Das Prélude: „Die ersten Takte entfalten sich mit einer erzählerischen Kraft eines meisterlichen Improvisators. Eine Reise hat begonnen… Die dunklen Klänge der Streicher tragen uns zurück in das 18. Jahrhundert. Die Klangwelt ist fröhlich. Die Eleganz jugendlich. Entdeckung liegt in der Luft.“
So liest sich der Anfang der „Reise“, die der kanadische Journalist und Popmusik-Kritiker Eric Siblin, mit vielen Auszeichnungen bedacht, durch die Welt der Bach’schen Cello-Suiten unternommen hat. Für ihn eine ideale Begegnung mit einer barocken Musik, aus der er Volksmusik ebenso herauszuhören glaubt wie postmodernen Minimalismus, wie spirituelle Klagen und Heavy-Metal-Riffs, mittelalterliche Jigs und Filmmusik aus Agenten-Thrillern.
Initialzündung aus der Faszination des Hörens
Siblin hat die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach erst einmal hörend für sich entdeckt. Daraus ist eine Leidenschaft geworden, der er fortan forschend und schreibend frönt. Das Ergebnis ist – soviel sei vorweggenommen – das spannende Buch „Auf den Spren der Cello-Suiten – Johann Sebastian Bach, Pablo Casals und ich“. Wenn auch dieses „…und ich“ im Untertitel etwas manieriert wirkt (im Original lautet der Titel „The Cello-Suites – J.S. Bach, Pablo Casals and the search for a baroque masterpiece“): dem Lesevergnügen tut es keinen Abbruch.
Ein Lesevergnügen – allein deshalb, weil es dem Autor auf hervorragende Weise gelingt, eigene (Hör-)Erfahrungen und -Erlebnisse mit den Cello-Suiten in Beziehung zu setzen zur Entstehung der Suiten und einer musiktheoretischen Auseinandersetzung sowie zu den Biographien des Johann Sebastian Bach und des grossen Pablo Casals. Von alledem erzählt Eric Siblin sehr engagiert und leidenschaftlich, aber auch sehr kenntnisreich.
Buch analog zu den Bach’schen Suiten aufgebaut
Gewann 2009 mit seinen „Cello-Suiten“ den Mavis-Gallant-Literaturpreis: Eric Siblin
Das Buch ist analog zu den Bach’schen Suiten aufgebaut, also sechs Suiten gleich sechs Kapitel mit den jeweiligen Untertiteln von Prélude über Allemande, Sarabande und so weiter – Bachkenner und Suitenliebhaber kennen sich da aus.
Siblin beschreibt die Suiten so: „Bach beschloss, jede Suite mit einem Prélude zu beginnen, einer dramatischen Einleitung… Bachs Prélude sind virtuose Eröffnungen… Sie beginnen verhalten und entfalten sich, schwingen sich zu schwindelerregenden Höhen auf, verharren und stürzen herab.“ Auf die Tänze, die sogenannten Galanteriesätze wie Menuett und Bourrée und Gavotte, bezogen schreibt er: „In diesen Tänzen herrscht ein Melodienreichtum, der sie oft zu den einprägsamsten Teilen macht. Sie haben Schwung in ihren Schritten, ein fröhliches Hüpfen, besonders, weil sie direkt nach der schwermütigen Sarabande erklingen.“ Oder über Sarabande, Bourrée, und Gigue der 1. Suite: „… die fetten Doppelpausen der Sarabande, der fröhliche Scheunentanz der Bourrée und die richtiggehenden Rockgitarrenriffs der Gigue, die Lord Zeppelin sicher alle Ehre gemacht hätten…“. Immer wieder, das ganze Buch hindurch, findet Siblin Formulierungen dieser Art, um die Suiten zu charakterisieren. Das ist sicher sehr subjektiv empfunden, aber interessant in der Beurteilung hinsichtlich der eigenen Erfahrungen, die jeder Leser beim Hören der Cello-Suiten machen wird.
Auf der Spur einer unendlichen Cello-Geschichte
„Rockgitarrenriffs, die Lord Zeppelin sicher alle Ehre gemacht hätten…“: Gigue aus Bachs 1. Cello-Suite (Abschrift durch Anna Magdalena Bach)
Was vielleicht neu und bisher nicht so präsent ist: Die Entstehungsgeschichte der Cello-Suiten und ihre Rezeption durch die Zeit. Eine unendliche Geschichte über drei Jahrhunderte hinweg, auf deren Spur sich Eric Siblin macht. Eine Geschichte voller Intrigen, voller Leidenschaft und Rätsel. Aus alledem ergibt sich ein Dreiklang aus den verlorenen Bach’schen Handschriften der Suiten im 18. Jahrhundert und sozusagen ihrer „Wiederentdeckung“ zu Ende des 19. Jahrhunderts durch keinen geringeren als Pablo Casals, dessen geniale Einspielung der Suiten bis heute – trotz grosser Namen wie Yo Yo Ma, Mischa Maisky, Rostropowitsch und anderer – unvergleichlich ist, und dem Spaziergang Erc Siblins durch die Welt der Klassik.
Wir begleiten in „Cello-Suiten“ den Autor Eric Siblin und den Virtuosen Pablo Casals auf den Spuren der Bachschen Cello-Suiten und ihrer musikalischen Klangwerdung. Ein ungewöhnliches, interessantes und, wenn man so will: schönes Buch – geschrieben mit der ‚erzählerischen Kraft eines meisterlichen Improvisators‘; mit Vergnügen zu lesen – und eine wunderbare Anregung, diese Musik (wieder) zu hören.
So begleiten wir den Autor und indirekt auch Pablo Casals durch die alten Gassen von Barcelona, durch belgische Herrenhäuser und durch die Konzertsäle der Welt – immer auf den Spuren der Cello-Suiten und ihrer musikalischen Klangwerdung durch den grossen Virtuosen.
Ein ungewöhnliches, interessantes und wenn man so will, schönes Buch – geschrieben mit der „erzählerischen Kraft eines meisterlichen Improvisators“; mit Vergnügen zu lesen – und eine wunderbare Anregung, die Cello-Suiten (wieder) zu hören. ♦
Eric Siblin, Auf den Spuren der Cello-Suiten – Johann Sebastian Bach, Pablo Casals und ich, 368 Seiten, Irisiana-Verlag, ISBN 978-3-424-15041-4
Der Band „Genie und Wahnsinn – Schriften zu einer intellektuellen Biographie“ bildet den Abschluss der grandiosen Werkausgabe von Fernando Pessoa (1888 bis 1935) im Zürcher Ammann Verlag. Er fasst annähernd alle Nachlassfragmente zusammen, die von der grossen Schlüsselfigur des portugiesischen Modernismus zu Themen wie Genie, Wahnsinn, Degeneration oder Psychopathologie niedergeschrieben worden sind.
Der junge Pessoa erweist sich darin als ein beachtlicher Kenner der geistigen Strömungen, die in Europa vor dem Ersten Weltkrieg im Umlauf waren und in der damaligen Zeit die intellektuelle Aufmerksamkeit beherrschten. Genannt seien stellvertretend Siegmund Freud, Max Nordau und Cesare Lombroso. Dabei ist zu berücksichtigen, dass alle so entstandenen Texte Frühschriften sind – aus der Zeit nach der Rückkehr Pessoas aus Afrika.
Schöner Abschluss einer hervorragenden Edition
„Sei vielfältig wie das Universum“ galt als Lebensdevise des Fernando Pessoa. Wie sehr er sich daran gehalten hat, zeigt sein Werk, das mit dem „Buch der Unruhe“ des kurzsichtigen Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, mit den Büchern seiner Heteronyme Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos und António Mora nicht nur diese Vielfalt dokumentiert, sondern zu den ganz grossen Werken der Weltliteratur gehört.
Mit dem Band „Genie und Wahnsinn – Schriften zu einer intellektuellen Biographie“ liegt also die „definitive, erweiterte Ausgabe der Werke Fernando Pessoas in neuer und überarbeiteter Übersetzung“ vor, wie der Verlag zurecht feststellt. Und damit ein sehr schöner Abschluss einer hervorragenden Werkedition, für die der Ammann Verlag nicht genug zu loben ist.
Die Varianten von Wahnsinn und Genie…
Pessoa im Lissabon der Zwanzigerjahre
„Verrücktwerden bedeutet, dass man zu leben beginnt“. So befasst sich Pessoa im ersten Teil dieses Bandes mit den Gegebenheiten und Varianten von Wahnsinn und Genie, die sich nach seiner Auffassung gegenseitig bedingen. Es sind allerdings keine in sich geschlossenen Abhandlungen, sondern eher fragmentarische Texte. Es ist, wie der Herausgeber und Übersetzer Steffen Dix in seinem vorzüglichen Nachwort ausführt, eine Art der Selbstvergewisserung und der Selbstanalyse, der sich der Autor denkend und schreibend unterzieht. Diese Abhandlungen tragen aber wie auch die anderen Kapitel dieses Buchs dazu bei, das nachfolgende Werk des grossen Schriftstellers etwas besser zu verstehen.
