Bernd Giehl: Anmerkungen zum Schreiben von Gedichten

Nachdenken über Luxus

Einige Anmerkungen zum Schreiben von Gedichten

von Bernd Giehl

Das kleine Gesicht im Wintermantel:
Trauermund, Warteaugen, Schrittklein
in den Hof, den Stall, die Viehspuren
im Strassenschmutz schon lang verwischt.
Waldmeisteressenz und Brunnenwasser
gegen den grossen Durst.
Neben der Wasserbank eine Schöpfkelle.

Sigfrid Gauch: „Morgentod“

1.

32 Worte. So viel wie wir Normalsterblichen sonst für drei Sätze benötigen. 32 Worte nur, aber ein Text, an dem das Auge hängenbleibt, den man wieder und wieder liest, fast wie eine Offenbarung, den man wahrscheinlich nie mehr vergisst.
32 Worte. Gefunden in einer Spalte namens „ZEITmosaik“ in der „ZEIT“ vom 28. Juni 97. Eine Spalte, über die ich sonst schnell hinweglese; den Namen des Verfassers, Sigfrid Gauch, habe ich vorher noch nie gehört. Aber dieses Gedicht rührt mich an, wie nur weniges sonst. Fast möchte ich behaupten: es ist „vollkommen“. Vollkommen wie eine Arie aus der „Matthäuspassion“ von Bach. Oder wie ein Bild von Manet.

Über Schönheit nachdenken, wenn Hässlichkeit angesagt ist?

Und jetzt höre ich auch schon wieder das Wetzen der Messer. Darf man das, über „Schönheit“ nachdenken, wenn doch allgemein eher „Hässlichkeit“ angesagt ist? Seit Baudelaire seine „Fleurs du mal“ schrieb, seit Rimbaud eine „Zeit in der Hölle“ verbrachte, seit dem Beginn der „Moderne“ also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, lebt die Kunst – Malerei, Literatur, Musik – doch eher von der Dissonanz, der Beschreibung des Hässlichen und Abstossenden. Die Kunst reagierte damals auf die zunehmende Hässlichkeit, hervorgerufen vor allem durch die Industrialisierung. Dass es seither aufwärts gegangen wäre mit der Welt, kann man eigentlich nicht behaupten.
Wäre also nicht statt des Nachdenkens über Gedichte ein flammender Protest gegen den Afghanistan-Krieg oder die ewigen Streitereien der schwarzgelben Regierung angesagt? Das alles sind sicher wichtige Themen. Und doch will ich hier nur eins tun: über Gedichte nachdenken. Über das, was mich und sicher auch andere an ihnen fasziniert.
Vermutlich sind Gedichte unnötig. Wahrscheinlich brauchen wir viel eher Arbeitsplätze als Gedichte. Aber wer Brot hat, möchte womöglich irgendwann auch Butter dazu. Das ist unverschämt; ich weiss. Gut möglich, dass eines Tages der Genuss verboten wird, weil er unmoralisch ist; in Amerika sind sie ja schon so weit. Solange der Genuss jedoch noch nicht verboten ist, (solang man sogar noch in der Öffentlichkeit rauchen darf), solange kann man einstweilen noch über Gedichte nachdenken. Und was es eigentlich ist, das sie (oder jedenfalls manche von ihnen) über die Banalität all dessen erhebt, was täglich geredet und geschrieben wird.

2.

Die Schönheit von Gedichten also. Und zwar nicht von Goethe- oder Eichendorff-Gedichten, sondern von moderner Lyrik. Auch ein Gedicht wie Goethes „Über allen Wipfeln ist Ruh“ ist „schön“, aber wer heute noch so schreiben würde, wäre ein hoffnungsloser Fall. Bilder von erhabenen Gipfeln, von rauschenden Bächen, das geht nicht mehr; an ihre Stelle muss anderes treten. Auch die Formen sind andere geworden; Hexameter und Jambus, das war einmal, obwohl es mittlerweile auch wieder Gedichte mit Endreim gibt. Überhaupt ist es schwieriger geworden, von „Form“ zu sprechen, wo so viele Formen sich aufgelöst haben und neue Formen zwar entstanden, jedoch nur schwer abzugrenzen sind. Zwischen einem Rilke-Gedicht und einem Gedicht von Erich Fried stehen Welten, und wer das nicht glaubt, lege einmal Frieds „Massnahmen“ neben die „Duineser Elegien“.

Spannung in wenigen Zeilen

Und dennoch gibt es etwas, was Lyrik abgrenzt von Prosa, was sie erkennbar macht. Wo eine Geschichte oder ein Roman Zeit braucht, um sich zu entwickeln, Spannung zu erzeugen oder was immer auch den Leser daran hindert, zur Fernbedienung zu greifen, da muss das Gedicht in wenigen Zeilen das Gleiche leisten. Und das kann es nur durch seine besondere Sprache, die so schwer zu benennen ist: „leuchtend“ vielleicht, oder „verdichtet“. Dabei spielt der Rhythmus immer noch eine grosse Rolle, und auch die Bilder, die ein Gedicht verwendet, sind wichtig. Oft sind es ungewohnte, vielfach nur angedeutete Bilder, wie man an Gauchs Gedicht sehen kann. Dieses Gedicht besticht mit seiner Sprache. Ungeheuer konzentriert ist sie, fast möchte ich sagen: „sinnlich“. Verkürzt gesagt: ein Roman kann notfalls auch mit einer schwächeren Form auskommen; für ein Gedicht ist das tödlich.

Was ist die Besonderheit der lyrischen Sprache?

Fragen wir also ruhig einmal nach der Besonderheit der lyrischen Sprache. Und nehmen wir – pars pro toto – Gauchs Gedicht „Morgentod“ dazu. Was wahrscheinlich als erstes bei diesem Gedicht ins Auge springt, sind die ungewöhnlichen Substantive in der zweiten Zeile: „Trauermund“ – doch ja, das könnte man schon einmal gelesen haben; „Warteaugen“ – schon schwieriger; aber „Schrittklein“ – das sieht nun doch schon sehr nach Neuschöpfung der Sprache aus;. Was ja in der Lyrik nichts Ungewöhnliches ist, auch wenn das Überraschungsmoment sonst eher in der Zusammenstellung der Bilder liegt (unübertrefflich, auch hier, Paul Celan, z.B. in „Spät und Tief“: „Boshaft wie goldene Rede beginnt diese Nacht/ wir essen die Äpfel der Stummen …“)
Nun bringt der Vergleich mit Celan nicht allzu viel ein, denn dieses Gedicht ist eigentlich nicht „dunkel“, auch wenn es sich gewiss nicht dem ersten flüchtigen Lesen erschliesst. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass hier die Verben fehlen. Ein paar Adjektive und Präpositionen; ansonsten nur Substantive. Die Person, die hier „handelt“ ist absichtlich im Unklaren gelassen. Beschrieben wird eigentlich nur ihr Gesicht: „Das kleine Gesicht im Wintermantel:/ Trauermund, Warteaugen, Schrittklein“; möglich dass es sich um ein Kind handelt, aber vielleicht ist es auch ein Erwachsener, der an einen Ort seiner Kindheit zurückkehrt. Dieser Ort ist ein Bauernhof. Der Brunnen, der hier (wiederum indirekt) erwähnt wird, lässt Vergangenes erahnen; möglich, dass dieser Hof schon lange nicht mehr bewirtschaftet wird. Allenfalls als Wohnung dient er noch, und doch ist er ein wichtiger Ort für den Sprecher, das „lyrische Ich“. Durch das Gedicht bekommt dieser Ort eine Bedeutung, die der reale Hof nie gehabt hat. Die gewollte Unschärfe der Beschreibung – alles wird nur angedeutet – setzt die Phantasie des Lesers in Gang. Er ist es, der den Zwischenraum zwischen den Worten füllen muss mit eigenen Assoziationen. Seine Erinnerung wird gebraucht. Und das ist es wahrscheinlich, was den Leser schliesslich in seinen Bann zieht.

3.

Die Sprache ist es also, die ein Gedicht ausmacht. Eine Sprache, die eher andeutet als benennt, die Zwischenräume schafft, die es nötig macht, dass man zwischen den Zeilen liest. Sie kann feierlich sein, ungewohnt, sie kann mit ungewöhnlich zusammengesetzten Bildern arbeiten, aber sie muss es nicht. Es gibt auch (scheinbar) lakonische Gedichte; dafür ein Beispiel aus dem „Jahrbuch der Lyrik 97/98“, (in dem ich später auch Gauchs Gedicht gefunden habe):

Seit ich hier bin

Seit ich hier bin trage ich Taschen
voller Papiere, fahre ich Fahrstuhl
telefoniere, trinke Kaffee wie ein Mann
mit Terminen , liege ich schlaflos,
interpretiere, huste und reime, traurige
Tiere, spende dem Geiger in der Passage
einen Gedanken, was ist das Leben,
wenn nicht ein Geigen in den Passagen,
was kann er tun und was soll ich sagen:
Pflege Kontakte und streue Asche auf
deine Akte. So ist das hier.

Hans Ulrich Treischel

Auch hier werden, wie in „Morgentod“, Orte benannt. Aber im Gegensatz zu dem eingangs besprochenen Gedicht sind es Orte, die nicht viel bedeuten: ein Büro, der Fahrstuhl, eine Passage. Der Tonfall ist locker, ironisch. So ganz ernst scheint das „Ich“ in diesem Gedicht sich nicht zu nehmen. Der, der hier spricht, ein Angestellter offensichtlich, schaut sich selbst über die Schulter. Natürlich muss er so tun, als ob er arbeite, aber er nimmt das alles nicht so eng; womöglich schreibt er sogar Gedichte in seiner Arbeitszeit.

Das Leben: Ein Geigen in den Passagen?

Doch wenn man genauer hinschaut, ist die Lakonie, die einem förmlich entgegenspringt, nichts als eine Maske. Eine schwer greifbare Trauer spricht aus diesem Gedicht, eine Trauer über das mit Akten und Terminen vertane Leben. Das Leben ist ein „Geigen in den Passagen“; offensichtlich wird der Strassenmusikant zu einem Bild für das geschäftige Leben, das den armen Strassenmusikanten dort stehenlässt, wo er steht. Es gibt wohl kaum einen ungeeigneteren Ort für einen Musiker als die Strasse. Leute bleiben kurz stehen und hören zu, aber sie haben keine Zeit, das ganze Stück anzuhören, also werfen sie eine Mark in den Geigenkasten und gehen weiter. Lieber als hier zu stehen würde man an der Met spielen oder bei den Wiener Philharmonikern, aber was will man machen, es gibt einfach zu viele Musiker, Künstler, Dichter, Menschen…
Es ist die Kunst dieses Gedichts, diese – doch eher schweren – Gedanken hinter der (scheinbaren) Leichtigkeit des Tons zu verbergen. Kunstvoll ist auch der Reim, der sich durchzieht, aber nicht als Endreim, sondern an den Zeilenanfängen, wo man ihn nicht beim ersten Lesen bemerkt. Überhaupt muss man auch dieses Gedicht mehrmals lesen, bis es sich einem erschliesst. Aber davon sprachen wir schon.

4.

Und da kommt mir nun ein Begriff in den Sinn, der für mein Verständnis von Literatur eine grosse Rolle spielt, den man aber auch auf Lyrik im Besonderen anwenden kann. Es ist der Begriff des Spiels. Gedichte – so denke ich – „spielen“ mit ihrem Gegenstand. Woraus auch immer sie entstehen – und das ursprüngliche Material kann so banal sein wie es will -, sie verwandeln dieses Material.
Gedichte spielen mit Bildern, Rhythmen, Reimen, mit Assoziationen, Klängen, Bedeutungen, mit allem, was ihnen zwischen die Buchstaben gerät. Es ist ein Spiel, dessen Regeln sich nicht von vornherein festlegen lassen; aber natürlich gibt es Regeln, weil sonst das Spiel aufhörte, Spiel zu sein. Gedichte schreiben ist ein hoch artifizielles Spiel; man kann es erlernen, wie man das Jonglieren erlernen kann; man braucht dazu Begabung und einiges an Übung.
Vor vielen Jahren hat der Literaturwissenschaftler Mario Andreotti in der Schweizer Literaturzeitschrift „Scriptum“ die assoziative Verknüpfung ansonsten disparater Wortgruppen, das Weglassen von Verben und die Verknappung als Zeichen eines guten Gedichts genannt.  („Was ist heute ein gutes Gedicht? Über einige Kriterien zeitgenössischer Lyrik“, in: „Scriptum“ 21/95) Dies können Kriterien für ein gutes Gedicht sein; sie haben aber keinen Ausschliesslichkeitscharakter, wie man an dem Gedicht von Treischel, aber auch an vielen Gedichten von Brecht z.B. deutlich erkennen kann.

Sind Gedichte Luxus?

Sind Gedichte also Luxus? Für die Verleger ganz bestimmt; an einem Gedichtband verdienen sie nur in den wenigsten Fällen. Für die Leser wahrscheinlich auch: sie informieren weder über den Börsenkurs noch geben sie Hinweise, wie die politische Situation zu verändern sei. Womöglich sind sie nicht einmal unterhaltsam oder belehrend, wie ein Roman das sein kann.
Mag sein, dass sie einfach nur spielen: mit dem Klang, den Worten, den Bedeutungen, mit der Sprache. Dem „l’art pour l’art“ stehen sie meist näher als ein Roman oder eine Geschichte. Romane müssen, Gedichte können Inhalte transportieren. Womöglich ist so manches Gedicht mehr dem schönen Klang geschuldet, als dass es wichtige Gedanken zu transportieren gehabt hätte, auch wenn ich natürlich nicht verrate, an welche Gedichte oder welchen Dichter ich denke. Auf die Klanggedichte z.B. eines Franz Mon, die allen Wert auf „Form“ legen, denen die Worte nur Material sind und keine Botschaften transportieren, sei hier nur am Rande hingewiesen.

Soll ein Gedicht einfach nur „Schönheit“ vermitteln?

Aber warum soll ein Gedicht nicht einfach nur „Schönheit“ vermitteln? Oder das Spiel mit der Sprache ins Extreme treiben, wie es die schon erwähnten Poeten tun? Sprache ist eben Bedeutung und Klang, und genau das ist es, was Gedichte sich zunutze machen. Oder andersherum: ohne diese Tatsache würden Gedichte gar nicht geschrieben werden können.
Doch ja, Gedichte sind Luxus. Und der Forderung nach Hässlichkeit kommen sie auch eher in seltenen Fällen nach. Man muss Luxus nicht mögen. Man kann durchaus auch auf ihn verzichten. Manchmal sprechen Gedichte – wie das eingangs zitierte von Gauch – von Dingen und Orten, die es (so) nicht mehr gibt.
Wer will, kann das für „reaktionär“ halten. Ich für meinen Fall würde auf manches andere lieber verzichten wollen als auf Gedichte. ♦


Bernd Giehl

Geb. 1951 in Marienberg/D, Studium der Theologie in Marburg, verschiedene literarische und theologische Publikationen, lebt als evang. Pfarrer in Nauheim

Lesen Sie im Glarean Magazin auch den Literatur-Essay von Mario Andreotti: Ist Dichten lernbar?

Karin Afshar: Der Verlust der Herkunft (Sprache)

Der Verlust der Herkunft

von Karin Afshar

Davon, was Sprache ist, warum die Menschen die Fähigkeit zu sprechen haben und was sie mit dieser anstellen, gibt es unzählige Bücher. Deshalb ist es von mir recht vermessen, in einem kleinen Essay skizzieren zu wollen, warum Sprachen untergehen, und wie sich dies und mit welchen Konsequenzen vollzieht.
Der Auslöser für dieses Unterfangen war die Beobachtung, dass Menschen um mich herum mehr als sorglos mit ihrer Sprache umgehen. Es ist selten der Fall, dass schon vor dem Schreiben eines Artikels der Titel feststeht. Ich schrieb ihn tatsächlich gleich so, wie er oben steht, auf.
Aber ich muss von vorne anfangen, bei zwei Männern, die in den 30er und 60er Jahren um Worte rangen, das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache aufzuzeichnen. Benjamin Lee Whorf und Edward Sapir waren nicht die ersten und nicht die letzten, die herausarbeiteten und beschrieben, dass das linguistische System (und mit ihm die Struktur, die Grammatik) jeder Sprache nicht nur ein reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken ist, sondern vielmehr selbst die Gedanken formt.

Sprache als Synthese der Vorstellungen

Welche Sprache Menschen auch sprechen – jede ist Schema und Anleitung für die geistige Aktivität des Individuums, für die Analyse seiner Eindrücke und für die Synthese dessen, was ihm an Vorstellungen zur Verfügung steht. Die Formulierung von Gedanken ist kein unabhängiger Vorgang, sondern er ist von der jeweiligen Struktur beeinflusst. Der Vorgang des Ausdrückens von Gedanken ist daher für verschiedene Grammatiken als mehr oder weniger verschieden anzunehmen.

Das Denken ist nicht bloss abhängig von der Sprache überhaupt, sondern bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten. (Wilhelm von Humboldt)

Als Sprachlehrerin, als die ich tätig bin, kann ich jeden Tag in meinem Unterricht beobachten, wie wirksam diese sprachliche Relativität ist. Wer Deutsch sprechen können will – und damit werden wir mit einer Sprache konkret -, muss Deutsch denken. Das bedeutet, dass er sich der Mittel, die das Deutsche zur Verfügung stellt, bedienen muss, um seine Gedanken oder Informationen so auszudrücken, dass er von anderen Deutsch-Sprechenden verstanden wird. Das gilt analog natürlich für jede Sprache, für Türkisch, Englisch, Japanisch, um nur drei Sprachen zu nennen. Kann der Sprecher dies nicht, findet der Angesprochene seine Welt nicht abgebildet. Wenn wir eine neue Sprache lernen, tun wir dies auf der Grundlage von bereits erworbenen Strukturen, die wir in den wenigsten Fällen hinterfragen, sondern eben einfach verwenden.
Grammatik – für viele Menschen mit unguten Erinnerungen behaftet – ist das System der Regelhaftigkeit einer Sprache. Regeln können in der einen so, in der anderen eben anders sein. Egal wie: beim Erlernen einer Sprache suchen wir nach Regeln bzw. immer wieder auftauchenden Mustern. Wenn wir sie entdecken, können wir sie anwenden, aber manchmal steht selbst dem noch etwas im Wege.

Grammatik ist nun nicht das einzige, was eine Sprache ausmacht – es geht auch um den Wortschatz, d.h. die Laute, die in einer bestimmten Abfolge artikuliert Ausdruck eines Inhalts sind, über den Übereinkunft besteht. Mehrere in bestimmter Reihenfolge geäusserte Laute erhalten eine Bedeutung, die ein Kenner derselben Laute versteht.

Sprache ist die Übereinkunft von Menschen und gewährleistet damit Kommunion.

Dinge, die in der Welt rund um eine (Sprach-)Gruppe herum vorkommen, wird diese alsbald benennen. Alles für den Alltag Relevante wird eine Bezeichnung bekommen. Jenes allerdings, was für den Alltag einer Sprachgemeinschaft – und von einer solchen sprechen wir hier –  nicht relevant ist, wird weder benannt noch überhaupt gesehen.

Sprache ist immerwährende Tätigkeit

Verschwinden Dinge des Alltags aus dem Blickfeld, verschwindet mit ihnen das alte Wort. Er- scheinen neue Gegenstände, auf welchem Wege auch immer, dann wird dafür ein neues Wort geschaffen. Sprache ist weder unveränderlich noch statisch, sie ist kein Werk, sondern eine immerwährende Tätigkeit.
Menschen begegnen Menschen, Sprachen begegnen sich in ihnen. Es kommt zum Austausch und zur Übernahme von Wörtern, auch wenn die „fremden“ Wörter dasselbe Ding bezeichnen.

Ergon ist die laut- und formbezogene Grammatik einschliesslich der Wortbildung, die als notwendiges Durchgangsstadium zu einer Energetischen Sprachauffassung angesehen werden kann.

In der deutschen Sprache gibt es eine Reihe neuer Wörter. Über die Flut der Anglizismen ist hinreichend geplärrt und es ist vor ihnen gewarnt worden. Die Anzahl nicht nur englischer Wörter in der Rahmensprache Deutsch nimmt stetig zu. Und die Übernahme von Wörtern hat natürlich eine Rückwirkung auf die Grammatik. Was für ein Prozess aber ist das, der immer tiefer in die Struktur des Deutschen eingreift?
Eine mir lieb gewordene Firma legte im letzten Monat ihren deutschen Namen ab und benennt sich nun Englisch. In der Computer-und in der Medienbranche tragen die technischen und medialen Errungenschaften englische Bezeichnungen. Berufsbezeichnungen (man schaue sich einmal die Stellenanzeigen an) und Studienabschlüsse sind angliziert. Versteht noch jemand, was damit eigentlich gemeint ist?
Nun gab es auch früher „Fremdwörter“; im Deutschen gibt es nicht wenige aus dem Französischen, aus dem Lateinischen, dem Griechischen – sie sind schon lange da und gehören „zu uns“. Ich persönlich stecke mein Geld ins Portemonnaie, sitze gerne auf der Couch, beim Arbeitsamt ziehe ich eine Nummer und bin total frustriert, wenn ich lange warten muss.

Das so englisch klingende Wort Mobbing gibt es im Englischen nicht, und schon mal gar nicht in der Bedeutung, die es im Deutschen hat. Fitness ein anderes Beispiel, Handy ein nächstes. Fussball wird bei der hiesigen WM zum public viewing-Ereignis.

Neben der Unsitte, englischklingende Wörter zu erschaffen – was beinahe schon wieder ulkig anmutet -, geschieht mit den und durch die nichtdeutschen Wörtern jedoch noch anderes. Wir haben es mit Bedeutungserweiterungen einerseits und mit Bedeutungsverengungen andererseits zu tun.
Die neuen Wörter – sofern es Substantive sind – benötigen im Deutschen einen Artikel. Die Artikelwörter sind das Trauma jedes Deutschlernenden, der aus einer Sprache kommt, in der es kein grammatisches Geschlecht gibt. Die Regelhaftigkeit erschliesst sich nur sehr schwer, da lernt man sie am besten gleich zusammen!
Welchen Artikel gibt man einem Fremdwort? Man hört die Mail und das Mail.  Es ist auf Deutsch „die Post“ – daraus folgt, dass die Tendenz zum femininen Artikel gross ist. Andererseits gilt: Fremdwörter sind grundsätzlich „das“: das Automobil, das Handy, das Mobile…

Das Englische als Lehrmittel für das Deutsche

Weiterhin brauchen die neuen Wörter eine Pluralform. Im Deutschen gibt es – gewachsen aus der Sprachgeschichte – 8 Pluralformgruppen. „Typisch“ für das Deutsche ist die Stammvokaländerung, die auch an anderen Stellen wirksam wird.
Die neuen Wörter bekommen überwiegend ein Plural-s, oder verbleiben in der Form des Singulars (der Computer, die Computer – immerhin in der Anwendung einer Regelmässigkeit).
Verben sind ein nächster fruchtbarer Boden. Sie tragen im Deutschen im Infinitiv ein -en. to load down wird zunächst zu to download, (ist es ein trennbares Verb?), dann zu downloaden. Wohl dem, der der englischen Schriftkonvention mächtig ist, und das Wort englisch aussprechen kann, wenn er es liest.
Bei richtiger englischer Aussprache bleiben die neuen Wörter Fremdkörper im Deutschen: die offenkundig andere Aussprache passt sich nur störrisch in die deutsche Sprachmelodie ein, und was für ein Spagat, wenn dann auch noch ein Perfekt gebildet werden muss: das habe ich gedownloaded/ downgeloaded.

Der Einbruch des Englischen in das Deutsche ist gleichsam elitär gegenüber dem, was in anderen Teilen der Republik vor sich geht. Die Kanaksprak, Identifikationsmedium einer neuen Kultur, ist alles andere als lustig – sie ist ein Symptom. Wofür, fragen Sie?
Die englische Sprache ist der unseren vorausgegangen, und an ihr können wir etwas lernen. Englisch diente und dient als lingua franca und wurde in die entferntesten Winkel der Welt, als der Handel und nicht nur der begann, getragen. Englisch wird von weit mehr Menschen gesprochen als tatsächlich englische Muttersprachler sind. Es ist die zweite Sprache vieler Menschen, die sie lernen, um sie zu benutzen.

Von der der Lingua franca zu den Kreolsprachen

Das Stichwort hier lautet: benutzen. Eine lingua franca ist eine Verkehrssprache, die auf einzelnen Gebieten den Menschen den Verkehr miteinander ermöglicht.
Im Laufe der Kontakte und der Durchmischung mit immer anderen Muttersprachen wurde Englisch pidginiziert. Hervorstechendstes Kennzeichen von Pidginsprachen ist, dass sie eine reduzierte Sprachform darstellen. Als nächste Ausprägung haben wir es mit einer Kreolisierung zu tun:
Kreolsprachen sind Sprachen, die aus mehreren Sprachen entstanden sind. Dabei geht ein Grossteil des Wortschatzes der neuen Sprache auf eine der beteiligten Kontaktsprachen zurück.

In manchen Fällen entwickelt sich eine Kreolsprache durch einen Prozess des Sprachausbaus zu einer Standardsprache. Im Unterschied zu den Pidgin-Sprachen sind Kreolsprachen sogar Muttersprachen.

Vor allem die Grammatik, aber auch das Lautsystem der neuen Sprachen sind von jenen der beteiligten Ausgangssprachen deutlich verschieden. Der Prozess dauert lange, und wir sprechen hier abstrakt von „Sprachen“. Was macht es aber mit den Sprechern?

