBN 978-3-633-54269-7

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Biographien auch über
Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer

… und zum Thema Europäische Literatur den Report:

Dominik Riedo: Nur das Leben war dann anders

Von der Suche nach dem Sinn des Leidens

von Karin Afshar

Dominik Riedo hat ein Buch geschrieben.  Schriftsteller tun bisweilen und mit Vorliebe ebensolches – sie schreiben über fiktive Figuren, die sich Gedanken machen, die etwas erleben, etwas zu verarbeiten, die etwas verbrochen und gut zu machen haben. Schriftsteller schreiben auch Biographien und Autobiografien, und manchmal brechen sie mit ihren Geschichten ein Schweigen und ein Tabu. In seinem Buch „Nur das Leben war dann anders“ schreibt Dominik Riedo über seinen Vater und dessen Geheimnis, dessen Anders-Sein. Er schreibt darüber, was es mit einem Sohn macht, wenn er auf den Spuren eines Verzweifelten wandelt, um zu verstehen, was da geschehen ist.

Dominik Riedo - Nur das Leben war dann anders - Nekrolog auf meinen pädophilen Vater - Offizin Verlag - CoverGemeinschaften – schutzbietende, denn dazu sind es Gemeinschaften – dulden und sichern ein gewisses Mass an Anderssein in ihrer Mitte. Wird jedoch dieses Mass nur um einen winzigen Schritt überschritten, kippt die Duldung, und der Einzelne, der für diesen Übertritt als zuständig ausgeschaut wird, wird als Gefahr bezeichnet. Es gilt ihn auszuschalten. Dieser Einzelne – eben noch ermutigt, seine Besonderheit, sein Anderssein zu leben – findet sich ausgeschlossen wieder.  Und versteht die Welt nicht mehr. Gemeinschaft ist Gemeinschaft eben auch dadurch, dass sie geschlossen ist und mithin statisch. Offene Gemeinschaften sind dagegen instabil, sie müssen immer wieder für diese Offenheit und gegen ihre Feinde kämpfen. Das ist unbequem. Freiheit ist unbequem. Im Kleinen ist das nicht anders als im Grossen: Karl Popper wäre in diesem Jahr 114 Jahre alt geworden – und hat verstanden, warum Menschen bis zur Unmenschlichkeit gegen die offene Gesellschaft kämpfen.

Transgenerationelle Übertragungen in der Literatur

Familien sind die Elementarzelle unserer Gemeinschaft – in ihnen gelten Gesetze und Regeln, jede Familie hat ihre geschriebenen und ungeschriebenen Glaubenssätze und Haltungen, die sie von anderen Familien unterscheidet.  Und in nicht wenigen Familien scheint es etwas wie einen Fluch zu geben. Über Familien und ihre Geschichten gibt es reichlich Literatur. Transgenerationelle Übertragungen, lese ich, spielen in der Literatur traditionell eine ganz grosse Rolle. Man könnte sogar sagen, dass die Literatur fast auf dieses Phänomen spezialisiert ist. Seit der Antike werden Geschlechterfolgen, Generationen, Familienflüche, Weitergabe von Schicksal, von Verbrechen durch die Generationen hindurch in der Literatur thematisiert, und das in ganz unterschiedlicher Form.
Die Verschwiegenheit gehört zu diesem Komplex  – es darf nicht darüber geredet werden, denn es könnte die ganze Familie in Verruf geraten. Das, worüber nicht gesprochen wird, wirkt jedoch im Leben dieser (zunächst kindlichen) Nachkömmlinge weiter und kann für seine Erfahrungen und seine Wahrnehmungen bestimmend werden.
Heinrich Böll schrieb 1959 mit „Billard um halb zehn“ einen Generationen-umspannenden Roman, der die NS-Zeit reflektierte. Spätere Familienromane griffen die mangelhafte Kommunikation über die Naziherrschaft und die eigene Verstrickung auf. In vielen deutschen Familien geistern noch immer Geheimnisse, über die die heimkehrenden Männer nie sprachen. Inzwischen sind die Enkel ins Leben entlassen und haben Fragen über Fragen, weil irgendetwas immer nicht zu gelingen scheint… An diesem Punkt beginnen viele, in der Vergangenheit zu suchen – und neben der Suche nach dem Ursprung wird die Frage nach Umwelt und Anlage laut.

Sucht hat mit Suchen zu tun

Die vom Vater wieder und wieder gestellte Frage („Warum müssen Menschen eine Veranlagung haben, die nicht akzeptiert wird?“)  nach Anlage oder Umwelt bleibt offen bzw. führt, wie im Falle auch von Dominik Riedos Vater dazu, dass er sich überall nach Orientierung umschaut: Bei Astrologen, in der Esoterik, bei Kartenlegern, in buddhistischen Weisheiten, bei Mystikern und noch vielem anderen.
Ein Schlüsselerlebnis  – und dies im wahrsten Sinne des Wortes – fällt dem Sohn ein, während er sich mit Prozessakten, Presseartikeln und Tagebucheinträgen in Fragmenten auseinandersetzt: Ein Blick durchs Schlüsselloch auf seinen Vater, der im Schmerz über sich selbst und der Sucht ausgeliefert, in seinem Zimmer wütet und Gegenstände zerstört. Wer es nicht kennt, kann nicht annähernd nachempfinden, was da aus einem Menschen heraus will, wie es heraus bricht als kaum noch menschlicher Ton. Verstörend, einen Menschen in einem solchen Zustand zu sehen – als Sohn noch mehr, denn den Menschen, der einem doch Schutz bieten soll, dem man ausgeliefert ist, so derart hilflos zu sehen – macht Angst. Sucht hat immer (auch wenn es trivial und weit her geholt als Wortspiel daherkommt) mit Suchen zu tun. Egal welche Sucht es ist: ihr nicht zu entkommen, sie nicht in den Griff zu bekommen, sie jeden Tag wieder in sich hochsteigen zu spüren – erodiert und treibt schwächere Menschen nicht selten in den Wahnsinn und in den Selbstmord. Und was machen stärkere Menschen?
Ob es eine Anlage ist, bzw. was „es“ ist, wenn es keine Veranlagung ist, bleibt zunächst unbeantwortet – ist aber eben das Thema schlechthin in diesem Buch. Doch worum geht es nun genau? Was ist dieses ES, das den Sohn dazu bringt, einen Nekrolog auf seinen Vater zu schreiben? Die Bezeichnung, die die Gesellschaft seiner Veranlagung gibt, ist Pädophilie.

Die zentralen Warum-Fragen

In unseren offenen Gesellschaften, die gleichgeschlechtliche Liebe inzwischen legalisiert (ob inzwischen auch in der Schweiz entzieht sich gerade meiner Kenntnis) und damit von den Rändern in die Mitte der Gesellschaft geholt haben, gilt die erotische Liebe zu Kindern, der Sex mit Jungen bis kurz vor der Pubertät, als Verbrechen. So wurde denn der Vater behandelt und angesehen: als Verbrecher, der einer Strafe zugeführt werden muss. Dass diese dann doch vergleichsweise mild ausfiel, half dem Vater wenig. Nachdem er in Thailand einem Partner, der ihn nach Strich und Faden ausnahm und ihn um sein Altersgeld brachte, aufgesessen war, empfand er vielmehr dies als „seine gerechte Strafe“.  – An dieser und an anderen Stellen fragt er sich: „…warum fast alles, was ich gut gemeint tue, aufbaue und zu vollenden versuche, mir meistens Unheil bringt.“ Die Warum-Fragen sind die zentralen Fragen in diesem Zusammenhang.
Zu einem Monster macht keiner sich selbst – die Gesellschaft macht ihn dazu, indem sie mit dem Finger auf ihn zeigt. Dass etwas nicht „in Ordnung“ ist, hat der Träger des entsprechenden Stigmas längst selbst bemerkt. In John Steinbecks „East of Eden“ sind die Verwerfungslinien zwischen dem Guten und dem Bösen, dem nicht nur Bösen und dem nicht nur Guten eindrucksvoll beschrieben. In „Jenseits von Eden“ wird Cathy Ames, Antagonistin zu Adam Trask, als dämonisches Monster beschrieben – als ein „psychic monster“ with a „malformed soul“. Physisch eher zierlich, blond, hübsch, sind ihre Augen kalt und ohne Emotionen. Charismatisch ist  sie – von klein an hat sie Wirkung auf Menschen, die, wenn sie naiv genug sind, sich auf sie einlassen. Dass sie Prostituierte wird und schliesslich die Leiterin eines Etablissements, ist wenig überraschend. Kate ist der Satan in Person.
Aber sie ist auch eine Pandora: Wohin immer sie geht, und was immer sie tut – sie tut nicht, was ihr gesagt wird, sondern öffnet die Büchse, sie setzt das Böse in die Welt, das Unheil. Nun ist Kate alias Cathy seelisch grausam gegen die, die sich auf sie einlassen – womit ich jetzt eintrete in eine Art Psychogramm. Sarah Aguiar schreibt in „No Sanctuary“, Kates Verhalten sei einer Perversion menschlicher Werte zuzuschreiben, sie sei kindlich-egozentrisch, sehr bedürftig und wolle sich selbst auf Kosten anderer schützen – ja, sie rächt sich für den Mangel an Liebe und Aufmerksamkeit in ihrem Leben, um nicht zu sagen: in ihrer Kindheit.