Das gilt auch für die literaturwissenschaftlich interessante „Fragestellung Shakespeare-Bacon“, sowie die „Abhandlungen“ zum Thema „Literatur und Psychiatrie“ und „Über Kunst und Künstler“. Spannend zu lesen auch die „Auszüge aus einigen Erzählfragmenten“.
Damit also sind „wieder neue Masken Pessoas (…) ans Tageslicht befördert“ worden. Werden es wirklich die letzten sein? Und was gibt die berühmte „Fundgrube“, von der immer wieder einmal gesprochen wird, eventuell noch her? Wir dürfen gespannt sein. ♦
Günter Nawe: Herr Ammann, mit dem Band „Genie und Wahnsinn“ liegt jetzt – so die Verlagsmitteilung – „die definitive, erweiterte Ausgabe der Werke Fernando Pessoas“ vor?
Egon Ammann: „Genie und Wahnsinn“ ist ein weiterer Band in der Reihe von Ammanns Ausgabe der Werke von Fernando Pessoa. Die Texte, die in diesem Band versammelt sind, sind tatsächlich auf dem neuesten Stand der portugiesischen Quellentext-Forschung.
GN: Wirklich – oder ist in der berühmten „Truhe“ noch etwas zu finden?
EA: Noch ist die Ausgabe nicht abgeschlossen, es fehlen wichtige Pfeiler von Pessoas Werk: Einmal die Gedichte, die er unter seinem Namen Fernando Pessoa geschrieben hat, also Texte, die er keinem seiner Heteronyme zugeordnet hat; eine Auswahl aus diesem orthonymen Pessoa wird in der Übersetzung von Inés Koebel 2013 bei S. Fischer erscheinen. Ein weiterer Band mit eher theoretischen Texten zum Modernismus, inspiriert von Marinetti, wird 2012, übersetzt von Steffen Dix unter den Titel „Sensationismus“, der portugiesischen Variante des Modernismus, ebenfalls bei S. Fischer erscheinen.
GN: Diese „Schriften zu einer intellektuellen Biographie“ sind so etwas wie „Fingerübungen“ des damals noch jungen Pessoa. Welchen Stellenwert haben sie nach Ihrer Meinung innerhalb des Gesamtwerks?
EA: Die Schriften zu einer, wie wir das Buch im Untertitel genannt haben, „Intellektuellen Biographie“ Fernando Pessoas sind wichtig, da er sich mit beiden Themata Genie und Wahnsinn, mit Degeneration und Psychopathologie bis zu seinem Lebensende befasst hat, auch wenn die meisten der in diesem Band versammelten Texte aus seiner frühen Schaffenszeit stammen, also um 1907 bis zum Beginn des ersten Weltkriegs. Sie bieten so tatsächlich Einblick in die Seelenstruktur des bedeutenden Portugiesen.
Pessoa als Schlusspunkt einer grossen Werkreihe
GN: Die Edition der Werke Fernando Pessoas ist so etwas wie ein „Schlusspunkt“ in einer grossen und erfolgreichen Reihe bedeutender Werkausgaben: Ossip Mandelstam, Antonio Machado, Fjodor Dostojewski und Ismail Kadare. Und damit auch ein „Schlusspunkt“ für den Verleger Egon Ammann. Warum?
EA: Sie haben nicht unrecht, dass wir mit Fernando Pessoa so etwas wie einen Schlusspunkt unserer editorischen Arbeit setzen, doch, wie gesagt, es werden noch zwei, drei Bände folgen, nicht mehr mit dem Impressum des Ammann Verlags, aber bei S. Fischer. – Und ein endgültiger Schlusspunkt wird die Ausgabe Pessoas nicht sein. Wir hatten vor zwei, drei Jahren mit zwei wichtigen Werken begonnen, einer Neuübersetzung von Dantes „Göttlicher Komödie“ durch Kurt Flasch. Dieses Werk wird 2011 im Herbst bei S. Fischer erscheinen, ich darf es als Verleger begleiten. Und dann ein grosser Roman, von seiner literarischen Bedeutung her wie von seinem Umfang, ein Italiener mit Namen Stefano d’Arrigo, hierzulande eher unbekannt, der Titel seines grossen Romans „Horcynus Orca“, eine moderne Odyssee, wenn Sie so wollen, die während der Landung de Alliierten auf Sizilien spielt. Ein grossartiger Meerroman, der zu den grossen Romanwerken des vorigen Jahrhunderts zählt. Dieses Werk wird voraussichtlich 2013 ebenfalls bei S. Fischer erscheinen. Und danach dürfte, mit Seiner Hilfe, Schluss sein.
GN: Sie haben einmal gesagt: „Ich bin mit Leib und Seele Verleger“. Und Sie waren es schliesslich dreissig Jahre lang – und sehr erfolgreich. Gilt diese Aussage heute nicht mehr?
EA: Doch, ich bin Verleger und werde Verleger bleiben bis an die Bahre – oder Grube. Das ist und war mein Beruf.
Die Verlags-Branche steht auf der Schwelle zu einer Revolution
GN: Hat Ihr Rückzug als Verleger etwas mit den Entwicklungen in der Branche zu tun, mit den neuen technischen Gegebenheiten oder auch mit den Veränderungen innerhalb der Literatur?
EA: Der Rückzug, das heisst die Schliessung von „Ammann“, hat verschiedene Gründe, auf die wir reagiert haben. Einer davon ist die Tatsache, dass wir mit unserer Branche auf der Schwelle einer Revolution stehen. Gutenberg wird nicht abdanken, davon bin ich überzeugt, aber das Geschäft wird andere Wege gehen, sowohl im herstellenden wie im vertreibenden Buchhandel. Das digitale Zeitalter steht ante portas, und dem wollte ich mich nicht mehr stellen. Das sollen die Nachfolgenden, die Jungen bewältigen.
GN: In Ihrem herausragenden Verlagsprogramm gibt es – parallel zu den genannten grossen Übersetzungen von Autoren der zeitgenössischen Moderne – eine Vielzahl prominenter Gegenwartsautoren. Ich nenne nur Julia Franck, Thomas Hürlimann, Navid Kermani, Katja Oskamp. Was geschieht mit diesen Autoren und ihren Büchern – und allen anderen rund 800 Titeln – in Zukunft?
EA: Diese Autorinnen und Autoren, die zum Teil bei Ammann debütiert oder bis zuletzt in unserem Haus veröffentlicht haben, haben inzwischen neue Verlagspartner gefunden, worüber wir sehr froh sind. Für einige wenige suchen wir noch Verlage, ich bin zuversichtlich, dass wir auch für sie früher oder später neue Heimaten finden werden. Es sind durchweg ernstzunehmende, gute Schriftsteller und Dichter, die werden ihren Weg gehen.
GN: Sie sind eine herausragende Persönlichkeit, nicht nur als Verleger. Sie haben ein Stück weit mit Ihrem Verlag die literarische Landschaft geprägt. Was macht Egon Ammann vor diesem Hintergrund in Zukunft? Bleiben Sie auf die eine und andere Weise der Literatur erhalten?
EA: Wie ich schon ausgeführt habe, werde ich die Werkausgabe von Pessoa weiterhin begleiten, auch den Dante und den d’Arrigo, aber dann werde ich das Alter erreicht haben, wo ich mich mit mir und meinem Abtreten beschäftigen muss. Auch das wird Arbeit sein. – Ein Kollege von mir, Friedrich Witz, der Begründer des Artemis Verlags, hat seine Biographie mit dem vielsagenden Titel „Ich wurde gelebt“ überschrieben. Ganz so ist es bei mir nicht gewesen, ich konnte und habe gestaltet, ich habe gedient, ja, und dann kommt die stille Besinnung auf das, was gewesen ist, die Rechenschaft, das Beschäftigen mit dem Abgang. Eine Biographie jedoch wird es nicht geben, so wichtig ist die nicht und bin ich nicht. ♦
Rechtzeitig zum 250. Geburtstag des deutschen Dichters alemannischer Sprache Johann Peter Hebel hat sich der Theologe Ralph Ludwig, ein Landsmann von Johann Peter Hebel, des Jubilars angenommen.