Sprache ist Heimat

Bestandsaufnahme:
1. Neue, fremde Wörter und Begriffe werden nicht adäquat angewendet; 2. Die Wörter verändern die Strukur der Rahmensprache, nicht selten gehen Strukturelemente verloren; 3. Stehen bestimmte Strukturen nicht mehr zur Verfügung, wird nicht mehr in ihnen gedacht; 4. Was nicht gedacht werden kann, weil die Strukturen fehlen, bleibt ungesagt; 5. Der genaue Ausdruck geht verloren; 6. Man trifft sich im Unsagbaren.

Menschen, die eine Sprache nur als Ruine bewohnen, können auch nur ruinenhaft denken.

Und so gerät die Herkunft ins Wanken, wenn das Bewusstsein nicht nachkommt. Sprache ist – und war es immer – Heimat. Und wenn man seine Sprache verliert, verliert man die Heimat, und wenn man seine Heimat verliert, ist es um die Sprache hart bestellt.
Das hat übrigens nichts mit Denken in Nationalstaaten (deren Etablierung sogar nachgerade Sprachzugehörigkeiten ignoriert) oder Intoleranz zu tun, sondern ist die Frage eines Standortes. Nur wenn man den hat, kann man Schritte in das Andere, Fremde, Neue nehmen, und den Fremden für das Eigene, für ihn Neue begeistern. Gibt man seinen Standort auf, steht man im Nichts. ♦


Karin Afshar

Geb. 1958 in der Eifel/D, Studium der Sprachwissenschaft, Finn-Ugristik und Psychologie, Promotion, zahlreiche belletristische und fachwissenschaftliche Publikationen, lebt in Bornheim/D

Lesen Sie im Glarean Magazin auch den Essay von
Karin Afshar: Bildung und Schule

Mario Andreotti: Tendenzen der Schweizer Literatur (Essay)

Tendenzen der neueren Schweizer Literatur

von Mario Andreotti

Die neuere Schweizer Literatur hatte sich, vor allem im Nachgang der 68er Bewegung, in erster Linie als „littérature engagée“ verstanden, als eine Literatur, in der Dichtung und Politik eng miteinander verflochten sind. Für die Autoren dieser Literatur, für einen Max Frisch, einen Peter Bichsel, einen Jörg Steiner, einen Adolf Muschg, einen Niklaus Meienberg, einen Franz Hohler, einen Otto F.Walter, einen Hugo Loetscher, einen Otto Marchi mit seiner „Schweizer Geschichte für Ketzer“ und vielen andern, war die stürmische Hassliebe zur Heimat noch so etwas wie die zentrale Triebkraft ihres Schreibens. Der Heimatdiskurs – Heimat stets verstanden als „Enge“, die Schweiz als „Gefängnis“, aus dem man ausbrechen musste – gehörte fast zwingend zu ihrem literarischen Repertoire. Dazu gehörte auch ein mehr oder weniger deutlicher Hass auf die Armee, die man als Instrument einer spätkapitalistischen, autoritär-repressiven Gesellschaft, aber auch als Inbegriff einer mythisch verstandenen Sonderstellung der Schweiz empfand. Max Frischs letztes, 1989 erschienenes Werk, vielleicht überhaupt das letzte einer schweizerischen „littérature engagée“, sein in Dialogform gehaltener Prosatext „Schweiz ohne Armee? Ein Palaver“ war für diese armeekritische Haltung einer ganzen Schriftstellergeneration geradezu das Paradebeispiel.

Weder für noch gegen das „Vaterland“

„Littérature engagée“ im Schweizer Nachgang der 68er Bewegung: Max Frisch, Niklaus Meienberg, Otto F. Walter

Anfang der 90er Jahre setzte in der Schweizer Literatur ein folgenschwerer Paradigmawechsel ein. Eine neue Generation von Schriftstellern meldete sich zu Wort, eine Generation, der es nicht mehr um die Auseinandersetzung mit der Schweiz, um die Heimat als politische Kategorie, sondern höchstens noch als epische oder dramatische Kulisse für die Entwicklung der Figuren geht. Das literarische Herz dieser nachrückenden Generation schlägt weder für noch gegen das Vaterland; es schlägt vielmehr für die eigene Biographie, die eigene private Welt. Landesgrenzen spielen keine Rolle mehr; die schweizerische Identität – und das ist neu – hinterlässt daher in den Romanen der Schweizer Autoren immer geringere Spuren. Das äussert sich konkret auch an den jährlich stattfindenden Solothurner Literaturtagen: Bis 1991 war die Teilnahme an dieser grössten Schweizer Literaturschau den helvetischen Literaturschaffenden vorbehalten. Nach 1991, vor allem im Zusammenhang mit der Wende in Deutschland, dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus im Osten und mit der Frage nach einem EU-Beitritt der Schweiz öffnete man das Solothurner Literaturtreffen auch für die nichtschweizerischen Autoren aus allen Ländern und Kontinenten.

Mit 3’000 – 5’000 verkauften Büchern bereits erfolgreich

In der Tat: Eine neue Generation von Autoren hatte in der Schweiz die Bühne betreten. Ich glaube, es war Peter Weber mit seinem Erstling „Der Wettermacher“, 1993 erschienen, der Geschichte von August Abraham Abderhalden, dem Protagonisten und Ich-Erzähler des Buches, und von dessen Trauer über die gemeinsame Kindheit und den Selbstmord seines schwarzen Adoptivbruders Freitag, der als Erster dieser neuen Generation die Bühne betreten hat. Kurz danach folgte eine Frau, deren Auftritt noch wesentlich spektakulärer war als der von Peter Weber. Von ihrem 1997 erschienenen Erstlingsroman „Das Blütenstaubzimmer“ wurden bis heute weit über 300’000 Exemplare abgesetzt. Wenn man bedenkt, dass ein Schweizer Autor, der 3’000 bis 5’000 Exemplare eines Buches verkauft, üblicherweise bereits als erfolgreich gilt, ist das ein gigantischer Erfolg. Dazu kommen Übersetzungen in 27 Sprachen und Lesetourneen in alle Welt. Ich spreche von der Basler Autorin Zoë Jenny, die seit 2003 mit ihrem Partner in London lebt.

Abwendung von allem Politischen

Abwendung von aller politischen Literatur: Zoë Jenny
Abwendung von aller politischen Literatur: Zoë Jenny

Der Verkaufserfolg eines Buches ist bekanntlich eines der Indizien für einen Wandel. Wenn diese Feststellung auf Zoë Jennys Buch zutrifft, worin besteht denn hier der Wandel, der Paradigmawechsel, der letztlich für fast die ganze jüngste Schweizer Literatur gilt? Ich würde meinen, in einem Zweifachen: Da ist zunächst die Abwendung von allem Politischen, wie ich sie eben kurz beschrieben habe. Zoë Jenny erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich von ihren Eltern, weil in deren Nähe für sie kein Platz mehr ist, ablöst und die am Schluss völlig desillusioniert allein hinaus in die Winterlandschaft geht. Sieht man einmal von Jennys Abrechnung mit der 68er Generation, mit ihrem Streben nach Selbstverwirklichung, ab, ist da von Politik nichts mehr zu spüren. An die Stelle des politischen Diskurses – ich tönte es bereits an – sind die eigene Biographie, die Selbstwerdung oder Ichfindung ins Zentrum des Schreibens gerückt. Und da ist eine neu gewonnene Unbefangenheit des Erzählens, die keine Erzählkrise, keine Tendenz, das Erzählen selbst zum Thema zu machen, mehr kennt. Hatten ein Max Frisch, ein Otto F.Walter, ein Hugo Loetscher, eine Erica Pedretti in ihren Romanen die Erzählebene noch verdoppelt, um Widersprüche aufzuzeigen, so erzählen die jungen Schweizer Autoren, eine Ruth Schweikert, ein Peter Weber, ein Peter Stamm und eben auch eine Zoë Jenny, einmal abgesehen von gewissen Rückblenden, wieder weitgehend linear. Das kommt den normierten Erwartungen einer breiten Leserschaft entgegen, was den internationalen Erfolg vieler junger Schweizer Autoren zu einem guten Teil erklärt. Dass dabei die Moderne auf der Strecke bleibt, ist die andere, weniger schöne Seite dieser jungen Schweizer Literatur. Die Gefahr, dass solche Literatur, gerade weil sie auf die Errungenschaften der literarischen Moderne mehrheitlich verzichtet, nur ein kurzfristiger Saisonerfolg bleibt, ist auf jeden Fall gegeben.

Fixierung auf den Autor und nicht auf das literarische Werk

Literarisches Fräulein-Wunder: Julia Franck
Literarisches Fräulein-Wunder: Julia Franck

Und da ist schliesslich noch ein Drittes, ein bestimmter Trend des Literaturbetriebes, der sich nicht nur in der Schweizer Literatur, aber in ihr besonders deutlich ausmachen lässt: die zunehmende Fixierung des Interesses nicht sosehr auf das literarische Werk als vielmehr auf die Person des Autors oder noch besser gesagt, der Autorin. Im Zentrum dieses Interesses steht dabei das attraktive und photogene äussere Erscheinungsbild, das in den Medien marktgerecht aufgebaute jugendliche und damit Absatz fördernde Image. Es dürfte kein Zufall sein, dass die meisten Vertreter der jüngsten Autorengeneration ihre Erstlingsromane in relativ jungen Jahren veröffentlicht haben: Zoë Jenny war 23, als ihr Erstling „Das Blütenstaubzimmer“ erschien, Peter Weber mit seinem „Wettermacher“ 25, Ruth Schweikert 29, als sie an den „Solothurner Literaturtagen“ 1994 erstmals mit ihrer Erzählung „Christmas“ auftrat. Vom „Triumph der Jugendidole“ haben die einen Literaturkritiker Ende der 90er Jahre gesprochen, andere, wie der Kritiker Volker Hage in einem Spiegel-Artikel im März 1999, vom literarischen Fräuleinwunder. Er verstand darunter junge Autorinnen, die gerade ihre ersten Bücher veröffentlicht hatten und die durch ihr attraktives äusseres ihren literarischen Marktwerk steigern können. Zu ihnen gehört, neben einer Julia Franck, einer Judith Hermann, einer Alexa Hennig, einer Karen Duve, zweifellos auch die Schweizerin Zoë Jenny. Und dies so sehr, dass man zeitweise den Eindruck hat, die Literaturkritiker würden sich mehr für das Gesicht Jennys als für ihre Bücher interessieren.

Vom Literaturbetrieb zur Eventkultur

Der Literaturbetrieb hat sich seit Mitte der neunziger Jahre, gerade auch in der Schweiz, gewaltig gewandelt, gewandelt hin zu einer Eventkultur. Gefragt sind nicht mehr sosehr Autoren, die ihre Literatur als moralische Gegenmacht zur herrschenden Gesellschaft verstehen, gefragt ist, etwas überspitzt formuliert, was kommerziellen Erfolg verspricht, was unterhaltsam und möglichst unpolitisch ist. Gefragt sind dementsprechend auch Autorinnen und Autoren, die sich „marktgerecht“ verhalten, die nicht sosehr ihr Werk, sondern durch eine möglichst hohe Medientauglichkeit sich selbst inszenieren können. Der Literaturbetrieb wird so zum gezielten Marketing. Die Literatur selber verkleinert sich dabei zum harmlosen Vergnügungshäppchen und büsst so ihren ursprünglich auf Störung, Irritation und Reflexion ausgerichteten Charakter ein. Ich weiss, das sind harte Worte. Aber sie sind notwendig, will die Literatur, und gerade die schweizerische, nicht zum billigen Vehikel unserer postmodernen Spass- und Zerstreuungsgesellschaft verkommen.

Fruchtbarer Schweizer Boden für subkulturelle Literatur

Nun würde in meinen Ausführungen Entscheidendes fehlen, wollte ich nicht noch ein paar Worte zu jener Literatur am Rande des offiziellen Literaturbetriebes sagen, die wir gerne mit dem Begriff der „Subkultur“ in Verbindung bringen und die seit den 1990er Jahren auch in der Schweiz einige Bedeutung erlangt hat. Es sind dies vor allem Pop, Beat, Rap und vor allem die Slam Poetry. Es kann hier nicht darum gehen, die eben genannten Genres im Einzelnen zu besprechen; das habe ich im Buch Die Struktur der modernen Literatur (im Kapitel über moderne politische Lyrik) recht ausführlich getan. Hier geht es mir einzig um die Frage, warum gerade in der Schweiz Pop, Beat, Rap und Slam Poetry, ganz anders als etwa in Österreich, derartige viele Anhänger gefunden haben. Man denke nur an die zahlreichen Fans, die etwa die Mundartrock-Konzerte eines Polo Hofer oder eines Peter Reber zu mobilisieren vermögen.

Schweizer Literatur-Pop-Romancier: Christian Kracht
Schweizer Literatur-Pop-Romancier: Christian Kracht

Es dürfte zudem kein Zufall sein, dass der Begründer und Übervater des jüngeren deutschen Pop-Romans ein Schweizer ist, zumindest schweizerische Wurzeln hat, auch wenn er sich selber gerne als Kosmopoliten sieht. Ich spreche von Christian Kracht, der in seinem 1995 veröffentlichten Erstling „Faserland“ den Ich-Erzähler fast symbolartig per Bahn, Flugzeug und Auto von der Insel Sylt über Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München und den Bodensee in die Schweiz reisen lässt. Und es dürfte ebenfalls kein Zufall sein, dass es in der Schweiz wohl von ganz Europa verhältnismässig am meisten Poetry Slams gibt; und dies obwohl die Slam Poetry aus Amerika, wo sie bekanntlich 1986 von Marc Kelly Smith in einem Jazz-Club in Chicago begründet worden war, erst nach Deutschland etwa ab 1999 in die Schweiz kam. Man werfe einen Blick ins Internet, um zu erfahren, wie reich die Slam-Szene in der Schweiz, etwa in Bern, aber auch in Zürich und St. Gallen war und immer noch ist. Ähnliches wäre vom Rap, vor allem vom Mundart-Rap zu sagen.

Volksnahe Schweizer Literatur

Jeremias Gotthelf und Conrad Ferdinand Meyer
Jeremias Gotthelf und Conrad Ferdinand Meyer

Wo also könnten die Gründe liegen, dass in der Schweiz die verschiedenen Formen subkultureller Literatur auf relativ fruchtbaren Boden fallen? Ich würde meinen, dass es vor allem zwei Gründe sind, die hier genannt werden müssen. Da ist zum einen die Tatsache, dass in der Schweiz die Trennung zwischen einer hohen Literatur und einer Literatur, die eher unterhaltenden Wert besitzt, nie so stark war wie etwa in Deutschland oder in Österreich. Das mag unter anderem mit der starken Stellung der schweizerdeutschen Mundart, die der Literatur stets eine gewisse Volksnähe verliehen hat, zusammenhängen. Man denke da etwa an die Romane Gotthelfs, aber auch an die ganze Heimatlyrik bis weit in die 1950er Jahre hinein und nicht zuletzt auch an die stark beachtete Bewegung der „modern mundart“ seit den sechziger Jahren, worin sich avantgardistische Experimental-Lyrik und Dialekt in überraschenden Kombinationsformen verbinden. Es ist und bleibt eine Tatsache, dass in der Schweiz, übrigens wie in den angelsächsischen und den romanischen Ländern auch, die Literatur immer weniger elitär erlebt wurde als etwa im deutschsprachigen Ausland. Wir hatten in der Schweiz, anders als in Deutschland, keinen Gottsched, der für die Dichtung, vor allem für das Schauspiel, die Verwendung eines hohen Stils verlangte, keinen Stefan George, bei dem der Dichter zum Priester wird, der seine Gedichte nur für einen engen Kreis empfänglicher Seelen schafft. In der Schweiz hat die Dichtung stets etwas Volksnahes bewahrt. Nur so erklärt es sich, dass im Jahre 1997 der 200.Geburtstag von Jeremias Gotthelf schweizweit mit verschiedensten Events gefeiert wurde, während man ein Jahr später den 100.Todestag von Conrad Ferdinand Meyer, dem der Ruf eines eher abgehobenen, elitären Dichters anhaftet, in der breiteren Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis nahm. Apropos Gotthelf darf ich ein kleines persönliches Erlebnis anfügen, das einen gewissen anekdotischen Wert besitzt. 1997 hatte ich in einer kleineren Schweizer Stadt einen Vortrag über Jeremias Gotthelf zu halten. In diesem Vortrag versuchte ich Gotthelf vom gängigen Klischee des Volks- und Bauerndichters gründlich zu befreien. Kaum hatte ich meinen Vortrag, fast etwas siegesbewusst, beendet, traten eine Jodlergruppe und ein Handorgelduo auf die Bühne. Wenn das nicht Volksnähe der Schweizer Literatur ist…

Rückzug der Schweizer Literatur ins Private

Literatur als geistreiche Spass-und-Fun-Kultur: Poetry Slam in der Schweiz
Literatur als geistreiche Spass-und-Fun-Kultur: Poetry Slam in der Schweiz

Event – ich habe bewusst dieses Wort verwendet. Unsere postmoderne Kultur, wenn ich diesen unscharfen Begriff gebrauchen darf, ist zu einer fast perfekten Eventkultur geworden, zu einer Kultur, in der Fun und Unterhaltung dominieren. Das ist auch an der Literatur nicht spurlos vorübergegangen. In der Schweiz kommt es in den 1990er Jahren, wie ich bereits gezeigt habe, zu einem gewaltigen Paradigmawechsel: weg von einer gesellschafts-, vor allem heimatkritischen Literatur, von einer „littérature engagée“, wie sie die 68er Generation noch verstanden hatte, hin zu einer Literatur, die sich mehr und mehr ins Private, Individuelle zurückzieht und die sich nicht durchwegs, aber häufig als Unterhaltung, als geistreiche Zerstreuung versteht. Seit 1996 bildet ein Ort in den Walliser Bergen gleichsam die Kulisse für dieses neue Literaturverständnis: das Bäderdorf Leukerbad. Während über den Solothurner Literaturtagen, die bekanntlich ein Kind der 68er Generation, genauer gesagt, der „Gruppe Olten“ sind, immer noch der Geist von didaktischer Belehrung weht, lockt Leukerbad mit reinem Vergnügen: Ausdruck eines perfekten, professionellen Eventmanagements. Mitternachtslesungen auf der Gemmi werden da zur romantischen Performance; Lesungen im Heilbad neben sprudelnden Quellen, in lauschigen Gärten und alten Hotels gehören dazu. Das Festivalprogramm verspricht zwar Literatur, aber ebenso inspirierendes Abtauchen in die Thermalquellen, Spaziergänge auf Blumenwiesen und Ausflüge in die Berge. Liebe Hörerinnen und Hörer, ein sicheres Zeichen, dass eine neue Generation Literatur auf eine neue Art konsumiert.

Poetry Slams in den Mausoleen der Literatur

Ist es da ein Zufall, dass Beat, Rap und vor allem Slam Poetry in der Schweiz gerade in den späten 90er Jahren zu blühen anfangen? Die Poetry Slams, einst als Gegenbewegung zu den eher langweilig wirkenden Lesungen des etablierten Literaturbetriebs verstanden, beginnen sich unter dem Druck einer allmächtigen Eventkultur zu verändern. Immer mehr Slammer performen heute nicht mehr in ehemaligen Lagerhallen und Schuppen, in Beizen und Bars, sondern auf grossen Festivals und in Literaturhäusern. Das bleibt nicht ohne Gefahren: Sollten bei uns in der Schweiz die Poetry Slams künftig nicht mehr dort, wo sich junge Menschen naturgemäss hinbegeben, sondern wieder in den Mausoleen der Literatur stattfinden, dann wird von ihrem ursprünglichen Charakter nicht mehr viel übrig bleiben.

Avantgarde-Literatur als Gegenpol zu nationalen Schweizer Mythen

Für die weite Verbreitung verschiedener Formen subkultureller Literatur in der Schweiz deutete ich zwei Gründe an. Einen ersten Grund habe ich eben kurz skizziert. Ein zweiter, für mich wesentlicher Grund dürfte damit zusammenhängen, dass die Literatur der Subkultur und der Avantgarde, also Pop, Social Beat, Rap und Slam Poetry, indem sie übernational sind und die soziale Realität schonungslos aufdecken, einen starken Gegenpol zu den nationalen Mythen der Schweiz bilden. Es dürfte kein Zufall sein, dass die eben genannten avantgardistischen Formen der Literatur in der Schweiz genau in jenen Jahren ihren Höhepunkt erreichten, als unsere nationalen Mythen zu scheppern begannen und unser Land sich in einer gewaltigen Identitätskrise befand: einige Jahre vor und nach der Jahrtausendwende. Nennen wir stichwortartig einige Ereignisse, die zu dieser Identitätskrise führten: Da ist zu Beginn der 90er Jahre zunächst der Fichenskandal, die groteske Bespitzelung der einen Hälfte der Schweizer durch die andere, dann Mitte der 90er Jahre die Tatsache, dass im Zusammenhang mit der Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, um ihre Geschäftstüchtigkeit, ihren Umgang mit dem Nazi-Raubgold der Mythos von der schweizerischen Neutralität arge Kratzer erhielt, und da sind einige Jahre später das „Grounding“ der Swissair, das Attentat im Zuger Kantonsparlament, das die Illusion von Sicherheit zerstörte, die Stagnation der Wirtschaft, damit verbunden die Zunahme der Arbeitslosenzahlen und schliesslich die gewaltige Bankenkrise, die für die Manager gleichsam über Nacht das neue Wort „Abzocker“ generierte. Alles Debakel, Katastrophen, die den Mythos Schweiz gründlich zerstörten. Die Schweiz hatte vom Sonderfall des Musterschülers in die Normalität des europäischen Mittelmasses gewechselt. Dass die jüngste Literatur der Subkultur und der Avantgarde, vom Social Beat über den Rap bis zum Slam, nicht nur ein Produkt unserer Eventkultur, sondern gerade in der Schweiz auch die Reaktion auf diesen Wechsel, auf eine schmerzliche Identitätskrise, ja auf den Verlust des Heimatgefühls darstellt, versteht sich bei dieser Sachlage fast von selbst.

Die Strategen des literarischen Ego-Marketings

Martin Suter - Glarean Magazin
Stratege des literarischen Ego-Marketings: Martin Suter

Seit Mitte der 90er Jahre stehen sich in der Schweizer Literatur, etwas überspitzt formuliert, drei grundsätzliche Positionen gegenüber: eine Generation, die Literatur immer noch politisch, gesellschaftskritisch, als „moralische Gegenmacht zur herrschenden Gesellschaft“ versteht. Zu ihr gehören Autoren wie etwa Peter Bichsel, Adolf Muschg, Niklaus Meienberg, Jörg Steiner, Paul Nizon, Silvio Blatter, Urs Faes, Erica Pedretti, Mariella Mehr und Eveline Hasler. Es waren und sind fast selbstredend eher ältere Autoren, also Autoren, die schon in den sechziger und siebziger Jahren debütiert haben. Daneben findet sich eine mittlere Generation, die dieses gesellschaftskritische Muster aufgeweicht hat und Themen wie Kindheit, Tod und Beziehungsdebakel ins Zentrum rückt. Dazu rechne ich etwa Thomas Hürlimann, Klaus Merz, Tim Krohn, Peter Stamm, Ruth Schweikert, Eleonore Frey, Milena Moser, Andrea Simmen, Nicole Müller, Monica Cantieni, Hanna Johansen u.v.a. Es dürfte kein Zufall sein, dass es sich hier mehrheitlich um Frauen handelt, haben wir es doch seit etwa 1970 in der Schweizer Literatur recht eigentlich mit einem Aufbruch der Frauen zu tun. Das mag aus literaturgeschichtlicher Sicht mit der Individualisierung der Literatur, mit der Wiederentdeckung des ‚Ich’ im Rahmen der „Neuen Subjektivität“ und damit verbunden mit der erneuten Betonung des Biographischen und Autobiographischen zusammenhängen. Schliesslich die ‚junge’ Generation, die sich, um es auf einen einfachen Nenner zu bringen, medien- und marktgerecht verhält, sich gerne selbst inszeniert. Zu ihr zähle ich u.a. einen Martin Suter, einen Pedro Lenz, einen Hansjörg Schneider, einen Charles Lewinsky, einen Alex Capus, einen Silvio Huonder, eine Simone Meier, einen Gion Mathias Cavelti, einen Ulrich Knellwolf und ,last but not least’ eine Zöe Jenny. Es sind, um es ohne Umschweife zu sagen, ‚literarische Fliegengewichte’. Ihre Texte sind meist unpolitisch und nicht immer, aber häufig auf Unterhaltung ausgerichtet, als ,leichte Zwischenmahlzeiten’ gedacht.

