Heute vor … Jahren: Die Schöpfung (Joseph Haydn)

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“

Über Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“

von Walter Eigenmann

Am Abend des 30. April 1798 wohnt ein illustrer, allerdings nur privat geladender Kreis von Adeligen und Musik-Freunden, von „Gönnern und Kennern“, quasi das gehobene Tout-Wien im fürstlichen Palais des Joseph Schwarzenberg der ersten Aufführung eines Werkes bei, das zum Inbegriff der Nach-Händelschen Oratorien-Komposition schlechthin und zum noch heute populärsten Stück seines Komponisten avancieren wird: „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn.

Joseph Haydn (1732-1809)
Joseph Haydn (1732-1809)

Hell begeistert reportiert der damalige Wiener Korrespondent des „Neuen teutschen Merkur“ seine Eindrücke von diesem Konzert, bei dem Haydn dirigiert und Salieri am Flügel sitzt, nach Weimar: „Schon sind drei Tage seit dem glücklichen Abende verflossen, und noch klingt es in meinen Ohren, in meinem Herzen, noch engt der Empfindungen Menge selbst bey der Erinnerung die Brust mir. […] Die Musik hat eine Kraft der Darstellung, welche alle Vorstellung übertrifft; man wird hingerissen, sieht der Elemente Sturm, sieht es Licht werden, die gefallenen Geister tief in den Abgrund sinken, zittert beym Rollen des Donners, stimmt mit in den Feyergesang der himmlischen Bewohner. Die Sonne steigt, der Vögel frohes Lob begrüsst die steigende; der Pflanzen Grün entkeimt dem Boden, es rieselt silbern der kühle Bach, und vom Meersgrund auf schäumender Woge wälzt sich Leviathan empor.“

Schneller Siegeszug durch die ganze Welt

Zweisprachige Erstausgabe der "Schöpfung" von Joseph Haydn 1800
Zweisprachige Erstausgabe der „Schöpfung“ von Joseph Haydn 1800

Der „Empfindungen Menge“ des emphatischen Schreibers bei dem neuesten Opus des inzwischen als Symphoniker und Kammermusik-Genie berühmten, vor kurzem von zwei England-Reisen endgültig nach Wien zurückgekehrten Komponisten wird von all jenen geteilt, die am 7. und 10. Mai 1798 die (erneut privaten) Wiederholungen des Konzertes hören. Knapp ein Jahr später, am 19. März 1799, löst die erste öffentliche Aufführung im Hof-Theater (mit einem Riesenapparat von über 180 Musikern, ganz nach Händels monumentalem Vorbild in der Westminster Abbey) genau dieselbe ungeheure Faszination aus – „Die Schöpfung“ geht endgültig auf ihren Siegeszug durch alle Kirchen und Konzertsäle der Welt.
Wesentlichen Anteil nicht am Erfolg, aber am Entstehen des Oratoriums hat der niederländisch gebürtige Musik-Mäzen, einflussreiche Österreich-Diplomat, wohlhabende Konzert-Veranstalter, erfolglose Komponist und schliessliche Präfekt der Kaiserlichen Hof-Bibliothek, Baron Gottfried van Swieten. Dieser umtriebige Aristokrat, dem alle drei Wiener Klassiker regelmässig finanzielle Zuwendungen, Subskriptionen, Kompositions-Aufträge und Auftritts-Möglichkeiten verdanken, gründet Ende der 1780er Jahre mit einer Reihe von Adligen – darunter die Grafen bzw. Fürsten Esterhazy, Liechtenstein, Lobkowitz, Kinsky, Auersperg, Lichnowsky, Trauttmannsdorff, Sinzendorf und Schwarzenberg – seine musikalische (auch Freimaurer-)“Gesellschaft der Associierten“, welche jährlich mehrere ihrer sog. „Akademien“ veranstaltet und dabei Werk um Werk (von Bach bis Beethoven) aus der Taufe hebt. Für Haydn übersetzt Van Swieten – Librettist und musikalischer Idee-Lieferant zugleich – den ursprünglich englischen Oratorien-Libretto-Text eines (im übrigen nicht näher bekannten) Lidley – dessen Quellen seinerseits das Buch Genesis, die Psalmen sowie John Miltons Epos „Paradise Lost“ bilden – ins Deutsche. Das Libretto folgt in seinen beiden ersten Teilen dem biblischen Schöpfungsbericht über die Erschaffung von Himmel und Erde, Wasser und Land, Pflanzen und Gestirnen sowie der Erschaffung von Tier und Mensch, wobei die drei Erzengel die traditionelle Erzähler-Rolle des „Historicus“ innehaben. Miltons Dichtung grundiert bei Haydn dann den dritten, „paradiesisch-idyllischen“ Teil als Zitaten-Sammlung.


Exkurs: Das Oratorium

Joseph Haydns „Die Schöpfung“ (im Verbund mit seinem zweiten Oratorium „Die Jahreszeiten“ / 1801) leitet eine Wende ein in der europäischen Oratorien-Geschichte bis zur frühen Wiener Klassik. Haydns weltweiter Erfolg begünstigte die Pflege des Oratoriums nun auch ausserhalb des sakralen Raums, und der „Schöpfung“ aufgeklärter Optimismus, ihr insgesamt unpathetischer, zwar tief-, aber nie trübsinniger Duktus und ihre theologisch mehr den Freuden denn den Leiden des Irdischen zugewandte, das „Positive“ der Genesis betonende Grundhaltung – beispielsweise negieren Haydn und der Freimaurer Van Swieten den „Sündenfall“ völlig! – spannt eine Entwicklungslinie über Mendelssohns „Elias“ (1846) und Schumanns märchenhaftem Erlösungs-Mythos in „Paradies und Peri“ (1843) bis zu Liszts „Legende von der heiligen Elisabeth“ (1862) und deren ideeller Stoffnähe zu Wagners „Tannhäuser“.
Auch in Frankreich bleibt das Oratorium (Drame sacré, Mystère) im 19. Jahrhundert populär: Berlioz mit „L’Enfant du Christ“ (1854), aber auch Saint-Saens oder Franck schaffen nach wie vor weltweit aufgeführte interessante Stücke dieser Gattung mit einem grossen Orchesterapparat und weiterentwickelter, „romantischer“ Satz-Technik (beispielsweise Leitmotivik).

Lukas Cranach d.Ä - "Adam und Eva"
Lukas Cranach d.Ä – „Adam und Eva“

Ein Blick zurück in die Vor-„Schöpfungs“-Zeit sieht als frühestes Zeugnis oratorischen Komponierens die italienische „geistliche Oper“ eines Cavalieri („Rappresentazione di anima e di corpo“ / Rom 1600) mit Rezitativen, Chören und Tänzen die Gattung begründen. Zentrale Figur dieser „nicht-szenischen Oper“ mit geistlicher Thematik ist der „Testo“, welcher in Rezitativen (Tenor mit Generalbass) den Text bzw. die Handlung für die verschiedenen Musik-Nummern vorträgt, und dessen Stoffe direkt aus den beiden Testamenten oder aus den Heiligen-Legenden stammen. Die neugedichteten Partien fallen dann den Solisten oder dem Chor zu. Exemplarisch für diese Strukturierung sind im 17. Jahrhundert Carissimi („Oratorio latino“) und dessen Nachfolger Stradella und Charpentier (in Frankreich). A. Scarlattis „Neapolitanische Schule führt dann – wieder nach Opern-Vorbild – das Secco- und Accompagnato-Rezitativ sowie die Da-Capo-Arie ins Oratorium ein; Höhepunkt dieser Entwicklung ist Georg Friedrich Händel mit seinen Oratorien „Esther“, „Messias“, „Judas Maccabäus“ u.a. Johann S. Bachs Weihnachts-Oratorium schliesslich geht aus der Schütz-Tradition und dessen oratorienartigen „Historien“ hervor.

Tintoretto - Die Erschaffung der Tiere - Essay über Josef Haydn - Glarean Magazin
Tintoretto – Die Erschaffung der Tiere

Das 20. Jahrhundert sieht weder in stilistischer noch in formaler oder besetzungstechnischer Hinsicht eine Neu-Orientierung der Oratorien-Komposition. (Die Bezeichnung „Oratorium“ ist übrigens abgeleitet vom frühen „Oratorio“, dem Bet-Saal, wo Bibel-Lesungen und sonstige andächtige Betrachtungen – mit geistlichen Liedern, sog. „Lauden“ – veranstaltet wurden.) Als grossartige, teils gar szenisch aufführbare oratorische Werke wären für diesen Zeitraum mindestens Honeggers „Le roi David“, Strawinskys „Oedipus rex“ oder Schönbergs „Die Jakobsleiter“ anzumerken. (Walter Eigenmann)


Musikgeschichtlich beispiellose Höchstleistung

Während rein Rahmen-formal die schon bei Händel zu standardisierter Ausprägung geführte, bei Händel auch szenisch-dramaturgisch durchkomponierte gattungsspezifische Abfolge von Soli-, Chor- und Orchester-Passagen beibehalten wird, geraten Haydn die stilistischen, harmonischen, melodischen und satz- wie orchestertechnischen Aspekte dieses seines berühmtesten Alters-Werkes zur musikgeschichtlich bisher beispiellosen Höchstleistung. Haydns naiv-volkstümliche Frömmigkeit (in notabene vernunftbetonter „Aufklärungs“-Zeit) kontrastiert hier mit einer kompositorischen Raffinesse und einer Ausdrucksweite wie -tiefe, die weit über die „geordnete Klarheit“ der Klassik hinaus in die tonmalerische „Programm-Musik“ der Spätromantik weisen.
Auf die zahllosen berühmtgewordenen Passagen dieser Partitur – vom „Chaos“-Urnebel der Ouvertüre bis zum grandios überhöhenden „Amen“-Schlusschor, vom C-Dur-„Licht“ bis zum „Löwengebrüll“ des tiefen Kontrafagotts, von den „Pastoral-„Oboen über das „Donnergrollen“ im Blech bis hin zum Mücken-Schwirren in Streicher-Tremoli – sei hier nicht eingegangen, sondern die kompositorische Innovation nur anhand des Aspektes „Dynamik“ gestreift, denn letztere erfährt in Haydns „Schöpfung“ eine bedeutsame Entwicklung. Zwar hatte sich nämlich schon im Frühbarock (z.B. bei Locke) die dynamische Differenzierung des Einzeltones angebahnt, und in der Folge kennt Händel den Schwellmechanismus der Orgel, Rameau verwendet bereits graphische Zeichen fürs An- bzw. Abschwellen, und Stamitz‘ „Mannheimer Schule“ wurde u.a. bekannt durch ihr Orchester-Crescendo. Haydns „Schöpfungs“-Dynamik nun, jetzt bis in alle Einzelheiten ausgefeilt, führt einen Effekt in die Kirchenmusik ein, den ihm viele später nachmachen: Die überwältigende Wirkung des „Subito-piano“ nach dem Forte bzw. Crescendieren. Beispielsweise im Chor (mit Terzett) „Der Herr ist gross“ mit der zweimaligen dynamischen „Rückung“ bei der Stelle „…und ewig bleibt sein Ruhm“.