Psychogramm eines pädophilen Menschen

Dominik Riedo - Glarean Magazin 2017
Dominik Riedo

Warum diese ausführliche Herleitung? In Dominik Riedos Nachruf auf den Vater geht es eben auch um das Psychogramm eines (pädophilen) Menschen. Nicht der Sohn stellt es, sondern er nimmt uns mit in die Gutachten, die seinem Vater zu drei verschiedenen Lebenszeiten gestellt wurden. In den drei „Sexgutachten“ im Buch mag der Leser nachlesen, was in unterschiedlichen Zeitepochen beobachtet und gewichtet wurde. Zum Beispiel: „…der Pädophilie liegt eine ausgeprägte neurotische Fehlentwicklung mit starker Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls zugrunde…“, „…der Explorand bleibt in seiner narzissistisch selbstbezogenen Welt gefangen und vermag als Erwachsener keine reifen partnerschaftlichen Beziehungen einzugehen“, „…Er weicht auf Knaben aus, denen er körperlich wie intellektuell überlegen ist…“, „…ist nicht in der Lage, aggressive Gefühle zu reifer Verarbeitung zu führen.“
Würde ich gefragt, ich würde sofort antworten: derlei „Gutachten“ sind Beschreibungen von etwas, das ja offensichtlich ist – wir sehen es doch bereits, und die schriftliche Fixierung derselben ist alles andere als eine Therapie. Eine Therapie – als Verhaltensänderung (denn das sind Therapien immer) – ist aber nicht möglich. Ein hoffnungsloser Fall? Zumindest haben wir einen Menschen vor uns, der schon bei seiner Geburt ein Gezeichneter ist. – Auch das schildert der Sohn: den Weg, den sein Vater über das Waisenhaus zu den vielen verschiedenen Interessen und Berufsentwürfen nahm, ein begabter junger Mann, fleissig, beflissen, mit guten Manieren und nicht unangenehmem Auftreten – wo viel Licht ist, ist viel Schatten?! Nun ist hier einer mit vielen Begabungen – aber sie alle wiegen offensichtlich nicht den einen Schatten auf, den er zu tragen hat. Daran konnte auch Sylvia Tanner (Gründerin der Schweizer Beratungsstelle für Pädophile ITP-Arcados mit Internet-Präsenz, im Oktober 2010 verstorben) nicht wirklich helfen. Von ihr stammt u.a. der Satz: „Der junge Pädophile muss verstehen lernen, dass das Kind ihn lieben kann – es sich aber in der Regel nicht verliebt und kein erwachsenenähnliches Begehren zum Tragen kommt.“

Sinnsuche als Rückkehr zum Punkt Null

Die Kindheit ist enorm wichtig. Jede Sinnsuche – bei Schwierigkeiten im eigenen Leben – fängt damit an, dass man an den Punkt Null – und wenn es gar sehr ernst wird – sogar vor den Punkt Null zurückgeht. Ich kenne das von mir selbst – ich kenne es von etlichen anderen. Die Phänomene sind alle unterschiedlich, die Fragen meistens dieselben: Wer bin ich? Und: Bin ich das, was meine Eltern sind? Auf dem Weg zu sich selbst liegt die totale Verweigerung wie eben auch die schrittweise Annäherung an die Eltern. Wohl dem, der Eltern hat, die dabei helfen, indem sie als Zeugen von einer von uns als Kind unbewusst erlebten Zeit berichten. Natürlich sucht Dominik Riedo als jüngerer wie auch als älter werdender Mann stellvertretend für seinen Vater und in eigener Sache den Faden zum Ursprung. Im Kapitel „Ordnungen und Störungen“ durchforstet er das Familienleben auf Hinweise – hat die Suche seines Vaters auch auf ihn einen Einfluss? Die Mutter kommt nicht davon – ja, auch eine Mutter ist im Leben eines heranwachsenden Jungen wichtig.
Sobald klar wird – und im Laufe des Lebens und zwangsläufig in der Auseinandersetzung mit einer unheilbaren Krankheit, die einen selbst erwischt, wird es klar -, dass man nicht das Schicksal eines der beiden oder sogar beider Elternteile nachleben muss, sondern dass das eigene Schicksal darin besteht, sein eigenes Leben zu leben. Die geschlagenen Wunden sind nicht von den Eltern geschlagen – und es ist eben auch nicht so, dass wir in der falschen Zeit oder in der falschen Kultur leben.

Unerfülltes Bedürfnis nach Klärung

Bevor ich das letzte Kapitel lese und hier reflektiere, etwas zum Stil, zum Erzählstil des Buches. Der Leser muss sich an ihn gewöhnen (andererseits nicht, denn es ist ein typischer „Riedo“), fügt sich doch hier Ebene an Ebene, Schicht an Schicht, kenntlich gemacht in Kursiv- und Normalschrift. Mal spricht der Vater, dann der Sohn, da führt der Sohn Selbstgespräche oder richtet sich an den Leser. Mir geht bei etwa Seite 178 ein wenig die Geduld aus – noch einmal eine Runde gehen, noch einmal eine Betrachtung. Mir will scheinen, das Bedürfnis der Klärung ist für den Autor noch nicht erfüllt, während ich mir einbilde, schon ein Bild zu haben – aus je eigener Erfahrung im Durchschreiten von Unterwelten und Höllen. Ich will die nochmalige Tour nicht mitgehen. Manche Wunden heilen nicht, weil sie immer wieder aufgekratzt werden. Aber so ist das, wenn man Antworten sucht – aus Sucht. Das Thema ist eben kein geschmeidiges, das schon mal überhaupt nicht. Wenn man sich einlässt, dann führt uns Dominik Riedo hier in Abgründe, deren es im Menschen eben viele gibt. „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (Friedrich Nietzsche)

Keine Abrechnung mit dem pädophilen Vater

Und was meint Dominik Riedo abschliessend? Wofür dieses Buch? Denk er, es könnte eine Heilung geben? Unter anderem nennt er diesen Punkt: „Es könnte bei einigen Fällen tatsächlich so sein, dass man die Pädophilie ‚heilen‘ kann.“ Und wenn nicht? Sollte man eventuell die emotionale Unreife und/oder die narzisstisch bedingte, zu selbstbezogene Persönlichkeitsstruktur verändern? Sollte man das Schutzalter senken, oder das anerzogene Objekt der Lust ändern, d.h. eine Objektverschiebung vornehmen? Kastration? Sollte man die Gesellschaftsordnung ändern? – „So oder so müsste sich die Gesellschaft einmal ernsthaft und ganz bewusst durch den Kopf gehen lassen, dass die Stärke eines Tabus oft dem unbewussten Bedürfnis der Verbietenden entspricht, der damit Triebregungen abwehrt.“
Nein, dieses Buch ist keine Abrechnung mit dem Vater, es schildert uns einen Menschen mit Schattenseiten. Auch den guten Seiten ist Raum eingeräumt – allerdings unter dem drückenden Fanal der Tragik. Das Ziehen von Bilanzen beginnt zu verschiedenen Zeiten im Leben, nicht erst wenn jemand gestorben ist.
Auch ich bin ein Kind von Eltern – bin jetzt in einem Alter, in dem ich mich mit ihren Verfehlungen auseinandersetze. Ich wiederum bin Mutter, und ich werde Fehler gemacht haben, die mir die Kinder früher oder später vorwerfen werden. An beidem werde ich milde: Keiner ist ganz schlecht, niemand ist 100 % gut. Das lese ich auch aus Riedos Zeilen heraus.
Der Sohn fragt sich gegen Ende seines Gewaltmarschs: „Wie wäre ich, wenn mein Vater nicht mein Vater gewesen wäre? Es folgt der Blick in den Spiegel – den Kinder tun – wenn sie sich abgrenzen wollen und doch auch eine durchgängige Linie von sich zu ihren Vorvorderen suchen. Und? „Was bleibt?“
Unsere Gesellschaften sind frei, solange wir konform sind, aber schon bei der kleinsten „Andersartigkeit“ (die in ihrer guten Ausführung auf Esoterikforen und auf Affirmationskärtchen der selbsternannten aquarianischen Weltretter als unbedingt nötig beschworen wird) umschlägt.
Was bleibt, wenn Familien einen Schandfleck aufweisen – ein Naziverbrechen, eine Vergewaltigung, einen Mord, um nur einige zu nennen – und sie schweigen müssen? Was bleibt, wenn das Geheimnis gelüftet wird, und man sich als Kind, das man immer ist und bleibt, ausliefert? Das Buch von Dominik Riedo ist keine Rechtfertigung der Pädophilie – es ist eine mutige Konfrontation eines Sohnes mit dem So-Sein seines Vaters, und wenn man so will: seiner Herkunft. Die Auseinandersetzung mit dem, wo man her kommt, ist wichtig. Nur dann hat man Perspektiven für den Weg nach vorne. ♦

Dominik Riedo: Nur das Leben war dann anders – Nekrolog über meinen pädophilen Vater, Offizin Verlag, 272 Seiten, ISBN 978-3-906276-10-6

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Autobiographie auch von Arno Stocker: Der Klavierflüsterer

Judith Klinger: Robin Hood (Biographie)

Mit Pfeil und Bogen für soziale Gerechtigkeit

von Günter Nawe

Man ist in Zusammenhang mit der Geschichte, den Geschichten um Robin Hood versucht, den eingängigen Buchtitel des Philosophen Richard David Precht etwas abzuwandeln: Wer war er – und wenn ja, wie viele. In der Tat: Robin Hood, der Vogelfreie aus Sherwood Forest, der Gesetzlose und Outlaw, der Sozialrebell – grün gewandet und mit Pfeil und Bogen – ist eine der schillerndsten Figuren der mittelalterlichen Welt. Und er ist es bis heute geblieben.

Vom Outlaw zum Superhelden

Judith Klinger: Robin Hood - Auf der Suche nach einer Legende„Von Robin Hood existiert weder eine biographische noch überhaupt eine einzige, alles entscheidenden Geschichte, die ihn als Helden definiert“, lässt uns Judith Klinger wissen, die sich in ihrem Buch „auf die Suche nach einer Legende“ gemacht hat. Was also bleibt, sind Geschichte und Geschichten um diese legendäre Gestalt, sind Zeugnisse, die von ihm in vielfältiger Form erzählen
Durch acht Jahrhunderte hinweg lässt Judith Klinger, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Mediävistik am Institut für Germanistik der Universität Potsdam den Aufstieg des vogelfreien Outlaws zum Superhelden der Populärkultur lebendig werden.  Das Bild von Robin Hood hat sich im Laufe von fast acht Jahrhunderten oft erstaunlich gewandelt. Vor allem aber: „In Robin Hood  verkörpern sich Träume, Träume von sozialer Gerechtigkeit, die in einer Zeit der Hedgefonds und Bankenkrisen neue Aktualität gewinnen können. Träume vom Leben im Einklang mit der Natur, wie sie die Namensgebung der deutschen Umwelt- und Naturschutzorganisation  Robin Wood beschwört.“, so Judith Klinger.