Die Medien als Event-Maker der Literatur

Sie treffen allerdings auf der Gegenseite auch auf ein verändertes Verhalten der Medien und des Leserpublikums. Erwartet wird nicht der herkömmliche Dichter, erwartet wird der Shootingstar, der, wie etwa eine Zoë Jenny, eine Simone Meier, ein Alex Capus, um nur drei Beispiele zu nennen, die Strategie des Ego-Marketings perfekt beherrscht. Also bedienen die Medien die Neugierde der Leser – ein beinahe erotisches Phänomen – mit immer neuen Events. Das Publikum seinerseits möchte nicht unbedingt lesen, sondern dabei sein. Lesen will es dann freilich schon, um zu überprüfen, ob sich das Dabeisein gelohnt hat. Das wiederum kommt dem Verkauf der Bücher zugute.
Moralisch zu werten ist das alles nicht. Fragwürdig wird das Ganze erst, wenn sich die Schere zwischen dem Getöse um ein Buch und dem, was das Buch selber zu bieten hat, immer weiter öffnet. Und das ist gerade auch in der Schweizer Literatur seit Simone Meiers „Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben“, Alex Capus’ „Glaubst du, dass es Liebe war?“ und Martin Suters „Lila, Lila“ leider immer öfter der Fall. ♦

Literatur:
– Klaus Pezold(Hrsg.): Schweizer Literaturgeschichte, Die deutschsprachige Literatur im 20.Jahrhundert, Leipzig 2007 (Militzke)
– Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur, Neue Wege in der Textinterpretation – Erzählprosa und Lyrik, Bern 2009 (Haupt)


Prof. Dr. Mario Andreotti - Schweizer Literatur- und SprachwissenschaftlerProf. Dr. Mario Andreotti
Geb. 1947, Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich, 1975 Promotion über Jeremias Gotthelf, 1977 Diplom des höheren Lehramtes, danach Lehrtätigkeit am Gymnasium und als Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, langjähriger Referent in der Fortbildung für die Mittelschul-Lehrkräfte und Leiter von Schriftstellerseminarien, Verfasser mehrerer Publikationen und zahlreicher Beiträge zur modernen Dichtung, lebt in Eggersriet/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur

Mario Andreotti: Ist Dichten lernbar? (Essay)

Ist Dichten lernbar?

Über Sinn und Unsinn von Schreibseminarien

von Mario Andreotti

In den letzten Jahrzehnten sind sie im deutschen Sprachraum, zunächst in Deutschland und dann auch in Österreich und in der Schweiz, wie Pilze aus dem Boden geschossen: Die verschiedenen, keineswegs immer billigen Schreibwerkstätten, Seminarien, Literaturkurse und Fernlehrinstitute für angehende Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dazu kamen und kommen eine steigende Zahl von Büchern und Zeitschriften, die dem Leser mehr oder weniger deutlich suggerieren, sie enthielten „todsichere“ Rezepte für ein gutes Schreiben. Das reicht dann von relativ neutralen Titeln, wie etwa dem „Verlegerbrief“, über Titel, die wie „Grundlagen und Technik der Schreibkunst“ schon handfester tönen, bis zu solchen, die unverhohlen versprechen, der Leser werde durch die Lektüre der betreffenden Publikation „garantiert schreiben lernen“. Dieses zunehmende Angebot an Schreibhilfen, allen voran an Schreibwerkstätten und „Kursen für kreatives Schreiben“, lässt einmal mehr die Frage aufkommen, ob sich denn das Dichten überhaupt lernen lasse. Es handelt sich um eine Frage, die fast so alt wie die Dichtung selber ist, und die im Verlaufe der Literaturgeschichte ganz unterschiedlich beantwortet wurde.

Ist Dichten also lernbar?

„Poetischer Trichter – Die Teutsche Dicht- und Reimkunst, ohne Behuf der lateinischen Sprache, in VI Stunden einzugiessen“ (Georg Philipp Harsdörffer, 17.Jh.)

Hätte man diese Frage einem Literaten etwa des 17. Jahrhunderts, also der Barockzeit gestellt, so hätte er sehr wahrscheinlich leicht verwundert zur Antwort gegeben, natürlich sei das Dichten lernbar, und dies genau so exakt wie beispielsweise das Malen oder das Musizieren. Wozu habe man denn die Poetik, wenn nicht dazu, dem Poeten die Regeln für sein literarisches Handwerk zu liefern. Man war damals nämlich der Überzeugung, ein Autor schreibe nur dann gut, wenn er bestimmte, durch literarische Autoritäten vorgegebene Regeln strikte beachte. So hatte beispielsweise ein Dramatiker, ob es ihm gefiel oder nicht, die berühmte Regel der drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung, die angeblich auf die Poetik des Aristoteles zurückging, zu befolgen. Tat er dies nicht, so war er literarisch, und nur allzu oft auch gesellschaftlich, geächtet. In der Literaturwissenschaft spricht man deshalb von einer normativen Poetik, von einer Poetik also, die glaubte, die Schriftstellerei sei ein Handwerk wie jedes andere, das man nach bestimmten Regeln zu betreiben habe. Ein extremes Beispiel für diese normative Auffassung der Poetik ist der vielzitierte Nürnberger Trichter von Philipp Harsdörffer, der als „Anweisung, die Teutsche Dicht- und Reimkunst in sechs Stunden einzugiessen“ gedacht war. Noch heute erinnern gewisse Lehrbücher der Dichtung, die sich mit ihren handfesten Schreibezepten fast wie Kochbücher geben, an diesen Nürnberger Trichter.

Dichten als subjektives Geschäft

Gegen Ende des 18.Jahrhunderts, literaturgeschichtlich mit dem Beginn des Sturm und Drang, wandelt sich das Bild: Die überkommene Vorstellung, die Dichtung habe einem bestimmten Regelkanon zu gehorchen, wird zunehmend durch die Ansicht abgelöst, sie habe möglichst originell, möglichst schöpferisch zu sein. „Kreativität“ und „Originalität“ -man denke etwa an die für die Stürmer und Dränger typische Wortschöpfung des „Originalgenies“- werden zu den beiden Leitbegriffen, welche die Dichtung der folgenden zwei Jahrhunderte weithin bestimmen sollten. Womit dieser Wandel in der Auffassung von Kunst zusammenhängt, ist einigermaβen offensichtlich: Wo der abendländische Mensch, wie dies seit der Aufklärung der Fall ist, seine Individualität, aber auch seine Autonomie den „Dingen“ gegenüber „entdeckt“, da hat dies Rückwirkungen auf das Selbstverständnis der Autoren. Sie fühlen sich nun nicht mehr als jene, die literarische Texte nach einer bestimmten, vorgeformten „Regelpoetik“ machen, sondern als Menschen, die sich von ihrer schöpferischen Intuition, von einer Art Inspiration – die Nähe zur alten, religiös fundierten Vorstellung des „poeta vates“ ist offenkundig – leiten lassen. Noch ein Friedrich Dürrenmatt huldigte dieser gleichsam irrationalen Auffassung von Dichtung und vom Autor, wenn er im Hinblick auf seine Stücke immer wieder den „poetischen Einfall“ betonte.

Kult um das
Kult um das „Originalgenie“ seit dem „Sturm&Drang“: Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar

Der eben skizzierte Wandel im Dichtungsverständnis ist nun äuβerst folgenreich: Hatte vorher die Ansicht bestanden, Dichten sei lehr- und lernbar, so trat seit dem Sturm und Drang mehr und mehr die Meinung zutage, sie sei ein derart subjektives Geschäft, dass sich dafür kaum auch nur einigermassen verbindliche Normen aufstellen lieβen. Damit war es auch mit der Vorstellung von der Lernbarkeit des literarischen Handwerks gründlich vorbei. Dies erklärt weitgehend, warum es im deutschen Sprachraum Schulen für Architekten, Bildhauer, Maler und Musiker, kaum aber solche für Schriftsteller gibt. In den USA und beispielsweise auch in Russland ist das bekanntlich ganz anders: Da existieren an den Universitäten neben den literaturwissenschaftlichen eigene Schriftstellerfakultäten, in denen angehende Autoren, angeleitet durch Praktiker ihres Faches, das Formwissen um alle dichterischen Gattungen im eigentlichen Sinne lernen. Bei uns aber hält man so etwas für eine Sünde wider den Heiligen Geist der Dichtung, warnt man in einer oftmals geradezu grotesk wirkenden Scheu vor Meistersinger-Dürre und Nürnberger Trichter.

Dichten doch lernbar?

Freilich hat sich in den letzten Jahren auch im deutschen Sprachraum ein gewisser Sinneswandel vollzogen: Neben Literaturhäusern, die regelmässig Autorenkurse anbieten, sind vor allem in Deutschland und Österreich eigentliche Schreibschulen und Literaturinstitute, wie beispielsweise die „schule für dichtung“ in Wien, die „Schreibschule Köln“ und das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig, entstanden. Autorenaus- und weiterbildung, Begriffe, die noch vor einigen Jahrzehnten völlig verpönt waren, sind plötzlich in. Selbst der Schweizerische Schriftstellerverband, der Verband der Autorinnen und Autoren der Schweiz, wie er neuerdings heisst, befasst sich inzwischen ernsthaft mit dem Gedanken, seinen Mitgliedern Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten in Form einer eigentlichen Schreibschule anzubieten.

Gottfried Benn - Glarean Magazin
„Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht“ (Gottfried Benn, Probleme der Lyrik, München 1959)

Diese jüngste Entwicklung hin zum Versuch, den Beruf des Schriftstellers zu professionalisieren, hängt unter anderem zweifellos mit dem veränderten Dichtungsverständnis der Moderne zusammen, wonach Poesie, anders als etwa in Klassik und Romantik, weniger Inspiration als vielmehr Machen bedeutet. Gottfried Benns berühmter Satz „Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht“ gilt nicht nur für die moderne Lyrik, sondern für die moderne Literatur, schon ihres betonten Kunstcharakters wegen, überhaupt. Das blieb nicht ohne Rückwirkung auf das Selbstverständnis der Autoren: Verstand sich der Autor seit dem ausgehenden 18.Jahrhundert als selbstmächtiger Schöpfer eines autonomen Werkes, bei dem Inspiration und Kreativität die zentrale Rolle spielten, so versteht er sich heute zunehmend als blosser Arrangeur, der in harter Schreibtischarbeit Texte produziert, mit literarischen Formen und Techniken ‚experimentiert’. Daraus erklären sich die auffallend vielen intertextuellen Bezüge, wie sie gerade für moderne und postmoderne Werke typisch sind. Dies wiederum setzt voraus, dass sich die Schriftsteller unserer Tage gewisse Formen und Techniken lernend aneignen. Zu all dem hat sich bei der Mehrheit unter ihnen die Einsicht durchgesetzt, mit Begabung allein lasse sich heute den vielfältigen Kommunikationsanforderungen einer komplexen Gesellschaft nicht mehr ausreichend entsprechen. Stellen wir damit nochmals die unausweichliche Frage, die Gretchenfrage sozusagen, nach der Lehr- und Lernbarkeit des Dichtens und geben wir darauf, um jedes Missverständnis auszuschlieβen, gleich eine klare Antwort: Kein vernünftiger Autor, aber auch kein Literaturwissenschaftler glaubt heute im Ernst, dass Dichten ein bloβes, lernbares Handwerk sei. Allerdings finden sich, trotz dieser an sich unbestrittenen Erfahrung, noch und noch Schreibkurse und entsprechende Lehrmittel, die den Benützern weismachen wollen, jeder könne ein guter Schriftsteller werden, wenn er nur die richtige, vom betreffenden Institut oder Lehrmittel propagierte Methode verwende.

Was leisten Schreibseminarien wirklich?

Fragen wir zunächst nochmals, was sie nicht leisten. Alfred Döblin, einer unserer gröβten Epiker des 20.Jahrhunderts, hat auf diese Frage indirekt eine geradezu klassische Antwort gegeben, als er im Jahre 1926 in einem Essay schrieb: „Die guten Dichter haben ihre Intuitionen; die machen alle Anleihen überflüssig, und den schlechten ist so oder so nicht zu helfen.“ Was Döblin damals in einem allgemeinen Sinne meinte, gilt gerade für Schreibseminarien in besonderem Maβe: sie vermögen – dies sei in aller Deutlichkeit gesagt – keine Begabungen, keine Genies zu züchten. Wer schriftstellerisch nun einmal untalentiert ist, den machen auch Kurse und Lehrmittel mit all ihren oftmals lautstark propagierten „technischen Kniffen“ nicht zum Erfolgsautor. Wäre dem nicht so, dann müsste jeder Germanist ex officio ein guter Dichter sein, nur weil er während seines Studiums alle möglichen Formen literarischen Gestaltens zu lernen hat.

Alfred Döblin:
Alfred Döblin: „…den schlechten ist so oder so nicht zu helfen“

So lieβe sich denn am grundsätzlichen Sinn von Schreibseminarien zweifeln. Doch dann hätte man mich gründlich missverstanden. Schreibseminarien erfüllen durchaus ihren Zweck, wenn es darum geht, den Teilnehmern bestimmte handwerkliche Techniken des Schreibens zu vermitteln. Literarisch begabt zu sein, braucht nämlich noch lange nicht zu heissen, die verschiedenen literarischen Kunstmittel auch schon zu beherrschen. Das gilt schon für traditionelle Schreibweisen, deren Techniken, in der Lyrik etwa die einzelnen metrischen Formen, im Roman die unterschiedlichen Erzählhaltungen, sich der Autor, will er erfolgreich schreiben, bewusst werden muss. Das gilt vor allem aber in Bezug auf spezifisch moderne Kunstmittel, wie beispielsweise neue erzählerische Verfahren, die sich ohne ein gezieltes Lernen und Üben – dazu haben sich von Döblin über Brecht bis hin zu Günter Grass alle bedeutenden modernen Autoren immer wieder bekannt – kaum aneignen lassen. Und das gilt nicht weniger für Fragen, die sich rund um das Schreiben ergeben, auf solche der Schreibpsychologie, aber auch auf Fragen der Literaturkritik und des Verlagsvertrages. Man staunt diesbezüglich immer wieder, wie hilflos auch gestandene Autorinnen und Autoren wirken, wenn sie etwa mit verlags- oder mit urheberrechtlichen Problemen konfrontiert werden. Hier können Schreibseminarien zweifellos eine Art „Hilfestellung“ leisten, vorausgesetzt freilich, dass ihre Leiterinnen und Leiter in den entsprechenden Bereichen ausgebildet sind. Damit allerdings hapert es noch weit herum: auf dem Gebiet der Schreibausbildung tummeln sich heute allzu viele, die über die notwendigen fachlichen Voraussetzungen nur in Ansätzen oder gar nicht verfügen. Das gilt häufig gerade auch für praktizierende Autorinnen und Autoren, wenn sie als Leiter von Schreibseminarien auftreten und dann, weil sie selber die verschiedenen Möglichkeiten literarischen Gestaltens nicht ausreichend kennen, ihre eigene Schreibweise zum einzigen Gradmesser literarischer Qualität machen.

Schreibseminarien als Orte der Begegnung

Neben der Funktion der „Hilfestellung“ – mehr kann und darf es nicht sein – erfüllen Schreibseminarien selbstverständlich noch weitere Funktionen, die mit Blick auf die besondere schriftstellerische Situation nicht unterschätzt werden dürfen. Da besteht für die Autorinnen und Autoren zunächst einmal die Möglichkeit, ihr poetisches Talent, im Vergleich mit andern Teilnehmern, relativ objektiv einzuschätzen. Man erlebt immer wieder, dass Autoren nach dem Besuch eines Schreibseminars feststellen, dass sie ihre Begabung überschätzt haben, und dann konsequenterweise einen andern Weg als den der Schriftstellerei einschlagen. Aber man erlebt zum Glück auch das Gegenteil: die Tatsache nämlich, dass Autorinnen und Autoren durch „Hilfestellungen“, ja durch gezielte Schreibtipps, ihre schriftstellerische Begabung erst richtig entdecken. Und schlieβlich darf der psychohygienische Wert von Schreibseminarien nicht vergessen werden, wenn man bedenkt, wie sehr Schreibende als klassische ‚Einzelkämpfer’ mit ihren Texten häufig nicht nur bis zu deren Fertigstellung allein, sich selbst überlassen sind. Schreibseminarien geben ihnen da für einmal die Möglichkeit, während ein paar Tagen aus ihrer schriftstellerischen „Einsamkeit“ auszubrechen und mit Gleichgesinnten – dies im wahrsten Sinne des Wortes – über ihre vielfältigen Probleme, die sie mit ihren Texten, aber auch mit Verlegern, Lektoren und Kritikern haben, zu diskutieren. Allein der Umstand erfahren zu dürfen, dass diese Probleme von andern angehört und ernst genommen werden, ja, dass andere Autorinnen und Autoren mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, dass man mit seinen Texten zudem eine gewisse Öffentlichkeit erreicht, auch wenn es vorerst nur die eines Seminars ist, tut dann oftmals gut. Schreibseminarien – ja oder nein? Geht man von einem überkommenen, latent elitären Autorenverständnis aus (wer möchte nicht gerne zu den Auserwählten, den Begnadeten gehören!), so wird man die Frage ohne zu zögern mit „nein“ beantworten. Ist man aber bereit einzugestehen, dass auch die Schriftstellerei ein Moment des Handwerklichen und damit des Lernbaren hat, dass sich beispielsweise eine ganze Reihe von Schreibtechniken rational aneignen lassen, dann wird man gerade heute, inmitten einer Welt des Wandels und spezialisierter Berufe, den Schreibseminarien eine gewisse Berechtigung kaum absprechen können. ♦


Mario AndreottiProf. Dr. Mario Andreotti

Geb. 1947, Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich, 1975 Promotion über Jeremias Gotthelf, 1977 Diplom des höheren Lehramtes, danach Lehrtätigkeit am Gymnasium und als Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, langjähriger Referent in der Fortbildung für die Mittelschul-Lehrkräfte und Leiter von Schriftstellerseminarien, Verfasser mehrerer Publikationen und zahlreicher Beiträge zur modernen Dichtung, lebt in Eggersriet/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Gesellschaft und Sprache“ auch den Essay von Mario Andreotti: Wie Jugendliche heute schreiben

Ausserdem im GLAREAN der Essay von Karin Afshar: Bildung und Schule

Peter Ahrendt: Zum 10. Todesjahr von Grete Weil

„Ich bin eine schlechte Hasserin“

Über die jüdische Schriftstellerin Grete Weil

von Peter Ahrendt

„Je weiter Auschwitz entfernt ist, desto näher kommt es, die Jahre dazwischen sind weggewischt. Auschwitz ist Realität, alles andere Traum. Nicht Mauthausen, wo Waiki ermordet wurde und ich mit ihm. Das Entsetzen hat sich vom eigenen Schicksal verlagert auf das der vielen. Auschwitz ist Chiffre, kein Ort auf der Landkarte.
Meine Nerven reagieren auf jede Gewalt, Menschen, ihre Mörder, eine sadistische Meute beamteter, uniformierter Peiniger. Eltern, die ihre Kinder quälen, Eheleute, die sich langsam erwürgen, Gemetzel mit Bajonetten, Peitschen, Elektroden, Wörtern, in Folterkammern und guten Stuben. Es verfolgt mich.“

„Es verfolgt mich“

Grete Weil (1906-1999)
Grete Weil (1906-1999)

So steht es in einem Buch, das ich vor einigen Jahren, und mit dringlicher Leseempfehlung, geschenkt bekam: in Grete Weils Roman „Generationen“.1
Dieses Buch beeindruckte und bewegte mich derart, dass ich daraufhin alle weiteren Bücher der Weil las und begann, mich mit Leben und Werk der Autorin zu beschäftigen, einer Autorin, die nur ein Lebensthema hat: Die Judenverfolgung (ihr eigenes Schicksal), den Faschismus und die Nichtaufarbeitung der Vergangenheit durch die Deutschen. Ein Thema, das sie immer erneut gestaltete, in einfacher, klarer, oft stakkatohafter Sprache, unbeschönigt, aber nicht unschön.

Glückliche Kindheit: verwöhnt und verhätschelt

Grete Weil wurde 1906 in Rottach-Egern am Tegernsee als Margarete Elisabeth Dispeker geboren, Tochter einer grossbürgerlichen jüdischen Familie, und verlebte nach ihren eigenen Worten eine unendlich glückliche Kindheit, verwöhnt und verhätschelt. Sie studierte Germanistik in Berlin, München und Frankfurt/M, begann zu schreiben, denn Schriftstellerin zu werden war ihr eigentliches Lebensziel schon früh, und heiratete 1932 den Dramaturgen der Münchner Kammerspiele Edgar Weil, dem sie 1936 nach Holland ins Exil folgte.
Dort arbeitete sie zunächst als Portrait-Photographin. Als die Niederlande kapitulierten (1940), versuchten sie und ihr Mann nach England zu fliehen, aber der Versuch misslang. 1941 wurde Edgar Weil auf der Strasse verhaftet und im KZ Mauthausen ermordet. Grete Weil meldete sich zur Arbeit beim jüdischen Rat in der „Schouwburg“ in Amsterdam, dem Sammellager für die zur Deportation bestimmten Juden, als Selbstrettung und um nach Kräften die Deportationen zu behindern und zu verzögern. Im Herbst 1943 tauchte sie jedoch bei Freunden unter und überlebte.

Aussöhnung ohne Vergessen

Nachdem die Deutschen den Juden 1941 die Staatsbürgerschaft aberkannt hatten, war auch Grete Weil staatenlos geworden, und da die Alliierten nach dem Krieg keine Staatenlosen nach Deutschland liessen, ging sie 1947 heimlich über die grüne Grenze in die Heimat zurück, in das trotz allem geliebte Land. Immer hatte sie sich als Deutsche gefühlt, denn ihre Sprache und ihre Kultur waren deutsch. Sie söhnte sich aus mit diesem Land und diesem Volk, aber ohne zu vergessen oder zu verdrängen. Ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Leidensgenossen blieb ihr gegenwärtig und wurde das Thema ihrer nun im fortgeschrittenen Alter wieder aufgenommenen literarischen Produktion: „Zwölf Jahre nicht geschrieben, in der Zeit, die entscheidet, in der man die besten Einfälle hat und die meiste Kraft. Nach dem Krieg schreibe ich ein paar Bücher. Sie handeln von Krieg und Deportation. Ich kann von nichts anderem erzählen. Der Angelpunkt meines  Lebens.“2

Ans Ende der Welt

„Ans Ende der Welt“3 hiess ihr erstes Buch, das 1949 in Berlin erschien. Diese Erzählung ist eine Darstellung ihrer Erfahrungen in der Schouwburg. Hier sind hunderte von Menschen jeden Alters zusammengepfercht in Erwartung ihres Schicksals, so auch ein Universitätsprofessor mit Frau und Tochter, einer der nur sehr langsam begreift, dass den Nazis seine soziale Stellung, seine Verdienste nichts bedeuten, dass auch er nur eine Nummer in den Listen ist, einer von vielen, die sterben müssen. Beklemmend ist diese Schilderung der Atmosphäre von Angst, Verzweiflung, Hoffnung auch, an die sich die Verlorenen klammern, und anrührend die Begegnung der Tochter Annabeth mit dem Jungen Ben und ihre erste scheue Liebe im Angesicht des nahen Todes.
Dieses Buch wurde zwar von einem Albert Ehrenstein als „knappes Meisterwerk“ bezeichnet, „eine einfache, herzergreifende Geschichte von Liebe und Tod, die viele kennen sollen, kennen müssen …“4, aber ein Erfolg war es nicht, kaum jemand wollte nach dem Krieg etwas wissen von diesen Dingen, man war beschäftigt damit Neues aufzubauen und das Alte zu verdrängen.

Nachdenken über die deutsche Schande

Weil-Libretto zu Henz-Oper-Boulevarde Solitude
Weil-Libretto zu Henz-Oper: „Boulevarde Solitude“ (Aufnahme von 1953)

Aber die Weil schrieb weiter. Nachdem sie ihren Jugendfreund, den Opernregisseur Walter Jockisch wiedergefunden hatte, (den sie 1960 heiratete), entstand zunächst, zusammen mit ihm, das Libretto zu Hans Werner Henzes Oper „Boulevard Solitude“, die 1952 in Hannover uraufgeführt wurde, sowie der Text zu Fortners Pantomime „Die Witwe von Ephesus“ (Uraufführung in Berlin 1952). Sie übersetzte Bücher aus dem Englischen (Durrell, Aiken, Buchanan, Hawkes) und Holländischen (J. Brouwers), textete Kurzfilme, besprach Bücher im Funk, und bevor ihr nächstes Buch erschien, verging Zeit. Aber sie hatte sich keineswegs abgefunden mit der praktizierten „Vergangenheitsbewältigung“ der Deutschen. Sie bestand weiter darauf, über die deutsche Schande nachzudenken, zu reden, zu schreiben.

Schonungslose Offenheit

Und sie tat es mit schonungsloser Offenheit in dem 1963 erschienen Roman „Tramhalte Beethovenstraat“5, in dem sie abermals ihre Holland-Erlebnisse zu verarbeiten sucht. Indem sie hier einen jungen deutschen Journalisten zum Protagonisten macht, der 1942 als Berichterstatter in Amsterdam Zeuge der Judendeportationen wurde, bemüht sie sich um etwas objektivierende Distanz.
Aber auch er will nach dem Krieg nicht vergessen, sich nicht arrangieren, sondern versucht auf einer Reise in die Vergangenheit mit sich und seinen Erinnerungen ins Reine zu kommen. Ein aufwühlendes Buch, das ergreift und angreift, keine gemütliche Lektüre, „in einer Prosa von grosser Schlichtheit und Wärme, Direktheit und Kraft, wie man sie selten findet“,6 wie Martin Gregor-Dellin schrieb.