Ludwig, der aus seiner Sympathie für den Dichter keinen Hehl macht, hat einen sehr persönlich gefärbten Abriss einer Biographie verfasst. Dem Dichter Hebel ist er – wie er schreibt – auf zweifache Weise begegnet. Einmal als „Erzähler“, zum anderen als „weiser Mann“, der ihm vom Philosophen Ernst Bloch nahe gebracht worden ist. Kommt hinzu: der Dichter und sein Biograph verbindet die „lebenslange Sehnsucht nach dem heimatlichen Markgräfler Land“.
Scharfblick für die Kunst der Sprache
Dies alles bestimmt die Diktion dieser Biographie, die der Autor vor allem am „Erzähler“ festmacht. Nicht von ungefähr deshalb auch der Untertitel „Wie Johann Peter Hebel ein literarisches Schätzkästlein schuf“. In kurzen Kapiteln betrachtet Ludwig das Werk des Dichters der „Alemannischen Gedichte – Für Freunde ländlicher Natur und Sitten“ (1803), der Kalendergeschichten „Der Rheinländische Hausfreund“ (1803-1811), des „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“ (1811) und der „Biblischen Geschichten – Für die Jugend bearbeitet“ (1824).
In allen diesen Werken zeigen sich, wie Ludwig schön nachweist, der Dichter natürlich, aber auch der Theologe (in seinem Verhältnis zu Religion und Christentum) und der Pädagoge. „Ihn trieb eine regelrechte Leidenschaft fürs Schreiben an, gemischt mit einem unbestechlichen Scharfblick für die Kunst der Sprache“ – so der Biograph.
Werk und Leben als biographische Einheit
Hebels Handexemplar der „Alemannischen Gedichte“ mit persönlichen Korrekturen
Über der Betrachtung des Werks verliert Ludwig nicht den Blick auf das Leben – beides, das wissen wir, bedingen sich in Persönlichkeiten wie Johann Peter Hebel. Kindheit und Jugend sowie schulische Ausbildung in Hausen, Basel und Karlsruhe; Theologiestudium in Erlangen, Lehrer in Lörrach, später Karlsruhe; 1798 Ernennung zum ausserordentlichen Professor, verschiedene öffentliche und halböffentliche Funktionen, am Ende Prälat der evangelischen Landeskirche und Mitglied der ersten Kammer des Badischen Landtags.
Im Provinzialismus das Weltgefühl
Hebel-Denkmal in Basel
Theodor Heuss über Hebel: „Hebel aber blieb lebendig… – nicht bloss deshalb, weil die Dankbarkeit des alemannischen Volkstums den Mann trägt, die Dankbarkeit dafür, dass er die Heimatsprache sozusagen druckreif gemacht hat, sondern weil in diesem bewussten und begrenzten Provinzialismus der Gedichte ein Weltgefühl umfasst ist, und weil in diesen mit sehr viel Zeitluft und mit aktuellem Zeitgeschehen angefüllten Anekdoten der Unterton des Bleibenden, Gültigen, des Ewigen, Ewig-Menschlichen mitklingt…“
So kann man auch Ludwigs Würdigung Johann Peter Hebels lesen. Seine Lebensbeschreibung ersetzt zwar nicht eine umfassendere, eine kritische Biographie – aber sie ist ein schöne Hinführung zum Dichter und seinem Werk. ♦
Christian Linders kürzlich veröffentlichte 617-Seiten-Biographie ist in Anlehnung an eine Metapher von Jean Paul „Das Schwirren des heranfliegenden Pfeiles“ betitelt. Neuigkeiten über Heinrich Böll (1917-1985, 1972 Literaturnobelpreis) gibt es nicht. Neu ist allein der Blick, den Biograf Linder auf seinen Biografenden Böll wirft, und apart ist die Form wie sich der Biograf mit seinem Biografenden in Beziehung setzt – versucht Linder doch, wie in der Nachbemerkung ausgeführt, „ein Leben und ein Werk aus sich selbst heraus zu erklären und zu erkunden, wie ich diese Methode mit meinem eigenen Leben verbinden könnte.“
Diese mit geckenhafter Attitüde verbundene Doppelimmanenz ist deshalb ein problematischer Ansatz, weil ein Leben nicht „aus sich selbst heraus“ erklärt werden kann, dieses sich vielmehr im hermeneutischen Zirkel windet; auch kann ein Werk nicht allein über die Biographie eines Künstlers bzw. Schriftstellers erschlossen werden.
Suche nach der verlorenen Heimat
Linder unterlegt seiner Biographie diese existentielle Fragestellung: „Zu fragen ist […] ob sein Werk aufgrund dieser durch die individuelle Besonderheit seiner Person und seiner Herkunft zu erklärenden Erkenntnischancen und Irrtümern unserem Blick aufs Leben und auf den Tod neue Sehweisen hinzufügen konnte; was Böll zum Beispiel unter ´Heimat´ verstand und ob das in seinen Büchern aufscheinende, meistens funzlig, sentimental-heimelig wirkende Dämmerlicht auf den alten Bildern, mit denen im Kopf er durch das Leben gereist ist und die er schreibend aufgestellt hat auf der Suche nach der verlorenen Heimat, für uns wirklich begehbare ´Heimwege´ bedeuten (wohin auch immer); aus welchen Erinnerungen nicht nur seines Gedächtnisses, sondern auch seines Körpers sein Werk überhaupt zusammengebaut ist…“
Diese Leitfragen will der Biograf in drei breit angelegten Kapiteln: „Der Reisende“, „Der Staub der Trümmer“ und „Das Imperium“ beantworten.
Im ersten Kapitel wertet Linder vor allem Bölls „Briefe aus dem Krieg“ aus und findet Bekanntes heraus: Böll wurde von Léon Bloys konservativ-mystischem Denken, das sich mit eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg verband, erheblich beeinflusst:
„Seine Kritik an der katholischen Amtskirche wegen ihrer Nähe zu den Reichen und der ´inhumanen Ellenbogenmentalität der Wohlstands-Katholiken´ hat Böll später in seinem Werk weitergeschrieben, in der direkt inspirierten und manchmal wörtlichen Nachfolge Bloys – dieser Einfluss findet sich von den frühen Nachkriegstexten über den Roman Ansichten eines Clowns von 1963 bis zu den letzten Romanen ‚Fürsorgliche Belagerung‘ von 1979 und ‚Frauen vor Flusslandschaften‘ von 1985.“
Von Bloy übernommen sind auch zentrale Motive und Themen wie Armut, Liebe, Religion und das Verhältnis zur modernen, kapitalistisch bestimmten Zeit.
Suche nach der Hauptidentität als Schriftsteller
Im zweiten Kapitel sucht Linder nach Bölls Hauptidentität als Schriftsteller. Er spürt sie vor allem in der eignen Familie, in den Trümmern und im Staub des Jahres 1945 auf. Sie erlaubten es Böll, Gerichtstag über Verursacher dieser Trümmerlandschaft, grosses Kapital, Militär, konservative Politiker und autokratische Kirche, zu halten „und dem Verlauf der politischen Geschichte Widerstand“ entgegenzusetzen, „indem er sein Leben und das seiner Familie und ihrer Privatmythologien erzählt…“
Nach Wiederaufbau, politischer, sozialer und wirtschaftlichen Restauration und der angeblich vor allem konsumgeprägten ´nivellierten Mittelstandsgesellschaft´ (Helmut Schelsky) des ´rheinischen Kapitalismus´ (Jürgen Becker) der alten Bundesrepublik Deutschland verflüchtigte sich freilich der Anklagegegenstand zunehmend. Das Sujet von Bölls Literatur und das kleinbürgerlich, heimatliche, von Kindheitsmustern geprägte Lebensideal illusionierte sich. Die Erkenntnis der Vergeblichkeit des Tuns führte auch Böll in zunehmende Depression, förderte seine Hinwendung zu kirchlicher Mystik und liess ihn Trost in deren Sakramenten suchen.
Der politische Schriftsteller
Der politische Literat mit Willy Brandt (1974)
Das dritte Kapitel kreist um die Bedeutung Bölls als „politischer Schriftsteller“ und um dessen politisches Engagement. Böll war auch als um interessensbezogen-praktische „Einigkeit der Einzelgänger“ (Dieter Lattmann) bemühter Autor kein exponierter politisch-realistischer Schriftsteller, verstand vielmehr sein „Schreiben als Verteidigung und Konservierung von Kindheit und der Stunde der Einfachheit.“ Bölls Art des Schreibens rieb sich jedoch an der (bundes-) deutschen gesellschaftlichen Wirklichkeit und wirkte dadurch ebenso politisch wie seine moralischen, im humanen Christentum verankerten Forderungen (in) seiner politischen Publizistik aggressiv erschienen.
