Im 18. Juni 1906 wurde der Dichter Franz Kafka in Prag zum Dr. jur. promoviert. Für die deutschsprachige Literatur undenkbar, dass er statt Rechtswissenschaften Chemie studiert und statt der „Verwandlung“ „Die Umwandlung“ geschrieben hätte.
Als unabdingbarer oder vielmehr unvermeidlicher Bestandteil der Rettung des Abendlands war und ist, abgesehen von sog. Berechtigungs-Prüfungen, die Matura als Initiationsritus für die Aufnahme unter die – bereits vom Leben geprüften – Erwachsenen vorgesehen. Waren um die Wende zum vorigen Jahrhundert leicht übertriebene Geschenke wie Cabrios und dergleichen noch nicht vorgesehen, so blieb man doch gewissermassen im Bereich der Mobilität.
Das Franz-Kafka-Denkmal in Prag
Franz Kafka, beispielsweise, wurde für die am 11. Juli 1901 bestandene Matura von den Eltern mit einer ausgedehnten Reise beschenkt. Der knapp Achtzehnjährige war der jüngste von vierundzwanzig Maturanten seines Jahrgangs. Die schriftliche Reifeprüfung legt er in den Hauptfächern alte Sprachen, Deutsch und Mathematik ab, die mündliche konzentrierte sich auf Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen. Franz K. wäre nicht Franz K., wenn er die Prüfungen nicht wie einen drohenden Gerichtstag erwartet hätte, an dem sich sein Schicksal entscheiden sollte, wie er sich später in seinen Schriften erinnerte.
Kafka als Schüler: Weder Stärken noch Schwächen
Franz Kafka als knapp Achtzehnjähriger
Zuvor musste er aber noch einen zeittypisch chauvinistischen Matura-Aufsatz mit der Überschrift „Welche Vorteile erwachsen Österreich aus seiner Weltlage und aus seinen Bodenverhältnissen?“ verfassen. Franz Joseph I., der in Prag am 12. Juni 1901 als Kaiser buchstäblich einritt, hätte bei der Lektüre wohl seine Freude gehabt. Das Maturazeugnis zeigt einen leicht überdurchschnittlichen Schüler, der in keiner Disziplin nennenswerte Stärken oder Schwächen aufweist. Sechs „lobenswerte“ und sechs „befriedigende“ Leistungen sagen in ihrer numerischen Sprödigkeit zwar nicht allzu viel aus, attestieren aber einen nicht besonders schlechten Abiturienten.
Maturand Kafka
Die geschenkte Reise führt Franz Kafka erstmals über die Grenzen des Königreichs Böhmen. Zum Begleiter wird Onkel Siegfried Löwy, der Landarzt (!) aus Triesch in Mähren. Onkel und Neffe reisen im August 1901 nach Norderney und Helgoland. Später fährt Kafka lieber nach Venedig, an die Adria, in die Toskana, nach Südtirol oder Berlin und sonst wohin.
Kafka muss den für Maturanten vorgesehenen Militärdienst als Einjährigfreiwilliger nicht antreten, weil ihm ein ärztliches Zeugnis eine „Schwäche“ bescheinigt, die ihn zum Dienen unfähig macht. Dem Studienbeginn stehen also weder Drill noch Drillich, soll heissen Uniform, entgegen.
Zwänge der jüdischen Hochschul-Karrieren
Bei der Auswahl des Studiums scheint der achtzehnjährige Franz Kafka eher unschlüssig gewesen zu sein. In ein Verzeichnis in seinem Gymnasium hat er kurz vor der Matura Philosophie als Studienwunsch eingetragen. Ein Meinungswechsel dürfte beim Nachdenken im Juli 1901 eingetreten sein. Der Staatsdienst war für Juden mit wenigen Ausnahmen unzugänglich und kamen für Akademiker nur freie Berufe in Frage. Der k.u.k. Sonderfall waren Fächer, die für eine Tätigkeit in der Privatindustrie qualifizierten. Der spätere Jurist und Dichter zog offensichtlich einen Posten in der Wirtschaft ins Kalkül. Chemie war zu Beginn des vorigen Jahrhunderts nichts weniger als eine besonders ungewöhnliche Studienwahl. Der Leiter des Chemischen Instituts, Guido Goldschmidt, war getaufter Jude und ein exemplarisches Beispiel für die Zwänge, denen jüdische Hochschulkarrieren unterworfen waren. Viel mehr als Privatdozent oder höchstens Extraordinarius war nicht zu schaffen.
Die k. k. Deutsche Karls Ferdinands-Universität in Prag
Im Oktober 1901 schreibt sich Franz Kafka gemeinsam mit seinen Freunden Oskar Pollak und Hugo Bergmann für das Chemiestudium an der k. k. Deutschen Karls Ferdinands-Universität in Prag, wie sie mit vollem Titel heisst, ein, und studiert diese Wissenschaft ganze zwei Wochen, um dann zu den Juristen zu wechseln.
Die Universität, die im Jahr 1348 gegründet wurde, teilte sich im Jahr 1882 in eine deutsche und eine tschechische. Die Lehrveranstaltungen wurden im „Carolinum“ abgehalten. Die Prager Juden entschieden sich in der Mehrheit für die deutsche Universität, so auch Franz Kafka, wobei nicht die Muttersprache entscheidend war, sondern das – der deutschsprachigen Hochschule zugeschriebene – Bildungspotential. Die Karls-Universität betonte in nationaler Hinsicht das Deutsche, die Studenten trugen bei öffentlichen Auftritten schwarz-rot-goldene Schulterbänder mit der eingenähten Jahreszahl „1848“.