Erste Spuren im 13. Jahrhundert

Mittelalterlicher Outlaw-Bogenschütze im Dienste der Armen und Verfolgten: Robin Hood
Mittelalterlicher Outlaw-Bogenschütze im Dienste der Armen und Verfolgten: Robin Hood

Wie aber begann diese zeitlose Geschichte? Sie wird von Judith Klüger ausgehend von der frühen mittelalterlichen Balladensammlung „“A Gest of Robin Hood“ erzählt.  Erste Spuren gab es bereits im 13. Jahrhundert. So soll sich hinter Robin Hood ein Graf Robert von Huntigdon verbergen. So ist es auf einem Grabstein aus dem Jahre 1247 zu lesen, der den Tod des Geächteten mit folgender Inschrift „beschreibt“: „Hier unter diesem kleine Grabstein liegt Robert von  Huntigdon. Kein Bogenschütze war so gut wie er, und die Leute nannten ihn Robin Hood. Solche Gesetzlose wie ihn und seine Männer wird England nimmermehr sehen. 24. Dezember 1247“.
Robin Hood war kein Einzelgänger. Allen Freunden der vielen Geschichten sind seine Gefährten, seine „Merry man“ bekannt: Little John, Will Scarlet und Much, später auch seine Gefährtin Marian. Eine einzigartige Gemeinschaft, die zwischen Sherwood Forest, Barnsdale und Nottigham, wo der berühmte Sheriff und Feind Robins zu finden war, ihrem „Handwerk“ nachgegangen ist.

Wissenschaftliche Suche nach einer Legende

Auf den Spuren eines weltweiten Mythos: Germanistin Dr. Judith Klinger
Auf den Spuren eines weltweiten Mythos: Germanistin Dr. Judith Klinger

Aus Balladen, Zeugnissen und Dichtungen ist das Bild entstanden, das wir heute von ihm haben, ist seine „Vita“ geschrieben worden – immer wieder mit neuen Varianten. Und das hat Gründe. „Robin Hood war immer schon ein Meister der Verwandlung“, schreibt Judith Klinger. Mit ihr und anhand der ausführlich zitierten Literatur können wir auch den Aufstieg eines Geächteten zum Schattenkönig und zum einem Helden der Moderne nachverfolgen.

Fazit-Rezensionen_Glarean Magazin
Mythos oder Realität? Judith Klinger hat sich auf eine äusserst spannende Suche nach der Legende „Robin Hood“ begeben. Sie hat es verstanden, die vielen historischen Verweise zu entschlüsseln, den aufregenden Weg dieser Symbolfigur vom Outlaw zum Sozialrebell nachzuverfolgen und zu zeigen, wie und auf welche Weise er heute noch „Wirkung“ zeigt: in Literatur, Film und Comic.

Judith Klinger wird mit „Robin Hood – Auf der Suche nach einer Legende“ den wissenschaftlichen Ansprüchen, die eine solche Arbeit erfordert, gerecht. Gleichzeitig bietet sie dem Leser eine äusserst spannende und hochinteressante Lektüre. So stellt sich eigentlich die Frage nach dem Erfolg der Suche nicht. Auch nicht mehr die Frage nach Mythos oder Realität. Robin Hood hat über die Zeiten ein sehr reales Eigenleben entwickelt.  Er wird immer noch eine Legende bleiben – auch wenn wir dank Judith Klinger nun eine Menge mehr über ihn wissen. Und er wird damit auch eine Symbolfigur bleiben, die auf vielfältige Weise in Filmen, Büchern, Computerspielen und Comics weiterlebt. ♦

Judith Klinger: Robin Hood – Auf der Suche nach einer Legende, 208 Seiten, Lambert Schneider Verlag, ISBN 978-3-650-40054-3

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über die
Biographie: Karl May und seine Zeit (Bilder & Texte)

… und über die Biographie von
Thomas O. H. Kaiser: Klaus Mann

Thomas O. H. Kaiser: Klaus Mann (Biographie)

Gute Recherche, in schlechte Form gegossen

von Bernd Giehl

Sagen wir es mal so: Das Buch von Thomas O. H. Kaiser: Klaus Mann hätte was werden können. Ein richtig gutes Buch hätte es werden können. Eines, das auch Interesse bei einem Leser weckt, der Klaus Mann nur als den berühmten Sohn eines noch berühmteren Vaters kennt. Vermutlich hätte der Autor dazu nur dem Vorbild von Marcel Reich-Ranicki folgen müssen, der einen Aufsatz über Klaus Mann mit folgenden Sätzen einleitet: „Er war homosexuell. Er war süchtig. Er war der Sohn von Thomas Mann. Also war er dreifach geschlagen.“ So erweckt man Aufmerksamkeit und zwingt den Leser förmlich dazu weiterzulesen.

Thomas O. H. Kaiser: Klaus Mann - Ein Schriftsteller in den Fluten der Zeit - Bestandesaufnahme und kritische Würdigung von Leben und WerkDass Klaus Manns Leben es wert ist, nacherzählt zu werden, zeigt Autor Dr. Thomas O.H. Kaiser auf fast jeder Seite. Geboren als ältester Sohn des berühmten Schriftstellers Thomas Mann – nur seine Schwester Erika war ein Jahr älter – wächst Klaus Mann in grossbürgerlichen Verhältnissen auf. Der Vater darf nicht gestört werden – er ist schliesslich ein wichtiger Mann, der ein „Werk“ schafft –; die Mutter ist oft leidend und einmal für mehrere Monate in einem Lungensanatorium in der Schweiz.

Von Dienstmädchen grossgezogen

Und so wachsen Klaus Mann und seine fünf Geschwister in der Obhut von allerlei Dienstmädchen auf. Seine Distanz zum Vater ist entsprechend gross; wo Thomas Mann durch und durch bürgerlich ist, gibt Klaus Mann den Bohemien. Wo der Vater versucht, seine Homosexualität zu verbergen, lebt der Sohn sie offen aus. Er wird Schriftsteller wie sein Vater und tritt so in offene Konkurrenz zu einem, der sich selbst in der Nachfolge Goethes sieht und schon mit 54 Jahren den Nobelpreis bekommt. Er will alles vom Leben und legt sich dabei – anders als der Vater – keine Zügel an. In vielem, auch in seiner Drogensucht ist er masslos. Grenzen existieren nicht für ihn. Das hat er spätestens in dem halben Jahr an der Odenwaldschule ausgetestet, wo er – vom Unterricht freigestellt – tun und lassen konnte, was er wollte (1922/23). Und dann kommen, als Klaus Mann gerade mal 27 Jahre alt ist, die Nazis an die Macht und die haben für einen bekennenden Schwulen und eher links orientierten Schriftsteller, der in seinen Werken tabuisierte Themen wie Homosexualität und Inzest behandelte, natürlich keine besonderen Sympathien, so dass Klaus Mann, ebenso wie sein Vater Thomas und sein Onkel Heinrich Mann – auch dieser ein berühmter Schriftsteller – im Frühjahr 1933 ins Exil geht.

Kein tragendes Prinzip der Biographie gefunden

Originär, schwul, genial: Klaus Mann (1906-1949)
Originär, schwul, genial: Klaus Mann (1906-1949)

Es ist ein spannendes Leben, das Kaiser sich zum Thema genommen hat. Wie schon gesagt: Es hätte etwas werden können. Nur hätte Thomas Kaiser in dem Fall seinem Hang zur Ausschweifung Zügel anlegen müssen. Natürlich kann man im Vorwort das Interesse an seinem Forschungsgegenstand begründen, nur sollte man dann nicht bei der Suche nach den verschwiegenen Aussenstellen der Konzentrationslager in Südniedersachsen, der Heimat des Autors beginnen. Von dort ist es ein weiter Weg bis zum Schriftsteller Klaus Mann. Womöglich wäre das ja nicht der Erwähnung wert, wenn es nicht symptomatisch wäre für dieses Buch. Der Autor findet kein tragendes Prinzip, um seinen Stoff zu gliedern. 800 Fussnoten auf 380 Seiten Text – das ist zumindest ein Indiz, dass hier etwas nicht in Ordnung sein kann. Und wenn man dann noch sieht, dass die Fussnoten um ein Mehrfaches länger sind als der Text, sollte man sich vielleicht doch einmal überlegen, ob hier das Verhältnis noch stimmt.

Gute Inhalte, schlechte Verpackung

Es ist schade um den Stoff, den sich Klaus-Mann-Biograph Thomas O.H. Kaiser vorgenommen hat. Denn Autor Kaiser hat offensichtlich genau recherchiert und viel Mühe aufgewandt, um den Spuren seines Helden quer durch Europa zu folgen. Es steckt eine Menge Arbeit in diesem Buch. Leider hat der Autor aber nicht die Form gefunden, das Leben von Klaus Mann so zu präsentieren, dass man bis zum Ende durchhält.
Es ist schade um den Stoff, den sich Klaus-Mann-Biograph Thomas O.H. Kaiser vorgenommen hat. Denn Autor Kaiser hat offensichtlich genau recherchiert und viel Mühe aufgewandt, um den Spuren seines Helden quer durch Europa zu folgen. Es steckt eine Menge Arbeit in diesem Buch. Leider hat der Autor aber nicht die Form gefunden, das Leben von Klaus Mann so zu präsentieren, dass man bis zum Ende durchhält.