Notenbeispiel Josef Haydn: Fugativer Chor-Satz (Engl. Fassung) von "Die Himmel rühmen..." Glarean Magazin
Notenbeispiel Josef Haydn: Fugativer Chor-Satz (Engl. Fassung) von „Die Himmel rühmen…“

Differenzierte Orchestertechnik und emotionales Melos

Baron und Mäzen Gottfried van Swieten (1733-1803)
Baron und Mäzen Gottfried van Swieten (1733-1803)

Neben der höchst differenzierten Orchestertechnik, aber auch dem Haydn-typisch „eingänglichen“, in der Stimmführung gleichwohl sehr emotionalen, fast „malenden“ Arien-Melos der „Schöpfung“ ist natürlich die spezielle Behandlung des mehrfach eingesetzten (Massen-)Chores in diesem Oratorium ein weiterer Grund für seine so erfolgreiche Rezeptions-Geschichte. Wiederum sei diesbezüglich nur ein Bereich sondiert, nämlich die Kontrapunktik – und abschliessend der „frühromantische“ Mendelssohn-Lehrer, Goethe-Vertoner, Orchester-Dirigent, „Liedertafel-„Gründer und Haydn-Zeitgenosse Carl F. Zelter (1756-1832) zitiert:

„Die Arbeit an diesen Chören ist fast überall fugenartig. Die Themata sind fasslich, und die Kontrasubjekte und Reperkussionen treten frei und natürlich einher. Nirgends Dunkelheit oder Verwirrung, und selbst die Augmentationen sind klar und stark, obgleich nirgends streng. Der Ausdruck der Worte ist wahrer und kühner als in den Arien und Rezitativen, und die Instrumentalmusik über alle Beschreibung vortrefflich durch das Ganze gewirkt […] Wenn aber junge, arbeitslustige Harmonisten an allen fugierten Chören dieses Oratoriums eine gewisse Leichtigkeit, Schlüpfrigkeit oder übermütige Freiheit nicht verkennen mögen; wenn sie bemerken müssen, dass in diesem grossen Werke keine einzige strikte Fuge vorhanden ist: so mögen sie sich des ungeachtet gesagt sein lassen, dass, so leicht und so voll und fliessend zu arbeiten nur dem möglich ist, der eine strikte Fuge mit allen ihren Attributen aufzustellen weiss. Solche Beispiele grosser Meister sind für junge Künstler so verführerisch, dass sie die Kunst, fugenartig arbeiten zu lernen, wozu, bei dem entschiedensten Talente, ein anhal­tender, jahrelanger Fleiss erfordert wird, gar zu gerne für eine leidige Schulfuchserei halten mögen. Es bedarf keines ausserordentlichen Grades von Talent und Kunst, ein Stück hervorzubringen, in welchem man in eine Partitur von vielen Notensystemen ein Ding hineinpasst, das Ungeübte um so eher für eine Fuge halten, je weniger es ihnen natürlich und gefällig scheint. Allein die Kunst, mit einem musikalischen Gedanken umzugehen, solchen auf eine interessante Art zu evolvieren und jede Stimme sprechen zu lassen, dass sie ein bedeutender Teil des Ganzen bleibe und das Ganze etwas Schönes sei, dazu gehört eine Übung im Fugensatze, die viel zu lange ist vernachlässigt worden; und zu Haydns unvergesslichen Verdiensten gehört demnach auch dieses, dass seine trefflichen Kompositionen, ihr Feuer, ihre Wahrheit und Würze, grossenteils dem schönen Gebrauche der Kontrapunkte und seiner Art zu fugieren zu danken haben; und Er, der mit seinem Genie und seiner ewig frischen Gedankenfülle alle seine Zeitgenossen hinter sich lässt, schämt sich nicht, seine Werke mit kontrapunktischen Schönheiten auszuschmücken, wodurch sie allen Veränderungen und Schicksalen der Zeit und Mode zum Trotz unsterblich bleiben werden, so lange die Musik eine Kunst heisst.“

Öffentliche Uraufführung der "Schöpfung" im Festsaal der Universität Wien (1808)
Öffentliche Uraufführung der „Schöpfung“ im Festsaal der Universität Wien (1808)
Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über
Daniel-Francois Auber: Die Stumme von Portici
… sowie zum Thema Kunst & Religion von
Heiner Brückner: Vom Himmlischen (Essay)

Heute vor … Jahren: Die Zofen (Jean Genet)

Ungeheure Träume träumender Ungeheuer

Über „Die Zofen“ von Jean Genet

von Walter Eigenmann.

Am 17. April 1947 hat das Pariser Théatre de l’Athéne auf seinem Spielplan die Uraufführung eines Stückes, dessen Autor im Säuglingsalter von seiner Mutter, einer Prostituierten, der Fürsorge übergeben wird, und der schon in seiner Jugendzeit als Strichjunge, vagabundierender Dieb, Schwulen-Zuhälter und schliesslich als mehrjähriger Sträfling jenes Verworfenen-Leben lebt, das später zur zentralen Staffage, ja zur zelebrierten Unter- und Gegen-Welt des totalen Werte-Negierens in fast allen seinen Romanen und Stücken erhoben wird. Die Rede ist von dem französischen Schriftsteller, Dramatiker und Poeten Jean Genet (1910-1986) – und von seinem absurd-grotesken Prosa-Einakter „Die Zofen“ (Les Bonnes).

Jean Genet (1910-1986) - Glarean Magazin
Jean Genet (1910-1986)

Die Zofen, das sind die Schwestern Claire und Solange, welche dienend gleichsam zum lebenden Mobiliar in der reichen Salon-Welt einer „gnädigen Frau“ erniedrigt sind, die aber, ist die Herrschaft aus dem Haus, zu eigenem Spiel und Traum umsiedeln, um dort ihren Herrschafts-Trieben, ihren Vergeltungs-Sehnsüchten, ihrer gegenseitigen Hass-Liebe und ihrem Vernichtungsrausch zu frönen.

Der Mord als Katharsis

Plakat der "Zofen"-Verfilmung mit Glenda jackson und Susanna York
Plakat der „Zofen“-Verfilmung mit Glenda Jackson und Susanna York

Ihr Mord-Plan, die Herrin zu vergiften, nachdem sie deren Geliebten bereits anonym denunziert und (wie sie meinen) für immer ins Gefängnis gebracht haben, ist der erste Schritt zur eigenen Erlösung, die das soziale Gefüge neutralisieren und die beiden Zofen selber im phantastmagorischen Rollen-Spiel als Dienerin und als Herrin installieren soll. Claire (als neue Herrin) und Solange verstricken sich qualvoll leidend und lüstern geniessend zugleich in ihre grausam-lustvolle Traum-Flucht hin zur selbstgewählten Knechtschaft, die sie befreien soll. Der Zofen genüsslich-morbide Spiel-Lust an der Unterwerfung wie der Unterdrückung macht sie zu „Ungeheuern – wie wir selber, wenn wir dieses oder jenes träumen“ (Genet). Als die psychologisch konsequent vorangetriebene Apotheose dieser Liebe-Hass- und Herrschaft-Unterwerfung-Ambivalenz naht, kippt die erst gespielt-virtuelle Identitäts-Flucht der beiden Zofen in die tragische Realität: Herrin ist nun Claire, und diese trinkt das für die „Gnädige“ bestimmt Gift, „während Solange unbeweglich mit dem Gesicht zum Publikum steht, die Hände überkreuzt, als ob sie Handschellen trüge“.
Der „Komödiant und Märtyrer Saint Genet“, wie Sartre in seinem gleichnamigen umfangreichen Essay diesen sowohl biographisch wie literarisch solitären Skandal-Autoren nennt, interpretiert selber „Die Zofen“ weder als Sozialkritiker noch als Psychologe oder gar Moralist, sondern als Poet: „Ich versuchte, eine Distanzierung zu erreichen, die gleichzeitig einen deklamatorischen Ton zulassen und es ermöglichen sollte, das Theatralische ins Theater zu bringen. Ich hoffte, dadurch die Charaktere abzuschaffen… und sie durch Symbole ersetzen zu können, die so weit wie möglich von dem entfernt sein sollten, was sie eigentlich verkörperten, und doch wieder eng damit verknüpft, um als einziges Bindemittel zwischen Autor und Publikum dienen zu können. Kurz, ich wollte erreichen, dass die Figuren auf der Bühne nur noch Metaphern dessen waren, was sie darstellen sollten.“ Die selbstimaginierte Hass- und Ekel-Eskalation der Zofen wird so zur Zelebrierung eines Rituals, welches das Verbrechen als reinigende Kult-Handlung zentriert: Der Mord als Katharsis.