„Nur die Juden glauben noch, das Deutschtum verteidigen zu müssen“
Der Einfluss des Deutschsprachigen verlor in diesem Zeitraum zusehends an Bedeutung. Leo Hermann, der Obmann des zionistischen Vereins „Bar-Kochba“ schreibt schon im Jahr 1909 an Martin Buber: „Nur die Juden glauben noch, das Deutschtum verteidigen zu müssen.“ Der Briefschreiber hat nicht wissen können, dass in seiner Nähe einer der grössten deutschsprachigen Dichter heranreift. Man stelle sich vor, Franz Kafka wäre bei der Chemie geblieben, seine Meisterstücke hiessen dann nicht „Der Prozess“, „Die Verwandlung“ oder „Das Urteil“, sondern vielleicht „Die Formel“, „Die Umwandlung“ und „Der Stoff“…
Kafkas Manuskript von „Der Prozess“
Die Universität, an der Kafka (aus)gebildet wurde, konnte rund um seine Zeit mit einigen wahren Kalibern aufwarten. Die Physiker Ernst Mach und Albert Einstein lehrten, der Philosoph Franz von Brentano, der Völkerrechtler Heinrich Rauchberg, der Rechtsgeschichtler Heinrich Singer und der Verwaltungsrechtler Josef Ulbrich stehen für die Qualität des damaligen „Juridicums“. Natürlich könnte man weitere klingende Namen aufzählen. Sie lauten Christian von Ehrenfels, Anton Marty und Alfred Weber, wobei letzterer Kafkas Promotor bei der Promotionsfeier war.
Innerhalb der Universität bildeten die Juristen die zahlenmässig stärkste Fakultät. Mehr als die Hälfte der jüdischen Studenten inskribierte Rechtswissenschaften, weil sie nach dem Abschluss freiberuflich als Rechtsanwälte und Notare tätig werden konnten. Auch Franz Kafka tauchte bei ihnen unter, um ungestört in seine Gedankenwelten reisen zu können, seine literarischen Anfänge fallen aber bereits in das Jahr 1896, als er zum ersten Mal den Wunsch preisgibt, Schriftsteller werden zu wollen.
Germanist oder Jurist?
Oskar Pollak
Im Frühjahr 1902 belegt er noch Vorlesungen aus Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie. Die Unentschlossenheit dürfte damals noch nicht zur Gänze ausgeräumt gewesen sein. Zu Beginn des Wintersemesters 1902/03 überlegt er kurz, nach München zu wechseln. Prag lasse ihn, wie er Ende Dezember 1902 seinem Freund Oskar Pollak schreibt, aber nicht los. Im Herbst 1903 denkt Kafka vermutlich noch einmal über einen Wechsel zur Germanistik nach. Wahrscheinlich hindert ihn letztlich der Widerstand des Vaters.
Das Jusstudium war für Franz Kafka nicht das reizvollste, obwohl er es letztlich nach nur sieben Semestern absolviert. Im nachhinein schreibt er im Jahr 1919 über es: „Ich studierte also Jus. Das bedeutete, dass ich mich in den paar Monaten vor den Prüfungen unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies schon von tausend Mäulern vorgekaut war.“
Die Schwestern Valli, Elli, Ottla (von Nazi-Deutschland in Lodz und Auschwitz ermordet)
Kafka wohnt während der Studienzeit zuhause und ist im Vergleich zu seinen Schwestern privilegiert. Er hat ein eigenes Zimmer, kann Freunde empfangen und muss seinem Vater nicht Gesellschaft leisten oder sein Partner beim Kartenspiel sein.
Mit der Note „genügend“ zum Doktor promoviert
Im 18. Juli 1903 besteht Franz Kafka nach „drei verträumten Semestern“, wie der Literatur-Wissenschaftler Peter-André Alt konstatiert, die erste Staatsprüfung aus den rechtshistorischen Fächern mit „gutem Erfolg“. Am 7. November 1905 macht er das sogenannte Rigorosum II aus Zivil-, Handels- und Wechselrecht, Zivilprozess und Strafrecht, also den judiziellen Teil des Studiums, und besteht es mit „genügendem“ Erfolg. Das Rigorosum III aus Allgemeinem und Österreichischem Staatsrecht, Völkerrecht und politischer Ökonomie legte er am 13. März 1906 ebenso mit der Note „Genügend“ ab. Das abschliessende Rigorosum I aus Römischem, Kanonischem und Deutschem Recht fand am 13. Juni 1906 statt. Auch bei diesem erreicht er nicht mehr als seine offensichtlich abonnierte Beurteilung. Am 18. Juni 1906 wird Franz Kafka zum Doktor der Rechte promoviert.
Kafkas erster Studien-Schreibtisch
Nicht unerwähnt sei, dass der Student Franz Kafka unter Prüfungsängsten litt. Ende Juli 1905 fuhr er aus diesem Grund in das nordmährische Zuckmantel, wo er sich vier Wochen lang in einem Sanatorium behandeln liess, das aus damaliger Sicht modernst eingerichtet war. Er macht dort wegen der umfassenden Studien-Verpflichtungen eine sogenannte Hydrokur mit elektrisch erhitzten Bädern gegen nervöse Spannungszustände. Aus heutiger Sicht eine doch eher sonderbar anmutende Heilbehandlung.
Einflussreicher Lehrer: Strafrechtler Hans Gross
Für den Studenten Franz Kafka wurde der Strafrechtler Hans Gross zu einem seiner wichtigsten Lehrer. Gross hat für seine Zeit einen recht progressiven Grundsatz entwickelt: „Nicht das Verbrechen, sondern der Verbrecher ist der Gegenstand der Strafe, und deswegen ist nicht das Gesetz allein, sondern das Leben der Gegenstand der Lehre.“ Kafka hört ihn im fünften, sechsten und siebenten Semester in den Gebieten Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie. Gross war jahrelang Untersuchungsrichter und ist der Begründer der modernen Kriminologie als Wissenschaft. Sein „Handbuch für Untersuchungsrichter“, das im Jahr 1893 erstmals erschien, wurde in zahlreiche Weltsprachen übersetzt und erreichte mehrere Auflagen. Als Hans Gross im Jahr 1915 starb, war das „Handbuch“ bereits in fünfundfünfzig Sprachen übersetzt.