Ein Ghetto des Nichtwissenwollens

1968: „Happy, sagte der Onkel“7 – drei Impressionen aus Amerika, auch dort wieder das ständige Thema. Die Titelerzählung schildert einen Besuch bei Verwandten, die der Vernichtung im Dritten Reich entronnen, die Vergangenheit völlig verdrängt haben und als 150prozentige Amerikaner jede Erinnerung daran weit von sich weisen. Sie haben sich rührend in ein Ghetto aus Nichtwissenwollen, Nichtanrühren zurückgezogen, eine Haltung, die Grete Weil bitterem Spott anheimgibt. In der zweiten Skizze („Gloria Halleluja“) besucht sie Harlem, ein Ghetto von heute, in dem sie mit Hass und Ablehnung konfrontiert wird. Es gibt keine Solidarität der Unterdrückten und Verfolgten, wenn sie verschiedener Hautfarbe sind. Schliesslich eine Touristenreise nach Mexiko, ins aztekische Chichen-Itza, auch das eine Schädelstätte, für die Weil eine Parallele zu Auschwitz, und dort begegnet sie einem SS-Schergen wieder (oder glaubt ihm zu begegnen), der jetzt als Fremdenführer tätig ist. Anlass zu einer Selbstbefragung, einem nochmaligen Durchleben der schlimmen Vergangenheit („B sagen“). Später notiert sie: „Ich verstehe jeden, habe eine Geschichte geschrieben, in der ich mich mit einem SS-Mann identifiziere, wir haben beide überlebt, sind beide schuldig“8.

Schuld des Überlebens

Schuld des Überlebens:
Schuld des Überlebens: „Spätfolgen“ (Grete Weil)

In ihrem letzten Buch, mit dem bezeichnenden Titel „Spätfolgen“ setzt sie sich in kleinen Erzählungen nochmals mit dem Weiterwirken des Entsetzlichen und mit der Scham des Überlebenden auseinander. Da ist jenes jüdische Mädchen, das dem Nazi-Morden entkommt, auf einer Reise durch das heutige Deutschland einen Autounfall erleidet und stirbt, weil sie sich von keinem deutschen Arzt anfassen lassen kann („Don’t touch me“). Oder jener Mann, der nach Italien zurückkehrt, an die Orte einstigen Glücks mit der in Sobibor vergasten Bella und sich dort erschiesst, weil er sich als Überlebender schuldig fühlt. („Das Schönste der Welt“). Der Band enthält auch eine Neufassung von „Happy, sagte der Onkel“ („Das Haus in der Wüste“), die im wesentlichen eine Straffung darstellt, eine strengere, knappere Form; diese Bearbeitung zeigt, dass Grete Weil auch gerade an dieser Geschichte über Verdrängung und Arrangierung viel gelegen war.
1970 starb auch Walter Jockisch, und Grete Weil, jetzt 64 Jahre alt, allein, nicht mehr gesund, noch heimgesucht von den Gespenstern der Vergangenheit, schrieb jenen Roman, der 1980 ihren künstlerischen Durchbrach brachte: „Meine Schwester Antigone“.

Gegenwart gewordene Vergangenheit

In Aufzeichnungen einer alten Frau, die minuziös ihren Tagesablauf notiert, ihr Leben allein, ihr Leiden an der Einsamkeit, die sie doch auch braucht, ihr Leiden am Alter, das sie doch mit verbissenem Stolz trägt, und ihr Ringen mit dem unfertigen und nie vollendeten Antigone-Stoff.
Die sophokleische Heldin, die sie beschäftigt und verfolgt, sieht sie als Ebenbild, aber auch als Gegenpart, dessen Handlungen sie in unzähligen Gedankenspielen analysiert und interpretiert, immer in Bezug auf sich selbst. Antigone aber auch als rebellische Verkörperung einer Jugend, „die uns nicht die kleinste Ausflucht erlaubt, diese Welt noch in Ordnung zu finden“9, einer Jugend, für die die Autorin Verständnis und Zuneigung empfindet.
Immer wieder sind da auch die Erinnerungen an ihre toten Ehemänner, auch an ihren verschwundenen Hund, den einzigen verbliebenen Gefährten, vor allem aber an die furchtbare Vergangenheit, die Verfolgung, die Zeit im jüdischen Rat in Amsterdam, die unvermittelt in die Gegenwartsschilderungen eingefügt und damit selbst zur ständigen Gegenwart werden. Noch nie wurden zudem die Probleme des Alterns, die Einsamkeit wie der Kampf um eine würdiges sinnvolles Dasein so eindringlich beschworen.

Verschachtelte Zeitebenen

„Auflösung“ des polnischen Ghettos Piotrkow (Petrikau): „Die Bestie Mensch“

Am Ende werden die Zeitebenen immer stärker verschachtelt, durchdringen sich Erinnerungen der Autorin, die Identifizierung mit Antigone, die Gegenwart, die Kindheit, die hypothetischen Erlebnisse so stark, dass sie fast untrennbar werden. Letztlich wird die Erzählerin nicht damit fertig, dass sie hingenommen hat, nicht wie Antigone aufgestanden ist und um den Preis des Untergangs ein Zeichen der Revolte gegeben hat.
Eingefügt in dieses Buch ist ein furchtbares Dokument: 20 Seiten eines Augenzeugenberichts über die „Auflösung“ des Juden-Ghettos Petrikau (Piotrkow) 1943, den Friedrich Hellmund geschrieben hatte, ein lettischer Autor, 1945 in Polen vermisst. Hier wird nüchtern-sachlich, aber mit brutaler Deutlichkeit vorgeführt, was sich hinter so leicht zu handhabenden Vokalen wie „Ghetto-Auflösung“ und „Endlösung“ verbirgt: die Bestie Mensch in geradezu unvorstellbarer Form. Dieses Dokument macht mit einem Schlag auch dem letzten Zweifler klar, warum die Weil nicht vergessen kann, nicht vergessen will, und warum sie das Erschiessungskommando hinter sich spürt, wenn sie Erde im Garten aushebt, um Blumen zu pflanzen, warum sie Sympathie hat mit der verfolgten „Sympathisantin“.

„Der Erfolg tut weh, der Preis war zu hoch“

Das Buch war, wie gesagt, ein Erfolg. „Der späte Erfolg tut gut. Der späte Erfolg tut weh“, schrieb sie, „der Preis war zu hoch. Ich bin Zeuge, und als Zeuge muss ich aussagen. Und dieser Zwang hat mir Kraft gegeben durchzuhalten. Viele Jahre wollte es niemand hören, aber das ist anders geworden.“10
Die Offenheit einer nachgewachsenen Generation für die längst überfällige Beschäftigung mit der jüngeren deutschen Geschichte trug sicher zum Erfolg auch des nächsten Buches bei, jene „Generationen“ von 1983. Hier wird der Versuch einer Wohngemeinschaft dreier unterschiedlicher Frauen geschildert: Einer älteren, die Autorin mit der schweren Hypothek der Verfolgten und Gedemütigten, einer Jungen und einer Frau mittleren Alters, beide ohne diese Erfahrungen,aber mit eigenen Problemen und auch mit einem gewissen rücksichtslosen Egoismus. Der Versuch dieses Zusammenlebens verschiedener Generationen scheitert, an Missverständnissen, Empfindsamkeiten, Rivalitäten. Die Junge sucht ihren eigenen Weg, eine Arbeit, in der sie sich verwirklichen kann, die mittlere ist eine einzelgängerische Künstlerin, und alle führen in wechselnden Konstellationen einen Kampf um Wärme, Verstehen, Freundschaft, wozu letztlich keiner fähig ist, weil jeder mit seinem Geschick auf einer Insel lebt.
Auch dies wieder ein Tagebuch (in dem übrigens die Entstehung der „Antigone“ verfolgt werden kann), und eigentlich ein sehr ähnliches Buch, doch neu aufgerollt, neu gespiegelt, der Einsamkeit dort ein Versuch von Gemeinschaft hier gegenübergestellt, stets im Schatten der Vergangenheit.

Keine Wehleidigkeit

Grete Weil - Glarean Magazin
Grete Weil in einem Interview vor einigen Jahren

Aber hier, wie immer bei der Weil, fehlt jede Wehleidigkeit, jede Larmoyanz, immer bleibt sie nüchtern, von grosser, harter Aufrichtigkeit, schonungslos auch sich selbst gegenüber. Und nochmals, nach einem Herzinfarkt und einem schweren Schlaganfall schafft sie es, einen Roman, den „Brautpreis“ zu schreiben. Hierin liest man: „Herrlich, dass du wenigstens schreiben kannst. Nein, es ist nicht herrlich, kein bisschen. Es ist eine gewaltige Anstrengung. Die dauernde Furcht, es nicht mehr zu können. „11
In diesem Buch entdeckt die Weil ein neues Thema für sich, steigt sie tief hinab in die jüdische Geschichte; sie, die niemals eine jüdische, nur eine deutsche Identität in sich entdecken konnte, wird hier zu Michal, Tochter des Königs Saul und erste Frau König Davids, auch sie nun eine alte Frau, die ihr langes kummervolles Leben berichtet. Dann aber spricht auch wieder die Autorin selbst: Ein Dialog über die Zeiten hinweg, zwischen einer Jüdin am Anfang und einer am Ende der Geschichte. „3000 Jahre liegen dazwischen. Eine lange Zeit zur Einsicht, doch geändert hat sich nicht viel.“12

Zum ersten Mal in Israel

Um ihr Buch schreiben zu können, ist sie, die immer gern und viel reiste (bis nach Ladakh und Nepal!), endlich auch nach Israel gefahren, zum ersten Mal in ihrem Leben, denn sie hatte bislang wohl immer Angst vor ihren Emotionen, eine Angst, die sich dann als unbegründet erwies. Das Land erschien ihr fremd, vermittelte ihr nicht das Gefühl nach Hause zu kommen; wohl aber empfand sie eine Zärtlichkeit für Land und Bewohner und hoffte, wenn auch zweifelnd, dass es gut gehen möge mit ihnen.
Eine Skepsis, geboren aus leidvoller Erfahrung und aus einer leidvollen Geschichte voll Blut und Gewalt, wie sie auch in dieser Erzählung berichtet wird. Aber Michal, diese Stimme aus ferner Vergangenheit setzte die Hoffnung auf eine künftig bessere, menschlichere Welt und ahnte doch nicht, welches Schicksal ihrem Volk noch bevorstand. Grete, die andere Stimme, hat dieses Schicksal durchlebt und überlebt und muss mit dieser Wunde leben; dennoch ist sie bereit zu vergeben. Ein Buch von grosser Trauer und grosser Menschlichkeit.

Das Schuldgefühl der Davongekommenen

In den „Spätfolgen“ wird dann ein resignierter Ton hörbar: „Über vierzig Jahre lang habe ich mir eingebildet ein Zeuge zu sein, und das hat mich befähigt so zu leben wie ich es getan habe. Ich bin kein Zeuge mehr. Ich habe nichts gewusst. Wenn ich Primo Levi lese, weiss ich, dass ich mir ein KZ nicht wirklich vorstellen konnte. Meine Phantasie war nicht krank genug.“13
Primo Levi hat sich wie andere, die das KZ überlebten: Jean Améry, Bruno Bettelheim, Paul Celan später das Leben genommen, und was schon zuvor gelegentlich bei Grete Weil anklang, wird hier nochmals sehr deutlich: das Schuldgefühl der Davongekommenen gegenüber den Opfern des Nazi-Terrors.
Für den „Brautpreis“ und für ihr Lebenswerk erhielt Grete Weil 1988 den mit 20’000 DM dotierten Geschwister-Scholl-Preis. In ihrer Dankrede erklärte sie, dieser Preis sei der einzige, den sie sich immer gewünscht habe, denn er gelte nicht nur der Literatur, sondern auch der Gesinnung, und da glaube sie ihn im Sinne von Hans und Sophie Scholl mit Recht annehmen zu dürfen.
„Ich, die Spätgeborene“, schreibt sie in dem Roman, „muss mit dem Wissen um Auschwitz mein Leben zu Ende bringen, es wird mich quälen bis zum letzten Atemzug.“14
Aber, auch das sagte sie einmal in einem Interview, hassen könne sie nicht: „Ich bin wohl eine schlechte Hasserin.“ ♦

1 Grete Weil, Generationen, Roman, Berlin: Volk und Welt, 1985
Grete Weil, Meine Schwester Antigone, Roman, Zürich/Köln: Benziger, 1980
3 Grete Weil, Ans Ende der Welt, Erzählung, Berlin: Volk und Welt, 1949
4 zitiert nach G. Weil, Ans Ende der Welt
Grete Weil, Tramhalte Beethovenstraat, Roman, Wiesbaden: Limes, 1963
6 zitiert nach G. Weil, Tramhalte Beethovenstraat
7 Grete Weil, Happy sagte der Onkel, Wiesbaden: Limes, 1968
8 G. Weil, Antigone
9 G. Weil, Antigone
10 G. Weil, Generationen
11 Grete Weil, Der Brautpreis, Roman, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1988
12 G. Weil, Der Brautpreis
13 Grete Weil, Spätfolgen, Erzählungen, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1992
14 G. Weil, Der Brautpreis

(Dieser Beitrag von Peter Ahrendt stammt aus dem Jahre 1994)


Peter AhrendtPeter Ahrendt

Geb 1940 in Penzlin/D, bis 2005 Konzern-Betriebsprüfer, Prosa-, Lyrik- und essayistische Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Mitglied der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser GASL und der Fritz-Reuter-Gesellschaft, lebt in Norderstedt/D

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Kriegsliteratur“ auch über die Erzählung von Michel Bergmann: Alles was war

… sowie zum Thema Nachkriegszeit über den Roman von Volker Kutscher: Olympia

Rolf Stolz: Die Kultur-Utopie Europa (Essay)

Neue Kultur – Volkskultur?

Selbstbestimmung in einem anderen Europa

Rolf Stolz

Vorbemerkung

Schon die im Titel dieses Textes verwendeten Begriffe wird man als vage und mehrdeutig bezeichnen. Sie sind es, und dass sie es sind, ist notwendig, um die Bedeutungen und Spielarten hinlänglich beschreiben zu können, in denen sich Kultur heute ereignet – in diesem Kontinent, der unfreiwillig der internationalste, der am wenigsten regional und provinziell geprägte, der verflochtenste und trotz seiner ökonomischen Potenz und relativen politischen Stärke der kulturell am wenigsten selbstbestimmte der fünf bewohnten Kontinente ist.
„Neue Kultur“ bezeichnet nicht einfach das gerade eben mit kulturellem Anspruch ins Werk Gesetzte. „Volkskultur“ bezieht sich nicht auf die touristisch inspirierten Darbietungen alter Leute in alten Kostümen. „Neue Kultur“ umschliesst all die vielgestaltigen, tastenden Versuche einer neuen Bewegung, ihre eigenen Erfahrungen und ihr momentanes Bild einer anderen Weltordnung zu vergegenständlichen. Diese unverbrauchte, in vielem noch unentwickelte und gestaltlose Kultur findet ihr Gegenstück – halb Spiegelbild, halb Antagonismus – in einer Volkskultur, die aus zerstörten Resten aufscheint oder sich neu entzündet an populären Gefühlen, an Kämpfen und Identifikationen.

Alternativ und avantgardistisch

Eine alternative Kultur kann sich nicht damit abgeben, den Menschen zu sagen, was sie längst wissen und tun. Sie muss avantgardistisch sein, sie muss einen Schritt voraus sein oder auch einige Schritte, und sie darf nicht gemessen werden am sogenannten gesunden Menschenverstand.

Wolf Vostell Elektronischer dé coll age 1968 - Glarean Magazin
Wider die „Ehedramen und Kleine-Leute-Geschichten“: Wolf Vostell mit seiner „Elektronischen dé coll age“ 1968

Eine der erbärmlichsten Sachen ist es, wenn sogenannte Linke sich nicht zu schade sind, das auf den Hund gekommene Volksempfinden zu Hilfe zu rufen gegen all das, was sie nicht verstehen können und nicht verstehen wollen. Natürlich gibt es auch Pseudo-Avantgardismus, gibt es Scharlatanerie und serielles Kunstgewerbe, wo ein Otto Herbert Hajek so impotent ist wie einstmals ein Bernard Buffet. Natürlich ist nicht die Haltung der kritiklosen Bewunderung – platt auf den Bauch, die Augen fest geschlossen – gefordert, also jene servile Museumswächter-Mentalität, die schon aufschreit, wenn jemand unerlaubterweise eine Beuyssche Stahlrohrkonstruktion berührt.
Aber es ist eben einfach daran festzuhalten, dass ein Vostell in seinen Fluxus-Containern mehr transportiert an Gegenwart und an Zukunft als ganze Güterzüge voller Spätimpressionismus und „sozialistischem Realismus“. Die bleiern schweren Grabfiguren, der messergespickte Hund im roten Pfefferstaub – das ist viel näher dran an unseren wirklichen Problemen als all die Ehedramen und Kleine-Leute-Geschichten, als all die engagierte Künstlichkeit der Arbeitnehmer-Reportagen.

Den Künstlern die Freiheit lassen, so zu sein, wie sie sind

Überhaupt sollten wir uns lösen von der Doktrin, dass der Künstler gefälligst als zugleich genialer und brav progressiver Kulturschaffender ein wackerer Gewerkschafter, ein zuverlässiger Parteimann, ein konsequenter Revolutionsasket zu sein habe. Wir müssen uns freimachen von diesen Fiktionen, wir müssen den Künstlern und der Kunst die Freiheit lassen, so zu sein, wie sie sind – eine totale, schrankenlose Freiheit, nicht eine halbe und kastrierte im Sinne einer regierungsoffiziellen sowjetischen Broschüre aus der Breschnew-Ära, in der es heisst: „Schriftsteller, Maler oder Regisseure sind in ihrem Schaffen frei. Es gibt weder verbotene Formen noch verbotene Themen. Das Prinzip der Schaffensfreiheit ist jedoch mit Anschlägen auf die Lebensinteressen der Gesellschaft und der Werktätigen unvereinbar. Die Gesellschaft lässt weder die Propaganda des Krieges zu noch das Schüren von rassistischer oder religiöser Feindschaft, sie verbietet die Verbreitung von Pornographie oder Werken, die von antihumanem, antisozialistischem Geist durchdrungen sind.“ (Presseagentur Nowosti „Jahrbuch UdSSR 1984“, APN-Verlag, Moskau 1984).

Die Kunst zu widersprechen – die Widersprüche der Kunst

Man wird akzeptieren müssen, dass Künstler nicht immer Heroen sind, sondern alles und jedes: Klerikale Spinner die einen, ängstliche Psychopathen die anderen, brutale Saufbolde oder prosaische Buchhalter, geldgierige Bonvivants oder rachsüchtige Menschenfeinde. Man wird akzeptieren müssen, dass Künstler keine Vorbilder sind. Man wird akzeptieren müssen, dass etliche Künstler nicht „“links, wo das Herz ist“, ihren Platz gehabt haben, sondern auf der anderen Seite der Frontlinie.

Faschist und genialer Lyriker: Ezra Pound (1885-1972)
Faschist und genialer Lyriker: Ezra Pound (1885-1972)

Dass Ezra Pound ein Sympathisant der italienischen Faschisten war, hat nicht verhindert, dass er einer der grössten Lyriker dieses Jahrhunderts war und blieb. Gerade in Deutschland ist ein nationaler Konsens nötig darüber, welche der in den Faschismus verstrickten Künstler wir auf den Sperrmüll der Geschichte werfen sollten und welche nicht.

Unwissenheit und Ohnmacht

In einer längst nicht mehr europäisch zentrierten und sich rapide wandelnden Welt wäre es notwendig, dass bei einer Pflichtschulzeit von zwölf oder dreizehn Jahren jeder, der nicht lernbehindert ist, also auch jeder heutige „Hauptschüler“ am Ende zwei Weltsprachen fliessend spricht, geschichtliche, politische und geographische Zusammenhänge kennt, die Grundzüge mathematischen und philosophischen Denkens begreift, die elementaren Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften zumindest in metaphorischer Form nachvollzogen hat, das Handwerkliche der Kunst kennengelernt und in kreativer, selbstbestimmter Arbeit zu eigenständiger Gestaltung gefunden hat, mehrere Sportarten beherrscht, sowie gelernt hat, wie in Fabriken und Labors, in Handwerksbetrieben und in der Landwirtschaft die Hände und der Kopf gebraucht werden.
Natürlich, das ist eine Utopie. Aber eine vom Gang der Geschichte diktierte, der die europäischen Länder nur um den Preis ihres kulturellen und wirtschaftlichen Zurückbleibens ausweichen können. Diese Utopie zu verwirklichen wird nicht nur grosse Geldsummen, sondern auch Schweiss und Tränen und den Verzicht auf liebgewordene Vorurteile kosten.

Für das, was anders ist

Wir müssen die Verschiedenartigkeit, die Eigenartigkeit, die Einzigartigkeit, das besondere Gesicht unserer eigenen Kultur verteidigen – die in aller Vermischung unvertauschbare und unübertragbare Einzelexistenz, das Phänotypische. Es ist eine Entscheidung, die wir zu treffen haben: Wollen wir eine von allen nationalen Exzentrizitäten gereinigte, jeden Bezug auf das eigene Land ängstlich vermeidende Kultur, die in Melbourne und in München, in Vancouver und in Frankfurt die eine, ewig gleiche, unterschiedslose Weltkunst (oder ihre europäisch-abendländische Variante) inszeniert? Wollen wir eine Kultur, die den Charakter ihrer Charakterlosigkeit bezieht aus der fröhlichen Befolgung von globalen Marktgesetzen und international gültigen Sebstverstümmelungs-Mechanismen – oder wollen wir eine aus den nur begrenzt miteinander verbundenen, nur begrenzt vermittelbaren Sonderkulturen all der vielen Völker entstehende Weltkultur, in der das einigende Band sehr lose und sehr äusserlich ist und so verschwindet wie ein Faden, der unter den vielen bunten Blumen fast unsichtbar bleibt und doch das Gebinde zusammenbringt? Ich plädiere für eine bei aller wechselseitigen Beeinflussung und Befruchtung unaufhebbare Schranke zwischen den Kulturen, für eine deutsche und eine spanische und eine französische Kultur statt eines Einheitsbreis nach Europa-Norm.

„Spanier=hochmütig, wunderlich, ehrbar; Deutsche=offenherzig, witzig, unüberwindlich“: Die Europäische Völkertafel, Ölgemälde Steiermark, frühes 18. Jh.

Dies bedeutet natürlich ein Abkoppeln von einer als unaufhaltsam dargestellten „allgemeinen Entwicklung“, von der zwanghaft auf Uniformität und Verflachung abgerichteten Wanderbühnenkunst, deren Heimat das Nirgendwo und deren letzter Grund das Geschäftemachen ist. Dies bedeutet ein Ausklinken aus den aktuellen „Sachzwängen“, mit denen das allseitige Angleichen, Abschleifen und Verflachen erreicht werden soll. Die Zerstörung des Besonderen jeder Kultur im heutigen freien Westen hat ihre unübersehbare Parallele in der Zerstörung der vielgestaltigen natürlichen Ökotope wie in der Zerstörung gewachsener Stadtteilstrukturen. Das triste Einerlei der durch Emissionen, Kultivierung und freizeitgerechte Abnutzung sterbenden Wälder, die todtraurige Langweiligkeit der wuchernden Hochhaus- und Reihenhausgeschwulste – all das wächst auf demselben Boden wie die Vermarktung der Kultur und ihre industrielle Verarbeitung zu geschmacksneutralen Appetithappen. Die Macht, die die Natur und die Menschen zugrunde richtet, ist dieselbe, die die menschlichen Schöpfungen zu vernichten sucht: Eine zentralistische, monopolistische, industrialistische Lebens- und Arbeitsstruktur, die sich in Herrschaftsordnungen und Wirtschaftsformen, in Denkgewohnheiten und Herrscherfiguren verkörpert, welche – je mehr sie miteinander in Verteilungskämpfe geraten – sich um so ähnlicher werden.

Was Europa sein könnte

„Kleineuropa der Bürokraten und ihres parlamentarischen Begleitorchesters“: Die EU-Kommission in Brüssel

Wir wollen eine regionalistische Kultur der Völker in einem Europa, das nicht das Kleineuropa der Euro-Bürokraten und ihres parlamentarischen Begleitorchesters ist, sondern jenes grosse und grossartige Gesamteuropa, das vom Bosporus bis Spitzbergen, von Gibraltar bis zum Ural reicht, zu dem all die kleinen, von den Grossmachtpolitikern ebenso unterschätzten wie unterdrückten Völker gehören, ob heute in einem eigenen Staat lebend wie Albaner und Finnen oder noch in einem fremden Staatsverband eingepfercht wie Basken und Korsen, ein Gesamteuropa, das all die in einen anderen Kontinent hinüberreichenden halbeuropäischen Brücken- und Zwischen-Länder (die Sowjetunion, die Türkei, Zypern, Malta, Grönland) – zu Austausch und enger Kooperation aufruft und den aussereuropäischen Mächten USA und Kanada den kostenlosen Heimtransport ihrer Soldaten und Vernichtungswaffen spendiert.
Ein solches Europa wird sich freimachen von der engstirnigen Fixierung auf ein christkatholisches Abendländertum, es wird die widersprüchliche Vermischung der Ethnien, und Kulturen in der europäischen Geschichte bewusst aufgreifen als Chance für Vielgestaltigkeit und Formenreichtum. Es wird weder romanisch noch germanisch sein, weder slawisch noch „nordisch“, es wird ebenso eine Balance seiner kulturellen Bildungselemente ermöglichen wie ein politisches Gleichgewicht der Mächtegruppierungen. Europa hat eine Chance zu überleben, wenn es sich politisch, wirtschaftlich und militärisch abkoppelt von den USA, wenn es aus der Distanz der Nicht-Paktgebundenheit heraus eine Mittlerrolle einnimmt – zwischen Westen und Osten, zwischen Nordamerika und Asien, zwischen „erster“ und „dritter“ Welt.
Zu dieser Unabhängigkeit gehört aber auch, dass Europa nicht länger sich der amerikanischen kulturellen Hegemonie beugt, die – ohne dass politischer Druck und militärische Erpressung hinzutreten müssten – allein durch den Selbstlauf der technologischen Entwicklung immer weiter anwächst: Als Kommerzialisierung, als Trivialisierung, als Schablonisierung, von den Werbemythen bis hin zu den Schnellrestaurants, von den Seifenopern bis hin zur elektronischen Kinderstube.