Diese Fussnoten haben etwas Eigenartiges. Manchmal sind es Nebengedanken, die dem Autor ebenfalls noch wichtig sind (wie das auch sonst bei Fussnoten oft der Fall ist), oft jedoch fächern sie einen Gedanken des Haupttextes noch einmal auf. Man fragt sich dann, warum der Autor ihren Inhalt nicht einfach in den Haupttext übernommen hat. Manches hätte er sich auch einfach sparen können, so z.B. die ausführlichen Informationen zu den verschiedenen Nazis, die er erwähnt, die aber keine besondere Rolle im Leben von Klaus Mann spielen, anderes dagegen ist für das Verständnis der Hauptpersonen wichtig. Und so macht er es dem Leser schwer, der keine allzu grosse Lust hat, einen halben Satz des Haupttextes zu lesen, dann zur Fussnote zu springen, dann wieder einen Halbsatz zu lesen, ehe er sich mit der nächsten Fussnote auseinandersetzen muss. Auf diese Weise vergrault man auch gutwillige Leser.
Es ist schade um diesen Stoff. Thomas O. H. Kaiser hat offensichtlich genau recherchiert und viel Mühe aufgewandt, um den Spuren seines Helden quer durch Europa zu folgen. Es steckt eine Menge Arbeit in diesem Buch. Leider hat der Autor aber nicht die Form gefunden, das Leben von Klaus Mann so zu präsentieren, dass man bis zum Ende durchhält. ♦

Thomas O. H. Kaiser: Klaus Mann – Ein Schriftsteller in den Fluten der Zeit, 500 Seiten, Books on Demand, ISBN 978-3738611410

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Biographie auch über Christian Linder:
Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils – Heinrich Böll

… und ausserdem zum Thema Autobiographie auch über
Eric Baumann: Einen Sommer noch

Drei Buch- und DVD-Neuheiten – kurz belichtet

Interessante Buch- und DVD-Novitäten

von Walter Eigenmann

Therese Bichsel: grossfürstin Anna – Roman

Die Emmentaler Schriftstellerin und Journalistin Therese Bichsel (*1956) ist seit 1997 v.a. als gut recherchierende und literarisch gewandte Porträtistin historischer Frauengestalten im Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit. Nun legt sie – wiederum im Zytglogge Verlag – die Roman-Biographie der Prinzessin Juliane von Sachsen-Coburg vor – jener Anna Feodorowna (1781-1860), die später als russische grossfürstin an die Seite eines Enkels von Katharina der grossen verheiratet wird, dann aber aus St. Petersburg flieht und in der Schweiz heimliche Geliebte und Mutter zweier Kinder wird.

Russischer Hochadel an der Berner Aare

Therese Bichsel: grossfürstin Anna - Flucht vom Zarenhof in die ElfenauBichsel rollt das Schicksal der 14-Jährigen Prinzessin Juliane einfühlsam und historisch informativ auf bis hin zu den wenigen glücklichen Tagen der schliesslich geschiedenen russischen Fürstin Anna auf ihrem prächtigen Gut „Elfenau“ nahe der Berner Aare. Die Autorin selber zur Entstehungsgeschichte ihres Buches: „Vor einiger Zeit stiess ich auf Anna Feodorowna und war bald fasziniert von dieser Frau, ihren schwierigen Männerbeziehungen und ihrem Kampf um die unehelichen Kinder in einer Zeit des Umbruchs.“ – Eine willkommene Bereicherung des an Interessantem momentan nicht so reichen Genres „Historischer Roman“.  ♦

Therese Bichsel: grossfürstin Anna – Flucht vom Zarenhof in die Elfenau, Roman, 304 Seiten, Zytglogge Verlag, ISBN 978-3-7296-0851-1

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Biographien auch über
Efrat Gal-Ed: Niemandssprache – Itzig Manger


DVD: Glenn Gould – Genie und Leidenschaft

Glenn Gould - Genie und Leidenschaft - DVD-DokumentationDas kanadische Musik-Phänomen Glenn Gould steht im Mittelpunkt des Dokumentarfilms „Genie und Leidenschaft“, unlängst in einer Doppel-DVD (inkl. eines „internationalen Director’s Cut“) bei „Mindjazz Pictures“ erschienen. Das Video präsentiert vielschichtig und über weite Strecken eindringlich präsentiert das Leben und Werk einer der faszinierendsten Persönlichkeiten der jüngeren Musikgeschichte. Pianist Gould – „Der Mann mit dem Mantel und dem Stuhl“ – ist bis heute Gegenstand sowohl internationaler Verehrung als auch unablässiger klavierinterpretatorischer Forschung, und auch 30 Jahre nach seinem Tode scheint die Faszination für diesen Ausnahmekünstler noch nicht nachgelassen zu haben.

Portrait einer vielschichtigen Persönlichkeit

Der Film beinhaltet unveröffentlichtes Archivmaterial, Interviews mit Gould-Freunden sowie Ausschnitte aus bisher noch nicht publizierten privaten Bild- und Tonaufnahmen. – Die beiden DVDs bringen die (so facettenreiche wie zerrissene) Pianisten-Ausnahmerscheinung Glenn Gould mit all ihrer Widersprüchlichkeit und musikalischen Obsession, aber auch mit ihrer intellektuellen Vielschichtigkeit und interpretatorischen Tiefe nahe. Empfehlenswert. ♦

Glenn Gould – Genie und Leidenschaft, Dokumentarfilm von Michele Hozer und Peter Raymont, Mindjazz Pictures, Doppel-DVD, 84 Min. & Bonusmaterial 106 Min.

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Klavier-Musik auch über
Alice Sara Ott (Piano): Chopin – Complete Waltzes


Ken Follett: Winter der Welt – Roman

Ken Follett: Winter in der Welt - Roman - Lübbe VerlagDie Irrungen und Wirrungen des Zweiten Weltkrieges, seine globalen wie einzelmenschlichen Schicksale nimmt Englands wohl berühmtester Bestseller-Autor Ken Follett („Die Nadel“) diesmal als historisches Panorama her für seinen jüngsten Wälzer „Winter der Welt“. Der über 1000-seitige Roman – Übersetzung: Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher – ist als der zweite Teil einer „Jahrhundert-Saga“  gedacht – nach „Sturz der Titanen“ –  und breitet episch vor zeitgeschichtlich dramatischem Hintergrund mannigfaltige Handlungsstränge mit zahllosen fiktiven wie realen historischen Persönlichkeiten aus.

Teils rührselig, aber sozial engagiert

Für manche Leserschichten anspruchsvollerer Belletristik mag Ken Follett (*1949) teils etwas geschwätzig, teils etwas rührselig daherschreiben. Für die in die Millionen gehende Fan-Gemeinschaft des produktiven – und übrigens auch sozial sehr engagierten -, dabei äusserst detailreichen Schriftstellers ist selbstverständlich „Winter der Welt“ das literarische Muss dieses Herbstes. ♦

Ken Follett, Winter der Welt, Roman, Lübbe Verlag, 1020 Seiten, ISBN 978-3-7857-2465-1

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Roman-Rezensionen auch über
Philip Teir: So also endet die Welt

Walter Janka – Ein ungewöhnlicher Lebenslauf

„Tapferer Mensch und Kommunist durch und durch“

Dem ehemaligen Verleger im Ostberliner Aufbau-Verlag und Freund Walter Janka gewidmet.

von Wolfgang Windhausen

Walter Janka – ein tapferer Mensch und Kommunist durch und durch, der sich von Jugend an für seine Überzeugungen und Ideale engagierte und viele Nachteile in Kauf genommen hat. Er war einer der prominentesten reformkommunistischen Intellektuellen, die nach dem XX. Parteitag in Moskau 1956 eine Demokratisierung der DDR verlangten.

Vielen in der DDR wurde der Name Walter Janka erst ein Begriff, als im Ost-Berliner Deutschen Theater der Schauspieler Ulrich Mühe am 28. Oktober 1989 aus den Erinnerungen Walter Jankas „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ gelesen hatte. Über Freunde vom Fernsehen hatte ich noch eine Karte für die schnell ausverkaufte Lesung bekommen. Die total überfüllte Veranstaltung am Abend wurde auch mit Lautsprechern auf den Vorplatz übertragen.

Berlin, Juli 1955: Aufbau-Verlags-Leiter Janka (r.) an einer Pressekonferenz mit DDR-Kulturminister Johannes R. Becher (Mitte) und dessen persönlichem Referenten K. Tümmler
Berlin, Juli 1955: Aufbau-Verlags-Leiter Janka (r.) an einer Pressekonferenz mit DDR-Kulturminister Johannes R. Becher (Mitte) und dessen persönlichem Referenten K. Tümmler

Diese Lesung Jankas zählte zu jenen Tropfen, die das Fass zum Überlaufen gebracht haben in der vom Verfall ergriffenen Deutschen Demokratischen Republik. Mich bewegte das alles derart, dass ich Kontakt mit Walter Janka aufnahm, der mich dann zu einem Kaffee in sein Haus nach Kleinmachnow bei Berlin einlud. Aus dieser ersten Begegnung, der noch viele folgten, entwickelte sich eine von Achtung und Herzlichkeit geprägte Freundschaft, die bis zu Jankas Tod währte.

Verwundet im Spanischen Bürgerkrieg

Der Autor mit Walter Janka (rechts)
Der Autor mit Walter Janka (rechts)

In den Gesprächen berichtete der 1914 geborene Walter Janka aus seinem ereignisreichen Leben: Von seiner Lehre und dem Beruf als Schriftsetzer, von seinem Eintritt in die KPD und von seiner Verhaftung nach der Machtergreifung der Nazis 1933 als Mitglied der Kommunistischen Partei. Er wurde zuerst in das Zuchthaus Bautzen und anschliessend in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Sein ältester Bruder Albert war KPD–Reichstags-Abgeordneter und wurde 1933 im KZ Reichenbach ermordet.
Walter Janka wurde nach der Haft aus Deutschland ausgewiesen und erlebte drei Jahre lang eine teils schlimme Zeit in den Internationalen Brigaden des Spanischen Bürgerkrieges. Wie er weiter erzählte, war er dort an allen grossen Schlachten beteiligt und wurde dreimal schwer verwundet, darunter mit zwei Lungensteckschüssen, die ihm auch später noch zu schaffen machten. Er erzählte von der Internierung in Frankreich und der Flucht 1941 nach Mexiko.