Wichtigster Uni-Lehrer von Kafka: Strafrechtler Hans Gross
Hans Gross hat im Sommersemester 1904 eine vierstündige Rechtsphilosophie-Vorlesung angeboten, die Kafka mit grösster Aufmerksamkeit verfolgte. Im nächsten Semester besuchte er freiwillig noch eine Philosophievorlesung bei Emil Arleth, einem Schüler Franz von Brentanos.
Der Rechtsphilosoph Franz Kafka
Aus dieser Zeit rührt wohl Kafkas rechtsphilosophisches Interesse. Kafkas Verhältnis zur Philosophie war geprägt von seinem Interesse für Aspekte der Wahrnehmung, Urteilsbildung und Sprachkonstruktion, aber auch getragen von Misstrauen gegenüber den abstrakten Ordnungssystemen einer deduktiven Methodik. Philosophische Gedanken entstehen, wenn Menschen über alternative Realitätsversionen nachdenken. In diesem Sinn ist der Dichter Franz Kafka zweifellos ein philosophierender.
Originale Zeichnungen von Frank Kafka
Unstrittig hat Hans Gross Kafka bei der Beschreibung des Amts des (Untersuchungs-)Richters angeregt. Der Kafkologe Josef Maria Häussling meint sogar, dass der Untersuchungsrichter im „Prozess“ der „Verfahrensdreh- und –angelpunkt“ ist. Im Roman legt er – vom leidenschaftlichen Juristen Gross geschult – besonderes Augenmerk auf die Begriffe Recht und Gerechtigkeit beziehungsweise Gericht und Gerichtsbarkeit, personifiziert in der Gestalt des Richters.
Der Abschluss des Prüfungsverfahrens am 13. Juni 1906 ist, um es im Jargon der beruflichen Profession Kafkas zu sagen, de iure zugleich die Promotion zum Doktor der Rechte. Nach der akademischen Feier am 18. Juni 1906 veröffentlicht der Jurist eine Annonce, um seinen Status öffentlich zu machen: „Franz Kafka beehrt sich anzuzeigen, dass er am Montag, den 18. Juni d. J. an der k. k. Deutschen Karl Ferdinands-Universität in Prag zum Doktor der Rechte promoviert wurde.“
Danach stellt er unter Beweis, dass man mit einem Doktor iuris alles in der Welt werden kann: zunächst Rechtsanwaltsanwärter, dann Versicherungsjurist und schliesslich Franz Kafka. ♦
Dr. Janko Ferk Geb. 1958 in St. Kanzian/A, Studium der Jurisprudenz in Wien, zahlreiche Prosa-, Lyrik- und essayistische Publikationen, Träger verschiedener Kultur-Preise, lebt als Richter, Philosoph und Schriftsteller in Klagenfurt
…wie eine fragwürdige Unterteilung, entstanden im deutschen Biedermeier, nicht nur für Verwirrung in den Köpfen heutiger Musikliebhaber sorgt, sondern auch kreative Musiker diskriminiert und einer Vielzahl von Komponisten die materielle Lebensgrundlage entzieht
von Frieder W. Bergner
Schon als ich vor etwa 30 Jahren begann, meinen Lebensunterhalt nur mit dem Spielen und Erdenken von Musik zu verdienen, erfuhr ich, dass die zeitgenössische Musik in zwei Kategorien eingeteilt wird: In „Ernste Musik“ und in „Unterhaltungs-Musik“. Ich komponierte damals noch eher wenig, weil ich den Hauptanteil meines Einkommens als Studio-Musiker in einem Rundfunk-Orchester sowie als Instrumental-Solist (Posaune) im Jazz und in der Improvisierten Musik verdiente. Eines war für mich jedoch völlig klar: Wenn in einem Konzert Musik aufgeführt wurde, die ich komponiert hatte, dann wollte ich, dass das Publikum während der Aufführung meiner Werke der Musik zuhörte. Ich wollte nicht, dass die Leute in diesen Konzerten während der Musik miteinander redeten, also sich unterhielten.
Ich verstand mich deshalb auch nicht als Komponist von Unterhaltungsmusik, denn die Leute sollten ja meiner Musik erst mal zuhören, und sich erst nach dem Konzert darüber unterhalten. Natürlich wollte ich den Anspruch an mein Publikum auch nicht so weit treiben, zu verlangen, dass alle mit ernster Miene meiner Musik lauschten, das erschien mir dann doch übertrieben. Über einen witzigen Einfall des Komponisten sollte schon geschmunzelt oder gelacht werden dürfen, schliesslich hatte er dies ja beim Komponieren beabsichtigt.
Deshalb verstand ich mich auch nicht als Komponist von Ernster Musik. Überhaupt konnte ich mir nicht recht vorstellen, dass es Komponisten geben kann, die allen Ernstes jegliche humoristische Attitüde in ihren Werken vermeiden wollen und sich deshalb freiwillig als Komponisten sog. Ernster Musik bezeichnen.
„Es gibt keine leichte oder ernste Musik, es gibt nur gute oder schlechte Musik“ (Leonard Bernstein)
Aus diesen Gründen war mir damals schon die Unterscheidung von Ernster Musik hier und Unterhaltungsmusik dort völlig suspekt, all das erschien mir wie ein Kasperltheater um eigenartige Begriffskonstrukte und willkürliche Einrichtung von nutzlosen kulturtheoretischen Schubladen. Und natürlich wusste ich auch noch nichts davon, dass die Tatsache, dass ich bei den Urheberrechtsgesellschaften als U-Komponist geführt wurde, für mich erhebliche finanzielle Einbussen bringen würde.
Musik – bitte Ruhe!