Krankhaft überhöhte Leidensfähigkeit der Protagonisten

Die zwei Schwestern
Die Inspiration für seinen „Zofen“-Handlungsrahmen holte sich Genet bei einem wahren Mordfall im französischen Städtchen Mans, wo die beiden Geschwister Christine (28) und Léa Papin (21) schon lange in einem bürgerlichen, äussert streng geführten Haushalt in der Provinzstadt Mans als Dienst-Mädchen angestellt waren. Wie sich die Tragödie abspielte, schildert Edmund White in seinem Buch „Jean Genet“ (München 1993): „Eines Tages versagte die Elektrizität im Haus. Da die Familie nicht da war, trugen die Dienstmädchen die Verantwortung. Als Mutter und Tochter nach Hause kamen, beschimpften sie die Schwestern, die in einem Wutanfall Mutter und Tochter die Augen auskratzten und sie töteten. Dann verstümmelten sie die Leichen und badeten die eine im Blut der anderen. Nach getaner Arbeit wuschen sie ihre Werkzeuge, nahmen ein Bad und legten sich im Bett zur Ruhe mit den Worten: ‚Da haben wir uns aber was geleistet!‘ Die Schwestern waren immer unzertrennlich gewesen, selbst in ihren Ferien. Bei ihrem Prozess waren sie ausserstande, ein Motiv für ihr Verbrechen zu nennen. Ihr einziges Interesse war, die Schande gemeinsam zu tragen. Nach fünf Monaten im Gefängnis, während derer sie von ihrer jüngeren Schwester getrennt war, brach Christine zusammen und versuchte, diesmal sich selbst die Augen auszukratzen. Als sie in eine Zwangsjacke gesteckt wurde, machte sie obszöne Verrenkungen, dann fiel sie in Schwermut. Nachdem die beiden Mädchen zur Guillotine geführt wurden, sank Christine auf die Knie.“
Walter Eigenmann

Auf die (im biographischen Kontext durchaus naheliegende) Frage, warum er nie einen Mord verübt habe, entgegnete einmal der homosexuelle Kriminelle und ewige Flüchtling Genet entwaffnend: „Wahrscheinlich, weil ich meine Bücher geschrieben habe“. Und die Kompromisslosigkeit, mit welcher dieser Autor – dessen Leben sich vor einem bürgerlichen Blick wie ein einziger tragischer Witz ausbreitet – die überhöhende wie krankhaft überhöhte Leidensfähigkeit seiner Protagonisten bis zur bitteren Neige auskostet, wird nur noch übertroffen durch die absurden, schier irrealen Trivialitäten, welche all diese Düsternis und dieses Scheitern in Genets teils perversen, teils ins Religiös-Heilige gesteigerten Welt(en) auszulösen vermögen. Dass sich der Existenzialist Sartre und der frühe Cocteau sowie in der Folge solche namhaften Underground- und Beat-Schriftsteller wie Allen Ginsberg, William Burroughs, Jack Kerouac oder Gregory Corso bis zu Charles Bukowski auf Jean Genet als einen ihrer literarischen Animateure berufen, ist also keineswegs zufällig.

Omnipräsente Spur der Moralität

Von „NotreDame-des-fleurs“ (1944) und seiner ständigen Konfrontation mit der Problematik des Tötens über „Le balcon“ (1957) mit der zentralen Intention „Die Welt ist ein Bordell“ bis hin zu der gigantomanen, theatralisch nicht mehr zu bewältigenden Totentanz-Opulenz der „Paravents“ (1961) – Genet nannte diese seine „Wände“ masslos verniedlichend ein „Märchenspiel“, ein „Fest, gewidmet den Lebenden wie den Toten“ – durchzieht dabei das gesamte umfangreiche Genet-Oeuvre eine omnipräsente Spur der gewaltsamsten Obszönität und der obsessivsten Missachtung aller gesellschaftlich determinierten Moralität. Anders als etwa Henry Miller, dessen übersteigerte „literarische Sexualität“ (zumindest anfänglich) banalste monetäre Ursachen hatte, ist Genet der wahrhaft Besessene, der Bilder-Junkie, der Apotheotiker auch der phallischen (präziser: homo-erotischen) Virilität, dem aller Unterleib zu Kopf steigt. Jean Genet, das ist ein einziger permanenter Tabu-Bruch, und das an Leib und Seele.
Zurecht ist in der Genet-Forschung auf die nicht nur thematische, sondern auch stilistische Parallelität Genets zur ebenfalls barock-opulenten Monströsität eines seiner „Vorgänger“, nämlich des Marquis de Sade hingewiesen worden. Gleich wie bei jenem – und wieder anders als bei Miller – kommt die Prosa, kommen auch die Dramen Genets, bei all ihrer pervers-kriminellen Narration, seltsam reflektorisch daher, Dialoge und Schilderungen sind seitenweise versetzt mit quasi-philosophischen Exkursen – irritierende Reflexionen, welche die Symbolik einzelner Handlungsstränge selten erklären, meist vielmehr vorantreiben. In zwanghafter Fatalität breitet so fast jedes Genet-Werk je eine eigene wahrliche Ästhetik des Bösen aus – Der „Querelle“-Verfilmer Rainer Werner Fassbinder nennt das 1982 den „Pakt mit dem Teufel“ -, die desillusionierende Analyse menschlichen Zusammenlebens wird zur buchstäblichen Sprach-Gewalt. In einem Geschwister-Dialog der „Zofen“ wird das exemplarisch im Hinblick auf menschliche Bindungen formuliert: „Ich möchte dir helfen. Ich möchte dich trösten, aber ich weiss, ich ekle dich an. Ich stosse dich ab. Ich weiss es, weil du mich anekelst. Liebe in Knechtschaft ist keine Liebe.“

Unentrinnbarer Identitäts-Zwiespalt

Die Genet-Freunde Picasso und Cocteau (1955 bei einer Corrida)
Die Genet-Freunde Picasso und Cocteau (1955 bei einer Corrida)

Zwar sind die „Zofen“ in ihrer psychopathischen Individualsphäre ein Drei-Personen-Binnenstück, aber deren unentrinnbar verstrickender Identitäts-Zwiespalt, eines der grossen Leit-Motive Genets, hat Genet selber hochtransponiert in seine eigene, post-literarische Lebens-Phase, da er sich vornehmlich als politischer Aktivist betätigte: Als Vietnamkrieg-Gegner, aber auch als RAF-Sympathisant; als Arafat-Freund im palästinenischen Freiheitskampf, aber auch – weltweit kritisiert – als „einfühlsamer“ Versteher des „Dichters“ Hitler, über den er (nur ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg!) schreibt: „Dichter, der er war, verstand er, sich des Bösen zu bedienen. Er zerstörte um der Zerstörung willen, er tötete, um zu töten.“ Und: „Der Führer schickte seine schönsten Männer in den Tod. Das war die einzige Möglichkeit, die er hatte, um sie alle zu besitzen.“

Entindividualisierung bis zur existenziellen Nackheit

Hier wird noch beim späten Genet ein zweites lebenslanges literarisches Motiv dieses Allegorien-Hymnikers verstärkt auf den Punkt gebracht: Die Entindividualisierung der Protagonisten, die am Ende ihres Umwandlungsprozesses nur noch als existenzielle Nacktheiten vorhanden sind – als „Inszenierung ihrer äusserlichen Form“, wie es die Genet-Analytikerin Michaela Wünsch einmal formulierte.

Wie fast alle seine Stücke wurde „Die Zofen“ – der Dramen-Erstling Genets – vom schockierten zeitgenössischen Theater-Publikum nicht verstanden, sondern boykottiert, die Erstaufführung geriet zum Desaster, auch für den Regisseur Louis Jouvet. Noch war die Zeit 1947 nicht reif für einen Jean Genet – nicht für den Heiligen, und nicht für den Sünder. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über das Drama von Henrik Ibsen: Peer Gynt
ausserdem zum Thema Literatur-Verfilmung über Christian Petzold: Undine

Heute vor … Jahren: Fatwa gegen Salman Rushdie

Orient versus Okzident? – Der Fall Salman Rushdie

von Walter Eigenmann

Am 14. März 1989 geht ein Schrei der Entrüstung und des Entsetzens durch die gesamte aufgeklärte Welt: Der Islam, fundamentalistisch personifiziert in dem Teheraner Imam Ruhollah Ibn Mustafa Musawi Chomeini, gibt den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie, einen der bedeutendsten Intellektuellen des Westens, buchstäblich zum Abschuss frei. Der Mullah Chomeini, seit seiner Rückkehr aus dem Pariser Exil (am 1. Februar 1979) Irans oberster religiöser wie politischer Führer und absolutistischer Theokrat mit faktisch uneingeschränkter Machtbefugnis, ruft in einer Fatwa die Moslems der ganzen Welt dazu auf, Rushdie zu ermorden. Denn dieser habe in seinem Buch „Die satanischen Verse“ Blasphemie wider den Propheten Mohammed betrieben. Chomeini: „Ich ersuche alle tapferen Muslime, ihn, gleich wo sie ihn finden, schnell zu töten, damit nie wieder jemand wagt, die Heiligen des Islam zu beleidigen. Jeder, der bei dem Versuch, Rushdie umzubringen, selbst ums Leben kommt, ist, so Gott will, ein Märtyrer.“ (Ulrich Encke: Ajatollah Chomeini 1989, Seite 172)

Kopfgeld-Prämie von 3 Millionen Dollar

Um ihrem Mord-Aufruf Nachdruck zu verleihen, setzen Ajatollah Chomeini und seine radikalen Theokraten eine Kopf-Prämie von drei Millionen US-Dollar aus. Das Blutgeld wird später sogar verdoppelt, die Fatwa nach dem Tode Chomeinis (am 3. Juni 1989) von den hohen Mullahs Chamenei und Rafsandjani ausdrücklich bekräftigt. Rushdie muss in den Untergrund abtauchen, vom britischen Geheimdienst unter Polizeischutz gestellt, er wechselt ständig den Wohnsitz, ununterbrochene Mord-Drohungen zwingen den Schriftsteller in die totale Isolation.

Gleichzeitig sind verschiedene Rushdie-Verleger Repressalien und Anschlägen ausgesetzt, sein dänischer Verleger entgeht nur knapp einem Attentat, und dem fundamentalistischen Islam-Fanatismus fallen schliesslich der italienische und der japanische Rushdie-Übersetzer zum Opfer, die in Mailand niedergestochen bzw. in Tokio ermordet werden. Zehn Jahre lang lebt der berühmte Autor der „Mitternachtskinder“ (1981) und von „Scham und Schande“ (1983) nun an streng geheimen Orten, 30 Mal wechselt er in dieser Zeit sein Versteck, und wo immer er sich (für kurze Augenblicke) zeigt, gilt die höchste Sicherheitsstufe – derweil ein Mann im britischen Fernsehen vor einem Millionen-Publikum öffentlich bekennt: „Ihn zu töten ist eine Ehre für mich, für jeden guten Moslem!“.

Fatwa-Mordruf gegen Rushdie bis heute nicht zurückgenommen

Salman Rushdie - Glarean Magazin
Salman Rushdie

Salman Rushdie findet sich indes mit diesem Leben nicht ab, er entschuldigt sich schon früh, erklärt gegenüber der Islamischen Glaubensgemeinschaft sein „Bedauern über die Besorgnis, die die Veröffentlichung aufrichtigen Anhängern des Islam bereitet hat“. Und bald nach der Verhängung der Fatwa regt sich weltweiter Widerstand gegen das Todes-Urteil, Prominente und bekannte Politiker (darunter auch US-Präsident Clinton) setzen sich für ihn ein, ebenso einhellig die grossen Schriftsteller- sowie andere starke Verbände.