Der Schriftsteller als moralische Instanz: Manuskript-Auszug der „Verlorenen Ehre der Katharina Blum“
Linder führt seine assoziativen Gedankengänge so breit wie möglich aus. Er stützt sich auf lange Zitate aus Bölls Briefen und Artikeln, Ausführungen von Theoretikern und Kritikern sowie eitel-gefälligen Bölleinschätzungen durch Leute, mit denen Böll zeitweilig zu tun hatte, etwa dem Münstereifler Deutschlehrer und Autor Heinz Küpper, oder dem Biografen Linder selbst. Den Text überfrachten zu viele Wiederholungen und zu unkritische Einschätzungen; dies besonders am Schluss, wenn sich Linder als Böllspurensucher an Zeitzeugen der verfemten Juden von Drove (Kreuzau) heranmacht.
Grundsatzthemen der Nachkriegszeit aufgegriffen
Im Gegensatz zu Linder kann ich nicht erkennen, dass Bölls Werk fremd daherkommt, sondern sehe eher, dass Böll als Schriftsteller „Grundsatzthemen der Nachkriegszeit“ (um eine Biografenformel zu zitieren) aufgegriffen und gestaltet hat. Diese Grundsatzthemen wirken auch heute historisch nach und sind teilweise so aktuell wie etwa (nun freilich ganzdeutsche) Kriegsbeteiligung, Finanz- und Wirtschaftskrise, Arm-Reich-Gegensatz, amtskirchliche und religiöse Gegenaufklärung unterschiedlicher Schattierungen, politische Korruption und moralische Korrumpierung. Insofern könnte es dem nun erweiterten Sozialgebilde Deutschland gut anstehen, gegen die Zeit und ihren Geist schreibende Autoren wie Heinrich Böll – auch als ´moralische´ Instanz – zu haben.
Diese Böll-Biographie ist grottenschlecht geschrieben. Sie ist kaum lesbar. Sie muss auch nicht gelesen werden. ♦
Geb. 1947 in Ludwigshafen/D, Promotion in Sozialwissenschaften, seit 1972 beruflich als Wissenschaftlerin, Stadt- & Regionalplanerin und Lehrerin tätig, 1989-1999 ehrenamtliche Stadtverordnete sowie Fraktions- und Ausschussvorsitzende im Rat der Stadt Bad Münstereifel, zahlreiche fachwissenschaftliche, essayistische und politische Publikationen und Online-Beiträge, lebt in Bad Münstereifel/D
Das Urteil: Vollumfänglich schuldfähiger Verbrecher
von Walter Eigenmann
Lange Jahre stand, angesichts von Millionen Kriegs- und Mord-Toten während des deutschen „Dritten Reiches“, für viele fest: Nur ein Wahnsinniger, nur ein hoffnungslos kranker Psychopath konnte solche Zerstörung, solch kollektives Leid, solch abgrundtiefe Unmenschlichkeit über die ganze Welt ausbreiten, und schon lange vor Kriegsende, also vor dem totalen Zusammenbruch der Deutschen und ihrer Hitlerei, fragten sich die ob solch unfassbarer Barbarei Entsetzten öffentlich oder insgeheim: War Adolf Hitler krank? Wurde die weltweit wütende Wehrmacht von einem Drogenabhängigen geführt? Hat ein krankes Hirn die Abschlachtung von Millionen Menschen befohlen? War Auschwitz womöglich „nur“ die Ausgeburt eines perversen Morbiden, der für seinen wahnhaften Zustand „eigentlich gar nichts konnte?“
Dieser Frage gehen nun, nach einigen bisherigen anderen, thematisch ähnlich gelagerten Publikationen, die beiden deutschen Autoren Prof. Dr. Hans-Joachim Neumann (Medizinhistoriker & Pathograph) und Prof. Dr. Henrik Eberle (Historiker) in einem „abschliessenden Befund“ unter dem Titel „War Hitler krank?“ nach.
Auf über 300 Seiten breiten dabei die zwei Wissenschaftler Zeit- und aktuell recherchierte Dokumente aus: Medizinische Gutachten, pharmakologische Analysen, Zeitzeugen-Gespräche, Tagebücher, Befehls-Unterlagen, Arzt-Berichte, u.v.a. Und Seite um Seite demontieren die Autoren den ebenso langlebigen wie allen betroffenen Schuldigen zupassekommenden Mythos von Hitler als einem hinfälligen Psychopathen im Bunker der Reichskanzlei, der von seinem Leibarzt Morell „kaputtgespritzt“ worden sei.
Keine schuldmindernden Erkrankungen
Unmittelbar nach Kriegsende exhumierten sowjetische Offiziere Hitlers verbrannte Überreste und stellten die Echtheit anhand seiner Zähne fest.
Denn zwar bestreiten Neumann und Eberle natürlich nicht, dass dieser vom Rassismus zerfressene „Führer“ unter verschiedenen Erkrankungen litt (u.a. Augen- und Hals-/Nasen-Probleme, psychosomatische Verdauungs-Beschwerden, Bluthochdruck, Koronarsklerose, später Parkinson, evtl. Medikamenten-Missbrauch), aber die wegweisenden Entscheidungen traf Hitler schon früh, als gesunder Mensch, und krankheitsbedingt war, wie die Buchautoren nachweisen, kein einziger seiner zahllosen destruktiven Befehle. Auch für eine schuldmindernde Beeinträchtigung infolge psychopathologischer Erkrankungen fehlt jeder wissenschaftlich haltbare Beweis, wie Neumann und Eberle dokumentieren.
Die beiden Pathographen wörtlich: „Die Konstellation seiner Familiengeschichte teilten Millionen Deutsche. Ein dominierender, möglicherweise gewaltätiger Vater und eine überfürsorgliche, vielleicht zu sehr liebende Mutter waren der Normalfall in einem Haushalt der vorletzten Jahrhunderte. Alle anderen exogenen, also von aussen verursachten seelischen Beeinträchtigungen gehören in das Reich der Mythologie und der vorsätzlichen Lüge. […]
Fast das gesamte deutsche Volk jubelte seinem Führer begeistert zu (Video-Dokument: „Adolf Hitler spricht im Berliner Sportpalast“)
Hitler hasste zwar, war aber immer in der Lage, seinen Wunsch nach Vernichtung der Juden mit den Vorstellungen der Gesellschaft zu synchronisieren. Gerade die zahlreichen taktischen Wendungen – etwa der Hitler-Stalin-Pakt mit der jüdisch-bolschewistischen Sowjetunion – zeigen die zynische Flexibilität seines Handelns.
Ursachen von Hitlers Verbrechen in der deutschen Gesellschaft
Adolf Hitler im März 1945 an der Ostfront in einer Lagebesprechung. Er war gezeichnet von seiner Parkinson-Krankheit und konnte nicht mehr länger als eine halbe Stunde stehen; die zitternde linke Hand ist unter dem Kartentisch verborgen. Neumann&Eberle: „Seine geistigen Fähigkeiten wurden durch die Krankheit nicht beeinträchtigt.“
So zynisch es klingt: Alle Verbrechen, die er anordnete und ermöglichte, der Völkermord an den Juden, die Ermordung von Sinti und Roma, Massentötungen von Geisteskranken, sind durch sein Agieren in den gesellschaftlichen Handlungs-Spielräumen erklärbar. […] Die wirklichen Ursachen für diese Verbrechen sind in der deutschen Gesellschaft zu suchen, in ihrer Geistesgeschichte und den sozialen Zusammenhängen.“
Neumann und Eberle kommen nach ihrem 320-seitigen Report denn auch zu einem eindeutigen Urteil, ihr Befund ist ernüchternd: „Der Krieg wurde nicht geführt, und die Juden wurden nicht vernichtet, weil Hitler krank war, sondern weil die meisten Deutschen seine Überzeugungen teilten, ihn zu ihrem Führer machten und ihm folgten.“ ♦
„Je weiter Auschwitz entfernt ist, desto näher kommt es, die Jahre dazwischen sind weggewischt. Auschwitz ist Realität, alles andere Traum. Nicht Mauthausen, wo Waiki ermordet wurde und ich mit ihm. Das Entsetzen hat sich vom eigenen Schicksal verlagert auf das der vielen. Auschwitz ist Chiffre, kein Ort auf der Landkarte.