„Der bockwurstkauende, biertrinkende Prolet, der vor der Bühne beim sommerlichen Open-Air auf den Auftritt irgendwelcher Schlagerfuzzis mit ihrem epochalen Werk wartet…“
Was ich aber schon damals sehr genau verstand, war dass diese beiden Begriffe immer wieder zu einem bestimmten Zweck benutzt wurden. Menschen, die irgend eine bestimmte Art Musik entweder nicht mochten oder aber nicht verstehen wollten, bedienten sich wechselseitig immer wieder dieser beiden Begriffe, um die jeweils andere Art Musik zu diskriminieren. Der bockwurstkauende, biertrinkende Prolet, der vor der Bühne beim sommerlichen Open-Air auf den Auftritt irgendwelcher Schlagerfuzzis mit ihrem epochalen Werk „Das war ein Meisterschuss“ wartete, pfiff und krakeelte angeekelt, wenn vor diesem Hit das Orchester ein Stück aus George Gershwins „Porgy and Bess“ spielte. Weil ihm das nämlich zu ernste Musik war.
Ähnlich angeekelt reagierte der hochdekorierte Landeskirchen-Musikdirektor Professor P., als mein Freund M., sein Sohn, der eben noch bei den Bach-Wochen in dem mecklenburgischen Städtchen G. den 1. Trompeten-Part im Orchester mit Bravour gespielt hatte, als Student im fernen Dresden Mitglied der „Stern Combo Meissen“ wurde – einer Rockband, die damals einfach nur versuchte, interessante moderne Musik zu spielen. Für den Herrn Landeskirchen-Musikdirektor war das – ich zitiere wörtlich – „von Negermusik beeinflusste Unterhaltungsmusik“. Und deshalb redete er fortan mit seinem Sohn kein Wort mehr. Und weil er wenig später (mit dem Sohn unversöhnt) starb, hinterliess er jenem ein Trauma, das ihn Jahre später an der Musik verzweifeln und sich dem Alkohol zuwenden liess.
Eine Geschichte wie aus der antiken Tragödie – und alles nur wegen „E und U“…
Soli Deo Gloria
Natürlich haben Menschen von jeher versucht, Musiken voneinander zu unterscheiden. Dabei waren es weniger die Musiker oder Komponisten, die dies taten, sondern eher jene, die Musik oder auch deren Kategorisierung und Abgrenzung – für welche Zwecke auch immer – benutzen wollten. Der Klerus bestand in alter Zeit strengstens darauf, dass geistliche Musik etwas ganz anderes sei als profane Musik, die ja, wie z.B. Tanzmusik, „fleischliche Gelüste“ provoziere. Die Musiker damaliger Zeiten selbst waren da weit weniger pingelig und auf Unterschiede bedacht. Unbekümmert recycelten sie Themen aus eigenen Tanzmusikkompositionen zu Material für Passionen und Messen – und umgekehrt. Tatsächlich funktionierte dies auch bestens: Kein Mann kam beim Hören einer Messe auf die Idee, sich seiner Nachbarfrau in der Kirchenbank unsittlich zu nähern, nur weil das Fugenthema des Kyrie Jahre zuvor schon einmal Thema einer sinnenfreudigen Gigue gewesen war…
„Bei der Uraufführung der Zauberflöte auf der Wieden in Wien herrschte eine Atmosphäre, die einer heutigen Musikkneipe vergleichbar wäre“. (Bild: Spektakuläre Première in der Inszenierung von Schikaneder)
Bei der Uraufführung der Zauberflöte auf der Wieden in Wien herrschte eine Atmosphäre, die einer heutigen Musikkneipe vergleichbar wäre: Spektakuläre Blitze, Explosionen und andere theatralische Effekte waren gefordert, um die Aufmerksamkeit eines essenden, trinkenden und auf Amüsement fixierten Publikums zu erringen. Welches Schicksal wäre dieser Mutter aller Opern wohl beschieden gewesen, hätte es im klassischen Wien die E-U-Kategorisierung bereits gegeben? Nein, diese willkürliche Unterscheidung entwickelte sich, wie wir wissen, später.
Im 19. Jahrhundert entstand eine neue „Wissenschaft“, die Musikologie. Erste Anstösse dazu gaben u.a. Robert Schumann und sein Lehrer Friedrich Wieck mit der „Neuen Zeitschrift für Musik, herausgegeben durch einen Verein von Künstlern und Kunstfreunden“ (Bild). Deren Absicht war (Zitat):
„Erste Anstösse zu einer wissenschaftlichen Musikologie gaben u.a. Robert Schumann und sein Lehrer Friedrich Wieck mit der ‚Neuen Zeitschrift für Musik'“ (Bild: Deckblatt der Zeitschrift)
„An die alte Zeit und ihre Wege mit allem Nachdruck zu erinnern, darauf aufmerksam zu machen, wie nur an so reinen Quellen neue Kunstschönheiten gekräftigt werden können, sodann die letzte (jüngste) Vergangenheit, die nur auf Steigerung äusserlicher Virtuosität ausging, als eine unkünstlerische zu bekämpfen, endlich eine neue, poetische Zeit vorzubereiten, beschleunigen zu helfen.“ Den „Davidsbündlern“ um Wieck und Schumann ging es also um Abgrenzung von der ihrerseits verachteten Episode des Virtuosentums.
Wie wir heute wissen, war die romantische Epoche nicht nur eine Zeit grosser Kunst, sondern auch durch zahlreiche, heute grotesk anmutende Grabenkämpfe, durch Rufmorde und gegenseitige Verächtlichmachung der verschiedenen ästhetischen und politischen Lager gekennzeichnet. Möglich wurde dies durch das Entstehen zahlreicher publizierter Printmedien. Damit entwickelte sich das, was wir heute massenmediale Rezeption von Kunst und Kultur nennen. Es gab nun erstmalig in der Kunstgeschichte Menschen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, Kulturereignisse für das Publikum zu reflektieren, meist ohne selbst Künstler zu sein. Es schlugen also nicht mehr nur eifersüchtelnde und erfolgsneidische Kreative verbal aufeinander ein (z.B. Börne vs Heine), sondern inzwischen mischte die neu entstandene Berufsgruppe der Kunstkritiker (z.B. Hanslick vs Wagner) kräftig mit.