„Redefreiheit ist das Leben!“

Heute ist der bedeutende, von zahlreichen Institutionen geehrte Vertreter des „Magischen Realismus“ wieder quasi auf freiem Fuss, und seine weltweit heiss „umkämpften“ und darum höchst erfolgreich verkauften „Satanischen Verse“ dürften ihn längst zum Millionär gemacht haben. Doch obwohl 1998 der eher liberale iranische Staatspräsident Chatami am Rande der UN-Vollversammlung erklärt, dass man den Fall Salman Rushdie offiziell als „völlig abgeschlossen“ betrachte, und dass überhaupt die iranische Regierung nie Mörder für die Beseitigung des Dichters gedungen habe, ist der Fatwa-Mordruf gegen Rushdie bis zum heutigen Tage nicht offiziell zurückgenommen worden. Vor einigen Monaten wurde Rushdie von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen; Islamisten drohen inzwischen erneut mit Anschlägen…
Solcher hasserfüllten, totalitär-ideologischen, den humanistischen Kern des Korans negierenden Barbarei hält der „realistische Phantast“ und grosse Islam-Kenner, aber auch erklärte Freidenker Salman Rushdie entgegen: „Redefreiheit ist das Entscheidende, um sie dreht sich alles. Redefreiheit ist das Leben.“ ♦

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Philipp Ruch: Schluss mit der Geduld!

Heute vor … Jahren: Die Stumme von Portici (Auber)

Das Opern-Duett als revolutionäres Pulverfass

von Walter Eigenmann

Am 29. Februar 1828 führt das berühmte Ensemble der altehrwürdigen Opéra National de Paris ein Musik-Theater-Werk erstmals auf, das gleich bei der Premiere stilbildende Musik- und zwei Jahre später gar politische Welt-Geschichte schreibt: „Die Stumme von Portici“ („La Muette de Portici„) von Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871).

Die Faszination des zeitgenössischen Publikums ob dieser ersten wirklichen „Grand Opéra“ mit ihren vielhundert-köpfigen Massenszenen, mit ihrem melodisch und rhythmisch effektvoll auftrumpfenden, das französische Kolorit betonenden Orchesterapparat, mit ihrer alle damaligen Hilfsmittel ausschöpfenden Bühnen-Technik, ihren Lichter- und Bilder-Orgien, ihrer gewaltigen Kulissen-Staffage und mit ihrer schier „totalitär“ wirkenden, ganz auf dekorative Dramatik zielenden Regie-Führung muss eine ungeheure gewesen sein.

Neapolitanischer Fischer-Aufstand als Libretto-Vorlage

Autograph der "Muette"-Ouvertüre von Daniel Auber (Klarinetten-Part)
Autograph der „Muette“-Ouvertüre von Daniel Auber (Klarinetten-Part)

Librettist des zweieinhalbstündigen Fünf-Akters und dessen tragischer Dreiecks-Liebesgeschichte um den Revolutionär Masaniello, das stumme Fischermädchen Fenella und den Militär-Prinzen Alfonso ist Eugéne Scribe, der bis dato keine historischen, sondern ausschliesslich komische Opern-Texte (u.a. auch für die Komponisten Meyerbeer und Boïeldieu) verfasst hatte. Zur Grundlage seiner „Muette“-Handlung nimmt Scribe den von Tommaso Aniello angeführten neapolitanischen Fischer-Aufstand im Jahre 1647.
Ist also der revolutionäre Gedanke schon im Stoff selber explizit angelegt, so bedarf es im politisch angespannt-labilen Europa anfangs des 19. Jahrhunderts nur weniger, theatralisch wirkungsvoller massensuggestiver Funken, die Pulverfässer explodieren zu lassen.

Das Freiheits-Duett legt die revolutionäre Lunte

Gigantomanie der Pariser "Grand Opera": Hunderte Komparsen und Requisiten für die "Stumme" von Auber mit einem beispiellosen technischen Aufwand
Gigantomanie der Pariser „Grand Opera“: Hunderte Komparsen und Requisiten für die „Stumme“ von Auber mit einem beispiellosen technischen Aufwand

Einer dieser Funken zündet 1830 in Brüssel: Nach dem zweiten Akt einer Aufführung von Aubers „Stummen“, genaugenommen nach dem berühmten Freiheits-Duett zwischen Fischer-Führer Masaniello und seinem früheren Mit-Revoluzzer bzw. späteren Todfeind Pietro, lassen sich die aufgewühlten Opern-Besucher derart vom aufpeitschenden Bühnengeschehen mitreissen, dass sie aus dem Theater auf die Strasse strömen, vereint mit den Massen die Polizei-Direktion und den Justiz-Palast stürmen und schliesslich die Druckerei des Regierungsblattes verwüsten. Der belgische Revolutionskampf ist lanciert, er wird zur Unabhängigkeit des Landes von Holland führen.

Ein Opern-Stoff mit politischem Zündstoff

Von der Bühne auf die Strasse: Ein aufgewühltes "Muette"-Opernpublikum errichtet Barrikaden und wird mit schwerem Geschütz bekämpft
Von der Bühne auf die Strasse: Ein aufgewühltes „Muette“-Opernpublikum errichtet Barrikaden und wird mit schwerem Geschütz bekämpft

Einmal mehr ist also in der Opern-Geschichte eine rein fiktive musiktheatralische Figur (hier die Stumme Fenella) zum Massen-Symbolträger nationaler (ggf. auch nationalistischer) Strömungen geworden – nur diesmal mit noch nie dagewesener realpolitischer Konsequenz. (Übrigens sorgt „Die Stumme von Portici“ nicht nur in Brüssel für Aufruhr; auch nach Aufführungen dieser Oper in Mailand, Warschau und Kassel kommt es zu politischen Spannungen und Unruhen.)

Daniel F. E. Auber in einer Karikatur der Gazette "Le Bouffon"
Daniel F. E. Auber in einer Karikatur der Gazette „Le Bouffon“

Auber selbst ist dabei mitnichten ein Revolutionär. Der Sohn eines Offiziers Ludwigs XVI. und späteren Kunsthändlers schreibt an die fünfzig – heute allerdings kaum mehr gespielte – Opern, wovon die wichtigsten – u.a. „La bergére châtelaine“, „Die Gesandtin“, „Die Cirkassierin“, „Réves d’amour“ und v.a. „Fra Diavolo“ als sein unbestrittenes musikalisches Opus magnum – dem komischen Genre zuzurechnen sind.

Etwas Besonders, etwas Dämonisches im Spiel

Umso solitärer Gehalt und Wirkung seines Polit-Dramas „La Muette de Portici“, dessen gesellschaftliche Bedeutung von den politischeren Köpfen unter Aubers Komponisten-Kollegen schon bald gewürdigt wird. Beispielsweise von Richard Wagner, der später über die „Stumme“ schreibt: „Es muss etwas Besonderes, fast Dämonisches dabei im Spiele gewesen sein […] Diese stürmende Tatkraft, dieses Meer von Empfindungen und Leidenschaften, gemalt in den glühendsten Farben, durchdrungen von den eigensten Melodien, gemischt von Grazie und Gewalt… Anmut und Heroismus: Ist dies alles nicht die wahrhafte Verkörperung der letzten Geschichte der französischen Revolution?“ ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin auch zum Thema „Sozialkritik auf der Bühne“ über
Die Soldaten von Bernd Zimmermann (Opfergang der Ungezählten)

Heute vor … Jahren: Peer Gynt (Henrik Ibsen)

Metamorphose eines Taugenichts

von Walter Eigenmann

Am 24. Februar 1876 hat im norwegischen Oslo eines der bekanntesten Stücke der internationalen Theater-Bühne seine Premiere: Das „Dramatische Gedicht“ Peer Gynt von Henrik Ibsen. Basierend auf der zwischen 1845 und 1848 erschienenen Feenmärchen-Sammlung „Huldre-Eventyr og Folkesagn“ von P. Ch. Asbjørnsen (und in gewisser formaler Nachfolge von Byrons „Manfred“) schildert Ibsens Vers-Epos die vieljährige Metamorphose des lügnerischen, nichtsnutzigen Bauernlümmels und nachmaligen Sklavenhändlers Peer Gynt hin zum moralisch geläuterten, durch eine weltweite, skurril-phantastisch-absurde Abenteuer-Odysee verarmten, aber seelisch gereiften Mann, der sich schliesslich sogar der unverbrüchlichen Liebe des „ewig Weiblichen“, verkörpert in der lebenslänglich wartenden und leidenden Solvejgh, würdig erweist.

Der „Faust des Nordens“

Peer Gynt - Ibsen - Thora Neelsen als Solveigh bei der Uraufführung
Thora Neelsen als Solveigh bei der Uraufführung

Der „nordische Faust“, wie man Ibsens mythisch ausladenden Peer-Gynt-Monolog um Trolle, Königstöchter, afrikanische Irrenhäuser und mephistophelische „Knopfgiesser“ schon bald auch nennt, entsteht 1867 auf Ischia, ist vordergründig eine langwierige Identitätssuche und -findung des Titelhelden, hintergründig aber ebenso eine fulminante literarische Abrechnung des Dichters mit der selbstzufriedenen Cliquen-Wirtschaft und Willenschwäche seiner norwegischen Landsleute.

Peer-Gynt-Musik aus Geldnot komponiert

Autograph der "Morgenstimmung* von Edward Grieg
Autograph der „Morgenstimmung* von Edward Grieg

Weniger die ethischen Intentionen des Stückes denn seine verschiedenen nationalromantisch kolorierten, allerdings kritisch gebrochenen Ingredienzen inspirieren schon kurz nach Erscheinen die Komponisten – allen voran Edvard Grieg, der von Ibsen eingeladen wurde, eine umfangreiche Partitur zur Theater-Fassung des Gynt-Stoffes beizusteuern. Doch die höchst unterschiedlichen künstlerischen Naturelle der beiden Genies – der reserviert-kühl-introvertierte Ibsen teilt Grieg exakte Vorstellungen von der musikalischen Gestaltung seines „Peer Gynt“ mit! – führt zu einer stilistisch nicht adäquaten Komposition Griegs.