Was verteidigen wir, was geben wir auf?

Kulturelle Grenzüberschreitung durch omnipräsentes McDonald's?
Kulturelle Grenzüberschreitung durch omnipräsentes McDonald’s?

Was heisst das konkret, für viele Einzelkulturen der europäischen Völker statt für die Chimäre einer einheitlichen „Europa-Kultur“ einzutreten? Es bedeutet zunächst einmal, nichts, was lebensfähig ist, aufzugeben aus den lokalen, regionalen und nationalen Traditionen, sondern es zu bewahren und zu erneuern: Die bunten Häuser Portugals und die weissen Andalusiens, die Fachwerk-, Schiefer- und Bruchsteinhäuser Deutschlands, das „unmögliche“ zungenbrecherische Walisisch, die griechische und die kyrillische Schrift, Trachten und Tänze und Volksmusik, bayrisches Brauchtum und die Riten der unchristlichen Abendländer (der Mohammedaner auf dem Balkan), die eigene Literatur der baltischen Völker oder der albanischen Minderheit in Italien, die den Zentralisten verhasste und als Separatismus verdächtige Wiederbelebung einer elsässischen oder katalanischen oder sowjetischen Identität…
Aber es geht um mehr als um ein Konservieren und Restaurieren. Notwendig sind Kulturen, die neue Schöpfungen hervorbringen und neue Traditionen begründen, die das moderne Leben der Völker zum Leben bringen in Kunstwerken, die mehr sind als Kopien oder späte Nachklänge der alten Meister. Eine solche Kunst muss notwendig avantgardistisch sein, sie kann nicht spekulieren auf unmittelbare Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit. So wie wir in der Pädagogik die Doktrinen des Laisser faire und der Anpassung ans jeweils niedrigste Niveau, die Anbetung der spontanen Ignoranz und die Orientierung am Flachkopf und am Faulpelz endlich überwinden und der verdienten Lächerlichkeit preisgeben sollten, so ist auch auf kulturellem Gebiet ein fundamentales Umdenken an der Zeit. Es muss in die Köpfe hinein, dass ein Kunstwerk sich immer wieder der Vereinnahmung und Vereindeutigung entzieht, dass Ehrfurcht und Schweigen angebrachter sind als interpretierendes Gefasel, dass das Verstehen eines Kunstwerkes nur aus der Distanz möglich ist, dass dieses Verstehen mit geistigen Anstrengungen, mit Arbeit, mit inneren Kämpfen und Schmerzen, mit Risiken und mit Sich-Bewähren zu tun hat.

Das Feuer auf die Erde!

Göttin Europa, gestützt von Afrika und Amerika (William Blake, 1796)
Göttin Europa, gestützt von Afrika und Amerika (William Blake, 1796)

Dort, wo sich wirklich etwas abspielt, wo Bücher mehr sind als Papierkram, wo Maler mehr vollbringen als gehobene Anstreicherei, wo die Musik die Dämonen und die Götter beschwört, dort ist eine Chance für den schöpferischen Menschen, sich vom Wiederkäuen der Realität zu lösen, sich aus den Zwangsgedanken des Foto-Realismus zu befreien und das Feuer auf die Erde zu bringen, das ebenso gemeingefährlich wie schön ist.
So wie die modernen Abenteurer aus dem Bannkreis der begradigten Flüsse, möblierten Wälder und seilbahnerschlossenen Berge flüchten, das Unkalkulierbare, den Tanz auf dem Seil suchen und den möglichen Tod der sicheren Langeweile vorziehen, so steigen die Künstler aus dem vermarkteten, reglementierten, korrumpierten und keimfreien Kulturbetrieb aus – across the river and into the trees.
Natürlich ist dies eine romantische Attitüde, natürlich ist dies Flucht und Verweigerung, aber es ist überlebensnotwendig, wenn man der geistigen Verödung, Versteppung und Verwüstung, der Plattwalzung und Ruhigstellung entgehen will. Ob stiller Rückzug in ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, ob aggressive Aufkündigung des Mitspiel-Engagements, ob Gegen-Offensive oder autistische Abkehr – in jedem Fall geht es darum, sich nicht als Quisling der kulturellen Nivellierung und Verblödung zur Verfügung zu stellen. Es geht darum, frei zu bleiben, unbestechlich und souverän. ♦


Rolf StolzRolf Stolz

Geb. 1949 in Mühlheim/D, Studium der Psychologie in Tübingen und Köln, zahlreiche fachwissenschaftliche und belletristische Publikationen in Büchern und Zeitschriften, früher SDS-Aktivist, Mitbegründer der Grünen Deutschland, umfangreiche fotokünstlerische Arbeit, lebt in Köln

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Fremd-Kulturen auch den politischen Essay von
Peter Fahr: Zum Rassismus in der Schweiz
… sowie zum Thema Fremdkulturen über
Ameneh Bahrami: Auge um Auge (Islamismus)

Franz Trachsel: Vom Sturmgeläut zur Totenglocke

Klang-Wolken

Franz Trachsel

Klingende anstelle der üblichen stummen, allenfalls donnerrollenden Wolken über unserem Kopf? Was soll’s bedeuten? Dem biblischen Himmel abgelauscht, oder sozusagen jener Wiener Operette aufgesessen, wo der Himmel voller Geigen hängen soll? Oh! Wäre solcherlei in privilegierten Augenblicken aber geeignet, lauter Behagen auszulösen oder in aufgeschriebener Form stille Sonntagnachmittage oder lange Winterabende zu beseelen!

Wolken über der Rengg-Landschaft im Entlebuch (Glarean Magazin)
Wolken über der Rengg-Landschaft im Entlebuch (Glarean Magazin)

Nur, was soll’s bedeuten für den handfest geschäftigen Alltag? Für einen Bauern zum Beispiel, hier im Falle Ludwig Rengglis auf der am voralpinen nördlichen Pilatus–Fuss gelegenen Entlebucher Rengg?
Wolken sind nun einmal da, oder aber es sind keine da. Seine Erfahrung lehrt ihn jedoch, dass Wolken, auf der Rengg erlebt, höchst stimmig sein können. Stimmig, wenn sie ersehnten Regen versprechen, stimmig für ihn vor allem aber dann, wenn er sie zum glücklichen Zeitpunkt als Klangwolken mit Signalwirkung daherkommen hört.
„Wetter zum Heuen“ heisst dieses auf der Rengg eines Frühsommermorgens abgelauschte Signal in der Sprache Meister Rengglis. So denn auch seine Botschaft an die bei Rösti und Milchkaffee zum Frühstück versammelte Familie. Zurück von ersten frühmorgendlichen Verrichtungen in Feld und Stall gibt er sich beruhigt überzeugt davon, und die älteren unter seinen fünf Nachkommen harren auch schon seiner Erklärung: „Man hört Emmen läuten“. Wieder mal ganz nach Wunsch eingestellt hatte sich anfangs Juni über Nacht der willkommene Klang-Wolken-Verfrachter, der Ostwind.
Ostwind zum Juni – Beginn auf der Rengg: Die Gewähr, den Heuet einem Vorschuss-Erntesegen gleich gesichert beginnen zu können! Fürs Auge, von bisweiligen dünnen Schleierwolken abgesehen, der sommerlich sanftblaue Himmel; fürs Ohr, wenn Emmen Dorf zum Gottesdienst ruft, die Klangwolken; und in der Nase den in wenigen Tagen sich in Haus und Hof ausbreitende Duft frischen Heus.
Mag den Bauern drunten im Tal im Hinblick auf den erforderlichen Betriebshauptertrag aus Weizen-, Obst-, Gemüse- oder Kartoffelernte die vorrangige Bedeutung zukommen, hier oben ist‘ s der Lage gemäss der Milchertrag, der zählt, und demzufolge für seine zwanzig Kühe die Weide im Sommer und das Heu im Winter. „Jedes Geschöpf lebt von der Frucht der Erde“, besingt ein bekanntes Kirchenlied. Begreiflich, dass den dank Ostwind hierher verfrachteten Klangwolken ein wenig der Nimbus eines Familienschicksals zukommt.

Katholische Pfarrkirche Emmen - Glarean Magazin
Katholische Pfarrkirche Emmen

Ahnungslos zu sein darüber, was das Geheimnis derer ausmacht, welche die Klangfülle aus dem Kirchturm zu Emmen dem Ostwind mit auf seine Reise geben, war nicht die Art der Familie Renggli. Auffallend am an Klangfarbe und -fülle reichen Geläute nun einmal der stark herauszuhörende, führende Unterton: Ein Akkord wie dazu bestimmt, auf der vom jeweiligen Ostwind beflügelten 20-Kilometer-Schwingungsreise zu 800 Metern Höhenunterschied vom Reusstal zur Rengg empor, die Aufgabe der akkustischen Tragfläche wahrzunehmen. So eine der Besonderheiten eines in der Tradition Emmens verwurzelten und gewachsenen Kirchengeläutes. Erstmals verbrieft findet man Emmen Dorf so gesehen, noch vor der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, nämlich im Jahre 1257. Eine Tradition, welche 1828 frühere Kirchenbauten durch die heutige Dorfkirche ersetzt hat, und die in ihrem Turm seit 1880 ausser drei früheren Glocken neu gleich noch vier weitere, seither also deren sieben beherbergt.
Begreiflich im Hause Renggli, dass nicht gleich alle fünf Nachkommen Anspruch darauf erhoben, die nächste Generation auf der Rengg zu stellen. Willy zum Beispiel wandte sich nach gründlicher Lebens- und Berufsbildung in der Heimatpfarrei Entlebuch dem Sakristanen-Beruf zu. Das Aparteste, was er dort wenige Jahre später erfahren konnte, war, Emmen Dorf bedürfe für seinen altershalber zurücktretenden Sakristan eines Nachfolgers. Darauf hingewiesen zu werden war ihm eine einzige Vergegenwärtigung dessen, auf welchem Weg ihm Emmen seit früher Jugend heraufgedämmert war. Und das im Vertrauen – falls, was er nicht auszuschliessen gedachte, er der Bewerbungsfavorit sein sollte – darauf, etwas Gutes ins Auge gefasst zu haben.
Emmens neuer Sakristan war 1975 niemand anders als Willy Renggli. Er kam sich vor wie von einer reichen Ernteankündigung begünstigt. Einmal im Leben die grosse Ernte einfahren, wer möchte das nicht!  Fast steht die Redensart neben dem gezogenen grossen Los. Demnach müsste, wer von Berufes wegen handgreiflichst grosse Ernten einfährt, der Glücklichste sein auf Erden. Dem widerspricht, dass Bauern selten auf Heu allein gebettet und die Abhängigkeit wie auch die Risiken vielfältig sind. Auf ureigene, signalhaft verlässliche Klangwolken am Himmel müsste ihnen wie den Rengglis auf der Rengg Verlass sein.
Keine Frage, dass ihn sein erster Besuch in Emmen die steilen, engen Holztreppen hinauf in die Glockenstube des Kirchturms führte, denn die As-Glocke zu sieben Tonnen Gewicht und je zwei Metern in Höhe und Durchmesser unter den übrigen sechs Gefährtinnen musste er gesehen haben. Man sagt, er sei fortan ein wenig in sie verliebt gewesen.
Mögen einige Jahrhunderte für eine Glocke auch im Turm zu Emmen kein aussergewöhnliches Alter darstellen, sie bleibt sich, ob neu oder alt, treu und bezieht ihre Tonqualität aus dem sorgfältig aus Kupfer und Zinn legierten Bronzeguss, ihrer Dimension und Wandstärke, sowie aus den kunstgerecht auf eine entsprechend gestimmte Tonlage nachgeschliffenen Rippen.

Glocken von Stella Maria - Glarean Magazin
„Hörst Du die Glocken von Stella Maria?“

Es fehlt so gesehen auch am Glockenhimmel nicht an Sternen. Wie sonst wäre das sopranistisch hehr ausholende „Hörst Du die Glocken von Stella Maria?“ in seiner schier unvergleichlichen Weite und Schönheit, ja fast Erhabenheit zu erklären, oder das von stimmgewaltigen Moskauer Männerchören geradezu eindrücklich wiedergegebene „Einsame Kirchenglöckchen in der Taiga“!
Vereinzelte Glocken vermögen aber auch von sich aus weltweit zu imponieren. So nicht zuletzt im italienischen, ohnehin melancholischen Dorfkirchengeläute, wo eine einzelne daraus jeweils die Totenglocke zu markieren hat. Und fernab moderner Glocken-Joche und -Lagerungen im Kirchturm, elektronischer Zeitschaltungen und Steuerungen, nicht zuletzt auch diverser Antriebstechniken wirkt eine einsame Glocke auf einer afrikanischen Missionsstation geradezu archaisch einfach; ein urtümlich behelfsmässiger Stamm in die Astgabeln je eines an Ort und Stelle gewachsenen und zurecht gestutzten Baumes gelegt, und die Glocke hängt, zwecks eines stattlichen Klangs mit einem Handseil dran, unter freiem Himmel.

Die
Die „Tsar-Kolokol“ Glocke in Moskau

Für sozusagen zum Schweigen abberufen hält der Besucher im Kreml zu Moskau die dortige „Kolokol“, den mehr als 200-Tonnen-Riesen unter den weltgrössten. Und dann die von Seiten der Besucher sich geradezu aufdrängende Frage nach dem Glockenturm, worin dieser Gigant hänge – und welche baulichen Voraussetzungen ihn schadlos schwingen lassen und zum Klingen bringen. Nun, die Ausstellung daselbst macht kein Geheimnis daraus, dass der Glocke beim Giessen vor 275 Jahren ein grossbrand zum Verhängnis geworden ist. Ihm zufolge drang Löschwasser, so sagt man, in die noch nicht erkaltete Form und sprengte ein Stück von 12 Tonnen ab. Aus der Erde gehoben und ausgestellt hat man sie erst 1836, hundert Jahre später, ohne dass sie jemals einen Klöppel zum Schwingen und voluminösen Schlagen gebracht hätte.
In einem preisgekrönten Südtiroler Lied grüssen die Glocken „die Gletscher und das ewige Eis“ – vergleichsweise bescheiden erfüllt der berühmte Big Ben im Londoner Westminster-Uhrturm die ihm zugedachte Aufgabe ohne Anspruch darauf, dabei von aussen beobachtet werden zu können. Der mächtige Stundenschlag sichert dem 13-Tönner die Publikumsgunst auf immer auch hinter seinen Turmlucken-Lamellen.
Glockengeläute: Ihm verdankt eine Gemeinschaft, am klanglich hochkoloriert rationalen, emotionalen oder religiösen Pulsschlag einer Gesellschaft, ja einer Nation (hierzulande vornehmlich aus Anlass der Bundesfeier), aber auch gemeinsamer christlicher Fest- und Feiertage zu stehen. Kanada zum Beispiel liess die Welt ihre 400-Jahre-Stadt und landesweit grösste Provinz Quebec durch seinen vom Atlantik bis zum Pazifik vereinten Glockenklang vernehmen, am 1. Juli 2008. Und das Charakterbild einer unverkennbar Jahrhunderte alten Glocke markierte im Frühjahr 2008 das Titelbild einer bekannten Jesuiten-Zeitschrift; geweiht ist sie, ihrer Inschrift gemäss, „in nomine Jesu“ dem heiligen Petrus („San Pedro“). Sie steht für die im 17./18. Jahrhundert während 150 Jahren im Paraguayanischen Urwald geführte und inzwischen wieder fortgesetzte Indianer-Guarani-Mission. Unübersehbar daran, dass sie die 250 Jahre Zwischenzeit etwas mitgenommen haben, aber auch, dass sie all die lange Zeit dazu überstanden hat, die Missions-Pionierarbeit heute erst recht wieder zu beflügeln. Ihr im Busch verbrachtes Vierteljahrtausend kommt der zweiten Dimension ihrer Botschaft gleich…

Die berühmte Bourdon Bell in der River-Side-Church Manhattan
Die berühmte Bourdon Bell in der River-Side-Church Manhattan

Eines mehr nordamerikanischen Bekanntheitsgrades erfreut sich das Geläute im Turm der River-Side-Church im nördlichen Manhattan der Riesenmetropole New York. Das Besondere daran: ihr Glockenspiel. Und wenn immer aus Anlass einer grossen Feier auf dem St. Petersplatz in Rom dank weltweiter Fernsehübertragung eindrückliche Bilder über den Bildschirm gehen, dann zum jeweiligen Ausklang aus der linksseitigen Domnischen-Höhe stets auch das imposante Erscheinungsbild und der vollrunde Klang der wuchtigen As-Glocke.
Sterne am Glockenhimmel: Eine Vielzahl von Zeitgenossen könnte sich vielleicht vorstellen, ihre Lieblingsglocke, wo auch immer rund um die Welt, unterm zeitgemässeren Star (=Liebling) angeführt zu erhalten. Eine reiche Vielfalt dessen, was der Inbegriff einer „Lieblingsglocke“ sein kann, wäre vermutlich die Folge. Vor allem aber sähen sich wahrscheinlich, und das vielleicht nicht zu Unrecht, in nur halb so berühmten Türmen und Geläuten thronende Glocken oder Glockenspiele, lokale nicht ausgenommen, zum Star erhoben.
Wenn hierzulande ein Wahrzeichen architektonisch und klanglich Luzerns stolze Tradition mitverkörpert, dann die Hofkirche. Noch bis vor 100 Jahren hat sich ihr klangvolles, von den beiden Türmen in die Strassen und Gassen hinunter zum Gottesdienst rufendes Geläute seit jeher mit dem Knarren der verkehrenden Pferdefuhrwerke und dem Knattern der Kutschen vermengt. Ob’s beim Ablauf ihrer je eigenen Schallwellen länger (will sagen: erklecklicher) ablief als angesichts des heutigen unaufhörlichen Motorengedröhns sei, den Tonmeistern anheim gestellt. Es braucht sich solcherlei aber gar nicht immer nur an historisch-kulturell berühmter Stelle abzuspielen: Wer am späten Samstagnachmittag die Emmen Center-Restaurants verspätet verlässt, hört sich sozusagen im Sinne einer nächsten Einladung draussen vom die Seetal-Strasse säumenden Kirchturm St.Maria herab auch schon zum Sonntag willkommen geheissen.
Sage zudem noch jemand, die Zeit der „Glocken der Heimat“ am Samstagabend über Radio DRS sei nach all ihren Jahrzehnten im Programm abgelaufen! Nach wie vor gehen sie, gewiss nicht ohne Zuhörerschaft, regelmässig über den Aether.
Glöckelein von Munots Gnaden und sein Klingen, das, was Schaffhausen und darüber hinaus seine Freunde landesweit aus dem Herzen singt: Zart in seinem klanglichen Auftritt und liebevoll im nicht weniger bekannten Lied besungen, dürfte es jedoch, weil im „Hohen Turm“, dem Höchsten seines für seine Stadt historisch wehrhaften Munots zu Hause, gleichzeitig aber auch als Respektssignal verstanden werden.

Pfarrkirche Malters (Kanton Luzern)
Pfarrkirche Malters (Kanton Luzern)

Unter anderen Sternen am Glockenhimmel wie das Berner Münster, die Kathedrale Fribourg, wo eine 650-Jährige treue Dienste erfüllt, kann die Glockenstube zu Malters für sich beanspruchen, ihre wohlklingenden Schützlinge im höchsten katholischen Turm unseres Landes zu 98 Metern zu beherbergen.
Wie metallisch zart filigraniert kommt, wenns ebenso zart säuselnden Winden gefällt, ein Geläute über einen dazwischen stehenden Wald in Emmenbrücke daher! Gerliswils Glockenklang (Gemeinde Emmen) liess sich, 1924 eingeweiht und in Betrieb genommen, in der GerliswilStrasse drunten noch sehr wohl mit dem Knarren von Pferdefuhrwerken vermengt vernehmen, wenn er zum Gebet oder Gottesdienst rief. Auch waren die von der Glockenstube bis ins Turmparterre herunterhängenden Handseile, wie damals notwendigerweise noch nicht anders üblich, dazu da, von treuen, kräftigen Helfern, auf dass es kunstgerecht klinge, gezogen zu werden. Ein für manchen heutigen Senior unvergessliches Erlebnis!

Etwas vom Garstigsten allerdings, welches der allmählich 100jährigen Pfarrkirche Gerliswil (1915-2015) widerfahren konnte, war die Ausgeburt des längsten Tages 2007 in Gestalt eines Gewittersturms fast ohnegleichen. Ein in der Fachsprache unter klassischer Kaltfront angekündigter Wetterumsturz hatte es in sich, Schrecken zu verbreiten und den 21. Juni 2007 zu einem Schatten seiner selbst zu machen. Es bot sich das Bild eines wieder zur Nacht gewordenen Morgens. Eine bedrohlich düstere, von Sturmwinden, Regengüssen, Hagel, Blitz und Donner gezeichnete Wolkenwand wälzte sich unter Getöse einher, als hätte sie’s ausgerechnet auf die nördlichen Vororte Luzerns abgesehen. Da sass man ohne jede Ahnung davon, was ihre flächenmässige Ausdehnung und das Schicksal der Nachbarschaft betreffen mochte, mitten drin in einem hoch darüber zum geradezu kochenden Kumulus-Gebräu gezeugten nasstriefenden Hexenkessel!

Gewitter über der Seebucht in Luzern (Glarean Magazin)
Gewitter über der Seebucht in Luzern (Glarean Magazin)

Unheimlich daran vor allem die mit weisslichen Hagelböen vermengten, sturzbachähnlichen Regenwände herniederfegen zu sehen, bis nackttrockener Hagel den Hexenkessel endgültig zur Hölle machen könnte. Dazu unter berstenden Donnerkrachern das pausenlose Jagen der Blitze! Und dies alles in so grosser Bodennähe, dass einem, möglicher Einschläge wegen – den ins diabolische Wolkengebräu hineinragenden Kirchturm Gerliswils nicht ausgenommen – fast bange wurde. Dann aber urplötzlich das Unerwartete: Die sechs Glocken der Gerliswiler Pfarrkirche setzten zum Sturmläuten an! In ähnlichen Fällen seit jeher, in jüngerer Zeit jedoch kaum mehr praktiziert, hatte es dabei diese Klage zum Himmel in sich: Das beklemmende Erlebnis einer in dieser Tempierung und Zusammensetzung vielleicht noch nie dagewesenen Klangwolke war vollständig. Blitz, Donnerbersten und -Krachen, Sturmwind, sturzbachähnliches Regenprasseln und Hagelgehacke vermengt nun mit diesem klagenden Geläute!

Nun, in einen verheerenden Hagelschlag gekippt, so wie anderswo, ist das wilde Fegen entfesselter Gewittersturmkräfte nun doch nicht. Aber der Mann an der Gerliswiler Glockensteuerung war wenig später der darauf Angesprochene: „Wie fühlt man sich, wieder einmal zum Sturmläuten herausgefordert gewesen zu sein?“ – „Das war es gar nicht; der Zeitpunkt deckte sich nur genau mit einem Begräbnis, wozu bekanntlich die Totenglocken in Aktion zu treten haben“, lautete der knappe Bescheid. Also ein von solch infernalischen Paukenschlägen angeführter Riesenspektakel zum Abschied eines Mitmenschen, als habe dieser auf sein menschlich Endzeitliches aufmerksam zu machen! Und zwar auf den in seinem 75. Altersjahr zu Grabe getragenen Fritz Arnold, der offenbar abseits eines grossen Bekanntenkreises kaum von sich reden gemacht und zu den Stillen im Lande gezählt haben musste. Gelebte Bescheidenheit offenbar, die sich kaum je die Freiheit genommen hatte, zu irgend einer atypischen Jahreszeit ein wenig Fasnacht zu spielen, stattdessen die Jahreszeiten mit ihren Besonderheiten annahm und sie lebte…

Gewitterszene aus Les grandes inventions anciennes et modernes dans les sciences, l'industrie et les arts (1870)
Gewitterszene aus Les grandes inventions anciennes et modernes dans les sciences, l’industrie et les arts (1870)

Fragen, wie sie sich beim Zusammenprall seines Begräbnisses mit solch einem Witterungseklat stellen, und wie sie sich auch dem Amerikaner Bob Dylan in seinem einfühlsamen Lied „Blowing in the wind“ stellen: „How many times must the man look up before he can see the sky?“ – „Wie viele Male muss der Mensch empor schauen, bis er den Himmel zu sehen vermag?“ – „The answer my friend“, findet der Sänger, „is blowing in the wind“. – „Die Antwort, mein Freund, die treibt im Winde“. – Im Wind, der im biblischen Pfingstbericht niemand anderes ist als Gottes Heiliger Geist, dahergefahren im himmlisch gewaltigen Sturmgebraus.
„How many roads must a man walk down…?“ – „Wie viele Wege muss ein Mensch gegangen sein, bevor Du ihn einen Menschen nennen kannst?“ – „The answer my friend is…“ – „Die Antwort auf die Frage nach seiner und jedermanns Würde, mein Freund, treibt im Winde dahin“.
Im Wind, der, Stunden nach dem Begräbnis Fritz Arnolds und nachdem die in Moll aufspielende Orgel verstummt und der Segen über den Verstorbenen und die Gemeinde erteilt waren, wieder im Abflauen begriffen war, auch die dämonische Wolkenwand sich auflöste und die Donnerschläge wie leergeschossen, metallisch hohl in der östlichen Ferne ausklangen – „The answer, my friend, is blowing in the wind“…  ♦


Franz TrachselFranz Trachsel
Geb. 1933, langjähriger Lokal- und Kulturjournalist bei verschiedenen Printmedien, Kurzprosa in Zeitungen und Zeitschriften, lebt in Emmenbrücke/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin von Franz Trachsel auch die Humoreske Wienerli in kultureller Schräglage

Heute vor … Jahren: Die Schöpfung (Joseph Haydn)

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“

Über Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“

von Walter Eigenmann

Am Abend des 30. April 1798 wohnt ein illustrer, allerdings nur privat geladender Kreis von Adeligen und Musik-Freunden, von „Gönnern und Kennern“, quasi das gehobene Tout-Wien im fürstlichen Palais des Joseph Schwarzenberg der ersten Aufführung eines Werkes bei, das zum Inbegriff der Nach-Händelschen Oratorien-Komposition schlechthin und zum noch heute populärsten Stück seines Komponisten avancieren wird: „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn.