Ernst – und unterhaltend
„Die neu entstandene Berufsgruppe der Kunstkritiker mischte kräftig mit“. (Bild: Hanslick gegen Wagner in einer zeitgenössischen Karikatur)
Ästhetische wie inhaltliche Abgrenzung mag sinnvoll sein, oft genug jedoch kann man in der Kunst Ziele und Absichten am einfachsten fixieren, indem man sagt, was man nicht will. Die Trennlinie aber zwischen „ernst“ und „unterhaltend“ zu ziehen ist ebenso dumm wie nichtssagend. Wenn man das Überdauern von Zeitaltern und das Haftenbleiben im kollektiven kulturellen Bewusstsein als vielleicht einziges einigermassen brauchbares, statistisch begründetes Qualitätskriterium für Kunst überhaupt nimmt, so zeigt sich, dass sich gerade die musikalischen Giganten der Geschichte dadurch auszeichneten, dass ihre Musik je nach kompositorischer Absicht beides war, ernst und auch unterhaltend. Wer würde dem Lacrimosa aus Mozarts Requiem seinen tiefen Ernst und seine Trauer aberkennen wollen, weil es den (tänzerischen = unterhaltsam-profanen) Dreierrhythmus benutzt? Nein, diese beiden Attribute sind so untauglich wie nur eben möglich, in der Geschichte ebenso wie heute.
„Du sollst die Schönheit lieben, denn sie ist der Schatten Gottes über dem Weltall“. (Die chilenische Dichterin und Nobelpreis-Trägerin Gabriela Mistral)
Die chilenische Dichterin und Nobel-Preisträgerin Gabriela Mistral hingegen formulierte ihre Forderungen an den Künstler ebenso einfach wie poetisch: „Du sollst die Schönheit lieben, denn sie ist der Schatten Gottes über dem Weltall. Sie soll aus deinem Herzen aufsteigen in dein Lied, und der erste, den sie läutert, sollst du selber sein. Du sollst die Schönheit nicht als Köder für die Sinne darbieten, sondern als natürliche Speise der Seele.“
Obwohl ich kein religiöser Mensch bin, sagen diese wenigen Worte mir mehr darüber, wie Kunst sein soll, als alle klugen Aufsätze, die ich von theoretisierenden Kritikern und neunmalklugen Inhabern höchster akademischer Titel und Weihen je gelesen habe. Denn diese Sätze spiegeln die Magie der Kunst ebenso, wie sie die Verantwortung des Künstlers formulieren!
Franz Schuberts „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh´ ich wieder aus“
Darin finde ich auch jene wichtigen Schaffenskriterien, die ich für Künstler anerkennen mag. Weitab von E, U und all den geschwätzigen Deklarationen der Theoretiker gelten diese knappen Worte für Franz Schuberts: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh´ ich wieder aus“ mit der unvergleichlichen absteigenden Moll-Melodielinie ebenso wie für das so vollkommen wie einfach komponierte Beatles-Lied aus dem sog. White-Album: „Blackbird singing in the dead of night. Take these broken wings and learn to fly. All your life, you were only waiting for this moment to arise“.
Kunst mit Wissenschaft erfassbar?
Das White-Album der Beatles: „Blackbird singing in the dead of night. Take these broken wings and learn to fly. All your life, you were only waiting for this moment to arise“
Nichts gegen die Musikologie, aber wenn sie Wissenschaft sein will, sollte sie sich in ihren Versuchen zu kategorisieren endlich vom dünnen Eis solcher alles und nichts sagenden Attribute wie „ernst“ und „unterhaltend“ zurückziehen und sich, wenn dies überhaupt beim Thema Kunst möglich ist, in Definitionen und Fakten äussern. Sonst behalten auf Dauer all jene recht, die rundweg bestreiten, dass Kunst in ihrer Relevanz überhaupt mit den Methoden der Wissenschaft erfassbar ist. Selbst der grosse Adorno, welcher – wo er sich mit gesellschaftlich-soziologischen Tatsachen und deren Wirkung auf die Kunst beschäftigte – ein brillanter Analysator war, versagte bei den meisten seiner Versuche, den Fragen von Wert oder Unwert der Musik seiner Zeit auf den Grund zu gehen. Dabei wird er unkonkret-schwurbelig bis anmassend in seinen Urteilen, weil auch er letztlich immer wieder bei den unseligen Buchstaben E und U landet.
Falls für jene unter uns, die heute Musik komponieren, irgendwelche Kategorisierungen und Einordnungen, die mehr zu sagen versuchen als „gut oder schlecht“, überhaupt wichtig sein können, dann müssen gerade wir uns mit diesen gesellschaftlichen Fakten beschäftigen, also mit der Art und Weise, wie Gesellschaft und Ökonomie sich mit unserer Kunst befasst, mit deren Praktiken der Veröffentlichung, Vervielfältigung und Verwertung. Denn genau hier gibt es Erscheinungen, deren Analyse sich lohnt, weil sie durch Zahlen, Mengen und Fakten begründet werden kann: Es gibt Musik, die industriell vermarktet wird, und solche, die nicht industriell vermarktet wird.
Vor der Musikindustrie sind alle gleich
„Sklaven, die die Peitsche der Werbung im Nacken haben“ (Udo Lindenberg über die deutschen Radiomacher)
Diese Unterteilung ist für die Komponisten und Interpreten, aber auch für das Publikum mindestens ebenso gravierend, wie die Unterscheidung zwischen gut und schlecht. Und ausserdem vollzieht sie sich in vielen Fällen auch noch völlig unabhängig von jener. Es wird ja von der Musikindustrie innovative, ästhetisch anspruchsvolle Musik ebenso intensiv vermarktet wie die grottenschlechte. Letztere lässt sich jedoch im Gegensatz zu ersterer quasi am Fliessband produzieren, was zur Folge hat, dass sie von der Industrie natürlich in viel grösserer Menge auf den Markt gekippt wird als erstere.