Meine Nerven reagieren auf jede Gewalt, Menschen, ihre Mörder, eine sadistische Meute beamteter, uniformierter Peiniger. Eltern, die ihre Kinder quälen, Eheleute, die sich langsam erwürgen, Gemetzel mit Bajonetten, Peitschen, Elektroden, Wörtern, in Folterkammern und guten Stuben. Es verfolgt mich.“
„Es verfolgt mich“
Grete Weil (1906-1999)
So steht es in einem Buch, das ich vor einigen Jahren, und mit dringlicher Leseempfehlung, geschenkt bekam: in Grete Weils Roman „Generationen“.1
Dieses Buch beeindruckte und bewegte mich derart, dass ich daraufhin alle weiteren Bücher der Weil las und begann, mich mit Leben und Werk der Autorin zu beschäftigen, einer Autorin, die nur ein Lebensthema hat: Die Judenverfolgung (ihr eigenes Schicksal), den Faschismus und die Nichtaufarbeitung der Vergangenheit durch die Deutschen. Ein Thema, das sie immer erneut gestaltete, in einfacher, klarer, oft stakkatohafter Sprache, unbeschönigt, aber nicht unschön.
Glückliche Kindheit: verwöhnt und verhätschelt
Grete Weil wurde 1906 in Rottach-Egern am Tegernsee als Margarete Elisabeth Dispeker geboren, Tochter einer grossbürgerlichen jüdischen Familie, und verlebte nach ihren eigenen Worten eine unendlich glückliche Kindheit, verwöhnt und verhätschelt. Sie studierte Germanistik in Berlin, München und Frankfurt/M, begann zu schreiben, denn Schriftstellerin zu werden war ihr eigentliches Lebensziel schon früh, und heiratete 1932 den Dramaturgen der Münchner Kammerspiele Edgar Weil, dem sie 1936 nach Holland ins Exil folgte.
Dort arbeitete sie zunächst als Portrait-Photographin. Als die Niederlande kapitulierten (1940), versuchten sie und ihr Mann nach England zu fliehen, aber der Versuch misslang. 1941 wurde Edgar Weil auf der Strasse verhaftet und im KZ Mauthausen ermordet. Grete Weil meldete sich zur Arbeit beim jüdischen Rat in der „Schouwburg“ in Amsterdam, dem Sammellager für die zur Deportation bestimmten Juden, als Selbstrettung und um nach Kräften die Deportationen zu behindern und zu verzögern. Im Herbst 1943 tauchte sie jedoch bei Freunden unter und überlebte.
Aussöhnung ohne Vergessen
Nachdem die Deutschen den Juden 1941 die Staatsbürgerschaft aberkannt hatten, war auch Grete Weil staatenlos geworden, und da die Alliierten nach dem Krieg keine Staatenlosen nach Deutschland liessen, ging sie 1947 heimlich über die grüne Grenze in die Heimat zurück, in das trotz allem geliebte Land. Immer hatte sie sich als Deutsche gefühlt, denn ihre Sprache und ihre Kultur waren deutsch. Sie söhnte sich aus mit diesem Land und diesem Volk, aber ohne zu vergessen oder zu verdrängen. Ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Leidensgenossen blieb ihr gegenwärtig und wurde das Thema ihrer nun im fortgeschrittenen Alter wieder aufgenommenen literarischen Produktion: „Zwölf Jahre nicht geschrieben, in der Zeit, die entscheidet, in der man die besten Einfälle hat und die meiste Kraft. Nach dem Krieg schreibe ich ein paar Bücher. Sie handeln von Krieg und Deportation. Ich kann von nichts anderem erzählen. Der Angelpunkt meines Lebens.“2
Ans Ende der Welt
„Ans Ende der Welt“3 hiess ihr erstes Buch, das 1949 in Berlin erschien. Diese Erzählung ist eine Darstellung ihrer Erfahrungen in der Schouwburg. Hier sind hunderte von Menschen jeden Alters zusammengepfercht in Erwartung ihres Schicksals, so auch ein Universitätsprofessor mit Frau und Tochter, einer der nur sehr langsam begreift, dass den Nazis seine soziale Stellung, seine Verdienste nichts bedeuten, dass auch er nur eine Nummer in den Listen ist, einer von vielen, die sterben müssen. Beklemmend ist diese Schilderung der Atmosphäre von Angst, Verzweiflung, Hoffnung auch, an die sich die Verlorenen klammern, und anrührend die Begegnung der Tochter Annabeth mit dem Jungen Ben und ihre erste scheue Liebe im Angesicht des nahen Todes.
Dieses Buch wurde zwar von einem Albert Ehrenstein als „knappes Meisterwerk“ bezeichnet, „eine einfache, herzergreifende Geschichte von Liebe und Tod, die viele kennen sollen, kennen müssen …“4, aber ein Erfolg war es nicht, kaum jemand wollte nach dem Krieg etwas wissen von diesen Dingen, man war beschäftigt damit Neues aufzubauen und das Alte zu verdrängen.
Nachdenken über die deutsche Schande
Weil-Libretto zu Henz-Oper: „Boulevarde Solitude“ (Aufnahme von 1953)
Aber die Weil schrieb weiter. Nachdem sie ihren Jugendfreund, den Opernregisseur Walter Jockisch wiedergefunden hatte, (den sie 1960 heiratete), entstand zunächst, zusammen mit ihm, das Libretto zu Hans Werner Henzes Oper „Boulevard Solitude“, die 1952 in Hannover uraufgeführt wurde, sowie der Text zu Fortners Pantomime „Die Witwe von Ephesus“ (Uraufführung in Berlin 1952). Sie übersetzte Bücher aus dem Englischen (Durrell, Aiken, Buchanan, Hawkes) und Holländischen (J. Brouwers), textete Kurzfilme, besprach Bücher im Funk, und bevor ihr nächstes Buch erschien, verging Zeit. Aber sie hatte sich keineswegs abgefunden mit der praktizierten „Vergangenheitsbewältigung“ der Deutschen. Sie bestand weiter darauf, über die deutsche Schande nachzudenken, zu reden, zu schreiben.
Schonungslose Offenheit
Und sie tat es mit schonungsloser Offenheit in dem 1963 erschienen Roman „Tramhalte Beethovenstraat“5, in dem sie abermals ihre Holland-Erlebnisse zu verarbeiten sucht. Indem sie hier einen jungen deutschen Journalisten zum Protagonisten macht, der 1942 als Berichterstatter in Amsterdam Zeuge der Judendeportationen wurde, bemüht sie sich um etwas objektivierende Distanz.
Aber auch er will nach dem Krieg nicht vergessen, sich nicht arrangieren, sondern versucht auf einer Reise in die Vergangenheit mit sich und seinen Erinnerungen ins Reine zu kommen. Ein aufwühlendes Buch, das ergreift und angreift, keine gemütliche Lektüre, „in einer Prosa von grosser Schlichtheit und Wärme, Direktheit und Kraft, wie man sie selten findet“,6 wie Martin Gregor-Dellin schrieb.
Ein Ghetto des Nichtwissenwollens
1968: „Happy, sagte der Onkel“7 – drei Impressionen aus Amerika, auch dort wieder das ständige Thema. Die Titelerzählung schildert einen Besuch bei Verwandten, die der Vernichtung im Dritten Reich entronnen, die Vergangenheit völlig verdrängt haben und als 150prozentige Amerikaner jede Erinnerung daran weit von sich weisen. Sie haben sich rührend in ein Ghetto aus Nichtwissenwollen, Nichtanrühren zurückgezogen, eine Haltung, die Grete Weil bitterem Spott anheimgibt. In der zweiten Skizze („Gloria Halleluja“) besucht sie Harlem, ein Ghetto von heute, in dem sie mit Hass und Ablehnung konfrontiert wird. Es gibt keine Solidarität der Unterdrückten und Verfolgten, wenn sie verschiedener Hautfarbe sind. Schliesslich eine Touristenreise nach Mexiko, ins aztekische Chichen-Itza, auch das eine Schädelstätte, für die Weil eine Parallele zu Auschwitz, und dort begegnet sie einem SS-Schergen wieder (oder glaubt ihm zu begegnen), der jetzt als Fremdenführer tätig ist. Anlass zu einer Selbstbefragung, einem nochmaligen Durchleben der schlimmen Vergangenheit („B sagen“). Später notiert sie: „Ich verstehe jeden, habe eine Geschichte geschrieben, in der ich mich mit einem SS-Mann identifiziere, wir haben beide überlebt, sind beide schuldig“8.