Grieg am Klavier, Ibsen als Zuhörer (Postkarte von 1905, Bergen)
Grieg am Klavier, Ibsen als Zuhörer (Postkarte von 1905, Bergen)

Denn Griegs Vertonung akzentuiert ausgerechnet die norwegischen Farben des „Peer Gynt“, illustriert Peers Welt-Reisen mit mancherlei klanglichen Exotismen aus Opern des 19. Jahrhunderts, lässt gar ganze Spring-Tänze aufführen, und schafft vor allem anrührende Seufzer-Elegien zu den verschiedenen, unter Peers Ignoranz leidenden Frauengestalten. (Später bekennt Grieg, Ibsens Auftrag nicht zuletzt auch aus Geldnot-Gründen angenommen zu haben…)
In der Gunst des breiten Publikums ganz obenauf schwimmt dabei noch immer die den Suiten-Zyklus eröffnende „Morgenstimmung“ (Bild: Faksimile der ersten Partitur-Seite). Berühmt, aber kaum je zusammen mit dem Drama aufgeführt werden aus Griegs zweiteiligem Suiten-Extrakt ausserdem „Solvejgs Lied“, „Åses Tod“ und „Ingrids Klage“. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über Friedrich Schiller: Die Räuber (Freiheit für das Individuum)

ausserdem in der Reihe „Heute vor … Jahren“: „Show Boat“ – Die Geburtsstunde des Musicals

Heute vor … Jahren: Die Soldaten (B. Zimmermann)

Opfergang der Ungezählten

von Walter Eigenmann

Am 15. Februar 1965 erlebt die Oper „Die Soldaten“ von Bernd A. Zimmermann in Köln ihre Uraufführung. Zimmermanns Werk, eines der engagiertesten, experimentellsten und radikalsten Stücke des neueren Musik-Theaters, hat Jakob M. R Lenz‘ „Komödie“ über eine von der Soldateska zunächst verführte, dann gemoppte, schliesslich vergewaltigte und endlich in die Gosse getriebene Bürgerstochter zum Gegenstand.

Darmstädter Ferienkurse als Avantgarde-Initiant

Aufführungsplakat von Bernd Zimmermanns "Die Soldaten"
Aufführungsplakat von Bernd Zimmermanns „Die Soldaten“

Der Komponist veröffentlicht Ende der 40-er Jahre seine ersten Werke. Und schon früh informiert sich der seinen Lebensunterhalt vorerst als Arrangeur und als Film- wie Hörspiel-Komponist verdienende Zimmermann bei den „Darmstädter Ferienkursen“ über den neuesten Stand der (atonalen) Avantgarde-Techniken. 1957 wird er schliesslich als Nachfolger von Frank Martin als Dozent für Komposition an die Musik-Hochschule Köln berufen. (Zu seinen ersten Schülern gehören Peter Michael Braun, Georg Kröll und Manfred Niehaus, später kommen Silvio Foretic, Georg Höller, Heinz Martin Lonquich, Dimitri Terzakis u. a. hinzu).

Mehrschichtige Collage-Technik (2. Akt / Intermezzo aus "Die Soldaten")
Mehrschichtige Collage-Technik (2. Akt / Intermezzo aus „Die Soldaten“)

Seine „Soldaten“ (Bild links oben: Aufführungsplakat) stellen enorme technische, personelle und musikalische Anforderungen. Zimmermann schichtet darin mit drei verschiedenen Orchester-Ensembles musikalisch mehrere Handlungsstränge simultan über- und nebeneinander, verschränkt Jazz-Elemente mit Barock-Chorälen, enthebt die althergebrachte Theater-Trinität von Ort, Handlung und Zeit ihrer eindeutigen Zuordnung, arbeitet mit stilistisch unterschiedlichsten Musik- und Szene-Collagen, um seine musikdramatische Konzeption von der „Kugelgestalt der Zeit“ zu verdeutlichen: „Späteres wird voraus- und Früheres hintangesetzt“ (Zimmermann). Dabei realisiert das Werk inhaltlich wie technisch die Theater-Vision seines Schöpfers: „Das neue Theater muss ein Grossraumgefüge, vielfältig moduliert sein; (…) insgesamt eine Grossformation, die einer ganzen Stadtlandschaft ihr Gepräge zu verleihen vermag: Als Dokumentation einer geistigen, kulturellen Freiheit, die Theater als elementarsten Ort der Begegnung im weitesten Umfang begreift.“

Keine Sozialkritik in der Oper

Bernd Alois Zimmermann
Bernd Alois Zimmermann

Zimmermann selbst, wiewohl vielseitig theologisch, literarisch und moralphilosophisch interessiert, verneinte, dass die Sozialkritik am menschenzerstörenden Soldaten-Milieu eine besondere Rolle in diesem seinem Hauptwerk spiele. Doch anfangs 1946 schreibt er mit Blick auf das zurückliegende letzte Kriegsjahr, und fast alttestamentarisch: „O Deutschland, was ist aus Dir geworden? Wie ist Dein Volk zuschanden geworden, an sich selbst zunichte gegangen, wie wütet selbst Dein Volk gegen das eigen Blut…[…] Ist es nicht Angst und Not, Unsicherheit und Schrecken, die am Horizonte unserer Zukunft stehen wie dunkle Wetter und Wolken vor der untergehenden Sonne?“ Die pessimistische Grundhaltung, eine permanente Trauer um das „zwecklos geopferte und sinnlos dahingegangene… der Opfergang der Ungezählten“ durchzieht das gesamte spätere Leben und Lebenswerk des Musikers Zimmermann. Am Schluss seiner „Soldaten“, wo verschiedene Tonband-Einspielungen die Szene erweitern, ertönen bei der letzten Szene zwischen Marie und ihrem Vater Militärkommandos in den Sprachen der sieben hauptsächlich am Zweiten Weltkrieg beteiligten Ländern, unter Beimischung von angreifenden Fliegern, Panzern, Raketengeschossen und Bomben-Detonationen. „Das, was mich vor allem zu den ‚Soldaten‘ geführt hat, ist der Umstand […], wie in einer exemplarischen, alle Beteiligten umfassenden Situation Menschen […], wie wir ihnen zu allen Zeiten begegnen können, einem Geschehen unterworfen sind, dem sie nicht entgehen können: Unschuldig schuldig.“ bemerkt Zimmermann mal zu seiner Oper.

Hochexpressive Bühnenmusik

Bernd Alois Zimmermann - Die Soldaten - Schluss-Szene - Bayerische Staatsoper - Glarean Magazin
Schluss-Szene der „Soldaten“ in einer Aufführung der Bayerischen Staatsoper

Das zweieinhalbstündige Werk, hochexpressive Bühnenmusik und schwer zu realisieren, wurde vom damaligen Kölner Opern-Chef Wolfgang Sawallisch als „unspielbar“ abgelehnt. Inzwischen ist es dennoch erstaunlicherweise zu einem der erfolgreichsten Vertreter seiner Gattung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avanciert.
Bernd Alois Zimmermann starb am 10. August 1970 in Frechen-Königsdorf bei Köln; einer unheilbaren Krankheit wegen wählte er den Freitod. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Stichwort „Bühnenmusik“ auch von
Walter Eigenmann: Der Chor in der Romantischen Oper

… sowie in der Rubrik „Heute vor … Jahren“ über „Die Zofen“ von
Jean Genet: Ungeheure Träume träumender Ungeheuer

Heute vor … Jahren: Die Räuber (Friedrich Schiller)

Freiheit für das Individuum

von Walter Eigenmann

Am 13. Januar 1782 wird Friedrich Schillers (bereits 1781 anonym veröffentlichtes) erstes Drama „Die Räuber“ in Mannheim uraufgeführt. Das in fünf Akte gegliederte Trauerspiel um die beiden adligen, aber moralisch und intellektuell höchst ungleichen Brüder Karl und Franz Moor thematisiert den Konflikt zwischen Gesetz und Freiheit, avanciert mit seiner leidenschaftlichen Emotionalität, seiner stilistisch vielfältigen, emphatischen Sprachgewalt und seiner politischen „Aufbruch-Stimmung“ zu einem Schlüsselwerk des Sturm und Drang – und erntet bei seiner Erstaufführung begeisterte Beifallsstürme.

Anklage gegen Despotie

Friedrich Schiller (1759 - 1805)
Friedrich Schiller (1759 – 1805)

Denn in seiner Anklage gegen Despotie und in seiner kompromisslosen Forderung nach Freiheitlichkeit auch des Individuums trifft „Die Räuber“ am Vorabend der Französischen Revolution den Zeitgeist in seinem Kern. Schiller selbst (1784 in seiner „Rheinischen Thalia“) über die poetische Genesis seines ersten bedeutenden Theaterstückes:

„Ein seltsamer Missverstand der Natur hat mich in meinem Geburtsort zum Dichter verurteilt. Neigung für Poesie ‚beleidigte‘ die Gesetze des Instituts, worin ich erzogen ward, und widersprach dem Plan seines Stifters. Acht Jahre lang rang mein Enthusiasmus mit der militärischen Regel; aber Leidenschaft für die Dichtkunst ist feurig und stark wie die erste Liebe. Was sie ersticken sollte, fachte sie an.

Friedrich Schiller - Die Räuber - Titelblatt der Erstausgabe 1781 - Glarean Magazin
Titelblatt der Erstausgabe 1781

Verhältnissen zu entfliehen, die mir zur Folter waren, schweifte mein Herz in eine Idealenwelt aus -aber unbekannt mit der wirklichen, von welcher mich eiserne Stäbe schieden, unbekannt mit den Menschen (denn die vierhundert, die mich umgaben, waren ein einziges Geschöpf, der getreue Abguss eines und eben dieses Modells, von welchem die plastische Natur sich feierlich lossagte), unbekannt mit den Neigungen freier, sich selbst überlassener Wesen; denn hier kam nur eine zur Reife, eine, die ich jetzo nicht nennen will; jede übrige Kraft des Willens erschlaffte, indem eine einzige sich konvulsivisch spannte; jede Eigenheit, jede Ausgelassenheit der tausendfach spielenden Natur ging in dem regelmässigen Tempo der herrschenden Ordnung verloren -unbekannt mit dem schönen Geschlechte. ..unbekannt mit Menschen und Menschenschicksal, musste mein Pinsel notwendig die mittlere Linie zwischen Engel und Teufel verfehlen, musste er ein Ungeheuer hervorbringen, das zum Glück in der Welt nicht vorhanden war, dem ich nur darum Unsterblichkeit wünschen möchte, um das Beispiel einer Geburt zu verewigen, die der naturwidrige Beischlaf der Subordination und des Genius in die Welt setzte. Ich meine die ‚Räuber‘.“

Aus den Nebeln des Chaos eine neue Schöpfung

Lange vor der Uraufführung harrte die (auch politisch interessierte) Theaterwelt der „räuberischen“ Dinge: Bereits die Druckausgabe von 1781 kritisierte ja offen das vorherrschende Feudalsystem, ein Bühnen-Skandal war vorprogrammiert. Um den Polit-Eklat (und damit die finanzielle Einbusse) möglichst im Rahmen zu halten, plante Regisseur und Theaterdirektor Wolfgang H. von Dalberg zuerst eine Abschwächung der Schillerschen „Räuber“-Botschaft, indem er die Handlung um 300 Jahre zurückversetzen wollte.