Mitbegründer des Exilverlages El Libro Libre

Janka mit seiner Lebensgefährtin Charlotte Schulz
Janka mit seiner Lebensgefährtin Charlotte Schulz

In Marseille lernte er seine spätere Frau Charlotte Scholz kennen, die mit ihm zusammen nach Mexiko ging. Dort traf er mit Genossen zusammen, die Mitbegründer der Bewegung sowie der Zeitschrift „Freies Deutschland“ waren. Janka war auch Mitbegründer des Verlages El Libro Libre, dessen Leiter er später wurde. Dieser Verlag war der berühmteste und erfolgreichste Exilverlag auf dem Amerikanischen Kontinent in dem, neben 30 anderen Büchern, auch Anna Seghers bedeutendes „Siebte Kreuz“ und Egon Erich Kischs „Entdeckungen in Mexiko“ veröffentlicht wurden.
Er kehrte im Januar 1947 mit seiner Lebensgefährtin, die er dann heiratete, zusammen mit Ludwig Renn nach Berlin zurück und wurde Generaldirektor der DEFA. Anfang 1952 übernahm er mit dem Aufbau-Verlag den bedeutendsten belletristischen Verlag der DDR. U. a. schrieb er für Blochs „Wissen und Hoffen“ das Vorwort, und unter seiner Ägide erschienen Werkausgaben von Heinrich und Thomas Mann, Arnold Zweig, Leonard Frank, Georg Lukacs und Ernst Bloch.
Walter Janka berichtete mir von Begegnungen mit Halldor Laxness in Berlin, der bei seinen Besuchen dort nie die Vorstellungen des „Berliner Ensembles“ versäumte, und der Janka auch zur Nobelpreisverleihung nach Stockholm einlud. Ich erfuhr auch von seinen Beziehungen zu Thomas Mann in Kilchberg; weil Thomas Mann die Honorare für seine in der DDR gedruckten Bücher nicht ausführen konnte, liess er sich dafür einen Nerzmantel in Ost-Berlin fertigen, den Janka ihm in die Schweiz brachte.( Neben bei bemerkt: Erika Mann leistete sich aus diesem Guthaben, anlässlich eines Berlinbesuches, einen Persianermantel).
Im Laufe der Gespräche streute Walter Janka mitunter auch Anekdoten von Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten in Ost und West ein, so u. a. von dem Besuch Thomas Manns in Weimar 1955, von Leonard Frank, Johannes von Guenther und Erich Kästner. Besonders fasziniert war Janka von einem Besuch bei Charlie Chaplin am Genfer See, welchen Thomas Mann vermittelt hatte.

Schauprozess wegen konterrevolutionärer Verschwörung

DDR-Justiz-Ministerin und Schauprozess-Vorsitzende im Ulbricht-Staat: Hilde Benjamin, genannt „Die blutige Hilde“

Nach dem Ungarn-Aufstand wird Janka am 6. Dezember 1956 verhaftet. Ihm wird „konterrevolutionäre Verschwörung“ gegen die Regierung Ulbricht vorgeworfen. Im anschliessenden Schauprozess beschuldigt man ihn, er habe „das Haupt der Konterrevolution Georg Lukacs“ von Budapest nach Ost-Berlin schmuggeln wollen. Janka erzählte mir, wie betroffen er gewesen sei, dass niemand seiner Kollegen und Freunde gegen die unwahren Behauptungen im Prozess protestierte; Anna Seghers, Willi Bredel, Bodo Uhse, Helene Weigel und andere,  die von Ulbricht „verdonnert“ waren am Prozess teilzunehmen, blieben stumm. Janka berichtete ebenfalls von dem Prozess, in dem er sich trotz brutaler Verhöre und übelster Haftbedingungen kein Geständnis abpressen liess. Das grosse Interesse der Regierung an diesem Prozess wurde dadurch dokumentiert, dass die gefürchtete Hilde Benjamin, die damalige DDR Justizministerin, häufig persönlich an ihm teilnahm. (Hilde Benjamin wurde im DDR-Volksmund auch die „Rote Guillotine“, „Rote Hilde“ oder „Blutige Hilde“ genannt, weil sie für eine Reihe von Schauprozessen gegen Oppositionelle, Sozialdemokraten und willkürlich angeklagte Personen sowie für zahlreiche Todesurteile mitverantwortlich war). Sehr ausführlich schildert Walter Janka den Schauprozess in seinem Buch „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ (Rowohlt 1989). Obwohl Jankas Anwälte mutig für Freispruch plädierten, wurde er zu fünf Jahren Zuchthaus mit verschärfter Einzelhaft verurteilt, die er im Staatssicherheitsgefängnis Bautzen verbrachte. In Bautzen erkrankte er so schwer, dass seine Frau ihre eigene lebensgefährliche Erkrankung verschwieg.

Attraktive Angebote aus dem Westen abgelehnt

Das Ehepaar Janka (mit persönlicher Widmung an den Autor)
Das Ehepaar Janka (mit persönlicher Widmung an den Autor)

Nach seiner Entlassung war der einst einflussreiche Walter Janka arbeitslos. Demütigende Angebote lehnte er ab, genauso wie attraktive Angebote aus dem Westen. Frühere Autoren verhalfen ihm zu einer Stelle als Dramaturg bei der DEFA, und Marta Feuchtwanger ebenso wie Katia Mann machten Vergaben von Roman-Filmrechten an die DEFA davon abhängig, dass Janka an der Realisierung mitwirkte. Insgesamt zwölf Spielfilme entstanden unter seiner Beteiligung, u.a. „Lotte in Weimar“ und „Die Toten bleiben jung“.

1972 wurde Janka pensioniert. In seinen letzten Jahren konnte er sich wieder zu Wort melden, auch in Publikationen der DDR zu Themen, die den Spanischen Bürgerkrieg berührten. Zum 1. Mai 1989, kurz vor seinem 75. Geburtstag, wurde ihm der „Vaterländische Verdienstorden“ verliehen. Eine Rehabilitierung für das an ihm verübte Unrecht war das nicht; diese wurde erst 1990 vom Obersten Gericht der DDR ausgesprochen.
1990/91 kommt es zwischen Wolfgang Harig und Walter Janka zu einem Prozess wegen Verleumdung. Janka hatte in seinen Erinnerungen Harig wegen dessen Verhalten während seiner Verfolgung durch das Ulbricht-Regime kritisiert. Diese Kritik wurde von Harig zurückgewiesen bzw. zu relativieren versucht; 1993 endet das Gerichtsverfahren mit einem Vergleich.

Zuletzt sah und sprach ich Janka anlässlich einer meiner Lesungen in Berlin, einige Monate vor seinem Tod im März 1994. – Über zwei Jahrzehnte hin wurde Walter Janka vergessen, aber ich hoffe sehr, dass dieser integere, sich selbst und seinen Idealen treu gebliebene Mensch auch von den Nachgeborenen wieder entdeckt und gewürdigt wird. ♦


Wolfgang Windhausen

Geb. 1949, Schriftsteller, Lyriker, Menschenrechtler; zahlreiche Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften des In- und Auslandes, über 20-jähriges Engagement bei Amnesty International, Mitglied des Internationalen P.E.N. – Träger des „Niedersachsen-Preises für Bürgerengagement“; Mitarbeiter des Deutschen P.E.N.-Komitees „Writers in Prison“; Lebt in Duderstadt/BRD und Berlin (Foto: H. Hauswald)

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Frieder W. Bergner: Jazz unter Ulbricht und Honegger

… sowie in der Rubrik „Essays und Aufsätze“ von
Dominik Riedo: Der Sci-Fi-Visionär Philip K. Dick

Annelen KraneFuss: Matthias Claudius (Biographie)

Originell und unverwechselbar

von Günter Nawe

„Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet…“, so Goethe. Nichts anderes hat Annelen KraneFuss mit der jetzt vorliegende Biographie über Matthias Claudius getan. Eine Biographie, die das Zeug hat, zum Standardwerk zu werden. Es ist übrigens die erste umfassende Biographie seit über siebzig Jahren, die sich dieses Mannes annimmt, der als Journalist, als Dichter, als homme de lettres und als Redakteur des „Wandsbecker Bothen“ Literaturgeschichte geschrieben hat.

Mehr als nur „Der Mond ist aufgegangen…“

Annelen KraneFuss: Matthias Claudius - Eine Biographie - Hoffmann und Campe VerlagMatthias Claudius hat nur ein schmales Werk hinterlassen, aus dem das berühmte „Abendlied“ („Der Mond ist aufgegangen…“) im Bewusstsein der Nachwelt besonders herausragt. Dass dieser Claudius mehr war – Annelen KraneFuss zeigt es uns mit einer sehr geglückten Gesamtschau von Person, Werk und Zeit. Die Autorin, langjährige Kulturredakteurin beim Westdeutschen Rundfunk in Köln, hat Germanistik, Anglistik und Theologie studiert. Aus ihrer Dissertation über Matthias Claudius ist die grossartige Biographie über den „bekannten Unbekannten“ entstanden. Sachlich, aber auch leidenschaftlich und mit viel Sympathie für Claudius ist Annelen KraneFuss akribisch seinen Lebensspuren gefolgt. Sie macht überzeugend deutlich, wie Claudius „seine Rolle im Laufe seines Lebens ausfüllt, wie er mit ihr spielt, sie in Literatur und Publizistik verwandelt, auch das macht seine Gestalt in der Geschichte der Literatur und Kulturgeschichte aus“.
Dabei räumt Annelen KraneFuss mit einigen Legenden auf. So, dass Claudius sein Studium in Jena abgebrochen habe. „Claudius verlässt die Universität….mit dem ‚guten Titel étudiant en droit’“, weiss die Autorin. Sie weiss aber auch, dass es immer noch weisse Flecken in der Biographie des Dichters gibt. Zum Beispiel die drei Jahre im Reinfelder Elternhaus (1765-1768).