Schuld des Überlebens
Schuld des Überlebens: „Spätfolgen“ (Grete Weil)
In ihrem letzten Buch, mit dem bezeichnenden Titel „Spätfolgen“ setzt sie sich in kleinen Erzählungen nochmals mit dem Weiterwirken des Entsetzlichen und mit der Scham des Überlebenden auseinander. Da ist jenes jüdische Mädchen, das dem Nazi-Morden entkommt, auf einer Reise durch das heutige Deutschland einen Autounfall erleidet und stirbt, weil sie sich von keinem deutschen Arzt anfassen lassen kann („Don’t touch me“). Oder jener Mann, der nach Italien zurückkehrt, an die Orte einstigen Glücks mit der in Sobibor vergasten Bella und sich dort erschiesst, weil er sich als Überlebender schuldig fühlt. („Das Schönste der Welt“). Der Band enthält auch eine Neufassung von „Happy, sagte der Onkel“ („Das Haus in der Wüste“), die im wesentlichen eine Straffung darstellt, eine strengere, knappere Form; diese Bearbeitung zeigt, dass Grete Weil auch gerade an dieser Geschichte über Verdrängung und Arrangierung viel gelegen war.
1970 starb auch Walter Jockisch, und Grete Weil, jetzt 64 Jahre alt, allein, nicht mehr gesund, noch heimgesucht von den Gespenstern der Vergangenheit, schrieb jenen Roman, der 1980 ihren künstlerischen Durchbrach brachte: „Meine Schwester Antigone“.
Gegenwart gewordene Vergangenheit
In Aufzeichnungen einer alten Frau, die minuziös ihren Tagesablauf notiert, ihr Leben allein, ihr Leiden an der Einsamkeit, die sie doch auch braucht, ihr Leiden am Alter, das sie doch mit verbissenem Stolz trägt, und ihr Ringen mit dem unfertigen und nie vollendeten Antigone-Stoff.
Die sophokleische Heldin, die sie beschäftigt und verfolgt, sieht sie als Ebenbild, aber auch als Gegenpart, dessen Handlungen sie in unzähligen Gedankenspielen analysiert und interpretiert, immer in Bezug auf sich selbst. Antigone aber auch als rebellische Verkörperung einer Jugend, „die uns nicht die kleinste Ausflucht erlaubt, diese Welt noch in Ordnung zu finden“9, einer Jugend, für die die Autorin Verständnis und Zuneigung empfindet.
Immer wieder sind da auch die Erinnerungen an ihre toten Ehemänner, auch an ihren verschwundenen Hund, den einzigen verbliebenen Gefährten, vor allem aber an die furchtbare Vergangenheit, die Verfolgung, die Zeit im jüdischen Rat in Amsterdam, die unvermittelt in die Gegenwartsschilderungen eingefügt und damit selbst zur ständigen Gegenwart werden. Noch nie wurden zudem die Probleme des Alterns, die Einsamkeit wie der Kampf um eine würdiges sinnvolles Dasein so eindringlich beschworen.
Verschachtelte Zeitebenen
„Auflösung“ des polnischen Ghettos Piotrkow (Petrikau): „Die Bestie Mensch“
Am Ende werden die Zeitebenen immer stärker verschachtelt, durchdringen sich Erinnerungen der Autorin, die Identifizierung mit Antigone, die Gegenwart, die Kindheit, die hypothetischen Erlebnisse so stark, dass sie fast untrennbar werden. Letztlich wird die Erzählerin nicht damit fertig, dass sie hingenommen hat, nicht wie Antigone aufgestanden ist und um den Preis des Untergangs ein Zeichen der Revolte gegeben hat.
Eingefügt in dieses Buch ist ein furchtbares Dokument: 20 Seiten eines Augenzeugenberichts über die „Auflösung“ des Juden-Ghettos Petrikau (Piotrkow) 1943, den Friedrich Hellmund geschrieben hatte, ein lettischer Autor, 1945 in Polen vermisst. Hier wird nüchtern-sachlich, aber mit brutaler Deutlichkeit vorgeführt, was sich hinter so leicht zu handhabenden Vokalen wie „Ghetto-Auflösung“ und „Endlösung“ verbirgt: die Bestie Mensch in geradezu unvorstellbarer Form. Dieses Dokument macht mit einem Schlag auch dem letzten Zweifler klar, warum die Weil nicht vergessen kann, nicht vergessen will, und warum sie das Erschiessungskommando hinter sich spürt, wenn sie Erde im Garten aushebt, um Blumen zu pflanzen, warum sie Sympathie hat mit der verfolgten „Sympathisantin“.
„Der Erfolg tut weh, der Preis war zu hoch“
Das Buch war, wie gesagt, ein Erfolg. „Der späte Erfolg tut gut. Der späte Erfolg tut weh“, schrieb sie, „der Preis war zu hoch. Ich bin Zeuge, und als Zeuge muss ich aussagen. Und dieser Zwang hat mir Kraft gegeben durchzuhalten. Viele Jahre wollte es niemand hören, aber das ist anders geworden.“10
Die Offenheit einer nachgewachsenen Generation für die längst überfällige Beschäftigung mit der jüngeren deutschen Geschichte trug sicher zum Erfolg auch des nächsten Buches bei, jene „Generationen“ von 1983. Hier wird der Versuch einer Wohngemeinschaft dreier unterschiedlicher Frauen geschildert: Einer älteren, die Autorin mit der schweren Hypothek der Verfolgten und Gedemütigten, einer Jungen und einer Frau mittleren Alters, beide ohne diese Erfahrungen,aber mit eigenen Problemen und auch mit einem gewissen rücksichtslosen Egoismus. Der Versuch dieses Zusammenlebens verschiedener Generationen scheitert, an Missverständnissen, Empfindsamkeiten, Rivalitäten. Die Junge sucht ihren eigenen Weg, eine Arbeit, in der sie sich verwirklichen kann, die mittlere ist eine einzelgängerische Künstlerin, und alle führen in wechselnden Konstellationen einen Kampf um Wärme, Verstehen, Freundschaft, wozu letztlich keiner fähig ist, weil jeder mit seinem Geschick auf einer Insel lebt.
Auch dies wieder ein Tagebuch (in dem übrigens die Entstehung der „Antigone“ verfolgt werden kann), und eigentlich ein sehr ähnliches Buch, doch neu aufgerollt, neu gespiegelt, der Einsamkeit dort ein Versuch von Gemeinschaft hier gegenübergestellt, stets im Schatten der Vergangenheit.
Keine Wehleidigkeit
Grete Weil in einem Interview vor einigen Jahren
Aber hier, wie immer bei der Weil, fehlt jede Wehleidigkeit, jede Larmoyanz, immer bleibt sie nüchtern, von grosser, harter Aufrichtigkeit, schonungslos auch sich selbst gegenüber. Und nochmals, nach einem Herzinfarkt und einem schweren Schlaganfall schafft sie es, einen Roman, den „Brautpreis“ zu schreiben. Hierin liest man: „Herrlich, dass du wenigstens schreiben kannst. Nein, es ist nicht herrlich, kein bisschen. Es ist eine gewaltige Anstrengung. Die dauernde Furcht, es nicht mehr zu können. „11
In diesem Buch entdeckt die Weil ein neues Thema für sich, steigt sie tief hinab in die jüdische Geschichte; sie, die niemals eine jüdische, nur eine deutsche Identität in sich entdecken konnte, wird hier zu Michal, Tochter des Königs Saul und erste Frau König Davids, auch sie nun eine alte Frau, die ihr langes kummervolles Leben berichtet. Dann aber spricht auch wieder die Autorin selbst: Ein Dialog über die Zeiten hinweg, zwischen einer Jüdin am Anfang und einer am Ende der Geschichte. „3000 Jahre liegen dazwischen. Eine lange Zeit zur Einsicht, doch geändert hat sich nicht viel.“12
Zum ersten Mal in Israel
Um ihr Buch schreiben zu können, ist sie, die immer gern und viel reiste (bis nach Ladakh und Nepal!), endlich auch nach Israel gefahren, zum ersten Mal in ihrem Leben, denn sie hatte bislang wohl immer Angst vor ihren Emotionen, eine Angst, die sich dann als unbegründet erwies. Das Land erschien ihr fremd, vermittelte ihr nicht das Gefühl nach Hause zu kommen; wohl aber empfand sie eine Zärtlichkeit für Land und Bewohner und hoffte, wenn auch zweifelnd, dass es gut gehen möge mit ihnen.
Eine Skepsis, geboren aus leidvoller Erfahrung und aus einer leidvollen Geschichte voll Blut und Gewalt, wie sie auch in dieser Erzählung berichtet wird. Aber Michal, diese Stimme aus ferner Vergangenheit setzte die Hoffnung auf eine künftig bessere, menschlichere Welt und ahnte doch nicht, welches Schicksal ihrem Volk noch bevorstand. Grete, die andere Stimme, hat dieses Schicksal durchlebt und überlebt und muss mit dieser Wunde leben; dennoch ist sie bereit zu vergeben. Ein Buch von grosser Trauer und grosser Menschlichkeit.