Theater-Zettel der Uraufführung 1782 mit einem Vorwort des "Verfassers an das Publikum"
Theater-Zettel der Uraufführung 1782 mit einem Vorwort des „Verfassers an das Publikum“

Die Mannheimer Uraufführung eines solch emotionalen „Sturm-und-Drang“-Stoffes am Ende der „Aufklärung“ und am Vorabend der Französischen Revolution führte erwartungsgemäss zu heftigen Tumulten in und ausserhalb des Theaters. Buchstäblich theatralisch schilderte ein Zeitzeuge die Geschehnisse: „Das Theater glich einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum. Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie ein Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht“.

Die Individualität in den Mittelpunkt geholt

Mit letzterem Vergleich trifft diese Schilderung den kulturhistorischen Nagel exakt auf den Kopf: Friedrich Schillers „Die Räuber“ wurde, lange vor „Wilhelm Tell“, zum Inbegriff des freiheitssuchenden Rebellierens und – lange vor der Modernität des 20. Jahrhunderts – zur idealisierenden Erhöhung des Individuums. Insbesondere die sensibilisierte Jugend verstand Schillers Botschaft sofort, freiheitsbegeisterte Jugendliche gründeten anschliessend in Süddeutschland zahlreiche „Räuberbanden“. Schillers Werk bereitete als literatursoziologischer Wendepunkt die Erosion staatsapparatistischer Omnipotenz vor und rückte in den Köpfen der „aufgeklärten“ Zeitgenossen das Individuelle des Einzelnen in den Mittelpunkt. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über Carl Zuckmeyer: Des Teufels General

… und zum Thema Aufklärung auch über Carsten Priebe: Eine Reise durch die Aufklärung

Heute vor … Jahren: Unruhe um einen Friedfertigen (Roman)

Oskar Maria Graf gegen die „braune Mordbande“

von Walter Eigenmann

Am 8. Januar 1947 erscheint in New York der Roman „Unruhe um einen Friedfertigen“ von Oskar Maria Graf.
Graf, einer der grossen deutschen Volks-Schriftsteller, dessen Geschichten sich vor allem durch wortgewaltige, urwüchsige Komik auszeichnen, wird 1894 in Berg bei Starnberg geboren. 1938 flieht der heimatverwurzelte Dichter vor der „braunen Mordbande“ (Graf) ins amerikanische Exil nach New York.
Allerdings kann er sich dort niemals wirklich einleben, bleibt auch im multikulturellen New York bewusst „Made in Bavaria“, verweigert sich gar dem Englischen, und läuft durch Manhattans Strassenschluchten in bayerischer Tracht mit „Lederhosn“.

Antifaschismus als Literatur

Oskar Maria Graf - Unruhe um einen Friedfertigen - Exilliteratur (Glarean Magazin)Doch im Gegensatz zum berühmten Mit-Bayer Ludwig Thoma, der mit antisemitischen Äusserungen nie geizte, verschreibt sich Graf lange vor der NS-Barbarei in Deutschland einer antifaschistischen, humanistischen Lebenseinstellung, schliesst sich der linken Arbeiterbewegung an und spart seine Einstellung gegenüber Nazi-Deutschland auch in seinen literarischen Werken nicht aus.

Unruhe um einen Friedfertigen“ stellt einen der Höhepunkte der deutschsprachigen Exil-Literatur dar. Graf entwirft darin das eindringliche Zeit-Panorama der Entwicklung eines beschaulichen bayerischen Dorfes in der Weimarer Republik bis zur Entstehung der Hitlerei. Im Dorf Aufing wird der Schuster Julius Kraus plötzlich mit seiner jüdischen Herkunft konfrontiert… ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor … Jahren“ auch Orient versus Okzident – Der Fall Salman Rushdie

… und zum Thema Nazi-Deutschland über H.-J. Neumann / H. Eberle: War Hitler krank?

Heute vor … Jahren: Technik-Visionär Isaak Asimov

Der „Gute Doktor“ und seine Roboter

von Walter Eigenmann

Am 2. Januar 1920 wird im russischen Petrovichi der US-amerikanische SF-Schriftsteller Isaak Asimov geboren. Asimovs Roboter-Storys sind seit Jahrzehnten Glanz-Stücke und Vorbild zugleich des literarischen Science-Fiction-Genres. Der Bestseller-Autor propagiert bereits in seiner frühen, erstmals 1942 erschienenen Erzählung „Runaround“ drei grundlegende Gesetze der Robotik: 1. Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen lassen; 2. Ein Roboter muss den Befehlen eines Menschen gehorchen, es sei denn, solche Befehle stehen im Widerspruch zum ersten Gesetz; 3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange dieser Schutz nicht dem Ersten oder Zweiten Gesetz widerspricht. Später, z.B. in der berühmten, 1950 publizierten Kurzgeschichten-Sammlung „Ich, der Roboter“ handelt Asimov verschiedene Aspekte dieser Gesetze ab und variiert bzw. erweitert sie.

Visionärer Schriftsteller und produktiver Universalgelehrter

Die Science-Fiction-Reihe Galaxy von Isaak Asimov
Die Science-Fiction-Reihe Galaxy von Isaak Asimov

Das umfangreiche und vielschichtige Oeuvre Isaak Asimovs inspiriert schon zu dessen Lebzeiten eine Fülle von Nachfolgern und Werken, und nicht nur in der SF-Szene, sondern in fast allen künstlerischen Bereichen, von der Literatur bis zum Theater, von der Malerei bis zum Film. Asimov selbst wirkt bei einer Vielzahl von Projekten und Organisationen mit. Ab 1979 ist er beispielsweise „Special Science Consultant“ bei der Entstehung des Film-Kassenschlagers „Star Trek“ (Bild rechts), ausserdem ernennen ihn der bekannte Hochintelligenten-Verein „Mensa“ und die internationale „Skeptiker-Vereinigung“, eine „Gesellschaft zur Förderung von wissenschaftlichem und skeptischem Denken“, zu ihrem Ehren-Vizepräsidenten. 1985 wird er Präsident der „American Humanist Association“ – eine Position, die er bis zu seinem Tode innehat.

500 Bücher und 1’600 Essays

Isaac Asimov - Portrait aus den frühen 1960er Jahren - Glarean Magazin
Isaac Asimov – Portrait aus den frühen 1960er Jahren

Der in New York aufwachsende, ab 1951 als Dozent für Biochemie an der medizinischen Fakultät der Universität Boston lehrende Wissenschaftler gibt seine Professur 1958 auf, um hauptberuflich zu schreiben. Insgesamt veröffentlicht der vielseitig interessierte und äusserst produktive Autor in der Folge über 500 Bücher und mehr als 1’600 Essays, darunter auch verschiedentlich über die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz.

Isaac Asimov an einer internationalen Konferenz im November 1974 in Newark
Isaac Asimov an einer internationalen Konferenz im November 1974 in Newark

Das Spektrum des Asimovschen Schaffens beschränkt sich bei weitem nicht auf Science Fiction. Vielmehr entwickelt sich der „Gute Doktor“, wie ihn seine nach Millionen zählende Anhänger- bzw. Leserschaft inzwischen nennt, zu einer Art modernem Universalgelehrten: Ein Lehrbuch der Biochemie, Bücher über die Bibel und William Shakespeare, Werke über die griechische und römische Geschichte und Sachbücher über naturwissenschaftliche Themen aus fast allen Gebieten gehören zu seinem Oeuvre.
Isaac Asimov stirbt am 6. April 1992 an Herz- und Nierenversagen als Folge einer Aids-Infektion, die er sich 1983 durch eine Bluttransfusion (anlässlich einer Bypass-Operation) zugezogen hatte. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Visionär auch über
Aldous Huxley: „Form in der Zeit“ (Essays Band 2)

… sowie zum Thema Science Fiction über die Literatur-Ausschreibung:
Science-Fiction-Literaturwettbewerb für Frauen

Heute vor … Jahren: Das Musical „Show Boat“

Die Geburtsstunde des Musicals

Walter Eigenmann

Vor exakt 80 Jahren, am 27. Dezember 1927 führt das Ziegfeld Theatre in New York das erste Musical der Musiktheater-Geschichte auf: „Show Boat“ des Komponisten Jerome Kerne und des Drehbuch-Texters Oscar Hammerstein.

Vom Vorbild der Operette emanzipiert

Historisches Aufführungs-Plakat mit Ava Gardner und Howard Keel
Historisches Aufführungs-Plakat mit Ava Gardner und Howard Keel

Das Stück um den Mississippi-Kapitän Haws und seine äusserst vielfältig-kontroverse Passagier-Schar auf ihrem Theater-Schiff entpuppt sich schnell als einer der allergrössten Erfolge der US-amerikanischen Musical-History. Mit dem Werk emanzipiert sich die unterhaltende amerikanische Musik-Bühne endgültig von ihrem biederen Vorbild der europäischen Operette. Mehrfache Verfilmungen und seit 1927 ununterbrochene Aufführungen auf allen grossen Stages der Welt beweisen den offensichtlich nach wie vor ungebrochenen Reiz und die musikalische Frische der teils quirligen, teils sentimentalen, teils sozialkritischen „Cotton-blossom“-Story von Kern & Hammerstein.

Neue Form des Entertainment-Theaters

Das legendäre "Ol man river"
Das legendäre „Ol‘ man river“

Autorin Edna Ferber, auf deren gleichnamigem Roman der Bühnenstoff basiert, soll zunächst entrüstet über die Zumutung gewesen sein, dass ihr „Show Boat“ als Grundlage für eine der damals üblichen seichten Nummern-Revues herhalte, deren Handlungen bloss als triviale Gerüste für effektvolle Musik-Potpourris zu dienen pflegten. Komponist Kern suchte indes nach neuen Formen des musikalischen Entertainment-Theaters und konnte Ferber schliesslich überzeugen.