Claudius als Kind der Aufklärung

Dichter, Journalist, Lyriker, Zeitzeuge: Matthias Claudius (1740-1815)
Dichter, Journalist, Lyriker, Zeitzeuge: Matthias Claudius (1740-1815)

In Reinfeld wird Matthias Claudius am 15. August 1740 geboren. Danach Lateinschule und Studium in Jena. 1763 erscheint sein Erstlingswerk „Tändeleyen und Erzählungen“. 1768 beginnt seine journalistische Tätigkeit als Redakteur der „Hamburgischen-Address-Comtoir-Nachrichten“. !772 heiratet Claudius Rebecca Behn. Zwölf Kinder sollte sie ihm gebären – und seine grosse Liebe sein, der der Familienmensch und Kinderfreund einige seiner schönsten Gedichte gewidmet hat.
Claudius kommt mit den Aufklärern Herder und Lessing und anderen Berühmtheiten der Zeit zusammen. 1771 dann Umzug nach Wandsbek, das zu seinem Lebensmittelpunkt werden sollte. Von 1771 bis 1775 arbeitet Claudius als Redakteur beim „Wandsbecker Bothen“. 1775 erscheint „ASMUS omnia sua SECUM portans oder Sämmtliche Werke Werke des Wandsbecker Bothen“. Es sollte das Werk werden, das Claudius beliebt und berühmt macht. Das politische Geschehen wird ebenso kommentiert, wie „gelehrte Sachen“ notiert und religiöse Themen behandelt wurden. Gedichte werden veröffentlicht und ein fiktiver Briefwechsel mit Freund Andres. Durch Claudius wurde der „Wandsbecker Bothe“ zu einem Vorläufer des späteren Feuilletons.
1776/177 eine kurze Episode in Darmstadt und wieder Rückkehr nach Wandsbek. Es folgen Übersetzungsarbeiten und die Fortsetzung des ASMUS. 1784 reist Claudius nach Schlesien und Weimar. 1813 muss nach Schleswig-Holstein und Lübeck fliehen. 1814 ist er wieder in Wandsbek, wo er am 21. Januar 1815 stirbt.

Gegen Klischees angeschrieben – unverwechselbar

Mit ihrer Claudius-Biographie ist Annelen KraneFuss eine geglückte, lebhaft geschriebene und hervorragend zu lesende Gesamtschau von Person, Werk und Zeit gelungen.
Mit ihrer Claudius-Biographie ist Annelen KraneFuss eine lebhaft geschriebene und hervorragend zu lesende Gesamtschau von Person, Werk und Zeit gelungen.

Claudius hat gegen Klischees angeschrieben, einen eigenen Stil kreiert – „originell und unverwechselbar“. Er stand an der Schwelle zwischen Tradition und Moderne. Hinter der bewusst zur Schau getragenen Naivität verbarg sich eine komplexe Persönlichkeit. Er war im Kleinen gross – und verkörperte wie kaum ein anderer die Einheit von Schriftsteller und Person. Annelen KraneFuss hat ihn und sein Werk in den historischen Kontext gestellt. Sie ist damit Goethes Anforderung an eine Biographie im besten Sinne gerecht geworden.
Und sie hat Matthias Claudius den Platz zugewiesen, der ihm gebührt. Gleichzeitig hat sie mit ihrer lebhaften, hervorragend zu lesenden Biographie Matthias Claudius einer literarisch interessierten Öffentlichkeit wieder näher gebracht. ♦

Annelen KraneFuss: Matthias Claudius – Eine Biographie, 320 Seiten, Hoffmann und Campe, ISBN 978-3-455-50190-2

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Kerstin Decker: Lou Andreas-Salomé (Biographie)

Die Frau, die Nietzsche den Schlaf raubte

von Sigrid Grün

Lou Andreas-Salomé war eine der ungewöhnlichsten Frauen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nietzsche, Rilke, Wedekind und Freud lagen ihr zu Füssen. Schliesslich heiratete die emanzipierte Lou aber den Orientalisten Friedrich Carl Andreas, der sich für seine Angebetete sogar ein Messer in die Brust gerammt hatte, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass er es ernst meinte. (Die Ehe mit Andreas wurde allerdings nur unter der Bedingung akzeptiert, mit dem 15 Jahre älteren Mann nie das Bett teilen zu müssen… ) Nietzsche und dessen Freund Paul Rée verzehrten sich nach der jungen Intellektuellen, die zahlreiche Bücher (u.a. über Ibsen, Nietzsche und Rilke) sowie Essays verfasste und sich als Psychoanalytikerin betätigte.

Kerstin Decker: Lou Andreas-Salomé - Der bittersüsse Funke IchWer war diese Frau, die exakt am 12. Februar vor 150 Jahren in St. Petersburg das Licht der Welt erblickte? Die promovierte Philosophin Kerstin Decker, die zuletzt eine Biographie über Else-Lasker Schüler verfasst hat, nähert sich in diesem hervorragend recherchierten und sprachmächtigen Buch der Ausnahmeerscheinung und „Sammlerin seltener, kostbarer Ichs“, Lou Andreas-Salomé.

Bereits als Kind gegen Zwänge aufbegehrt

Bereits als Kind begehrte Lou gegen auferlegte Zwänge auf. Die Tochter des Generals Gustav von Salomé, des Gründers der deutsch-reformierten Kirche in Russland, weigerte sich, konfirmiert zu werden! Bereits in jungen Jahren brachte sie ihre Eltern mit ihren weitaus älteren Verehrern in Verlegenheit, die sich bis zur Verzweiflung steigerte. Diese Frau konnte man offensichtlich nicht bändigen. Doch was genau war es, das die männliche Intelligenzia der Jahrhundertwende vom Hocker riss? Wie kann man die unglaubliche Faszination, die diese Frau schon als Jugendliche auf „denkende“ Männer ausübte, erklären?

Kerstin Decker lässt Lou Andreas-Salomé und die ihr Verfallenen häufig selbst zu Wort kommen. In Briefen, Tagebucheintragungen und natürlich in ihren Büchern. Und langsam wird eine Frau sichtbar, die ihrer Zeit weit voraus war, weil sie sich nicht um die bürgerlichen Konventionen kümmerte, die sie in Ketten hätten legen können. Die Tochter aus gutem Hause konnte es sich schliesslich auch leisten. Sie wuchs in einem intellektuell anregenden Klima auf, das es ihr später ermöglichte, auch mit Geistesgrössen, die weitaus älter als sie waren, souverän umzugehen. Stets war sie auf der Suche nach geistigem Austausch – im Alter von 18 Jahren war sie beispielsweise von dem protestantischen Pastor Hendrik Gillot fasziniert, mit dem sie die unterschiedlichsten Themen besprach. Und wie sollte es anders sein: Der 25 Jahre ältere Gillot verfiel seiner jungen Schülerin und wollte sogar die Scheidung von seiner langjährigen Frau einreichen, um Lou zu heiraten. Der holländische Pastor reihte sich damit als erster in eine Reihe von willigen Heiratskandidaten ein, die die gebildete junge Frau abblitzen liess.

Bekanntschaft mit prominenten Geistesgrössen

Die Philosophie vor den Wagen der Emanzipation gespannt: Lou Andreas-Salomé, Paul Reé, Friedrich Nietzsche
Die Philosophie vor den Wagen der Emanzipation gespannt: Lou Andreas-Salomé, Paul Reé, Friedrich Nietzsche

Als Lou 1882 nach Rom reiste, um im warmen Klima ein Lungenleiden zu kurieren, traf sie dort – ausgerechnet im Petersdom! – auf Nietzsche, der der Frau mit der raschen Auffassungsgabe sofort verfiel. Genau so wie schon vorher sein Freund Paul Rée. Aus diesem Jahr stammt auch eine Fotografie, die sich (neben vielen anderen Aufnahmen) im Buch befindet: Die beiden Philosophen Rée und Nietzsche sind vor einen Holzwagen gespannt, auf dem die junge Lou bewaffnet mit einer Peitsche sitzt. Die Idee für diese inszenierte Aufnahme stammte übrigens von Nietzsche!
Auch die Berliner Jahre in den 1880er Jahren brachten zahlreiche Freundschaften und Bekanntschaften mit prominenten Geistesgrössen mit sich. Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind und Maximilian Harden sind nur wenige derjenigen Männer, mit denen sie in regem geistigem Austausch stand. Und schliesslich, „das Leben als Trivialroman“ – Lou lernt in einer Pension den Orientalisten Friedrich Carl Andreas kennen, der ihr – wie könnte es anders sein – sofort verfällt. Nach einem spektakulären Selbstmordversuch vor den Augen der Angebeteten willigt sie in die Ehe ein. Die Ehe liess die junge Frau zwar etwas zur Ruhe kommen – in ihrem Haus „Loufried“ baute sie sogar Gemüse an und züchtete Hühner –, doch die geistige Betätigung blieb doch im Vordergrund. Kurz vor der Jahrhundertwende lernte Lou in München den jungen Rilke kennen und übte einen starken Einfluss auf ihn aus – so stark, dass er sein Frühwerk in den Müll warf und der grossartige Dichter wurde, den wir heute schätzen. Die Russlandreisen, die Rilke mit Lou unternahm, prägten ihn nachhaltig. Einfühlsam beschreibt Decker, wie Lou viele Jahre später den recht frühen Tod Rilkes erlebte.