Joseph Haydn (1732-1809)
Joseph Haydn (1732-1809)

Hell begeistert reportiert der damalige Wiener Korrespondent des „Neuen teutschen Merkur“ seine Eindrücke von diesem Konzert, bei dem Haydn dirigiert und Salieri am Flügel sitzt, nach Weimar: „Schon sind drei Tage seit dem glücklichen Abende verflossen, und noch klingt es in meinen Ohren, in meinem Herzen, noch engt der Empfindungen Menge selbst bey der Erinnerung die Brust mir. […] Die Musik hat eine Kraft der Darstellung, welche alle Vorstellung übertrifft; man wird hingerissen, sieht der Elemente Sturm, sieht es Licht werden, die gefallenen Geister tief in den Abgrund sinken, zittert beym Rollen des Donners, stimmt mit in den Feyergesang der himmlischen Bewohner. Die Sonne steigt, der Vögel frohes Lob begrüsst die steigende; der Pflanzen Grün entkeimt dem Boden, es rieselt silbern der kühle Bach, und vom Meersgrund auf schäumender Woge wälzt sich Leviathan empor.“

Schneller Siegeszug durch die ganze Welt

Zweisprachige Erstausgabe der "Schöpfung" von Joseph Haydn 1800
Zweisprachige Erstausgabe der „Schöpfung“ von Joseph Haydn 1800

Der „Empfindungen Menge“ des emphatischen Schreibers bei dem neuesten Opus des inzwischen als Symphoniker und Kammermusik-Genie berühmten, vor kurzem von zwei England-Reisen endgültig nach Wien zurückgekehrten Komponisten wird von all jenen geteilt, die am 7. und 10. Mai 1798 die (erneut privaten) Wiederholungen des Konzertes hören. Knapp ein Jahr später, am 19. März 1799, löst die erste öffentliche Aufführung im Hof-Theater (mit einem Riesenapparat von über 180 Musikern, ganz nach Händels monumentalem Vorbild in der Westminster Abbey) genau dieselbe ungeheure Faszination aus – „Die Schöpfung“ geht endgültig auf ihren Siegeszug durch alle Kirchen und Konzertsäle der Welt.
Wesentlichen Anteil nicht am Erfolg, aber am Entstehen des Oratoriums hat der niederländisch gebürtige Musik-Mäzen, einflussreiche Österreich-Diplomat, wohlhabende Konzert-Veranstalter, erfolglose Komponist und schliessliche Präfekt der Kaiserlichen Hof-Bibliothek, Baron Gottfried van Swieten. Dieser umtriebige Aristokrat, dem alle drei Wiener Klassiker regelmässig finanzielle Zuwendungen, Subskriptionen, Kompositions-Aufträge und Auftritts-Möglichkeiten verdanken, gründet Ende der 1780er Jahre mit einer Reihe von Adligen – darunter die Grafen bzw. Fürsten Esterhazy, Liechtenstein, Lobkowitz, Kinsky, Auersperg, Lichnowsky, Trauttmannsdorff, Sinzendorf und Schwarzenberg – seine musikalische (auch Freimaurer-)“Gesellschaft der Associierten“, welche jährlich mehrere ihrer sog. „Akademien“ veranstaltet und dabei Werk um Werk (von Bach bis Beethoven) aus der Taufe hebt. Für Haydn übersetzt Van Swieten – Librettist und musikalischer Idee-Lieferant zugleich – den ursprünglich englischen Oratorien-Libretto-Text eines (im übrigen nicht näher bekannten) Lidley – dessen Quellen seinerseits das Buch Genesis, die Psalmen sowie John Miltons Epos „Paradise Lost“ bilden – ins Deutsche. Das Libretto folgt in seinen beiden ersten Teilen dem biblischen Schöpfungsbericht über die Erschaffung von Himmel und Erde, Wasser und Land, Pflanzen und Gestirnen sowie der Erschaffung von Tier und Mensch, wobei die drei Erzengel die traditionelle Erzähler-Rolle des „Historicus“ innehaben. Miltons Dichtung grundiert bei Haydn dann den dritten, „paradiesisch-idyllischen“ Teil als Zitaten-Sammlung.


Exkurs: Das Oratorium

Joseph Haydns „Die Schöpfung“ (im Verbund mit seinem zweiten Oratorium „Die Jahreszeiten“ / 1801) leitet eine Wende ein in der europäischen Oratorien-Geschichte bis zur frühen Wiener Klassik. Haydns weltweiter Erfolg begünstigte die Pflege des Oratoriums nun auch ausserhalb des sakralen Raums, und der „Schöpfung“ aufgeklärter Optimismus, ihr insgesamt unpathetischer, zwar tief-, aber nie trübsinniger Duktus und ihre theologisch mehr den Freuden denn den Leiden des Irdischen zugewandte, das „Positive“ der Genesis betonende Grundhaltung – beispielsweise negieren Haydn und der Freimaurer Van Swieten den „Sündenfall“ völlig! – spannt eine Entwicklungslinie über Mendelssohns „Elias“ (1846) und Schumanns märchenhaftem Erlösungs-Mythos in „Paradies und Peri“ (1843) bis zu Liszts „Legende von der heiligen Elisabeth“ (1862) und deren ideeller Stoffnähe zu Wagners „Tannhäuser“.
Auch in Frankreich bleibt das Oratorium (Drame sacré, Mystère) im 19. Jahrhundert populär: Berlioz mit „L’Enfant du Christ“ (1854), aber auch Saint-Saens oder Franck schaffen nach wie vor weltweit aufgeführte interessante Stücke dieser Gattung mit einem grossen Orchesterapparat und weiterentwickelter, „romantischer“ Satz-Technik (beispielsweise Leitmotivik).

Lukas Cranach d.Ä - "Adam und Eva"
Lukas Cranach d.Ä – „Adam und Eva“

Ein Blick zurück in die Vor-„Schöpfungs“-Zeit sieht als frühestes Zeugnis oratorischen Komponierens die italienische „geistliche Oper“ eines Cavalieri („Rappresentazione di anima e di corpo“ / Rom 1600) mit Rezitativen, Chören und Tänzen die Gattung begründen. Zentrale Figur dieser „nicht-szenischen Oper“ mit geistlicher Thematik ist der „Testo“, welcher in Rezitativen (Tenor mit Generalbass) den Text bzw. die Handlung für die verschiedenen Musik-Nummern vorträgt, und dessen Stoffe direkt aus den beiden Testamenten oder aus den Heiligen-Legenden stammen. Die neugedichteten Partien fallen dann den Solisten oder dem Chor zu. Exemplarisch für diese Strukturierung sind im 17. Jahrhundert Carissimi („Oratorio latino“) und dessen Nachfolger Stradella und Charpentier (in Frankreich). A. Scarlattis „Neapolitanische Schule führt dann – wieder nach Opern-Vorbild – das Secco- und Accompagnato-Rezitativ sowie die Da-Capo-Arie ins Oratorium ein; Höhepunkt dieser Entwicklung ist Georg Friedrich Händel mit seinen Oratorien „Esther“, „Messias“, „Judas Maccabäus“ u.a. Johann S. Bachs Weihnachts-Oratorium schliesslich geht aus der Schütz-Tradition und dessen oratorienartigen „Historien“ hervor.

Tintoretto - Die Erschaffung der Tiere - Essay über Josef Haydn - Glarean Magazin
Tintoretto – Die Erschaffung der Tiere

Das 20. Jahrhundert sieht weder in stilistischer noch in formaler oder besetzungstechnischer Hinsicht eine Neu-Orientierung der Oratorien-Komposition. (Die Bezeichnung „Oratorium“ ist übrigens abgeleitet vom frühen „Oratorio“, dem Bet-Saal, wo Bibel-Lesungen und sonstige andächtige Betrachtungen – mit geistlichen Liedern, sog. „Lauden“ – veranstaltet wurden.) Als grossartige, teils gar szenisch aufführbare oratorische Werke wären für diesen Zeitraum mindestens Honeggers „Le roi David“, Strawinskys „Oedipus rex“ oder Schönbergs „Die Jakobsleiter“ anzumerken. (Walter Eigenmann)


Musikgeschichtlich beispiellose Höchstleistung

Während rein Rahmen-formal die schon bei Händel zu standardisierter Ausprägung geführte, bei Händel auch szenisch-dramaturgisch durchkomponierte gattungsspezifische Abfolge von Soli-, Chor- und Orchester-Passagen beibehalten wird, geraten Haydn die stilistischen, harmonischen, melodischen und satz- wie orchestertechnischen Aspekte dieses seines berühmtesten Alters-Werkes zur musikgeschichtlich bisher beispiellosen Höchstleistung. Haydns naiv-volkstümliche Frömmigkeit (in notabene vernunftbetonter „Aufklärungs“-Zeit) kontrastiert hier mit einer kompositorischen Raffinesse und einer Ausdrucksweite wie -tiefe, die weit über die „geordnete Klarheit“ der Klassik hinaus in die tonmalerische „Programm-Musik“ der Spätromantik weisen.
Auf die zahllosen berühmtgewordenen Passagen dieser Partitur – vom „Chaos“-Urnebel der Ouvertüre bis zum grandios überhöhenden „Amen“-Schlusschor, vom C-Dur-„Licht“ bis zum „Löwengebrüll“ des tiefen Kontrafagotts, von den „Pastoral-„Oboen über das „Donnergrollen“ im Blech bis hin zum Mücken-Schwirren in Streicher-Tremoli – sei hier nicht eingegangen, sondern die kompositorische Innovation nur anhand des Aspektes „Dynamik“ gestreift, denn letztere erfährt in Haydns „Schöpfung“ eine bedeutsame Entwicklung. Zwar hatte sich nämlich schon im Frühbarock (z.B. bei Locke) die dynamische Differenzierung des Einzeltones angebahnt, und in der Folge kennt Händel den Schwellmechanismus der Orgel, Rameau verwendet bereits graphische Zeichen fürs An- bzw. Abschwellen, und Stamitz‘ „Mannheimer Schule“ wurde u.a. bekannt durch ihr Orchester-Crescendo. Haydns „Schöpfungs“-Dynamik nun, jetzt bis in alle Einzelheiten ausgefeilt, führt einen Effekt in die Kirchenmusik ein, den ihm viele später nachmachen: Die überwältigende Wirkung des „Subito-piano“ nach dem Forte bzw. Crescendieren. Beispielsweise im Chor (mit Terzett) „Der Herr ist gross“ mit der zweimaligen dynamischen „Rückung“ bei der Stelle „…und ewig bleibt sein Ruhm“.

Notenbeispiel Josef Haydn: Fugativer Chor-Satz (Engl. Fassung) von "Die Himmel rühmen..." Glarean Magazin
Notenbeispiel Josef Haydn: Fugativer Chor-Satz (Engl. Fassung) von „Die Himmel rühmen…“

Differenzierte Orchestertechnik und emotionales Melos

Baron und Mäzen Gottfried van Swieten (1733-1803)
Baron und Mäzen Gottfried van Swieten (1733-1803)

Neben der höchst differenzierten Orchestertechnik, aber auch dem Haydn-typisch „eingänglichen“, in der Stimmführung gleichwohl sehr emotionalen, fast „malenden“ Arien-Melos der „Schöpfung“ ist natürlich die spezielle Behandlung des mehrfach eingesetzten (Massen-)Chores in diesem Oratorium ein weiterer Grund für seine so erfolgreiche Rezeptions-Geschichte. Wiederum sei diesbezüglich nur ein Bereich sondiert, nämlich die Kontrapunktik – und abschliessend der „frühromantische“ Mendelssohn-Lehrer, Goethe-Vertoner, Orchester-Dirigent, „Liedertafel-„Gründer und Haydn-Zeitgenosse Carl F. Zelter (1756-1832) zitiert:

„Die Arbeit an diesen Chören ist fast überall fugenartig. Die Themata sind fasslich, und die Kontrasubjekte und Reperkussionen treten frei und natürlich einher. Nirgends Dunkelheit oder Verwirrung, und selbst die Augmentationen sind klar und stark, obgleich nirgends streng. Der Ausdruck der Worte ist wahrer und kühner als in den Arien und Rezitativen, und die Instrumentalmusik über alle Beschreibung vortrefflich durch das Ganze gewirkt […] Wenn aber junge, arbeitslustige Harmonisten an allen fugierten Chören dieses Oratoriums eine gewisse Leichtigkeit, Schlüpfrigkeit oder übermütige Freiheit nicht verkennen mögen; wenn sie bemerken müssen, dass in diesem grossen Werke keine einzige strikte Fuge vorhanden ist: so mögen sie sich des ungeachtet gesagt sein lassen, dass, so leicht und so voll und fliessend zu arbeiten nur dem möglich ist, der eine strikte Fuge mit allen ihren Attributen aufzustellen weiss. Solche Beispiele grosser Meister sind für junge Künstler so verführerisch, dass sie die Kunst, fugenartig arbeiten zu lernen, wozu, bei dem entschiedensten Talente, ein anhal­tender, jahrelanger Fleiss erfordert wird, gar zu gerne für eine leidige Schulfuchserei halten mögen. Es bedarf keines ausserordentlichen Grades von Talent und Kunst, ein Stück hervorzubringen, in welchem man in eine Partitur von vielen Notensystemen ein Ding hineinpasst, das Ungeübte um so eher für eine Fuge halten, je weniger es ihnen natürlich und gefällig scheint. Allein die Kunst, mit einem musikalischen Gedanken umzugehen, solchen auf eine interessante Art zu evolvieren und jede Stimme sprechen zu lassen, dass sie ein bedeutender Teil des Ganzen bleibe und das Ganze etwas Schönes sei, dazu gehört eine Übung im Fugensatze, die viel zu lange ist vernachlässigt worden; und zu Haydns unvergesslichen Verdiensten gehört demnach auch dieses, dass seine trefflichen Kompositionen, ihr Feuer, ihre Wahrheit und Würze, grossenteils dem schönen Gebrauche der Kontrapunkte und seiner Art zu fugieren zu danken haben; und Er, der mit seinem Genie und seiner ewig frischen Gedankenfülle alle seine Zeitgenossen hinter sich lässt, schämt sich nicht, seine Werke mit kontrapunktischen Schönheiten auszuschmücken, wodurch sie allen Veränderungen und Schicksalen der Zeit und Mode zum Trotz unsterblich bleiben werden, so lange die Musik eine Kunst heisst.“

Öffentliche Uraufführung der "Schöpfung" im Festsaal der Universität Wien (1808)
Öffentliche Uraufführung der „Schöpfung“ im Festsaal der Universität Wien (1808)
Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über
Daniel-Francois Auber: Die Stumme von Portici
… sowie zum Thema Kunst & Religion von
Heiner Brückner: Vom Himmlischen (Essay)

Heute vor … Jahren: Die Zofen (Jean Genet)

Ungeheure Träume träumender Ungeheuer

Über „Die Zofen“ von Jean Genet

von Walter Eigenmann.

Am 17. April 1947 hat das Pariser Théatre de l’Athéne auf seinem Spielplan die Uraufführung eines Stückes, dessen Autor im Säuglingsalter von seiner Mutter, einer Prostituierten, der Fürsorge übergeben wird, und der schon in seiner Jugendzeit als Strichjunge, vagabundierender Dieb, Schwulen-Zuhälter und schliesslich als mehrjähriger Sträfling jenes Verworfenen-Leben lebt, das später zur zentralen Staffage, ja zur zelebrierten Unter- und Gegen-Welt des totalen Werte-Negierens in fast allen seinen Romanen und Stücken erhoben wird. Die Rede ist von dem französischen Schriftsteller, Dramatiker und Poeten Jean Genet (1910-1986) – und von seinem absurd-grotesken Prosa-Einakter „Die Zofen“ (Les Bonnes).

Jean Genet (1910-1986) - Glarean Magazin
Jean Genet (1910-1986)

Die Zofen, das sind die Schwestern Claire und Solange, welche dienend gleichsam zum lebenden Mobiliar in der reichen Salon-Welt einer „gnädigen Frau“ erniedrigt sind, die aber, ist die Herrschaft aus dem Haus, zu eigenem Spiel und Traum umsiedeln, um dort ihren Herrschafts-Trieben, ihren Vergeltungs-Sehnsüchten, ihrer gegenseitigen Hass-Liebe und ihrem Vernichtungsrausch zu frönen.

Der Mord als Katharsis

Plakat der "Zofen"-Verfilmung mit Glenda jackson und Susanna York
Plakat der „Zofen“-Verfilmung mit Glenda Jackson und Susanna York

Ihr Mord-Plan, die Herrin zu vergiften, nachdem sie deren Geliebten bereits anonym denunziert und (wie sie meinen) für immer ins Gefängnis gebracht haben, ist der erste Schritt zur eigenen Erlösung, die das soziale Gefüge neutralisieren und die beiden Zofen selber im phantastmagorischen Rollen-Spiel als Dienerin und als Herrin installieren soll. Claire (als neue Herrin) und Solange verstricken sich qualvoll leidend und lüstern geniessend zugleich in ihre grausam-lustvolle Traum-Flucht hin zur selbstgewählten Knechtschaft, die sie befreien soll. Der Zofen genüsslich-morbide Spiel-Lust an der Unterwerfung wie der Unterdrückung macht sie zu „Ungeheuern – wie wir selber, wenn wir dieses oder jenes träumen“ (Genet). Als die psychologisch konsequent vorangetriebene Apotheose dieser Liebe-Hass- und Herrschaft-Unterwerfung-Ambivalenz naht, kippt die erst gespielt-virtuelle Identitäts-Flucht der beiden Zofen in die tragische Realität: Herrin ist nun Claire, und diese trinkt das für die „Gnädige“ bestimmt Gift, „während Solange unbeweglich mit dem Gesicht zum Publikum steht, die Hände überkreuzt, als ob sie Handschellen trüge“.
Der „Komödiant und Märtyrer Saint Genet“, wie Sartre in seinem gleichnamigen umfangreichen Essay diesen sowohl biographisch wie literarisch solitären Skandal-Autoren nennt, interpretiert selber „Die Zofen“ weder als Sozialkritiker noch als Psychologe oder gar Moralist, sondern als Poet: „Ich versuchte, eine Distanzierung zu erreichen, die gleichzeitig einen deklamatorischen Ton zulassen und es ermöglichen sollte, das Theatralische ins Theater zu bringen. Ich hoffte, dadurch die Charaktere abzuschaffen… und sie durch Symbole ersetzen zu können, die so weit wie möglich von dem entfernt sein sollten, was sie eigentlich verkörperten, und doch wieder eng damit verknüpft, um als einziges Bindemittel zwischen Autor und Publikum dienen zu können. Kurz, ich wollte erreichen, dass die Figuren auf der Bühne nur noch Metaphern dessen waren, was sie darstellen sollten.“ Die selbstimaginierte Hass- und Ekel-Eskalation der Zofen wird so zur Zelebrierung eines Rituals, welches das Verbrechen als reinigende Kult-Handlung zentriert: Der Mord als Katharsis.

Krankhaft überhöhte Leidensfähigkeit der Protagonisten

Die zwei Schwestern
Die Inspiration für seinen „Zofen“-Handlungsrahmen holte sich Genet bei einem wahren Mordfall im französischen Städtchen Mans, wo die beiden Geschwister Christine (28) und Léa Papin (21) schon lange in einem bürgerlichen, äussert streng geführten Haushalt in der Provinzstadt Mans als Dienst-Mädchen angestellt waren. Wie sich die Tragödie abspielte, schildert Edmund White in seinem Buch „Jean Genet“ (München 1993): „Eines Tages versagte die Elektrizität im Haus. Da die Familie nicht da war, trugen die Dienstmädchen die Verantwortung. Als Mutter und Tochter nach Hause kamen, beschimpften sie die Schwestern, die in einem Wutanfall Mutter und Tochter die Augen auskratzten und sie töteten. Dann verstümmelten sie die Leichen und badeten die eine im Blut der anderen. Nach getaner Arbeit wuschen sie ihre Werkzeuge, nahmen ein Bad und legten sich im Bett zur Ruhe mit den Worten: ‚Da haben wir uns aber was geleistet!‘ Die Schwestern waren immer unzertrennlich gewesen, selbst in ihren Ferien. Bei ihrem Prozess waren sie ausserstande, ein Motiv für ihr Verbrechen zu nennen. Ihr einziges Interesse war, die Schande gemeinsam zu tragen. Nach fünf Monaten im Gefängnis, während derer sie von ihrer jüngeren Schwester getrennt war, brach Christine zusammen und versuchte, diesmal sich selbst die Augen auszukratzen. Als sie in eine Zwangsjacke gesteckt wurde, machte sie obszöne Verrenkungen, dann fiel sie in Schwermut. Nachdem die beiden Mädchen zur Guillotine geführt wurden, sank Christine auf die Knie.“
Walter Eigenmann

Auf die (im biographischen Kontext durchaus naheliegende) Frage, warum er nie einen Mord verübt habe, entgegnete einmal der homosexuelle Kriminelle und ewige Flüchtling Genet entwaffnend: „Wahrscheinlich, weil ich meine Bücher geschrieben habe“. Und die Kompromisslosigkeit, mit welcher dieser Autor – dessen Leben sich vor einem bürgerlichen Blick wie ein einziger tragischer Witz ausbreitet – die überhöhende wie krankhaft überhöhte Leidensfähigkeit seiner Protagonisten bis zur bitteren Neige auskostet, wird nur noch übertroffen durch die absurden, schier irrealen Trivialitäten, welche all diese Düsternis und dieses Scheitern in Genets teils perversen, teils ins Religiös-Heilige gesteigerten Welt(en) auszulösen vermögen. Dass sich der Existenzialist Sartre und der frühe Cocteau sowie in der Folge solche namhaften Underground- und Beat-Schriftsteller wie Allen Ginsberg, William Burroughs, Jack Kerouac oder Gregory Corso bis zu Charles Bukowski auf Jean Genet als einen ihrer literarischen Animateure berufen, ist also keineswegs zufällig.

Omnipräsente Spur der Moralität

Von „NotreDame-des-fleurs“ (1944) und seiner ständigen Konfrontation mit der Problematik des Tötens über „Le balcon“ (1957) mit der zentralen Intention „Die Welt ist ein Bordell“ bis hin zu der gigantomanen, theatralisch nicht mehr zu bewältigenden Totentanz-Opulenz der „Paravents“ (1961) – Genet nannte diese seine „Wände“ masslos verniedlichend ein „Märchenspiel“, ein „Fest, gewidmet den Lebenden wie den Toten“ – durchzieht dabei das gesamte umfangreiche Genet-Oeuvre eine omnipräsente Spur der gewaltsamsten Obszönität und der obsessivsten Missachtung aller gesellschaftlich determinierten Moralität. Anders als etwa Henry Miller, dessen übersteigerte „literarische Sexualität“ (zumindest anfänglich) banalste monetäre Ursachen hatte, ist Genet der wahrhaft Besessene, der Bilder-Junkie, der Apotheotiker auch der phallischen (präziser: homo-erotischen) Virilität, dem aller Unterleib zu Kopf steigt. Jean Genet, das ist ein einziger permanenter Tabu-Bruch, und das an Leib und Seele.
Zurecht ist in der Genet-Forschung auf die nicht nur thematische, sondern auch stilistische Parallelität Genets zur ebenfalls barock-opulenten Monströsität eines seiner „Vorgänger“, nämlich des Marquis de Sade hingewiesen worden. Gleich wie bei jenem – und wieder anders als bei Miller – kommt die Prosa, kommen auch die Dramen Genets, bei all ihrer pervers-kriminellen Narration, seltsam reflektorisch daher, Dialoge und Schilderungen sind seitenweise versetzt mit quasi-philosophischen Exkursen – irritierende Reflexionen, welche die Symbolik einzelner Handlungsstränge selten erklären, meist vielmehr vorantreiben. In zwanghafter Fatalität breitet so fast jedes Genet-Werk je eine eigene wahrliche Ästhetik des Bösen aus – Der „Querelle“-Verfilmer Rainer Werner Fassbinder nennt das 1982 den „Pakt mit dem Teufel“ -, die desillusionierende Analyse menschlichen Zusammenlebens wird zur buchstäblichen Sprach-Gewalt. In einem Geschwister-Dialog der „Zofen“ wird das exemplarisch im Hinblick auf menschliche Bindungen formuliert: „Ich möchte dir helfen. Ich möchte dich trösten, aber ich weiss, ich ekle dich an. Ich stosse dich ab. Ich weiss es, weil du mich anekelst. Liebe in Knechtschaft ist keine Liebe.“

Unentrinnbarer Identitäts-Zwiespalt

Die Genet-Freunde Picasso und Cocteau (1955 bei einer Corrida)
Die Genet-Freunde Picasso und Cocteau (1955 bei einer Corrida)

Zwar sind die „Zofen“ in ihrer psychopathischen Individualsphäre ein Drei-Personen-Binnenstück, aber deren unentrinnbar verstrickender Identitäts-Zwiespalt, eines der grossen Leit-Motive Genets, hat Genet selber hochtransponiert in seine eigene, post-literarische Lebens-Phase, da er sich vornehmlich als politischer Aktivist betätigte: Als Vietnamkrieg-Gegner, aber auch als RAF-Sympathisant; als Arafat-Freund im palästinenischen Freiheitskampf, aber auch – weltweit kritisiert – als „einfühlsamer“ Versteher des „Dichters“ Hitler, über den er (nur ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg!) schreibt: „Dichter, der er war, verstand er, sich des Bösen zu bedienen. Er zerstörte um der Zerstörung willen, er tötete, um zu töten.“ Und: „Der Führer schickte seine schönsten Männer in den Tod. Das war die einzige Möglichkeit, die er hatte, um sie alle zu besitzen.“

Entindividualisierung bis zur existenziellen Nackheit

Hier wird noch beim späten Genet ein zweites lebenslanges literarisches Motiv dieses Allegorien-Hymnikers verstärkt auf den Punkt gebracht: Die Entindividualisierung der Protagonisten, die am Ende ihres Umwandlungsprozesses nur noch als existenzielle Nacktheiten vorhanden sind – als „Inszenierung ihrer äusserlichen Form“, wie es die Genet-Analytikerin Michaela Wünsch einmal formulierte.