Thomas A. Edison diktiert in seinen Phonographen (1877)
Mit der mechanischen Abbildung der akustischen Schwingungen durch Thomas A. Edison 1877 begann, wie wir wissen, eine neue Epoche für die Musik. Auch diese Kunst konnte nun ihrer Flüchtigkeit entrissen werden, und das einmalige Ereignis, bei dem Musiker einen Moment verzauberten, indem sie die Luft um sich herum in Schwingungen versetzten, konnte konserviert und später wiedergegeben werden. Dies war eine Entwicklung, die, wie viele Erfindungen der Menschheit, Segen und Fluch zugleich bedeutete. Plötzlich konnte sich jeder für wenig Geld den Gesang Enrico Carusos in sein Heim holen und hatte Anteil an einem Kunstereignis, das vorher nur wenigen, privilegierten Reichen vorbehalten war.
Gigantische Überschwemmung mit Musik
Andererseits wurde dadurch auch die so konservierte Musik zu einem Ding, einer Schallplatte, später einer CD, das man nach Belieben produzieren, vervielfältigen und verkaufen kann. Es entstand diese Industrie, die Musik (in Form ihres mechanischen oder digitalen Abbildes) produziert und damit Handel treibt. Und weil Industrien, wie schon Karl Marx herausfand, nur expandieren oder dann untergehen können, sorgte die Musikindustrie fortan für eine Überschwemmung der Welt mit Musik in gigantischem Ausmass.
Und so entstand auch der Unterschied zwischen Menschen, die durch Komposition von Musik und durch deren Produktion Millionäre wurden – und solchen, die trotz harter, qualifizierter Arbeit als Musiker und Komponisten gerade mal ein Existenzminimum erwirtschaften:
Statistik der Musikbranche 2006/2007 – Quelle: Bild-Klick
Es ist also keinesfalls eine Frage von E oder U, oft nicht einmal eine Frage von gut oder schlecht, ob ein neues Musikstück von zahlreichen Menschen zur Kenntnis genommen wird oder nicht, und ob Komponieren oder Musizieren ein lukrativer Job ist oder nicht. Leute in den Chefetagen der Phono- und Veranstaltungs-Industrie entscheiden darüber. Sie bestimmen, welches Produkt – in unserer Sprache: Welche Komposition, welcher Solist, welches Ensemble – der Segnungen des Marketing teilhaftig wird und welches nicht. Also darüber, wofür der Werbeetat der Firma eingesetzt wird.
Kunstszene kontra Industrie, und…
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich rede nicht vom öffentlich subventionierten Kunstbetrieb, wo die bescheidenen Tantiemensummen für die Aufführung eines sinfonischen oder kammermusikalischen Werkes letztlich aus Steuermitteln bezahlt werden, sondern von der Musikindustrie, die wirklich Gewinne von gewaltigen Ausmass und somit auch Tantiemen in dieser Grössenordnung erwirtschaftet.
Für uns Komponisten nun, die aus irgendeinem (oft nicht nachvollziehbaren) Grund in den Verzeichnissen der Tantiemen-Inkassogesellschaften in der U-Schublade gelandet sind, ist es höchst fatal, dass diese, wie z.B. die deutsche GEMA, einfach leugnen, dass es zwei verschiedene Produktions- und Verwertungsebenen in der Musik gibt: In der einen Ebene – ich nenne sie die Kunstszene – wird Musik quasi in handwerklicher, manufakturieller Tätigkeit in Einzelstücken hergestellt, d.h. komponiert und aufgeführt mit dem Ziel, die Welt und das menschliche Leben mit Kunst zu bereichern. Die Aufführungen erreichen im Erfolgsfalle Zahlen im Hunderterbereich und der Verkauf von Tonträgern erreicht Zahlen, die in nur sehr seltenen Fällen über den einfachen Tausenderbereich hinausgehen. Beide zusammen erwirtschaften Tantiemen in Grössenordnungen, die nicht weit entfernt von einem mitteleuropäischen Durchschnittseinkommen liegen.
Zweifelhafte Unterscheidung in U- und E-Musik durch die deutsche GEMA
„Wir schützen und fördern die Urheber von Musik, vertreten die Interessen der Komponisten, Textdichter und ihrer Verleger weltweit und begleiten aktiv die Musikmärkte.“
„Wir prägen die kulturelle und wirtschaftliche Identität des Musiklebens und bilden die Brücke zwischen den Urhebern, der Musikwirtschaft und der Öffentlichkeit.“
„Unsere Unternehmenskultur ist geprägt durch respektvollen und offenen Umgang untereinander, durch Wissen und Erfahrung sowie durch Förderung von Eigenverantwortung.“ (Aus dem Leitbild der GEMA)
Die andere Ebene – der musikalisch-industrielle Komplex – folgt vollkommen anderen Gesetzen. Musik ist für ihn ein Produkt (wie Autos und Waschmittel), das in riesigen Stückzahlen industriell hergestellt und möglichst gewinnbringend vermarktet wird. Dieser Prozess vollzieht sich nach genau denselben Mechanismen, wie bei anderen Produkten auch. Es wird am Markt nach Bedarfszahlen geforscht, mittels Werbung der Konsum angeheizt und es gibt Erfolge mit riesigen Profiten, aber auch Flops, die rote Zahlen schreiben. Aufführungszahlen im Hunderterbereich, bzw. Tonträgerverkäufe im einfachen Tausenderbereich wie in der Kunstszene, kommen in den Rechnungen der Industrie nicht vor, und wenn doch, dann als extremer Misserfolg.
…Handwerksbetrieb gegen Konzern
Anzeige AMAZON (Gospel for Pan – Die berühmtesten Gospels und Spirituals für 1 oder 2 Panflöte/n)
Beide Szenen sind ökonomisch ebenso unvergleichbar wie ein kleiner Handwerksbetrieb mit einem weltweit agierenden Konzern. Fatal an der Sache ist eben nur, dass die Produkte letztlich fast keine Unterschiede aufweisen. Ein Konzert ist ein Konzert, und eine CD ist eine CD. Fatal ist ebenso, dass beide Szenen, was das urheberrechtliche Inkasso betrifft, oftmals grundsätzlich gleich behandelt werden. Alle Verteilungsschlüssel und Punktesysteme, die ja auf der untauglichen Unterscheidung zwischen U und E beruhen, sorgen somit dafür, dass Komponisten, deren Stücke (meist in einem völlig mechanischen Akt) als Werke der U-Musik eingestuft sind, pro Aufführung nur ein Bruchteil der Tantiemen-Ausschüttung erhalten, die sie bekämen, wenn ihr Werk E wäre, obwohl die Inkassogesellschaft vom Veranstalter der Aufführung just die selbe Summe eintreibt – in dem Fall gibt es zwischen E und U keine Unterschiede!