Ungewöhnliche Ballung von Musical-Hits

Massgeblich zum durchschlagenden Erfolg der Südstaaten-Tragikomödie trugen nicht nur ihre damals neuen und schockierenden Themata wie Alkoholismus, Rassenhass oder Frauen-Emanzipation, sondern trägt v.a. die melodische und harmonische Qualität der „Show-Boat“-Songs bei: Titel wie „Can’t Help Lovin’ Dat Man“, „Make Believe“, „You Are Love“, oder der Evergreen „Ol’ Man River“ (Bild&Film-Ausschnitt/1936) gehören zu den grössten Hits, die das amerikanische Musical hervorgebracht hat. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über den bedeutenden Musical-Schöpfer
Andrew Lloyd-Webber: Das Komponisten-Porträt

… sowie zum Thema Unterhaltungsmusik über:
Das Wiener Musik-Kollegium feiert Jubiläum

Heute vor … Jahren: Prélude a l’après-midi d’un faune

Atmosphärische Musik-Erotik

von Walter Eigenmann

Wegbereiter der Moderne: Impressionist Claude Debussy
Wegbereiter der Moderne: Impressionist Claude Debussy

Am 22. Dezember 1894 wird in der Pariser „Société nationale de Musique“ Claude DebussysPrélude a l’après-midi d’un faune“ uraufgeführt. Dieses impressionistische Schlüsselwerk der Neuen Musik im 20. Jahrhundert basiert in seinem Gefühlsgehalt auf dem berühmten symbolistischen Mallarmé-Gedicht „L’Après-midi d’un faune“ (1865) und entbehrt laut Debussy aller Narrativität, sei also nicht Schilderung, sondern Stimmung:

„La musique de ce Prélude est une très libre illustration du beau poème de Mallarmé. Elle ne désire guère résumer ce poème, mais veut suggérer les différentes atmosphères, au milieu desquelles évoluent les désirs, et les rêves de l’Egipan, par cette brûlante après-midi. Fatigué de poursuivre nymphes craintives et naïades timides, il s’abandonne à un sommet voluptueux qu’anime le rêve d’un désir enfin réalisé: la possession complète de la nature entière.“

„Das Fehlen von Stil und Logik kultiviert“

Flöten-Motiv aus Claude Debussys
Flöten-Anfangsmotiv aus Claude Debussys „Prélude a l’après-midi d’un faune“

Das Orchesterstück von ca. 10-minütiger Dauer, instrumentiert mit 3 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 1 Englischhorn, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Harfen, 2 Cymbales antiques oder Crotales und Streichquintett, sorgte sofort für diametral unterschiedliche Einschätzungen durch Debussys komponierende Zeitgenossen. (Saint-Saëns: „Debussy hat das Fehlen von Stil und Logik kultiviert…“)

Der Barberinische Faun (Schlafender Satyr) - Glarean Magazin
„Erotische Stimmungen eines Fauns im Zustand des Dämmerns“: Der Barberinische Faun („Schlafender Satyr“)

Heute steht allerdings der hohe ästhetische und musikhistorische Rang von Debussys impressionistischer Evokation der „erotischen Stimmungen eines Fauns im Zustand des Dämmerns“ ausser Frage. Pierre Boulez erhob das Werk gar zum Ausgangspunkt der musikalischen Moderne überhaupt: „C’est avec la flûte du faune que commence une respiration nouvelle de l’art musical […], on peut dire que la musique moderne commence avec L’Après-midi d’un Faune.“ ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Stichwort Flöte auch über
Tabea Debus: XXIV Fantasie per il Flauto (CD)

… sowie zum Thema Orchestermusik auch über
Antonín Dvořák: Aus der Neuen Welt

Heute vor … Jahren: Aus der Neuen Welt. (A. Dvořák)

„Der Geist von Neger- und Indianer-Melodien“

von Walter Eigenmann

Am 16. Dezember 1893 hört die Welt erstmals eine der berühmtesten Sinfonien der Musik-Geschichte: Unter der Leitung des deutschen Dirigenten Anton Seidl wird in der New Yorker Carnegie Hall vom Orchester der Philharmonischen Gesellschaft die 9. Sinfonie in e-moll von Antonín Dvořák uraufgeführt.

Themen mit Eigenarten des indianischen Melos

Dvorak-Autograph: Titelblatt der 9. Sinfonie
Dvořák-Autograph: Titelblatt der 9. Sinfonie

Was an der (während Dvoraks dreijährigem Amerika-Aufenthalt entstandenen) Neunten wirklich „amerikanisch“ ist, hat der Komponist selber noch vor der Uraufführung klargestellt: „Es ist der Geist von Neger- und Indianer-Melodien, den ich in meiner neuen Symphonie zu reproduzieren bestrebt war. Ich habe keine einzige jener Melodien benützt. Ich habe einfach charakteristische Themen geschrieben, indem ich ihnen Eigenarten der indianischen Musik eingeprägt habe, und indem ich diese Themen als Gegenstand verwendete, entwickelte ich sie mit Hilfe aller Errungenschaften des modernen Rhythmus, der Harmonisierung, des Kontrapunktes und der orchestralen Farben.“ („New York Herald“ vom 12. Dezember 1893).

Böhmisches National-Kolorit neben synkopierten Afro-Amerikanismen

Antonin Dvorak (1841-1904)
Antonin Dvorak (1841-1904)

Nach New York gelockt hatten Dvorak die 15’000 US-Dollar, die ihm die reiche Kaufmanns-Witwe und Kunstmäzenin Jeannette Thurber als Jahresgehalt versprach, wenn er als Direktor und Kompositionslehrer an dem von ihr gegründeten National Conservatory of Music wirke. Dvorak trat die Stelle im September 1892 an – in Begleitung seiner Familie – und blieb immerhin bis April 1895.
Neben seiner Lehrtätigkeit befasste sich Böhmens berühmtester Musik-Export auch mit der Folklore der damaligen europäischen Auswanderer, mit der synkopischen Rhythmik der Afroamerikaner und der pentatonischen Melodik indianischen Ursprungs – musikalische Elemente, die allesamt massgeblich und problemlos hörbar in die Neunte einflossen. Allerdings zitiert die formal durchaus traditionell strukturierte Sinfonie keine „indianischen Weisen“, wie das begeisterte Zeitgenossen herausgehört haben wollten, und das böhmisch-tschechische Volks-Kolorit aus des Komponisten Heimat ist in der Sinfonie mindestens ebenso präsent wie die typischen „Amerikanismen“. (Hier findet sich eine gute Übersicht des sinfonischen Aufbaus der „Neunten“).

Der "New York Herald" vom 16.12.1893: "Dr. Dvorak's Great Symphony"
Der „New York Herald“ vom 16.12.1893: „Dr. Dvorak’s Great Symphony“

Um die New Yorker Uraufführung unter Seidl wurde in den dortigen Medien ein regelrechter Hype entfacht. Die führenden Tageszeitungen präsentierten lange vor dem Konzert umfangreiche Artikel und Analysen inkl. Notenzitate. Kritiker wie Publikum feierten Werk und Komponist überschwenglich, und von Übersee aus trat schliesslich Dvoraks sinfonisches Glanzstück seine Reise in alle Konzertsäle der (europäischen) Welt an. Bis heute ist „Aus der Neuen Welt“ Dvoraks berühmtestes Orchester-Opus und zählt überhaupt zu den weltweit häufigst aufgeführten Werken der klassischen Musik. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Klassische Orchestermusik auch über
Claude Debussy: Prélude a l’après-midi d’un faune

… sowie zum Thema Sinfonik auch von
Jürgen Kirschner: Zum 50. Todesjahr von Jan Sibelius

Heute vor … Jahren: Euwe wird Schach-Weltmeister

Schach-Amateur Euwe wird Weltmeister

von Walter Eigenmann

Am 15. Dezember 1935 gewinnt in Amsterdam der 34-jährige holländische Mathematik-Lehrer und Versicherungs-Statistiker Max Euwe als Amateur sensationell die Schach-Weltmeisterschaft. Mit dem denkbar knappsten Ergebnis von 15,5 zu 14,5 Punkten schlägt er als Herausforderer das zu dieser Zeit als unbesiegbar geltende exilrussische Schach-Genie Alexander Aljechin.

Amateur Max Euwe (sitzend) gewinnt 1935 gegen das Schachgenie Alexander Aljechin (stehend) den Weltmeister-Titel
Amateur Max Euwe (sitzend) gewinnt 1935 gegen das Schachgenie Alexander Aljechin (stehend) den Weltmeister-Titel

Für das Match wurde eine Kampfbörse von 10’000 Dollar ausgesetzt, es begann am 3. Oktober in Amsterdam und wurde anschliessend in mehreren Städten Hollands fortgesetzt. Aljechin ging schon bald (wie erwartet) mit 6:3 in Führung, doch der zähe und geduldige Holländer kämpfte sich wieder heran und gewann schliesslich nach 9 Siegen, 8 Niederlagen und 13 Unentschieden.

Die Perle von Zandvoort

Eine der schönsten Partien spielten die beiden in Zandvoort (in der 26. Runde), wonach der als Journalist vor Ort berichtende Grossmeister S. Tartakower sie auf den bis heute verbreiteten Ehrennamen „Die Perle von Zandvoort“ taufte:

M. Euwe – A. Aljechin, WM-Match, Zandvoort 1935
(26. Partie, A90/Holländische Verteidigung)

1.d4 e6 2.c4 f5 3.g3 Lb4+ 4.Ld2 Le7 5.Lg2 Sf6 6.Sc3 O-O 7.Sf3 Se4 8.O-O b6 9.Dc2 Lb7 10.Se5 Sxc3 11.Lxc3 Lxg2 12.Kxg2 Dc8 13.d5 d6 14.Sd3 e5 15.Kh1 c6 16.Db3 Kh8 17.f4 e4 18.Sb4 c5 19.Sc2 Sd7 20.Se3 Lf6 21.Sxf5 Lxc3 22.Sxd6 Db8 23.Sxe4 Lf6 24.Sd2 g5 25.e4 gxf4 26.gxf4 Ld4 27.e5 De8 28.e6 Tg8 29.Sf3 Dg6 30.Tg1 Lxg1 31.Txg1 Df6 32.Sg5 Tg7 33.exd7 Txd7 34.De3 Te7 35.Se6 Tf8 36.De5 Dxe5 37.fxe5 Tf5 38.Te1 h6 39.Sd8 Tf2 40.e6 Td2 41.Sc6 Te8 42.e7 b5 43.Sd8 Kg7 44.Sb7 Kf6 45.Te6+ Kg5 46.Sd6 Txe7 47.Se4+ 1:0

Ein stiller und fairer Gentleman

Max Euwe - Ex-Schach-Weltmeister - Euwe-Zentrum Amsterdam - Glarean Magazin
Denkmal im Max-Euwe-Zentrum Amsterdam

Bereits im Vorfeld der Weltmeisterschaft löste der stille und bescheidene, nach allen Augenzeugen-Berichten stets ausnehmend fair kämpfende Gentleman Euwe in seinem Heimatland eine wahre Schach-Euphorie aus, er wurde gefeiert wie ein Star und verhalf dem Königlichen Spiel zu einer bis anhin noch nicht dagewesenen Verbreitung.