Bis ins hohe Alter als Psychoanalytikerin praktiziert

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Kerstin Decker zeichnet in dieser Biographie Lou Andreas-Salomés ein differenziertes und nuanciertes Bild einer beeindruckenden Frau. Zahlreiche Zitate lassen die Stimmung der damaligen Zeit lebendig werden und werfen ein neues Licht auf das Werk zahlreicher bekannter Dichter und Denker, wie Rilke und Nietzsche.

Und dann, 1911, lernte Andreas-Salomé schliesslich Freud kennen, der ihr in ihren letzten 25 Lebensjahren zur wichtigen Bezugsperson wurde. Lou wurde Psychoanalytikerin und eröffnete 1915 in ihrem „Loufried“ die erste psychoanalytische Praxis Göttingens. Sie praktizierte bis ins hohe Alter. 1930 verstarb ihr Ehemann, sieben Jahre später, Anfang Februar 1937 erwacht sie nicht mehr. Die Welt hatte eine aussergewöhnlich Frau verloren, die viele Denker des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts beeinflusste.
Kerstin Decker zeichnet in dieser Biographie Lou Andreas-Salomés ein differenziertes und nuanciertes Bild einer beeindruckenden Frau. Zahlreiche Zitate lassen die Stimmung der damaligen Zeit lebendig werden und werfen ein neues Licht auf das Werk zahlreicher bekannter Dichter und Denker, wie Rilke und Nietzsche. Eine einfühlsame Biographie, die sich der Ausnahmeerscheinung Lou Andreas-Salomé in respektvoller Weise annähert. ♦

Kerstin Decker: Lou Andreas-Salomé – Der bittersüsse Funke Ich, 360 Seiten, Propyläen Verlag, ISBN 978-3549073841

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Emma Goldman: Anarchismus (Essays)

Arno Stocker: Der Klavierflüsterer (Biographie)

Von Caruso „auf die Beine geholt“

von Günter Nawe

Es kommt nicht allzu häufig vor, dass man den Titeln auf Buch-Covern trauen kann. Diesmal aber stimmt der Untertitel: „Die wahre Geschichte eines unwahrscheinlichen Lebens“. Erlebt und aufgeschrieben hat sie Arno Stocker, „der Klavierflüsterer“, der in diesem Buch unter anderem erzählt, „wie mich Caruso auf die Beine holte“.
Er, geboren 1956, der singen wollte wie Caruso und spielen wie Horowitz, kam mit einer spastischen Lähmung auf die Welt. Mit geschädigtem Gehirn und verrenkten Glieder sowie fast blind ist von einer grossen Karriere nicht einmal zu träumen. So bedurfte es einerseits einiger besonderer Zufälle als auch eines besonders ausgeprägten Willens, um dieses Leben zu meistern.

Arno Stocker - Der Klavier-Flüsterer - Die wahre Geschichte eines unwahrscheinlichen Lebens
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Es ist nicht zuletzt die Musik, genauer gesagt eine Platte von Caruso, durch die Arno sprechen lernt, indem er – fasziniert von der Stimme des Sängers – die Arien „nachahmt“. Etwas später und vermittelt durch den Grossvater wird es Maria Callas sein, der er nicht nur persönlich begegnet, er wird gar ihr Meisterschüler. Sie weist ihm den Weg zur Musik – und damit zu einem selbstbestimmten Leben.

Langer und beschwerlicher Weg zur Musik

Von diesem Leben erzählt Arno Stocker. Und das in einer unnachahmlichen Manier; weder larmoyant noch überheblich, sondern direkt und schnörkellos. Er erzählt von den Höhen und Tiefen, von Erfolgen und Rückschlägen. Selbstzweifel plagten ihn, und Widerstände – nicht zuletzt wegen seiner Behinderung – gab es genug, die oft unter Aufbietung aller Kräfte überwunden werden mussten.
Lang und beschwerlich war der Weg zur Musik, zum „Klavierflüsterer“, zu einem Mann, der mit Horowitz und anderen Grössen der Musikgeschichte arbeitete, sich als Restaurator einen Namen machte und selbst einen neuartigen Konzertflügel konstruierte, und der wie kein anderer viel von Musik und alles von Klavieren und Flügeln verstand. Auf diesem Weg versuchte er sich zwischenzeitlich in anderen Berufen (einfach um zu überleben), er gerät in die Schuldenfalle und ins Gefängnis, verdiente Unsummen und verlor sie wieder. Zwischendurch hat er bei Erika Köth Gesang studiert. Er war bei den Opernfestspielen in München engagiert und verkaufte und restaurierte Klaviere in Amerika.

Das Leben der Faszination „Musik“ untergeordert

Sprach- und Lebenshelfer: Jahrhundert-Tenor Enrico Caruso (1873-1921)
Sprach- und Lebenshelfer: Jahrhundert-Tenor Enrico Caruso (1873-1921)

Persönliches Glück war ihm kaum beschieden. Mehrere Ehen zerbrachen. Sesshaft wurde er kaum. Nicht nur wegen seines Berufes, der ihn immer wieder an andere Orte zwang, bewegte sich sein Leben geografisch zwischen den Welten. All das aber waren nur „Begleitumstände“ eines Lebens, das ganz der Faszination „Musik“ untergeordnet war.
Am Ende hat Stocker, zurück in München und inspiriert von Fischer-Dieskaus Interpretation der vier letzten Lieder von Brahms, auch den Weg zu Gott gefunden. Von nun an bilden „Liebe, Glaube, Hoffnung… die Anker in meinem Leben. Die Liebe zur Musik, der Glaube an das Gute. Die Hoffnung, noch viel Zeit zu haben, das, was mir Gutes passiert ist, an Menschen weiterzugeben und sie zu ermutigen, an ihren Zielen festzuhalten“. Letzteres wird mit diesem Buch sicher gegeben sein.

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Die Lebenserzählung „Der Klavierflüsterer“ ist die faszinierende Geschichte des Arno Stocker, der mit geschädigtem Gehirn, mit verrenkten Gliedern und fast blind auf die Welt gekommen ist. Ein Buch über die Macht der Musik – und eine grossartige Vision, die Stocker gegen alle Vernunft zum weltbekannten „Klavierflüsterer“ werden lassen.

So erzählt diese grossartige Lebensgeschichte von der Macht der Musik. Und von der Macht einer Vision, der zu folgen alle Widrigkeiten und Widerstände überstehen lässt. So ist auch Arno Stockers Biographie am Ende eine wunderbare Erfolgsgeschichte, eben die „wahre Geschichte eines unwahrscheinlichen Lebens“: spannend und faszinierend. ♦

Arno Stocker: Der Klavierflüsterer – Die wahre Geschichte eines unwahrscheinlichen Lebens, 317 Seiten, Kailash Verlag (Randomhouse), ISBN 978-3-424-63027-5

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Musiker-Biographien“ auch über
Peter Gülke: Robert Schumann

 

Peter Gülke: Robert Schumann (Biographie)

„Was er bedeute und wolle“

von Günter Nawe

Das ist das Schöne an Gedenktagen, dass sie immer wieder Dichter, Denker, Maler oder Komponisten aus der Gefahr der Vergessenheit erretten oder neue und anders gewichtete Aspekte von Leben und Werk an das Licht einer interessierten Öffentlichkeit bringen. In diesem Jahr waren und sind es vor allem Komponisten wie Chopin, Mahler und Robert Schumann, die Aufmerksamkeit erregten und zu vielfältigen Würdigungen Anlass gaben und geben.
Eine sehr gewichtige neue Arbeit ist Robert Schumann gewidmet. Von ihr soll hier die Rede sein – und von seinem (aus der Fülle vieler „Wortmeldungen“) herausragenden Biografen Peter Gülke.

Peter Gülke: Robert Schumann - Glück und Elend der Romantik - Zsolnay VerlagGülke, Kapellmeister, Musikwissenschaftler und Musikdirektor in Dresden und Weimar, ist eine Ausnahmeerscheinung sowohl als Musiker wie auch als Autor umfangreicher Musikliteratur. Und das eben bekommt seiner grossen Biographie – oder soll man besser sagen: seinem biografischen Essay – besonders gut. „Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik“ ist deshalb auch keine chronologische Abfolge von Lebens- und Werkdaten, sondern eine thematisch gegliederte, musikologisch orientierte Arbeit.

Der Ungeduldigste unter den grossen Komponisten

„Innige Verbindung von Musik und Dichtung“: Die von Schumann gegründete „Neue Zeitschrift für Musik“ (1834)

Wichtig erscheint Gülke, die grosse romantische Gestalt des Komponisten darzustellen, der zwischen kreativem Überschwang und dem Zwang zu schöpferischen Vollendung seiner Kompositionen zu sehen ist. „Unter den Grossen war er der Ungeduldigste. Entweder gelingt etwas sofort, oder es gelingt nie – das war die Prämisse seiner Arbeit, ausgewiesen durch kaum glaubliche, nur Mozart und Schubert vergleichbare Geschwindigkeit und Sicherheit im Vollbringen“ – so Peter Gülke.

Leidenschaftlich war dieser Robert Schumann, der am 8. Juni 1810 in Zwickau geboren wurde, der im Alter von 44 Jahren dem Wahnsinn verfiel und am 29. Juli 1856 in einer Nervenheilanstalt in Bonn-Endenich verstarb, in vieler Hinsicht. Eine Pianistenlaufbahn wegen eines ruinierter Fingers blieb ihm verwehrt. Stattdessen widmete er sich ausführlicher Lektüre von Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, Hölderlin und Poe, sowie der Abfassung von beachtlichen und beachtete Musikkritiken. Und schliesslich dem Komponieren.
Eine sehr genaue Zeittafel ist übrigens dem Buch von Gülke angefügt. Leben und Werk – auch hier wird es deutlich – ist bei Robert Schumann eng verflochten. Das zu analysieren und zu bewerten hat sich Peter Gülke zur Aufgabe gemacht – und diese hervorragend gelöst.