Das Schuldgefühl der Davongekommenen
In den „Spätfolgen“ wird dann ein resignierter Ton hörbar: „Über vierzig Jahre lang habe ich mir eingebildet ein Zeuge zu sein, und das hat mich befähigt so zu leben wie ich es getan habe. Ich bin kein Zeuge mehr. Ich habe nichts gewusst. Wenn ich Primo Levi lese, weiss ich, dass ich mir ein KZ nicht wirklich vorstellen konnte. Meine Phantasie war nicht krank genug.“13
Primo Levi hat sich wie andere, die das KZ überlebten: Jean Améry, Bruno Bettelheim, Paul Celan später das Leben genommen, und was schon zuvor gelegentlich bei Grete Weil anklang, wird hier nochmals sehr deutlich: das Schuldgefühl der Davongekommenen gegenüber den Opfern des Nazi-Terrors.
Für den „Brautpreis“ und für ihr Lebenswerk erhielt Grete Weil 1988 den mit 20’000 DM dotierten Geschwister-Scholl-Preis. In ihrer Dankrede erklärte sie, dieser Preis sei der einzige, den sie sich immer gewünscht habe, denn er gelte nicht nur der Literatur, sondern auch der Gesinnung, und da glaube sie ihn im Sinne von Hans und Sophie Scholl mit Recht annehmen zu dürfen.
„Ich, die Spätgeborene“, schreibt sie in dem Roman, „muss mit dem Wissen um Auschwitz mein Leben zu Ende bringen, es wird mich quälen bis zum letzten Atemzug.“14
Aber, auch das sagte sie einmal in einem Interview, hassen könne sie nicht: „Ich bin wohl eine schlechte Hasserin.“ ♦
1 Grete Weil, Generationen, Roman, Berlin: Volk und Welt, 1985 2 Grete Weil, Meine Schwester Antigone, Roman, Zürich/Köln: Benziger, 1980 3 Grete Weil, Ans Ende der Welt, Erzählung, Berlin: Volk und Welt, 1949 4 zitiert nach G. Weil, Ans Ende der Welt 5 Grete Weil, Tramhalte Beethovenstraat, Roman, Wiesbaden: Limes, 1963 6 zitiert nach G. Weil, Tramhalte Beethovenstraat 7 Grete Weil, Happy sagte der Onkel, Wiesbaden: Limes, 1968 8 G. Weil, Antigone 9 G. Weil, Antigone 10 G. Weil, Generationen 11 Grete Weil, Der Brautpreis, Roman, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1988 12 G. Weil, Der Brautpreis 13 Grete Weil, Spätfolgen, Erzählungen, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1992 14 G. Weil, Der Brautpreis
(Dieser Beitrag von Peter Ahrendt stammt aus dem Jahre 1994)
Geb 1940 in Penzlin/D, bis 2005 Konzern-Betriebsprüfer, Prosa-, Lyrik- und essayistische Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Mitglied der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser GASL und der Fritz-Reuter-Gesellschaft, lebt in Norderstedt/D
Bücher mit einem ähnlichen Klappentext wie dem folgenden wurden und werden immer wieder publiziert, und liest man in der Buchhandlung solche Sätze wie auf der Rückseite von Eric Baumanns Buch „Einen Sommer noch“, denkt man „Armer Kerl!“ und stellt es mitfühlend-seufzend wieder ins Regal zurück:
„Er ist jung, erfolgreich, frisch verliebt – und auf dem Karrieresprung. Dem Journalisten Eric Baumann steht die Welt offen. Doch sein Körper spricht eine andere Sprache, schickt Kopfschmerzen, Sprachaussetzer, Sehstörungen. An seinem 34. Geburtstag erfährt Eric Baumann, dass er einen bösartigen Gehirntumor hat, der sofort operiert werden muss. Seine Überlebenschancen sind auch nach der Operation gleich null. Ab diesem Zeitpunkt steht über jedem schönen Augenblick die Frage: Werde ich das je wieder erleben? Dennoch gibt Eric Baumann auch in Momenten tiefster Verzweiflung nicht auf. Mit offenen Augen schaut er in die Welt und wehrt sich mit Lebensfreude und Mut nun schon mehr als drei Jahre gegen den sicheren Tod.“
Über jedem Augenblick die Frage: Werde ich das je wieder erleben?
Nun, diesen Autobiographie-Band des Luzerner Wirtschaftsjournalisten Eric Baumann sollte man nicht wieder ins Regal zurückstellen. Sondern miterleben.
Gewiss, Baumann ist weder Poet, noch Literat, noch Wissenschaftler, noch Philosoph, noch Pfarrer, noch Märtyrer. Seine Sprache: Knapp, realistisch, voller Verben und Substantive, ohne alle Larmoyanz, streckenweise schier ohne Sentiment, doch wider Erwarten keineswegs humorlos – wie das alles gute Wirtschaftsredakteure durchaus können. Und überhaupt: „Um mich zu besinnen, muss ich nicht die Hände falten. Ich brauche auch keine Institution, die mir zu erklären versucht, was nach dem Tod passiert.“ Denn dieses „Einen Sommer noch“ impliziert zwar Hoffnung, es bilanziert gar irgendwie, obwohl es nur nach vorne blickt – aber vor allem sind diese knapp 260 Seiten ein in seiner detaillierten Intensität ungeheuer beeindruckendes, so noch nie gelesenes Stenogramm einer Heimsuchung.
Und deren menschlicher wie medizinischer Bewältigung. Baumann hat einen wahren Kosmos der inneren Monologe und und der äusseren (medizinischen) Dialoge, auch der sozialen Netze, der widersprüchlichen Therapie-Diskussionen, des Selbstbeobachtens und des Fremdbestimmtseins, bis hin zur Resignation und zur Resurrektion zwischen zwei Buchdeckel gelegt, seine Sätze voller „Ich“ und „ich“ und voller Namen von Menschen und Leuten und Sachen und Techniken vermitteln zwischen Chemotherapie und Anthroposophie, zwischen Glioblastom und Qigong, zwischen Misteln und Tomographen. Kein Zweifel, nachdenken und reden über eine Krankheit wie Krebs ist ihrer Bekämpfung enorm förderlich.
„Kampf gegen den Krebs“ aus dem Vokubular gestrichen
Eric Baumann (Anmerkung: Rund ein halbes Jahr nach Veröffentlichung dieser Rezension erfuhr die „Glarean“-Redaktion, dass Eric Baumann am 21. 08. 2009 nun seiner Tumor-Erkrankung erlegen und an einem Hirntumor-Rezidiv verstorben ist. (Siehe auch —> „Kommentar“)
Wiewohl Baumann differenziert: „Den Begriff ‚Kampf‘ für den Umgang mit dem Krebs streiche ich aus meinem Vokabular. Ich interpretiere meinen Weg eher als Prozess. […] Klar ist er ein Biest, dieser Tumor. Nach der Lektüre einiger Bücher wie dem von Simonton verstehe ich ihn aber immer mehr als einen Teil von mir, denn seine Zellen gehören zu meinem Zellenvolk. Wenn ich visualisiere, mag ich mir jedenfalls nicht einen Krieg von gegeneinander antretenden Zellen vorstellen, selbst wenn das der Realität entspricht. Das Putzteam ist mir sympathischer.“
„Einen Sommer noch“ ist das anrührend ehrliche, sensibel, doch ungeschönt notierende, in seiner intelligent sezierenden Präzision fast beängstigende, zwar subjektivst erlebte und erlittene, aber auch in grosse menschliche und medizinische Vorgänge eingebettete Protokollieren des Überlebens – von der ersten dringenden Hirnoperation bis zur jüngsten Nevada-Reise mit Partnerin Alice. Dazwischen liegen hoffnungsvolle Monate und Jahre – geschenkte Lebenszeit, gemäss Statistik.