Note für Note…
Man begründet dieses Ungleichgewicht heute damit, dass U-Musik grundsätzlich und stets massenhaft aufgeführt und verbreitet wird, während E-Musik ohnehin nur von einer kleinen Gruppe von gebildeten Liebhabern lebt. Deshalb können Komponisten von E-Musik von ihren Tantiemenüberweisungen oft recht gut leben, während U-Komponisten bei gleicher Aufführungszahl nur geringfügige Cent-Beträge ausbezahlt bekommen, von denen sie nicht einmal ihre Briefmarken bezahlen können!
Erste Partitur-Seite der Kantate „Rosen, wild wie rote Flammen“ nach Heines „Harzreise“ von Frieder W. Bergner
Ein selbst erlebtes Beispiel soll diese (völlig willkürliche) Ungleichbehandlung verdeutlichen: Meine Kantate „Rosen, wild wie rote Flammen“ für Vokalsoli, gr. Orchester, Jazzband und Rockensemble nach lyrischen Texten aus H. Heines „Harzreise“ bekam von der GEMA statt der von mir beantragten E (X, 10) die Einstufung U (XI, 5). Laut Verteilungsplan bedeutete dies ein Verhältnis von 1200 Punkten zu 60, das heisst die GEMA sprach mir ein Anrecht auf genau 5% der zu verteilenden Netto-Tantiemeneinnahmen zu. Die „restlichen“ 95% der auszuzahlenden Einnahmen verteilte sie ohne mich zu fragen an andere Komponisten.
Diese Kantate war ein Auftragswerk anlässlich der festlichen Eröffnung einer ostdeutschen Landesgartenschau. Die Honorarsumme lag bei etwa 70% der vom Dt. Komponistenverband veröffentlichten Honorarrichtlinie (Minimum) für Kompositions-Aufträge für Konzert und Musiktheater. Nicht gerade üppig, zumal, wenn ich hinzufüge, dass ich fast ausschliesslich daran ca. 6 Wochen gearbeitet habe, 6 Tage pro Woche. Ich denke, ich habe straff gearbeitet, sicher gibt es Kollegen, die 30 Min. konzertante Musik für diese Besetzung schneller schreiben können, aber auch welche, die dafür länger brauchen.
Beim Schreiben dieser Komposition bin ich ethisch-ästhetischen und künstlerischen Impulsen und Kriterien wie auch intellektuellen Ansprüchen gefolgt, die ich ausführlichst darlegen könnte, wenn dies nicht zu weit führte. Das Stück wird aller Voraussicht nach keine weitere Aufführung haben, nicht weil es durchfiel, sondern weil (hoffentlich) zu einem neuen entsprechenden Anlass ein neuer Auftrag an einen Komponisten erteilt werden wird. Das heisst, dass es für mich einen immensen Unterschied macht, ob ich von der GEMA 60 oder 1200 Anteilspunkte einer Summe X ausbezahlt bekam!
Weniger Geld für gleiche Arbeit?
Nun soll dieser mein Artikel nicht eine Jammer-Arie über Einkommensverluste sein, sondern ich will damit verdeutlichen, dass diese blödsinnige E-U-Trennung nicht nur Unheil in den Köpfen von Musikliebhabern anrichtet, die in der Flut von veröffentlichter Musik nach irgendeiner Orientierung suchen, sondern dass diese für eine grosse Zahl von Komponisten bewirkt, dass sie von ihrer Arbeit nicht leben können. Nämlich für all jene, die Idiomatik und Interpretationsweisen aus Pop und Jazz in ihren Werken verwenden und deren Werke deshalb zur U-Musik erklärt werden, obwohl sie sich weder in Ästhetik, Anspruch, Umfang noch durch Aufführungszahlen von Werken unterscheiden, die zur E-Musik erklärt wurden.
Noten und Noten – ein komplexes Spannungsfeld…
Die Einstufung einer Kompositionen nach E bzw. U wird den betroffenen Komponisten von der GEMA bezeichnenderweise nur auf Anfrage mitgeteilt. Sie erfolgt in einem ersten Schritt in Unkenntnis der Partitur (!). Erst wenn der Komponist Einspruch dagegen erhebt, darf er das Werk beim sogenannten Werkausschuss vorlegen. Dieser besteht zwar aus durchaus qualifizierten Komponistenkollegen, sie entscheiden aber nach Kriterien, die rein mechanisch sind: „Diese (Kriterien) beinhalten z.B. Changes-Notationen, Spielanweisungen des Jazz, tonale Kadenzierungen, rhythmische Patternbildungen etc. Der Werkausschuss darf sich in seiner Einstufungsentscheidung nur auf die Beurteilung der verwendeten musikalischen Parameter im Gesamtzusammenhang des Werkes stützen. Die Ethik und Ästhetik beim Komponieren verantwortet allein der Komponist, darüber darf der Werkausschuss nicht befinden.“ (Zitat: Vorsitzender des GEMA-Werkausschusses). So wird also mit der Begründung, dass man ja keine willkürliche Entscheidung nach ethisch- ästhetischen Prinzipien treffen darf, eine Willkürentscheidung nach der Notation von bestimmten Teilen der Partitur getroffen…
Wie sähe eine bessere Welt aus ?