Ein wildes, kreatives, ja versoffenes Genie

Robert Schumanns Arbeitszimmer in Leipzig
Robert Schumanns Arbeitszimmer in Leipzig

Klavierwerke, Lieder, Sinfonien, Opern und ein Requiem – vielseitiger und umfangreicher ging es kaum. Und das von einem wilden, kreativen, ja versoffenen Genie. Gülke: „Auf der einen Seite war er störrisch, hochfahrend und stolz. Aber auf der anderen Seite war er ebenso oft wahnsinnig, oft zerknirscht, tief enttäuscht und in unendliche Depressionen versunken. Das geht unglaublich stark hin und her bei ihm“. So gegensätzlich wie der Mensch ist auch sein Werk. „Die Träumerei“ und manche Lieder wurden und werden unter dem Rubrum „romantisch“ gehört – trotz vieler artifizieller Eigenheit und Raffinessen.

Zum „romantischen“ Schumann gehört natürlich die Ehe mit Clara Schumann, auch wenn diese Ehe alles andere als nur romantisch war. Wenn zwei geniale Künstler zusammenkommen, bringt das zwangsläufig Interessenkonflikte, die ausgelebt und ausgekämpft werden müssen. So auch bei Robert und Clara, der er in unzähligen Liedern permanent Liebeserklärungen macht. Robert Schumann war im wahrsten Sinne eine zerrissene Persönlichkeit. Und Gülke weiss das – und lässt es uns wissen. Glück und Elend der Romantik also am Beispiel des Robert Schumann.

„Es affiziert mich alles, was in der Welt umgeht“

Peter Gülke hat in seinem grossen biographischen Essay "Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik" die Persönlichkeit und Werk des genialen Komponisten sprachlich geschliffen, vor allem auch mit grosser Fachkenntnis und historischer Tiefe dargestellt.
Peter Gülke hat in seinem grossen biographischen Essay „Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik“ die Persönlichkeit und Werk des genialen Komponisten sprachlich geschliffen, vor allem auch mit grosser Fachkenntnis und historischer Tiefe dargestellt.

Dies alles erzählt Peter Gülke – er ist schliesslich Musikwissenschaftler – unter dem Gesichtspunkt des Werkverständnisses. Und so wird das immense Werk des Robert Schumann ausführlich interpretiert. Denn, so Schumann selbst: „Es affiziert mich alles, was in der Welt umgeht, Politik, Literatur, Menschen – über alles denke ich in meiner Weise nach, was sich dann durch die Musik Luft machen, einen Ausdruck suchen will.“
Gülke hat sich mit den musikalischen und vielen ästhetischen Aspekten auseinandergesetzt. Er war den vielen Einflüssen auf der Spur und hat sie gefunden.

Musikwissenschaftler Peter Gülke - Glarean Magazin
Musikwissenschaftler Peter Gülke

Robert Schumann hat, wie Gülke schreibt, „ein geordnetes Haus hinterlassen“. Und er zitiert den Komponisten: „Man hüte sich als Künstler, den Zusammenhang mit der Gesellschaft zu verlieren, sonst geht man unter wie ich.“ Peter Gülke hat stellvertretend den „Zusammenhang mit der Gesellschaft“, mit uns, den Lesern, wieder hergestellt. Und etwas erreicht, was Schumann verwehrt blieb. Dem Besucher Joseph Joachim hat Schumann am Ende „zugeraunt“, „er müsse von Endenich weg, denn die Leute verstünden ihn gar nicht, was er bedeute und wolle.“ Wie wahr! ♦

Peter Gülke: Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik, 268 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, ISBN 978-3-552-05492-9

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Romantische Musik“ auch über Severin von Eckardstein plays Robert Schumann (CD)

ausserdem zum Thema Biographie über Barbara Beuys: Maria Sibylla Merian

Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer (Biographie)

Ein durchweg zweideutiges Leben

Zum 150. Todesjahr von Arthur Schopenhauer

von Günter Nawe

Rechtzeitig zum 150. Todesjahr des grossen deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer hat Robert Zimmer eine grossartige Biographie vorgelegt. Für den promovierten Philosophen war und ist Arthur Schopenhauer nicht nur ein bedeutender Philosoph, er war der wohl einzige Philosoph, der ein umfassendes Verständnis hatte für Musik und Kunst und Literatur (Shakespeare und Goethe zum Beispiel), und der selbst ein exzellenter Schriftsteller war. Dies alles beschreibt Zimmer im Kontext zu den Lebensdaten und der Werk- und Wirkungsgeschichte Schopenhauers. Und das in einer Art und Weise, die auch dem nicht philosophisch geschulten Leser Gewinn verspricht und Freude machen wird, und ohne ins populärwissenschaftliche Genre abzugleiten.

Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer - Ein philosophischer Weltbürger - BiographieDenn es war für einen Denker und Gelehrten schon ein aufregendes Leben, das dieser 1788 in Danzig geborene Schopenhauer geführt hat. Eine Reihe von Lebensstationen gab es: Hamburg (hier erlernte er den Kaufmann-Beruf), Gotha und Weimar, Göttingen und Berlin, Rudolstadt und Dresden, und schliesslich Frankfurt/Main. Dazu viele Reisen, schon als Kind mit Aufenthalten in Holland, England, Frankreich und der Schweiz. Später zwei Italienreisen. In Rudolstadt schrieb er seine Dissertation „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, Grundlage für sein späteres Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1818). In Weimar gab es dann die Auseinandersetzung mit Mutter Johanna und Schwester Adele, die mit einem unkittbaren Zerwürfnis endete. Mit Goethe, den er verehrte, hatte er Kontakt über die „Farbenlehre“, der Schopenhauer allerdings selbstbewusst und überheblich eine eigene Schrift „Über das Sehn und die Farben“ (1816) entgegenstellte. Ein „durchweg zweideutiges Leben“ also. Am 21. September 1860 ist der Philosoph Arthur Schopenhauer in Frankfurt/Main gestorben.

Pessimistischer Einzelgänger mit Pudel

Die erste Manuskript-Seite des 2. Bandes von Shopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“

Zimmer versteht es, alle diese Ereignisse korrespondieren zu lassen mit den Anschauungen dieses gern als pessimistisch, misanthropisch und frauenfeindlich apostrophierten Einzelgängers mit dem Pudel, der allerdings auch Liebesbeziehungen, unter anderem mit einer Choristin der Berliner Oper, und uneheliche Kinder hatte. Stattdessen war – nach Zimmer – der Philosoph ein kosmopolitischer Denker (mit gutem Grund trägt diese Biographie den Untertitel „Ein philosophischer Weltbürger“), der es verstanden hat, abendländisches Denken mit fernöstlichen Weisheiten in Verbindung zu bringen.

Dies und sein Eigenwille brachte ihn zwangsläufig in Konflikt mir der bisherigen Philosophie und ihren Vertretern, die er neben sich nicht gelten liess – ausser Kant, den die akademische Philosophie missverstanden habe, und mit dem einzig er – Schopenhauer – auf Augenhöhe denken könnte. So ist besonders die Auseindersetzung mit seinen „Erzfeinden“  Hegel, Fichte und Schelling und mit der gesamten akademischen Philosophie bemerkenswert. Den Vorwurf: „Die Philosophie-Professoren haben redlich das Ihrige gethan, um dem Publiko die Bekanntschaft mit meinen Schriften wo möglich auf immer vor zu enthalten. Beinahe 40 Jahre hindurch bin ich ihr Caspar Hauser gewesen.“ wird er bis in seine letzten Jahre aufrecht erhalten.. Er rächt sich, indem er vom „ekelhaften Hegeljargon“ spricht, von der „Hegelei“ und von „Hegelianischen Flausen“, und auch an allen anderen kein gutes Haar lässt.

Umfassende und verständliche Lebenserzählung

Auch am Leser übrigens nicht. „Meine letzte Zuflucht ist jetzt, ihn (den Leser) zu erinnern, dass er ein Buch, auch ohne es gerade zu lesen, doch auf mancherlei Art zu benutzen weiss. Es kann, so gut wie viel andere, eine Lücke seiner Bibliothek ausfüllen, wo es sich, sauber gebunden, gewiss gut ausnehmen wird. Oder auch er kann es seiner gelehrten Freundin auf die Toilette, oder den Theetisch legen. Oder endlich er kann ja, was gewiss das Beste von Allem ist und ich besonders rathe, es recensiren.“ Auch wenn Schopenhauer gedichtet hat: „Dass von allem, was man liest, / Man neun Zehntel bald vergisst, / Ist ein Ding, das mich verdriesst./ Wer’s doch All auswendig wüsst’!“

Robert Zimmer erzählt in „Ein philosphischer Weltbürger“ umfassend von Leben und Werk des Denkers Arthur Schopenhauer, der die deutsche Philosophie aus dem akademischen Elfenbeinturm befreit hat.

So war er, dieser Arthur Schopenhauer, der einmal von sich sagte: „Das Leben ist eine missliche Sache: ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.“  Und das tat er gründlich und prononciert, sodass sein Werk, vor allem die „Parerga und Paralipomena“ (1851) mit den „Aphorismen zur Lebensweisheit“, eine Art „Steinbruch“ sind, aus dem sich jeder, was immer er will herausschlagen kann. Zum Beispiel Sprachpuristen, die gern sein Diktum gegen die „Sprachverhunzung“ zitieren: „Empörend ist es, die deutsche Sprache zerfetzt, zerzaust und zerfleichst zu sehen, und oben drauf den triumphirenden Unverstand, der selbstgefällig sein Werk belächelt.“

Robert Zimmer erzählt umfassend und verständlich, sodass der Leser ein sehr komplexes Bild von diesem kosmopolitischen Denker und Schriftsteller, auch vom Menschen Schopenhauer und vom Philosophen erhält, der die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts massgeblich erweitert hat. Vor allem hat er sie dank seiner verständlichen Sprache aus dem akademischen Elfenbeinturm befreit. ♦

Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer – Ein philosophischer Weltbürger, Biographie, 316 Seiten, Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24800-6

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