Wie fast alle seine Stücke wurde „Die Zofen“ – der Dramen-Erstling Genets – vom schockierten zeitgenössischen Theater-Publikum nicht verstanden, sondern boykottiert, die Erstaufführung geriet zum Desaster, auch für den Regisseur Louis Jouvet. Noch war die Zeit 1947 nicht reif für einen Jean Genet – nicht für den Heiligen, und nicht für den Sünder. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über das Drama von Henrik Ibsen: Peer Gynt
ausserdem zum Thema Literatur-Verfilmung über Christian Petzold: Undine

Arnold Leifert: Wozu Literatur? (Essay)

Der literarische Text als Geschehnis

Arnold Leifert

„Wozu Literatur?“- Was denn versteht der Fragende unter „Literatur“?1) Und selbst wenn mit dem Stichwort „Belletristik“ geantwortet wird – dies ist beruhigend, denn für alle andere, primär und nur unterhaltende, vielleicht auch triviale Literatur beantwortet sich die Frage selbst, – „Belletristik“ also, poetische und prosaische Literatur: Der Roman, die Novelle, die kurzen Formen der modernen Prosa, das Drama, das Hörspiel, das Gedicht…
Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, für die verschiedenen Gattungen auch verschiedene Antworten finden zu wollen. Allein: in der deutschen Literatur von 1945 bis heute verweigern sich alle Gattungen dieser Frage, und bekennen sich zugleich ebenso alle zu dieser Frage: „Wozu?“

Wonach aber fragt diese Frage? Nach dem Selbstverständnis des Autors, im Sinne einer ihn treibenden Zielsetzung, Intention, gar Absicht der (Welt-)Veränderung? Oder ist sie gestellt aus der Überschau-Sicht des Historikers und Literatur-Theoretikers, der die Wirkungsgeschichte einzelner Werke oder Epochen im nachhinein und de facto versucht aufzuspüren?

„Ich schreibe für mich selbst!“

Arnold Leifert: "Literatur – mit ihrem Sitz genau zwischen Denken und Fühlen – geschieht als vielleicht höchste Form der sprachlichen Kommunikation"
Arnold Leifert: „Literatur – mit ihrem Sitz genau zwischen Denken und Fühlen – geschieht als vielleicht höchste Form der sprachlichen Kommunikation“

Wozu Literatur? – Grammatikalisch suggeriert dies eine Auskunft über den „Zweck“ dieses etwas „verdächtig nutzlosen Unterfangens“ namens Literatur. Und heute diese Frage zu stellen, in einer Zeit pervers auf die Spitze getriebenen, technokratischen wie materialistischen Zweckansinnens an alles menschliche Tun, scheint tatsächlich provokant notwendig. Die Zyniker unter den „Realisten“ und Machern in unserer heutigen literarischen Welt haben die Frage längst in ihrem merkantilen Sinne beantwortet: Der Literaturbetrieb, die grossen Verlage leben von der „grossen Auflage“; ein Buch, das sich eignet, wird „gemacht“, die Kasse stimmt, der „Zweck“ ist erfüllt. Eine nicht zu unterschätzende Entwicklung; denn schon heute beginnt dieser marktorientierte Umgang mit Literatur das eigentliche Bild unserer literarischen Jahre nachhaltig zu verzerren und zu verschleiern.
Immer wieder kann man in Interviews, Gesprächen, poetologischen Exkursen usw. erleben, dass – und es sind wahrscheinlich die meisten von ihnen – die Autoren aller Gattungen, wenn sie gefragt werden: „Zu welchem Zweck schreiben Sie? Glauben Sie, mit Literatur gesellschaftlich etwas verändern zu können?“, diese Frage verneinen: „Zunächst schreibe ich für mich selbst! Über die Wirkungslosigkeit von Literatur mache ich mir keine Illusionen!“
Dass bei diesen Antworten dennoch auch heutigen Autoren diese Frage immer wieder gestellt wird, erklärt sich wahrscheinlich aus der Entwicklung der deutschen Nachkriegsliteratur selbst. Sah es in ihr – und einige kurze Jahre sogar ganz entschieden – doch eigentlich so aus, als gingen eine ganze Reihe von Literaten durchaus von so etwas wie einer politischen Intention beim Schreiben aus.

Literatur als Tendenz, in die Zeit zu wirken

Erst Zeitschrift für Dichtung, dann Zeitschrift für Literatur: Hans Benders "Akzente"
Erst Zeitschrift für Dichtung, dann Zeitschrift für Literatur: Hans Benders „Akzente

Sicherlich ist es nicht zufällig, dass ausgerechnet im Jahr 1968 der von da an alleinige Herausgeber der wichtigsten deutschen Literaturzeitschrift, Hans Bender, den „Akzenten“ einen neuen Untertitel gab. Hatte sie von ihrer Gründung 1954 bis 6/67 „Zeitschrift für Dichtung“ geheissen, hiess sie nun „Zeitschrift für Literatur“. Bender formulierte als Begründung u.a.: „Literatur ist […] der weitere Begriff […] Weiter, weil Literatur die Tendenz, in die Zeit wirken zu wollen, nicht verneint, sondern bejaht“ (Hans Bender: An die Leser, Akzente 1/68).
Fünf Jahre später sieht Bender sich in der Einschätzung dieser Tendenz bestätigt und schreibt im ersten Heft des 20. Jahrgangs: „Heute gibt es kaum noch einen Widerspruch, wenn nachgewiesen wird, wodurch die westdeutsche Literatur in den letzten Jahren mehr Beachtung und Wirksamkeit erzielt hat. Vor allem doch durch die Mitsprache in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung“ (H. Bender: Von der Dichtung zur Literatur, Akzente 1-2/73).
Gemeint waren damit sicherlich nicht allein, aber vor allem die Autoren der ersten Generation der „Gruppe 47“. Themen und Stoffe der Auseinandersetzung mit erlebtem Faschismus und Krieg, dann aber zunehmend Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung der neuen Republik. Wichtig in unserm Zusammenhang: Die neuen deutschen Autoren hatten ihren Weg gefunden von der apolitischen, zurückgezogenen Dichtungstradition hin zur Literatur der politischen Einmischung.

Das gesellschaftspolitisch orientierte „Wozu Literatur?“

Ein deutlich erkennbares, gesellschaftspolitisch orientiertes „Wozu?“ war Bekenntnis für literarisches Arbeiten. Heinz Ludwig Arnold pointiert: „So war die Gruppe 47 auch eine moralische Institution, nicht nur eine literarische Clique“ (H. L. Arnold: Die drei Sprünge der westdeutschen Literatur, Akzente 1-2/1993). Breite Übereinstimmung im Selbst-Verständnis und in der Formu-lierung neuer Aufgaben zeiteingebundener Literatur. Hans Magnus Enzensberger 1962: „Deshalb halte ich dafür, dass die kritische Position unteilbar ist. Sie hat nicht Bewältigung oder Aggression im Sinn; Kritik, wie sie hier versucht wird, will ihre Gegenstände nicht abfertigen oder liquidieren, sondern dem zweiten Blick aussetzen: Revision, nicht Revolution ist ihre Absicht“ (H. M. Enzensberger: Einzelheiten, Frankfurt/Main 1962).
Die radikalste Zuspitzung allerdings erfuhr dieses Wozu?-Bekenntnis schon weitere fünf Jahre später, als der gleiche H. M. Enzensberger mit Beginn der Studentenproteste gerade diesen revisionistischen Ansatz geisselt und als Gebot der Stunde 1967 formuliert: „Tatsächlich sind wir heute nicht dem Kommunismus konfrontiert, sondern der Revolution. Das politische System in der Bundesrepublik lässt sich nicht mehr reparieren. Wir können ihm zustimmen, oder wir müssen es durch ein neues System ersetzen. Tertium non dabitur. Nicht die Schriftsteller haben die Alternative auf dieses Extrem begrenzt; im Gegenteil, seit 20 Jahren bemühen sie sich, das zu vermeiden. Die Macht des Staates selbst sorgt dafür, dass die Revolution nicht nur notwendig wird (sie wäre 1945 notwendig gewesen), sondern auch denkbar“ (H. M. Enzensberger: Schriftsteller und Politik, Times Literary Supplement, 1967).

Von der Gruppe 61 bis zur Wiener Schule

"Eine zivilisatorische Notwendigkeit": Die Studenten-Revolte von 1968
„Eine zivilisatorische Notwendigkeit“ (Enzensberger): Die Studenten-Revolte von 1968

Eine ganze Generation damals beginnender junger Autoren – nicht zuletzt im Kreis auch um Erich Fried – nahm diesen Aufruf zum eigenen Programm: Literatur musste vor allem politisch relevant sein! Eine fast unübersehbare Menge – auch kleiner und kleinster – Literaturzeitschriften aus dieser Zeit zeugt davon. Und es entstand eine Tradition politischer Literatur, die – bei allen noch so unterschiedlichen formalen und inhaltlichen Ausformungen – bis heute angehalten hat. Von der „Gruppe 61“ über Werkkreis-Literatur, Reportage-Literatur, die politische Lyrik mit ihrem breiten Spektrum, das politische Lied, das Drama, bis zur Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Problematik bei DDR- und BRD-Autoren und hin zu den jüngsten Jahren literarischer Arbeiten über die beiden deutschen Gesellschaften und ihre Wiedervereinigung. Dass daneben gerade auch seit „68“ eine zweite literarische Strömung – apolitischer, formalistischer, bis hin zu konkreter Poesie und Wiener Schule – entsteht und an Bedeutung gewinnt, sei hier nur angemerkt.
Das anfangs gefragte „Wozu?“, somit von seiten der „Autorenintention“ beantwortet, – in der gleichen geschichtlichen Entwicklung beginnt auch die Antwort auf die Frage nach dem „Wozu?“ im Sinne einer tatsächlichen „Wirkung“ von Literatur, findet sich hier doch – zumindest für die deutsche Nachkriegsgeschichte – ein kaum widersprochenes Beispiel für die gesellschaftliche Wirkung (auch) von Literatur.

Literatur-Revolte als gedroschene Phrasen

Hans-Dieter Gelfert: Was ist gute Literatur? - Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet - beck'sche reihe
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Noch einmal sei H. M. Enzensberger zitiert. Denn wenn er auch 1995 im Gespräch mit André Müller seine eigenen Aufrufe von 1968 als „gedroschene Phrasen“ entlarvt, ein historisches Ergebnis der damaligen emanzipatorischen Bewegung bleibt ihm: „Die Studentenrevolte war zivilisatorisch eine Notwendigkeit […] Sie können doch nicht wegdiskutieren, dass die Menschen in diesem Lande heute ein ganz anderes Selbstbewusstsein als damals haben. […] Die fünfziger Jahre […] muffig, reaktionär. Nichts hat sich bewegt […] 1968 ging es darum, eine autoritätsfixierte Gesellschaft in eine mehr demokratische zu verwandeln. […] Die Bundesrepublik, wie wir sie heute kennen, ist doch damals überhaupt erst entstanden […] Der Obrigkeitsstaat existiert nicht mehr. Den hatten wir aber.“ (H. M. Enzensberger / A. Müller, Die Zeit Nr. 4/20, 1995).
Man mag Enzensberger in dieser Wertung zustimmen oder nicht, die Veränderung – insbesondere im Umgang mit Autorität – ist nicht zu leugnen. Und so, wie die studentische Revolte nicht zu trennen ist von der sie begleitenden, mit vorwärts treibenden, ihr kulturelles Fundament gebenden und sie fortführenden verschiedenartigsten Literatur, so ist ebenso kaum zu erforschen, welchen Anteil an diesem Emanzipationsschub (in Kopf und Herzen der Menschen) nun Demonstrationen und Aktionen und welchen die Literatur hatte und hat, mit ihren mannigfaltigen Erscheinungs- und Veranstaltungsformen. Dass Literatur mit-verändert hat, wird nicht zu widerlegen sein.


Exkurs: Das Lyrische Ich

Aber vielleicht sollten wir von sogenannter „politischer Literatur“ einmal ganz absehen:

DU

am Morgen danach
hüpfe ich
von Pflasterstein
zu Pflasterstein
und keiner sieht es

Die Frage „Wozu Literatur?“ wurde an das vorstehende, über jede politische Absicht erhabene, kleine Gedicht niemals gestellt. Wohl aber sehr viele andere, verschiedenste Fragen wurden seinetwegen an den Autor gerichtet, bei den unterschiedlichsten Anlässen. Fragen, die, indem sie von Zuhörern und Lesern gestellt wurden, auch dem Autor dieses auffällig kleingeratene Kind seiner selbst von Mal zu Mal näherbrachten.
Ursprünglich wegen Zwergwuchses und vielleicht doch zu auffälligen Untergewichts gar nicht erst ins Manuskript eines neuen Lyrikbandes aufgenommen, tauchte es ganz plötzlich aus der Sendung an den Literaturredakteur einer Zeitschrift wieder auf, wurde brieflich gestreichelt und fand so Eingang in die neue Sammlung. Dann schliesslich, von dem Literaturwissenschaftler Thomas Bleicher in einem öffentlichen Vortrag als „eines der wenigen positiven Liebesgedichte der 80er Jahre“ bezeichnet, behauptete es sich schnell im Kanon des Bandes wie bei Lesungen. „Sie sollten’s als Postkarte drucken, damit man’s schnell bei der Hand hat, schnell verschicken kann, wenn die Nacht so war und der Morgen so ist!“, schlug man dem Autor vor.
„Aber sagen Sie mal: Ich habe das gestern abend noch mal gelesen, habe mir heut die Pflastersteine auf der Strasse angesehen, die liegen doch recht eng beieinander!“ Auf die etwas hilflose Gegenfrage des Autors: „Hätte ich ’von Platte zu Platte’ sagen sollen?“, hilft ein Zuhörer: „Na also, dann überspringt er eben mehrere Pflastersteine dazwischen; wie viele, das hängt dann davon ab, was in der Nacht geschah! In jedem Fall ist etwas Schönes passiert. Das Gedicht strahlt Freude aus!“
„Heimliche Freude!? Es ist so etwas heimlich Verschmitztes darin. Ich kann mir beides vorstellen: Also der (oder eigentlich auch die) auf dem Heimweg am Morgen ist allein auf seinem Weg und hüpft wirklich, wie ein Tanzen aus Freude, oder er/sie geht zwischen vielen Menschen zum Bahnhof z.B. und hüpft innerlich, ‚und keiner sieht es‘.“
„Ist Ihnen das so passiert? Es hat so etwas ungeheuer Vitales, fast ein Platzen vor Freude!“
„Das geht mir zu weit. Ihr scheint alle nur von dem einen auszugehen: eine schöne erotische Nacht, zwischen einem Mann (er hat’s ja geschrieben) und einer Frau oder auch umgekehrt (doch, ich kann’s mir auch vorstellen als Liebesbrief an meinen Freund, sagt das junge Mädchen), nein nein, meinetwegen zwei Frauen nach einer Liebesnacht, zwei Männer, aber muss es denn die Erotik sein, sexuell, könnte es nicht einfach nur ein schönes Gespräch gewesen sein, zwischen wem auch immer; ein Gespräch, so nah, so alles, dass man am Morgen die ganze Welt umarmen könnte?!“
„Es ist einfach nur ein Du! Und du kannst dir dein Du einsetzen! Das Erlebte auch!“
„Aber es ist auch ein kleines bisschen Trauer darin. Es ist eine Ansprache, ein Brief fast an ein Du. Aber schon in der ersten Zeile: ‚am Morgen danach’…, es ist eben schon ‚danach‘; der schöne Augenblick ist schon vorbei; ein Rückblick, schon fast Erinnerung! Eine bestimmte Art von Glück hält zwar noch an, er hüpft ja noch, aber das, was dieses Glück ausgelöst hat, das eigentliche Geschehen ist längst vorbei; das Glück der Nähe z.B. ist längst wieder, zumindest räumlich, Ferne. Da ist auch etwas Trauriges in dem Gedicht!“
„Aber ist das nicht gerade typisch für uns Menschen? Ist es nicht oft so, oder vielleicht immer, dass wir das Besondere eines erlebten Augenblicks oder einer erlebten Zeit, die ganze Bedeutung, Intensität und Wucht erst im nachhinein, erst in der Erinnerung so richtig spüren!?“ – „Das scheint mir einfach zum Menschen zu gehören. Das macht doch auch seine spezifisch menschliche Tragik immer wieder aus, das hängt mit der Fähigkeit des Bewusstseins zusammen, dass Liebe und Schmerz, Freude und Trauer, Leben und Tod nicht voneinander zu trennen sind. Das macht ihn geradezu erst zum Menschen, dass er dazu verdammt ist, bei jedem schönen gelebten Augenblick sofort auch immer dessen Endlichkeit im Bewusstsein mitleben zu müssen.“
„Bei allem, was jetzt über mitschwingende Trauer gesagt worden ist, und ich finde es schön, dass das auch drin ist in diesem kleinen Gedicht: das dominierende Gefühl bleibt für mich die Freude, und durch den Titel wird doch demjenigen, der das Glück ausgelöst oder gegeben hat, genau dieses Glück wieder zurückgegeben.“
Wir wollen hier abbrechen; es liesse sich noch mehr aus den Gesprächen berichten.


Das Gedicht als Selbstverständigung zwischen Sprache und Realität

Immer wieder aufregend an ihnen ist zu erleben, wie sich das Ich des Autors und das Ich des Lesers begegnen im lyrischen Ich des Gedichts. „Die Poesie ist eine Möglichkeit, über Dinge zu sprechen, über die man eigentlich nicht sprechen kann.“ (ebd.) Dies ist doppeldeutig: Entweder der Autor mag über Bestimmtes, z.B. sich selbst, nicht sprechen, höchstens im Gedicht (und Enzensberger meint genau dies im zitierten Gespräch) oder: er kann es nicht; der gewohnte Umgang mit Sprache reicht nicht aus.

Günter Kunert - Lyriker Schriftsteller - Glarean Magazin
Günter Kunert: „Im Gedicht muss sich der Leser mit sich selber befassen“

Heinrich Vormweg beschreibt 1990 das heutige Gedicht „als die pure menschliche Selbstverständigung zwischen Sprache und Realität“ (H. Vormweg: Verteidigung des Gedichts, Göttinger Sudelblätter, 1990). So, im Prozess des Schreibens selbst ein Suchender, entlässt der Autor sein Gedicht an den Leser, und ein wechselseitiger Austausch beginnt; dazu Günter Kunert: „Der Zweck des Gedichts, glaube ich, ist sein Leser, der, indem er sich mit dem Gedicht befasst, sich mit sich selber zu befassen genötigt wird: in einem dialektischen Vorgang, im gleichen, den ihm das Gedicht vorschreibt und vorexerziert. Das spannungsträchtige lyrische Ich und das Leser-Ich werden während des Lesens identisch und gleichzeitig nicht identisch; das eine verfremdet das andere und deckt es doch gleichzeitig. Das Gedicht färbt die Psyche des Lesers, er wiederum färbt nach seinem Ebenbild das Gedicht“ (G. Kunert: Warum schreiben, München 1976).

„Ein echter Text musste geschrieben werden“

Danilo Kis - Schriftsteller Lyriker - Glarean Magazin
Danilo Kis: „Ein echter Text ist ein solcher, der geschrieben wurde, weil er geschrieben werden musste“

Nehmen wir nun noch, um von der scheinbaren Eingrenzung unserer Betrachtung auf die Lyrik wegzukommen, ein kurzes poetologisches Credo des jugoslawischen Romanciers und Essayisten Danilo Kis. Auf die Frage: „Was ist der schwerste Fehler, den ein Schriftsteller begehen kann?“, antwortet er: „Über etwas zu schreiben, was ihn nicht im Innersten berührt. […] Ein echter Text ist ein solcher, der geschrieben wurde, weil er geschrieben werden musste. Das ist aus dem Text zu spüren. Ist es die Wahrheit deines Wesens, die sich im Text ausdrückt, oder stammt dieser Text von einem gewandten und belesenen Vielschreiber? Darin liegt der Unterschied zwischen guten und schlechten Autoren […] Ein echter Text entsteht nicht aus handwerklicher Fertigkeit, sondern aus Zwängen und Empfindungen, die den Autor zum Schreiben getrieben haben“ (D. Kis: Homo poeticus, München 1994).
Wenn im vorigen die Begegnung zwischen dem Ich des Autors, dem lyrischen und dem lesenden Ich auch bewusst an einem möglichst kleinen, überschaubaren, unpolitischen Liebesgedicht dargestellt wurde, so lässt sich nach dieser Prosapoetologie von D. Kis die Frage „Wozu Literatur?“ abschliessend vielleicht doch etwas allgemeiner beantworten:

Das „Geschehen“ eines Textes verändert Schreiber und Leser

Ein „echter Text“ (Kis) – und zwar in allen Gattungen – wird nicht geschrieben unter dem Postulat eines klar umrissenen Zwecks („Wozu?“), sondern er geschieht, als existentielle Antwort und Frage des Autors an die Welt und die Scheinbarkeit ihrer Realität. Literatur geschieht – und das zweimal: Einmal durch den Autor, der schreibend sich selbst begegnet, und ein zweites Mal durch den Leser, der lesend sich selbst (und möglicherweise auch dem Autor) begegnet.
Sehen wir einmal ab von anderen nonverbalen Formen der Kommunikation, die wir – viel zuverlässiger und effizienter als die Sprache – bei allen höherentwickelten Lebewesen heute erst langsam zu akzeptieren und zu sehen bereit sind: Literatur – mit ihrem Sitz genau zwischen Denken und Fühlen – geschieht als vielleicht höchste Form der sprachlichen Kommunikation, und zwar mit sich selbst und dem anderen. Und ein solcher Text verändert beide, Autor wie Leser; keiner von beiden ist nach dem „Geschehen“ des Textes – ob nun Schreiben oder Lesen – noch ganz der gleiche, der er vor diesem „Geschehen“ war. ♦

1)Der Autor beantwortet in diesem Essay eine Frage, die der Glarean-Herausgeber vor einigen Jahren im Zuge einer geplanten Buch-Anthologie an verschiedene deutschsprachige SchriftstellerInnen richtete


Arnold Leifert

Geb. 1940 in Soest/D, Studium der Germanistik, Philosophie und Evangelischen Theologie, ab 1970 Religionslehrer, seit 2000 pensioniert; zahlreiche Publikationen in Büchern und Zeitschriften, in Rundfunk und TV, Träger verschiedener Literatur-Preise, seit 1994 Organisation und Moderation der Lesereihe „Siegburger Literaturforum“; lebte auf einem Bauernhof im Bergischen Land in Much-Hohn; gestorben am 6. September 2012

Lesen Sie im Glarean Magazin auch den Essay von Richard Albrecht: Die Funktions-Kompetenzen der Literatur

… sowie den sprachwissenschaftlichen Beitrag: Jüngste Ergebnisse der neurobiologischen Sprachforschung

Heute vor … Jahren: Fatwa gegen Salman Rushdie

Orient versus Okzident? – Der Fall Salman Rushdie

von Walter Eigenmann

Am 14. März 1989 geht ein Schrei der Entrüstung und des Entsetzens durch die gesamte aufgeklärte Welt: Der Islam, fundamentalistisch personifiziert in dem Teheraner Imam Ruhollah Ibn Mustafa Musawi Chomeini, gibt den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie, einen der bedeutendsten Intellektuellen des Westens, buchstäblich zum Abschuss frei. Der Mullah Chomeini, seit seiner Rückkehr aus dem Pariser Exil (am 1. Februar 1979) Irans oberster religiöser wie politischer Führer und absolutistischer Theokrat mit faktisch uneingeschränkter Machtbefugnis, ruft in einer Fatwa die Moslems der ganzen Welt dazu auf, Rushdie zu ermorden. Denn dieser habe in seinem Buch „Die satanischen Verse“ Blasphemie wider den Propheten Mohammed betrieben. Chomeini: „Ich ersuche alle tapferen Muslime, ihn, gleich wo sie ihn finden, schnell zu töten, damit nie wieder jemand wagt, die Heiligen des Islam zu beleidigen. Jeder, der bei dem Versuch, Rushdie umzubringen, selbst ums Leben kommt, ist, so Gott will, ein Märtyrer.“ (Ulrich Encke: Ajatollah Chomeini 1989, Seite 172)

Kopfgeld-Prämie von 3 Millionen Dollar

Um ihrem Mord-Aufruf Nachdruck zu verleihen, setzen Ajatollah Chomeini und seine radikalen Theokraten eine Kopf-Prämie von drei Millionen US-Dollar aus. Das Blutgeld wird später sogar verdoppelt, die Fatwa nach dem Tode Chomeinis (am 3. Juni 1989) von den hohen Mullahs Chamenei und Rafsandjani ausdrücklich bekräftigt. Rushdie muss in den Untergrund abtauchen, vom britischen Geheimdienst unter Polizeischutz gestellt, er wechselt ständig den Wohnsitz, ununterbrochene Mord-Drohungen zwingen den Schriftsteller in die totale Isolation.