„Es gibt ein Morgen“
Doch wie schreibt der inzwischen 38-jährige, noch immer an einem der schlimmsten, weil bösartigsten Hirntumore (= Grad IV der WHO) leidende Autor – alles Gute ihm auch von hier aus! – in seinem Buch-„Epilog“:
„Es ist Frühling, es ist warm. Wie vor einem Jahr sitze ich im Parkcafé, nippe an einer Apfelschorle. Vor mir liegt ein Manuskript, meine Geschichte. – Ich habe wieder einen Befund aus dem Spital erhalten. Es sieht gut aus. Die Chemomedizin muss ich aber weiterhin schlucken, es wäre fahrlässig, sie abzusetzen. – Ein Sonnenstrahl dringt durch eine Allee von Pappeln. Der Sommer steht vor der Tür. Noch einer. Was für ein schönes Leben! – Ich packe zusammen. Fertig für heute. Es gibt ein Morgen.“ ♦
Ein Assistenzarzt zeigt mir die Bilder. Er wirkt desinteressiert, sein Blick ist frustriert und müde. Was ich zu sehen bekomme, schnürt mir die Kehle zu: Der Schatten ist viel deutlicher zu sehen als auf der Computertomografie von gestern Abend. Er dominiert den linken Schläfenlappen des Gehirns. Um ihn herum hat sich eine enorme Schwellung gebildet. Sie will mein Gehirn vor dem Eindringling schützen. Der Platz im Kopf ist aber begrenzt, die Hirnmasse wird zur Seite gedrängt, eingequetscht. In der Mitte des Gehirns verläuft eine Linie. Normalerweise ist sie gerade, meine aber hat derzeit eine Delle. „Midline-Shift nach rechts“, heisst es im Spitalbericht. „Eindeutig Hirntumor“, meint der Assistenzarzt. Also doch! Bestimmt wussten die Mediziner in der Notfallstation gestern Abend bereits, dass es sich nicht um eine Entzündung handelt. Vermutlich wollten sie mir die Diagnose „Bösartiger Hirntumor“ noch nicht als einzig mögliche Erklärung zumuten. „Der Tumor“, so der Arzt, „hat einen Durchmesser von etwa vier Zentimetern und zerfranst in verschiedene Richtungen.“ Vier Zentimeter? Das ist etwa die Grösse eines Pingpongballs! Und zerfranst klingt nicht gut. „Harmlos ist er definitiv nicht“, bestätigt der Assistenzarzt teilnahmslos. „Er muss weg. Wir haben bereits einen Termin für Sie gefunden, die Operation findet nächsten Montagmorgen statt, am dritten Januar.“ In vier Tagen komme ich unters Messer! Hirntumore werden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Kategorien eingeteilt, wie ich jetzt erfahre. I und II sind gutartig, III und IV bösartig. Wucherungen aller Grade beanspruchen Platz im Kopf. „Gutartig“ ist also ein verharmlosendes Wort, denn selbst in so einem Fall kann ein Tumor zum Tod führen, wenn er zu gross wird. Tumore höheren Grades wachsen sogar ins Gehirn hinein, verästeln sich, zerstören Zellen und setzen damit früher oder später lebenswichtige Funktionen ausser Gefecht. In diesem Fall gelten Hirntumore auch als Krebserkrankung. Gradmässig geht es nur nach oben. Ein maligner Tumor – Mediziner-Slang für „bösartig“ – kann sich nicht zu einem gutartigen zurückentwickeln. „Genau wissen wir es erst nach der Operation. Vermutlich handelt es sich um Grad III“, ergänzt der Assistenzarzt. Bestimmt schlimm genug. Ich kann also nur noch hoffen, dass es keine Nummer Vier ist. Sagt der Arzt die Wahrheit, oder ist die Art, wie er seine Einschätzung formuliert, selbst bei ihm ein Akt der Barmherzigkeit? „Wie lange habe ich denn noch zu leben?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir wissen noch nicht genug.“ „Bin ich dem Tod geweiht?“ „Nun, Sie müssen davon ausgehen, dass wir Sie nicht heilen können. aber wir werden Ihnen eine zusätzliche beschwerdefreie Zeit ermöglichen.“ Noch so ein Faustschlag. Das kann doch nicht sein. Ich, sterben? Heute ist mein Geburtstag! Mir geht das alles viel zu schnell. Wie soll ich als Vierunddreissigjähriger von einer Stunde auf die nächste einen Plan für den Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit bereithalten? Dass mir in meinem Alter schon der Tod blühen könnte, damit habe ich mich noch nie auseinandergesetzt.[…]
Flower-Power, Sexuelle Revolution, DDR-Mauerbau, Ausserparlamentarische Opposition, Spiegel-Affäre, Emanzipation, Contergan-Skandal, Prager Frühling, Mini-Rock: Der Stich- und Reizwörter im Zusammenhang mit den sog. „60ern“ sind viele. Und kulturgeschichtlich bedeutsame. Dieses Jahrzehnt der weltweiten Veränderungen, ja Umwälzungen arbeitet nun eine grosse, sechsteilige ARD-Politserie auf.
Persönliche Erfahrungen treffen auf geschichtliche Ereignisse
Das Begleitbuch zur TV-Serie „Unsere 60er Jahre“ (Herbst 2007) des Berliner Publizisten und Historikers Rudolf Grosskopff zeigt über die TV-Filme hinaus, wie die globalen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen sich direkt in den Erlebnissen und und Schicksalen zahlreicher Einzelbiographien spiegelten, wobei Autor Grosskopff dabei die persönliche Erfahrungen seiner Zeitzeugen mit den „grossen“ geschichtlichen Ereignissen verwebt.
Der Band besticht weniger durch üppige Bild-Illustrierung denn durch historisch vielfältig dokumentierte, den „Geist“ der Sechziger differenziert beleuchtende Text-Beiträge. Eine willkommene, den Rückblick auf eine spannende Epoche durchaus bereichernde Edition. ♦
Rudolf Grosskopff, Unsere 60er Jahre, Das Buch zur ARD-Serie, Eichborn Verlag, 304 Seiten, ISBN 978-3821856827
Der Bamberger Karl-May-Verlag, seit Jahrzehnten führendes Haus in Sachen Karl May, legt mit seiner just erschienenen Bild-Biographie „Karl May und seine Zeit“ einen beispiellos üppig ausstaffierten, fast 600-seitigen, im berühmten „Gold-auf-Grün“-Look aller seiner May-Bände daherkommenden Bild- und Text-Konvolut vor. Der beeindruckende, mit über weite Strecken noch unveröffentlichtem Material bestückte Prachtband ist das Ergebnis mehrjähriger Recherchen der beiden May-Forscher Gerhard Kluβmeier und Hainer Plaul.
Fotos, Dokumente, Artikel
Was diese neueste Biographie über einen der meistgelesenen (und meistumstrittenen) Schriftsteller der gesamten deutschsprachigen Literaturgeschichte heraushebt, ist – neben der erschlagenden Fülle von über 1’500 Fotos, Dokumenten, Illustrationen und Presseartikeln – vor allem der inhaltliche Ansatz der Autoren. Denn obwohl man der beiden Editoren glühende Hingabe an ihre Arbeit und ihre Verehrung für den Millionen-Seller Karl May auf jeder Seite spürt, so war man doch bemüht, den unsterblichen „Winnetou“-Schöpfer nicht einfach der kritik- und distanzlosen Pietät (angesichts seines einzigartigen weltumspannenden Erfolges) auszuliefern, sondern seine Persönlichkeit und sein Schreiben in den sozialen und medienpsychologischen Kontext seiner Zeit zu stellen. Zurecht dokumentieren (und „beweisen“ damit) Kluβmeier und Plaul in ihrem Buch einen deutschen Romancier, der einbezogen, ja verstrickt war in sehr belastende private, aber auch gesellschaftliche Zwänge inmitten der sog. Gründerjahre und deren widersprüchlichem, teils bigottem Pressewesen. Die faire Rede ist also nicht nur vom „kriminellen Delinquenten“ (der bekanntlich Jahre seines unsteten Lebens als verurteilter Dieb und „Shatterhand“-Hochstapler nicht unter Geiern, sondern hinter Gittern verbrachte), sondern auch vom Kulturkämpfer, v.a. aber vom bedingungslosen Pazifisten Karl May – und dessen lebenslangem Einstehen für Humanität, ethnische Toleranz und dichterische Freiheit.
Im März 2007 jährte sich der Todestag Karl Mays zum 95. Mal. Auch ein knappes Jahrhundert nach seinem Tod gehört er nach wie vor zu den beliebtesten Autoren Deutschlands und setzt immer neue Superlative. Um nur einige zu nennen: Karl May ist mit über 100 Millionen verkauften Büchern der meistgelesene Schriftsteller in deutscher Sprache. Seine Werke wurden zudem in über 40 Sprachen übersetzt. Bei den am häufigsten im Internet und auf Bestsellerlisten genannten deutschen Autoren belegt Karl May Rang 3. (Quelle: Karl-May-Verlag Bamberg)
Jenseits aller ideologisch gefärbten, teils auch auf schierer Unkenntnis beruhenden Fokussierung auf die menschlichen Defizite des Karl May schaufelt diese Biographie aus Bamberg als ein opulent bebildertes Sittengemälde einer ganzen Epoche den Blick frei auf eine singuläre Erscheinung in der mehrhundertjährigen Geschichte deutschsprachiger Abenteuer-Dichtung. Nicht nur der trivialliterarische, sondern auch der dokumentierend-wissenschaftliche Diskurs über diesen Schriftsteller hat mit der Biographie „Karl May und seine Zeit“ eine neue Referenz. ♦