In der Folge publizierte der schachtheoretisch äusserst profunde, stets den logisch-wissenschaftlichen Aspekt des Schachs betonende Systematiker eine Fülle von Eröffnungs-, Mittelspiel- und Endspiel-Monographien. In der gesamten Schach-Welt als herausragende Persönlichkeit anerkannt, wählte ihn 1970 die Internationale Schachföderation FIDE zu ihrem Präsidenten. Eine seiner letzten grossen Herausforderungen war deshalb die Organisation des „Jahrhundert-Matchs“ mitten im Kalten Krieg zwischen dem Amerikaner Bobby Fischer und dem Russen Boris Spassky 1972 in Reykjavik/Island. ♦

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… sowie die über den neuen Weltmeister Viswanathan Anand: Titelgewinn ohne eine Niederlage
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Heute vor … Jahren: Des Teufels General (Zuckmayer)

Tragische Entscheidungen unbescholtener Menschen

von Walter Eigenmann

Am 14. Dezember 1946 wird Carl Zuckmayers Drama „Des Teufels General“ am Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt. Das Stück, 1945 in Zuckmayers amerikanischem Exil entstanden, thematisiert den Gewissenskonflikt des Luftwaffen-Generals Harras – dessen reales Vorbild der NS-Generaloberst Ernst Udet ist -, welcher sich Hitlers Wehrmacht aus fliegerischer Besessenheit verschrieben hat, aber im Dezember 1941 erkennt, dass er mitschuldig wurde an Krieg und Unmenschlichkeit. Harras sühnt sein moralisches Versagen, indem er durch seinen Tod den charaktervolleren Freund, der durch Sabotage Widerstand geleistet hat, dem Zugriff der SS-Mörder entzieht.

Idealisierung eines Nazi-Offiziers

Des Teufels General - Szenenfoto aus dem Film von H. Käutner (1954, Hauptrolle Curd Jürgens)
Des Teufels General – Szenenfoto aus dem Film von H. Käutner (1954, Hauptrolle Curd Jürgens)

Kritische Köpfe (auch des damaligen Widerstandes) werfen Zuckmayer bis heute vor, er habe die Gestalt Harras‘ idealisiert. Befürworter hingegen anerkennen die „literaturpolitische“ Leistung des Dramas, welches unmittelbar nach der Nazi-Barbarei eine öffentliche Diskussion um die Möglichkeiten des aktiven Widerstands bzw. der passiven Duldung entfachte. Vor allem bei den jüngeren Deutschen weckte Zuckmayer, der sich selbst den Gesprächen in vielen Städten stellte, ein Bewusstsein von offenen und freien Reden.

Tragische Entscheidung von unbescholtenen Menschen

Carl Zuckmayer (1896-1977)
Carl Zuckmayer (1896-1977)

Zuckmayer selbst war sich im Klaren darüber, dass sein Dreiakter zu bewussten Fehlinterpretationen benutzt werden konnte. Zehn Jahre nach der enthusiastisch gefeierten Londoner Aufführung zog der Autor das Stück von sämtlichen deutschen Bühnen zurück. Zuckmayer: „Es wäre allzuleicht, im positiven oder negativen Sinne, das Stück heute als ‚Entschuldigung‘ eines gewissen Mitmachertyps misszuverstehen. Sein Inhalt ist jedoch die tragische Situation und schliesslich die tragische Entscheidung von unbescholtenen Menschen, die gezwungen sind, oder sich, wie Harras, aus Leichtsinn dazu hergegeben haben, einer ihnen verhassten Gewaltherrschaft zu dienen.“
Der Dramatiker widmet das just nach dem Krieg beendete Stück seinen von den Nazis ermordeten Freunden Theodor Haubach, Wilhelm Leuschner und Helmuth von Moltke.

Kongeniale Verfilmung

"Nur zum Teil durch tatsächliche Ereignisse und Personen angeregt": Theater-Anzeige der Uraufführung von "Des Teufels General"
„Nur zum Teil durch tatsächliche Ereignisse und Personen angeregt“: Theater-Anzeige der Uraufführung von „Des Teufels General“

1954 nimmt sich der Regisseur Helmut Käutner der Verfilmung des Zuckmayer-Schauspiels an, besetzt die Hauptrollen mit Curd Jürgens und Marianne Koch. Die Film-Macher erhielten vom Autor unbeschränkte Vollmacht, was in zusätzlichen Handlungssträngen und Hinzufügungen von Charakteren resultierte. Insbesondere der Harras-Gegenspieler und Himmler-Adlat Schmidt-Lausitz wird vom tumben Befehlsvollstrecker zum intelligent agierenden SS-Offizier aufgewertet. Der Film erhielt mehrere Auszeichnungen und gilt als kongeniale Realisierung der Zuckmayerischen Intention.♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über
„Die Zofen“ von Jean Genet
… sowie zum Thema Nazi-Barbarei über
Oskar Maria Graf: Unruhe um einen Friedfertigen
ausserdem in der Rubrik „Heute vor…“:

Heute vor … Jahren: „Die letzten Tage der Menschheit“

Über die Profiteure des Krieges

von Walter Eigenmann

Am 13. Dezember 1918 veröffentlicht der österreichische Schriftsteller sowie Zeit- und Sprach-Kritiker Karl Kraus in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ den ersten Teil seines dramatischen Hauptwerkes „Die letzten Tage der Menschheit“ (Ein „Prolog“ der „Tragödie“ erschien bereits 1916).
Das gewaltige, substantiell wie formal einzigartige Epos montiert dokumentarische „Szenen“ zu einer Apokalypse des (eben beendeten) Ersten Weltkrieges.

Karl Kraus - Prolog-Umschlagseite der "Fackel" mit dem Anfang von "Die letzten Tage der Menschheit"Allerdings ist „Die letzten Tage der Menschheit“ keineswegs ein Sammelsurium von Kampf-Schilderungen. Die wirklichen Schrecken des Krieges manifestieren sich gemäss Kraus im Verhalten jener Menschen, die in ihrer Ignoranz den Ernst und die Tragik des Krieges nicht wahrhaben wollen, sondern sich fernab vom eigentlichen Kriegsschauplatz an ihm bereichern und ihn mit lügnerischen Phrasen beschönigen: Journalisten, Händler, hohe Militärs und Kriegstreiber, die sich fern vom Schlachtfeld im Ruhm ihres militärischen Ranges baden. Kraus entlarvt die Phraseologie und die Worthülsen („Der Krieg ist ausgebrochen“), und er zeigt apokalyptisch, wer vom Krieg profitiert – und wer ihn immer guten Glaubens und sehenden Auges verliert.

Satire gegen den Krieg

Seine „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“ schrieb Kraus in den Jahren 1915–1922; sie ist Kraus‘ moralisch entrüstetste, dabei fast ausschliesslich mit den literarischen Mitteln Satire, Zitat und Collage bewältigte Reaktion auf ein geschichtliches Ereignis, dem eigentlich mit Satire nicht beizukommen ist: dem Ersten Weltkrieg. Eine fortlaufende Handlung haben die „Letzten Tage“ nicht, sondern die Absurdität des Krieges, seine Macher und Profiteure werden mit über 200 mehr oder weniger zusammenhängenden, auf authentischen zeitgenössischen Quellen beruhenden „Szenen“ gegeisselt.
Zusammengehalten wird das vielseitige Epos von den Aussprüchen und Bekenntnissen einer grossen Menge widersprüchlicher, aber auf den Krieg fokussierter und von ihm profitierender Personen der realen Zeitgeschichte – angefangen bei der korrumpierten Politiker-Kaste über den gleichgeschalteten Journalismus und die skrupellos agierende Militärführung bis hin zum tumben Mitläufer auf der Strasse.

Symptome des Unheils vorausgesehen

Querdenker, Wortkünstler, Prophet, Moralinstanz: Karl Kraus (1874-1936)
Querdenker, Wortkünstler, Prophet, Moralinstanz: Karl Kraus (1874-1936)

Äusserst treffend hat der Schweizer Germanist und Schriftsteller Peter von Matt in der NZZ vom 15.8.2014 das kulturgeschichtliche Verdienst von Karl Kraus und seiner „Letzten Tage der Menschheit“ zusammengefasst (Zitat): „Dass Krieg und Propaganda zusammengehören wie Kopf und Zahl einer Münze, ist bekannt. Es zeigt sich jeweils am deutlichsten beim Beginn der militärischen Operationen. Und dass die Propaganda zusammenfällt mit der Manipulation aller populären Medien, weiss man auch seit je. Aber wie diese Propaganda einsickert in die einzelnen Gehirne und von da wieder auf die Zungen kommt, wie sie sich vernetzt mit dem Egoismus des Einzelnen und ihm zur Kaschierung seiner kleinen Schuftereien dienen kann, das steht nicht in den politischen Analysen. Hierzu braucht es den literarischen Blick, der das Detail vor dem Ganzen sieht, dafür aber auch dieses Ganze im Detail aufleuchten lässt wie die Sonne in einer Glasscherbe. Kraus besass die Fähigkeit, die feinsten Symptome des Unheils zu sehen und zu hören.“

Das Lied von der Presse

Im Anfang war die Presse
und dann erschien die Welt.
Im eigenen Interesse
hat sie sich uns gesellt.
Nach unserer Vorbereitung
sieht Gott, dass es gelingt,
und so die Welt zur Zeitung
er bringt […] Sie lesen, was erschienen,
sie denken, was man meint.
Noch mehr lässt sich verdienen,
wenn etwas nicht erscheint.

Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ ist in seinem beissenden Zugriff, in seiner Virtuosität des Jonglierens mit Zitaten, Phrasen  und Statements ein Anti-Kriegs-Epos, das zu den beeindruckendsten der gesamten Literaturgeschichte zählt – als der verzweifelte Versuch, die Ungeheuerlichkeit eines Weltkrieges auf nur 770 Buchseiten mit sprachlichen Mitteln zu bewältigen.
Dieser monumentale Versuch mag nicht auf absolut jeder Seite von Kraus‘ Werk gelungen sein. Doch wer die politischen Wirren auf der aktuellen Weltbühne beobachtet, dem wird klar, wie hellhörig, wie weitsichtig dieser böhmische Sprachvirtuose die grundlegenden Mechanismen moderner Gesellschaften schon vor fast hundert Jahren vorweg nahm – und welche offensichtlich schier unüberwindlichen desaströsen Konstanten das Geschick der „Menschheit“ bestimmen…

Krieg ist zuerst die Hoffnung, dass es einem besser gehen wird, hierauf die Erwartung, dass es dem andern schlechter gehen wird, dann die Genugtuung, dass es dem andern auch nicht besser geht, und hernach die Überraschung, dass es beiden schlechter geht. (Karl Kraus)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Satire auch von
Walter Eigenmann: Was ist Satire?
… sowie über Karl Kraus in:
Zum 100. Todestag von Rosa Luxemburg