Gleichzeitig sind verschiedene Rushdie-Verleger Repressalien und Anschlägen ausgesetzt, sein dänischer Verleger entgeht nur knapp einem Attentat, und dem fundamentalistischen Islam-Fanatismus fallen schliesslich der italienische und der japanische Rushdie-Übersetzer zum Opfer, die in Mailand niedergestochen bzw. in Tokio ermordet werden. Zehn Jahre lang lebt der berühmte Autor der „Mitternachtskinder“ (1981) und von „Scham und Schande“ (1983) nun an streng geheimen Orten, 30 Mal wechselt er in dieser Zeit sein Versteck, und wo immer er sich (für kurze Augenblicke) zeigt, gilt die höchste Sicherheitsstufe – derweil ein Mann im britischen Fernsehen vor einem Millionen-Publikum öffentlich bekennt: „Ihn zu töten ist eine Ehre für mich, für jeden guten Moslem!“.

Fatwa-Mordruf gegen Rushdie bis heute nicht zurückgenommen

Salman Rushdie - Glarean Magazin
Salman Rushdie

Salman Rushdie findet sich indes mit diesem Leben nicht ab, er entschuldigt sich schon früh, erklärt gegenüber der Islamischen Glaubensgemeinschaft sein „Bedauern über die Besorgnis, die die Veröffentlichung aufrichtigen Anhängern des Islam bereitet hat“. Und bald nach der Verhängung der Fatwa regt sich weltweiter Widerstand gegen das Todes-Urteil, Prominente und bekannte Politiker (darunter auch US-Präsident Clinton) setzen sich für ihn ein, ebenso einhellig die grossen Schriftsteller- sowie andere starke Verbände.

„Redefreiheit ist das Leben!“

Heute ist der bedeutende, von zahlreichen Institutionen geehrte Vertreter des „Magischen Realismus“ wieder quasi auf freiem Fuss, und seine weltweit heiss „umkämpften“ und darum höchst erfolgreich verkauften „Satanischen Verse“ dürften ihn längst zum Millionär gemacht haben. Doch obwohl 1998 der eher liberale iranische Staatspräsident Chatami am Rande der UN-Vollversammlung erklärt, dass man den Fall Salman Rushdie offiziell als „völlig abgeschlossen“ betrachte, und dass überhaupt die iranische Regierung nie Mörder für die Beseitigung des Dichters gedungen habe, ist der Fatwa-Mordruf gegen Rushdie bis zum heutigen Tage nicht offiziell zurückgenommen worden. Vor einigen Monaten wurde Rushdie von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen; Islamisten drohen inzwischen erneut mit Anschlägen…
Solcher hasserfüllten, totalitär-ideologischen, den humanistischen Kern des Korans negierenden Barbarei hält der „realistische Phantast“ und grosse Islam-Kenner, aber auch erklärte Freidenker Salman Rushdie entgegen: „Redefreiheit ist das Entscheidende, um sie dreht sich alles. Redefreiheit ist das Leben.“ ♦

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Philipp Ruch: Schluss mit der Geduld!

Heute vor … Jahren: Die Stumme von Portici (Auber)

Das Opern-Duett als revolutionäres Pulverfass

von Walter Eigenmann

Am 29. Februar 1828 führt das berühmte Ensemble der altehrwürdigen Opéra National de Paris ein Musik-Theater-Werk erstmals auf, das gleich bei der Premiere stilbildende Musik- und zwei Jahre später gar politische Welt-Geschichte schreibt: „Die Stumme von Portici“ („La Muette de Portici„) von Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871).

Die Faszination des zeitgenössischen Publikums ob dieser ersten wirklichen „Grand Opéra“ mit ihren vielhundert-köpfigen Massenszenen, mit ihrem melodisch und rhythmisch effektvoll auftrumpfenden, das französische Kolorit betonenden Orchesterapparat, mit ihrer alle damaligen Hilfsmittel ausschöpfenden Bühnen-Technik, ihren Lichter- und Bilder-Orgien, ihrer gewaltigen Kulissen-Staffage und mit ihrer schier „totalitär“ wirkenden, ganz auf dekorative Dramatik zielenden Regie-Führung muss eine ungeheure gewesen sein.

Neapolitanischer Fischer-Aufstand als Libretto-Vorlage

Autograph der "Muette"-Ouvertüre von Daniel Auber (Klarinetten-Part)
Autograph der „Muette“-Ouvertüre von Daniel Auber (Klarinetten-Part)

Librettist des zweieinhalbstündigen Fünf-Akters und dessen tragischer Dreiecks-Liebesgeschichte um den Revolutionär Masaniello, das stumme Fischermädchen Fenella und den Militär-Prinzen Alfonso ist Eugéne Scribe, der bis dato keine historischen, sondern ausschliesslich komische Opern-Texte (u.a. auch für die Komponisten Meyerbeer und Boïeldieu) verfasst hatte. Zur Grundlage seiner „Muette“-Handlung nimmt Scribe den von Tommaso Aniello angeführten neapolitanischen Fischer-Aufstand im Jahre 1647.
Ist also der revolutionäre Gedanke schon im Stoff selber explizit angelegt, so bedarf es im politisch angespannt-labilen Europa anfangs des 19. Jahrhunderts nur weniger, theatralisch wirkungsvoller massensuggestiver Funken, die Pulverfässer explodieren zu lassen.

Das Freiheits-Duett legt die revolutionäre Lunte

Gigantomanie der Pariser "Grand Opera": Hunderte Komparsen und Requisiten für die "Stumme" von Auber mit einem beispiellosen technischen Aufwand
Gigantomanie der Pariser „Grand Opera“: Hunderte Komparsen und Requisiten für die „Stumme“ von Auber mit einem beispiellosen technischen Aufwand

Einer dieser Funken zündet 1830 in Brüssel: Nach dem zweiten Akt einer Aufführung von Aubers „Stummen“, genaugenommen nach dem berühmten Freiheits-Duett zwischen Fischer-Führer Masaniello und seinem früheren Mit-Revoluzzer bzw. späteren Todfeind Pietro, lassen sich die aufgewühlten Opern-Besucher derart vom aufpeitschenden Bühnengeschehen mitreissen, dass sie aus dem Theater auf die Strasse strömen, vereint mit den Massen die Polizei-Direktion und den Justiz-Palast stürmen und schliesslich die Druckerei des Regierungsblattes verwüsten. Der belgische Revolutionskampf ist lanciert, er wird zur Unabhängigkeit des Landes von Holland führen.

Ein Opern-Stoff mit politischem Zündstoff

Von der Bühne auf die Strasse: Ein aufgewühltes "Muette"-Opernpublikum errichtet Barrikaden und wird mit schwerem Geschütz bekämpft
Von der Bühne auf die Strasse: Ein aufgewühltes „Muette“-Opernpublikum errichtet Barrikaden und wird mit schwerem Geschütz bekämpft

Einmal mehr ist also in der Opern-Geschichte eine rein fiktive musiktheatralische Figur (hier die Stumme Fenella) zum Massen-Symbolträger nationaler (ggf. auch nationalistischer) Strömungen geworden – nur diesmal mit noch nie dagewesener realpolitischer Konsequenz. (Übrigens sorgt „Die Stumme von Portici“ nicht nur in Brüssel für Aufruhr; auch nach Aufführungen dieser Oper in Mailand, Warschau und Kassel kommt es zu politischen Spannungen und Unruhen.)

Daniel F. E. Auber in einer Karikatur der Gazette "Le Bouffon"
Daniel F. E. Auber in einer Karikatur der Gazette „Le Bouffon“

Auber selbst ist dabei mitnichten ein Revolutionär. Der Sohn eines Offiziers Ludwigs XVI. und späteren Kunsthändlers schreibt an die fünfzig – heute allerdings kaum mehr gespielte – Opern, wovon die wichtigsten – u.a. „La bergére châtelaine“, „Die Gesandtin“, „Die Cirkassierin“, „Réves d’amour“ und v.a. „Fra Diavolo“ als sein unbestrittenes musikalisches Opus magnum – dem komischen Genre zuzurechnen sind.

Etwas Besonders, etwas Dämonisches im Spiel

Umso solitärer Gehalt und Wirkung seines Polit-Dramas „La Muette de Portici“, dessen gesellschaftliche Bedeutung von den politischeren Köpfen unter Aubers Komponisten-Kollegen schon bald gewürdigt wird. Beispielsweise von Richard Wagner, der später über die „Stumme“ schreibt: „Es muss etwas Besonderes, fast Dämonisches dabei im Spiele gewesen sein […] Diese stürmende Tatkraft, dieses Meer von Empfindungen und Leidenschaften, gemalt in den glühendsten Farben, durchdrungen von den eigensten Melodien, gemischt von Grazie und Gewalt… Anmut und Heroismus: Ist dies alles nicht die wahrhafte Verkörperung der letzten Geschichte der französischen Revolution?“ ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin auch zum Thema „Sozialkritik auf der Bühne“ über
Die Soldaten von Bernd Zimmermann (Opfergang der Ungezählten)

Heute vor … Jahren: Peer Gynt (Henrik Ibsen)

Metamorphose eines Taugenichts

von Walter Eigenmann

Am 24. Februar 1876 hat im norwegischen Oslo eines der bekanntesten Stücke der internationalen Theater-Bühne seine Premiere: Das „Dramatische Gedicht“ Peer Gynt von Henrik Ibsen. Basierend auf der zwischen 1845 und 1848 erschienenen Feenmärchen-Sammlung „Huldre-Eventyr og Folkesagn“ von P. Ch. Asbjørnsen (und in gewisser formaler Nachfolge von Byrons „Manfred“) schildert Ibsens Vers-Epos die vieljährige Metamorphose des lügnerischen, nichtsnutzigen Bauernlümmels und nachmaligen Sklavenhändlers Peer Gynt hin zum moralisch geläuterten, durch eine weltweite, skurril-phantastisch-absurde Abenteuer-Odysee verarmten, aber seelisch gereiften Mann, der sich schliesslich sogar der unverbrüchlichen Liebe des „ewig Weiblichen“, verkörpert in der lebenslänglich wartenden und leidenden Solvejgh, würdig erweist.

Der „Faust des Nordens“

Peer Gynt - Ibsen - Thora Neelsen als Solveigh bei der Uraufführung
Thora Neelsen als Solveigh bei der Uraufführung

Der „nordische Faust“, wie man Ibsens mythisch ausladenden Peer-Gynt-Monolog um Trolle, Königstöchter, afrikanische Irrenhäuser und mephistophelische „Knopfgiesser“ schon bald auch nennt, entsteht 1867 auf Ischia, ist vordergründig eine langwierige Identitätssuche und -findung des Titelhelden, hintergründig aber ebenso eine fulminante literarische Abrechnung des Dichters mit der selbstzufriedenen Cliquen-Wirtschaft und Willenschwäche seiner norwegischen Landsleute.

Peer-Gynt-Musik aus Geldnot komponiert

Autograph der "Morgenstimmung* von Edward Grieg
Autograph der „Morgenstimmung* von Edward Grieg

Weniger die ethischen Intentionen des Stückes denn seine verschiedenen nationalromantisch kolorierten, allerdings kritisch gebrochenen Ingredienzen inspirieren schon kurz nach Erscheinen die Komponisten – allen voran Edvard Grieg, der von Ibsen eingeladen wurde, eine umfangreiche Partitur zur Theater-Fassung des Gynt-Stoffes beizusteuern. Doch die höchst unterschiedlichen künstlerischen Naturelle der beiden Genies – der reserviert-kühl-introvertierte Ibsen teilt Grieg exakte Vorstellungen von der musikalischen Gestaltung seines „Peer Gynt“ mit! – führt zu einer stilistisch nicht adäquaten Komposition Griegs.

Grieg am Klavier, Ibsen als Zuhörer (Postkarte von 1905, Bergen)
Grieg am Klavier, Ibsen als Zuhörer (Postkarte von 1905, Bergen)

Denn Griegs Vertonung akzentuiert ausgerechnet die norwegischen Farben des „Peer Gynt“, illustriert Peers Welt-Reisen mit mancherlei klanglichen Exotismen aus Opern des 19. Jahrhunderts, lässt gar ganze Spring-Tänze aufführen, und schafft vor allem anrührende Seufzer-Elegien zu den verschiedenen, unter Peers Ignoranz leidenden Frauengestalten. (Später bekennt Grieg, Ibsens Auftrag nicht zuletzt auch aus Geldnot-Gründen angenommen zu haben…)
In der Gunst des breiten Publikums ganz obenauf schwimmt dabei noch immer die den Suiten-Zyklus eröffnende „Morgenstimmung“ (Bild: Faksimile der ersten Partitur-Seite). Berühmt, aber kaum je zusammen mit dem Drama aufgeführt werden aus Griegs zweiteiligem Suiten-Extrakt ausserdem „Solvejgs Lied“, „Åses Tod“ und „Ingrids Klage“. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über Friedrich Schiller: Die Räuber (Freiheit für das Individuum)

ausserdem in der Reihe „Heute vor … Jahren“: „Show Boat“ – Die Geburtsstunde des Musicals

Heute vor … Jahren: Die Soldaten (B. Zimmermann)

Opfergang der Ungezählten

von Walter Eigenmann

Am 15. Februar 1965 erlebt die Oper „Die Soldaten“ von Bernd A. Zimmermann in Köln ihre Uraufführung. Zimmermanns Werk, eines der engagiertesten, experimentellsten und radikalsten Stücke des neueren Musik-Theaters, hat Jakob M. R Lenz‘ „Komödie“ über eine von der Soldateska zunächst verführte, dann gemoppte, schliesslich vergewaltigte und endlich in die Gosse getriebene Bürgerstochter zum Gegenstand.

Darmstädter Ferienkurse als Avantgarde-Initiant

Aufführungsplakat von Bernd Zimmermanns "Die Soldaten"
Aufführungsplakat von Bernd Zimmermanns „Die Soldaten“

Der Komponist veröffentlicht Ende der 40-er Jahre seine ersten Werke. Und schon früh informiert sich der seinen Lebensunterhalt vorerst als Arrangeur und als Film- wie Hörspiel-Komponist verdienende Zimmermann bei den „Darmstädter Ferienkursen“ über den neuesten Stand der (atonalen) Avantgarde-Techniken. 1957 wird er schliesslich als Nachfolger von Frank Martin als Dozent für Komposition an die Musik-Hochschule Köln berufen. (Zu seinen ersten Schülern gehören Peter Michael Braun, Georg Kröll und Manfred Niehaus, später kommen Silvio Foretic, Georg Höller, Heinz Martin Lonquich, Dimitri Terzakis u. a. hinzu).

Mehrschichtige Collage-Technik (2. Akt / Intermezzo aus "Die Soldaten")
Mehrschichtige Collage-Technik (2. Akt / Intermezzo aus „Die Soldaten“)

Seine „Soldaten“ (Bild links oben: Aufführungsplakat) stellen enorme technische, personelle und musikalische Anforderungen. Zimmermann schichtet darin mit drei verschiedenen Orchester-Ensembles musikalisch mehrere Handlungsstränge simultan über- und nebeneinander, verschränkt Jazz-Elemente mit Barock-Chorälen, enthebt die althergebrachte Theater-Trinität von Ort, Handlung und Zeit ihrer eindeutigen Zuordnung, arbeitet mit stilistisch unterschiedlichsten Musik- und Szene-Collagen, um seine musikdramatische Konzeption von der „Kugelgestalt der Zeit“ zu verdeutlichen: „Späteres wird voraus- und Früheres hintangesetzt“ (Zimmermann). Dabei realisiert das Werk inhaltlich wie technisch die Theater-Vision seines Schöpfers: „Das neue Theater muss ein Grossraumgefüge, vielfältig moduliert sein; (…) insgesamt eine Grossformation, die einer ganzen Stadtlandschaft ihr Gepräge zu verleihen vermag: Als Dokumentation einer geistigen, kulturellen Freiheit, die Theater als elementarsten Ort der Begegnung im weitesten Umfang begreift.“

Keine Sozialkritik in der Oper

Bernd Alois Zimmermann
Bernd Alois Zimmermann

Zimmermann selbst, wiewohl vielseitig theologisch, literarisch und moralphilosophisch interessiert, verneinte, dass die Sozialkritik am menschenzerstörenden Soldaten-Milieu eine besondere Rolle in diesem seinem Hauptwerk spiele. Doch anfangs 1946 schreibt er mit Blick auf das zurückliegende letzte Kriegsjahr, und fast alttestamentarisch: „O Deutschland, was ist aus Dir geworden? Wie ist Dein Volk zuschanden geworden, an sich selbst zunichte gegangen, wie wütet selbst Dein Volk gegen das eigen Blut…[…] Ist es nicht Angst und Not, Unsicherheit und Schrecken, die am Horizonte unserer Zukunft stehen wie dunkle Wetter und Wolken vor der untergehenden Sonne?“ Die pessimistische Grundhaltung, eine permanente Trauer um das „zwecklos geopferte und sinnlos dahingegangene… der Opfergang der Ungezählten“ durchzieht das gesamte spätere Leben und Lebenswerk des Musikers Zimmermann. Am Schluss seiner „Soldaten“, wo verschiedene Tonband-Einspielungen die Szene erweitern, ertönen bei der letzten Szene zwischen Marie und ihrem Vater Militärkommandos in den Sprachen der sieben hauptsächlich am Zweiten Weltkrieg beteiligten Ländern, unter Beimischung von angreifenden Fliegern, Panzern, Raketengeschossen und Bomben-Detonationen. „Das, was mich vor allem zu den ‚Soldaten‘ geführt hat, ist der Umstand […], wie in einer exemplarischen, alle Beteiligten umfassenden Situation Menschen […], wie wir ihnen zu allen Zeiten begegnen können, einem Geschehen unterworfen sind, dem sie nicht entgehen können: Unschuldig schuldig.“ bemerkt Zimmermann mal zu seiner Oper.

Hochexpressive Bühnenmusik

Bernd Alois Zimmermann - Die Soldaten - Schluss-Szene - Bayerische Staatsoper - Glarean Magazin
Schluss-Szene der „Soldaten“ in einer Aufführung der Bayerischen Staatsoper

Das zweieinhalbstündige Werk, hochexpressive Bühnenmusik und schwer zu realisieren, wurde vom damaligen Kölner Opern-Chef Wolfgang Sawallisch als „unspielbar“ abgelehnt. Inzwischen ist es dennoch erstaunlicherweise zu einem der erfolgreichsten Vertreter seiner Gattung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avanciert.
Bernd Alois Zimmermann starb am 10. August 1970 in Frechen-Königsdorf bei Köln; einer unheilbaren Krankheit wegen wählte er den Freitod. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Stichwort „Bühnenmusik“ auch von
Walter Eigenmann: Der Chor in der Romantischen Oper

… sowie in der Rubrik „Heute vor … Jahren“ über „Die Zofen“ von
Jean Genet: Ungeheure Träume träumender Ungeheuer

Heute vor … Jahren: Die Räuber (Friedrich Schiller)

Freiheit für das Individuum

von Walter Eigenmann

Am 13. Januar 1782 wird Friedrich Schillers (bereits 1781 anonym veröffentlichtes) erstes Drama „Die Räuber“ in Mannheim uraufgeführt. Das in fünf Akte gegliederte Trauerspiel um die beiden adligen, aber moralisch und intellektuell höchst ungleichen Brüder Karl und Franz Moor thematisiert den Konflikt zwischen Gesetz und Freiheit, avanciert mit seiner leidenschaftlichen Emotionalität, seiner stilistisch vielfältigen, emphatischen Sprachgewalt und seiner politischen „Aufbruch-Stimmung“ zu einem Schlüsselwerk des Sturm und Drang – und erntet bei seiner Erstaufführung begeisterte Beifallsstürme.

Anklage gegen Despotie

Friedrich Schiller (1759 - 1805)
Friedrich Schiller (1759 – 1805)

Denn in seiner Anklage gegen Despotie und in seiner kompromisslosen Forderung nach Freiheitlichkeit auch des Individuums trifft „Die Räuber“ am Vorabend der Französischen Revolution den Zeitgeist in seinem Kern. Schiller selbst (1784 in seiner „Rheinischen Thalia“) über die poetische Genesis seines ersten bedeutenden Theaterstückes:

„Ein seltsamer Missverstand der Natur hat mich in meinem Geburtsort zum Dichter verurteilt. Neigung für Poesie ‚beleidigte‘ die Gesetze des Instituts, worin ich erzogen ward, und widersprach dem Plan seines Stifters. Acht Jahre lang rang mein Enthusiasmus mit der militärischen Regel; aber Leidenschaft für die Dichtkunst ist feurig und stark wie die erste Liebe. Was sie ersticken sollte, fachte sie an.

Friedrich Schiller - Die Räuber - Titelblatt der Erstausgabe 1781 - Glarean Magazin
Titelblatt der Erstausgabe 1781

Verhältnissen zu entfliehen, die mir zur Folter waren, schweifte mein Herz in eine Idealenwelt aus -aber unbekannt mit der wirklichen, von welcher mich eiserne Stäbe schieden, unbekannt mit den Menschen (denn die vierhundert, die mich umgaben, waren ein einziges Geschöpf, der getreue Abguss eines und eben dieses Modells, von welchem die plastische Natur sich feierlich lossagte), unbekannt mit den Neigungen freier, sich selbst überlassener Wesen; denn hier kam nur eine zur Reife, eine, die ich jetzo nicht nennen will; jede übrige Kraft des Willens erschlaffte, indem eine einzige sich konvulsivisch spannte; jede Eigenheit, jede Ausgelassenheit der tausendfach spielenden Natur ging in dem regelmässigen Tempo der herrschenden Ordnung verloren -unbekannt mit dem schönen Geschlechte. ..unbekannt mit Menschen und Menschenschicksal, musste mein Pinsel notwendig die mittlere Linie zwischen Engel und Teufel verfehlen, musste er ein Ungeheuer hervorbringen, das zum Glück in der Welt nicht vorhanden war, dem ich nur darum Unsterblichkeit wünschen möchte, um das Beispiel einer Geburt zu verewigen, die der naturwidrige Beischlaf der Subordination und des Genius in die Welt setzte. Ich meine die ‚Räuber‘.“

Aus den Nebeln des Chaos eine neue Schöpfung

Lange vor der Uraufführung harrte die (auch politisch interessierte) Theaterwelt der „räuberischen“ Dinge: Bereits die Druckausgabe von 1781 kritisierte ja offen das vorherrschende Feudalsystem, ein Bühnen-Skandal war vorprogrammiert. Um den Polit-Eklat (und damit die finanzielle Einbusse) möglichst im Rahmen zu halten, plante Regisseur und Theaterdirektor Wolfgang H. von Dalberg zuerst eine Abschwächung der Schillerschen „Räuber“-Botschaft, indem er die Handlung um 300 Jahre zurückversetzen wollte.

Theater-Zettel der Uraufführung 1782 mit einem Vorwort des "Verfassers an das Publikum"
Theater-Zettel der Uraufführung 1782 mit einem Vorwort des „Verfassers an das Publikum“

Die Mannheimer Uraufführung eines solch emotionalen „Sturm-und-Drang“-Stoffes am Ende der „Aufklärung“ und am Vorabend der Französischen Revolution führte erwartungsgemäss zu heftigen Tumulten in und ausserhalb des Theaters. Buchstäblich theatralisch schilderte ein Zeitzeuge die Geschehnisse: „Das Theater glich einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum. Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie ein Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht“.

Die Individualität in den Mittelpunkt geholt

Mit letzterem Vergleich trifft diese Schilderung den kulturhistorischen Nagel exakt auf den Kopf: Friedrich Schillers „Die Räuber“ wurde, lange vor „Wilhelm Tell“, zum Inbegriff des freiheitssuchenden Rebellierens und – lange vor der Modernität des 20. Jahrhunderts – zur idealisierenden Erhöhung des Individuums. Insbesondere die sensibilisierte Jugend verstand Schillers Botschaft sofort, freiheitsbegeisterte Jugendliche gründeten anschliessend in Süddeutschland zahlreiche „Räuberbanden“. Schillers Werk bereitete als literatursoziologischer Wendepunkt die Erosion staatsapparatistischer Omnipotenz vor und rückte in den Köpfen der „aufgeklärten“ Zeitgenossen das Individuelle des Einzelnen in den Mittelpunkt. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über Carl Zuckmeyer: Des Teufels General

… und zum Thema Aufklärung auch über Carsten Priebe: Eine Reise durch die Aufklärung