„Vergessen wir E und U und überlassen die Genrebezeichnungen den Komponisten selbst oder dem Publikum, so sie Schubladen zum Einordnen der Musik benötigen.“ (Frieder W. Bergner)
Wahrscheinlich wäre es ganz einfach: Vergessen wir E und U und überlassen die Genrebezeichnungen den Komponisten selbst oder dem Publikum, so sie Schubladen zum Einordnen der Musik benötigen. Bei Jazz, Zwölftonmusik, Be Bop, Mercey-Beat, Minimal Music, New Age und so vielem anderen hat dies doch bestens funktioniert. Die Tantiemen aber sollten nach Verwertungszahlen ausgeschüttet werden, d.h. mit steigender Zahl der Aufführungen oder Verkaufszahlen der Tonträger verringert sich deren Auszahlungssumme, und die Differenz wird auf die Auszahlung weniger gespielter Werke aufgeschlagen. Damit sind zwar künstlerische und ästhetische Prinzipien gänzlich aussen vor (spätes Pech für die Davidsbündler…), aber man schafft wenigstens ansatzweise Verteilungsgerechtigkeit, so wie dies heute jeder halbwegs zivilisierte Staat mit verantwortungsbewusster Steuergesetzgebung versucht.
Wert oder Unwert von Musik kann man sowieso weder mit Buchstabenkürzeln wie E und U noch in Tantiemenbeträgen ausdrücken, das Urteil wird im Herzen von Publikum und Musikern gefällt und erhärtet sich in jenen Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten, die ein Werk überdauert – oder eben nicht. ♦
Geb. 1954 in Zwickau/BRD, Studium an der Dresdner Musikhochschule, zahlreiche kompositorische Arbeiten und Arrangements in den Genres Jazz, Pop, Rock und Kammermusik u.a. für Theater und Rundfunk, lebt als freischaffender Komponist und Instrumentalist in Ottstedt/BRD
Vor 50 Jahren stirbt ein Musik-Genie: Jan Sibelius, der mit richtigem Namen Johann Julius Christian Sibelius gerufen wird, verlässt im September 1957 im Alter von 92 Jahren die Bühne der Welt. Eine Bühne, die er für Finnland errichtet hat. Das Land am nördlichen Rand Europas wird durch seine exzentrischen, klassischen Kompositionen ins Licht der Öffentlichkeit gerückt – und weiter auf den Olymp der Musikgötter erhoben, wie er selber auch.
Jean Sibelius (1865-1957)
Der am 8. Dezember 1865 in der finnischen Provinz Hämeen lääni, in der Stadt Hämeenlinna, die mit schwedischem Namen auch Tavestehus genannt wird, geborene Jean, wächst zweisprachig auf. Neben seiner schwedischen Muttersprache muss er erst noch die urgrische Sprache Finnlands lernen. Während andere Musiker nicht von ihrem Faible oder gar ihrer Besessenheit loskommen, beendet Jean Sibelius seine künstlerische Schaffensperiode bereits in den letzten 20er Jahren des ausklingenden Jahrtausends, gut 30 Jahre vor seinem Tod. Er hat der Fachwelt doch nur mal eben zeigen wollen, wo es weiterhin lang geht. Er durchbricht Grenzen und neue Weiten in Sphären, die so nie zuvor auch nur erahnt wurden.
Komponieren beendet auf dem Höhepunkt der Karriere
Das Genie, das die Musik der Klassik so grundlegend ins Wanken bringt und dabei doch kaum Nachahmer findet, die auch nur ansatzweise seinen Stil kopieren oder gar fortführen können, beendet auf dem Höhepunkt der persönlichen Karriere seine Kunst. Er zieht sich von den Bühnen der Welt, die für ihn selber nur kleine Bühnen waren, zurück.
Gut drei Jahre studiert Sibelius auch in Berlin und Wien. Zu seinen Lehrmeistern gehören neben Robert Fuchs auch Martin Wegelius und Albert Becker. Doch Komponist ist er damit noch lange nicht. Mit seiner Rückkehr aus der Fremde 1891 lehrt er an der Universität in Helsinki Musik. Anerkennung findet er, Johan Julius Christian, zuerst nur bei seinen Studenten, als Musiker der späteren Romantik und vornehmlich finnischer Volksmusik.
Doch dann kommt der Tag, an dem er seine Rente bezieht. Nun hat der finanziell abgesicherte Musikus Zeit, sich seinen eigenen Kompositionen und Werken zu widmen. Was er schliesslich in Noten zu Papier bringt, lässt die Erde erbeben, die Fachwelt der Musikszene, sowie auch das Publikum in Grazie erstarren und Konzertsäle erzittern.
Autograph der Kullervo-Sinfonie für Soli, Chor und Orchester nach Worten aus der Kalevala
Extreme musikalische Gegensätze, die sich in einer so offenen, klaren Reinheit und Einfachheit spiegeln, und dabei höchste Konzentration erfordern, hat es bisher noch nicht gegeben. Der finnische Musik-Rebell erinnert an den einstigen jungen Mozart vergangener Jahrhunderte. Da kommt jemand, und die Musik ist nicht mehr das, was sie zuvor noch war. Es gelten plötzlich neue Massstäbe. Doch nicht nur als einfacher Komponist der höchsten Riege wird Jean bekannt. Auch seine musikalischen Interpretationen der nordisch-finnischen Mythologie sorgen für Aufsehen. Wer das schwierige, finnische Nationalepos der Kalevala – das Land Kalevas – so gekonnt in Noten küren kann wie dieser Mann, der muss zwangsläufig mehr in seinen Adern haben. Da fliesst nicht Blut, da strömen Noten und Melodien im Rhythmus wilder Orchester, so göttlich, als würde der Himmel vor Freude seine Zustimmung geben.
Ein Friedensbotschafter der Musik
1953 wird das sternenglitzernde Genie der Szene mit dem nach ihm benannten Sibelius-Preis, als erster Preisträger, ausgezeichnet. Weitere Ehrungen erhält er dadurch, dass nach ihm der Sibelius-Park und das Sibelius-Haus, ein heutiges Museum in Hämeenlinna, sowie die Sibelius-Akademie in Helsinki benannt werden.
1957 verliert Finnland, das rückständige Arbeiter- und Bauernland vergangener Zeiten, am Rande der Zivilisation und in sich zerrissenes Armenhaus des Kontinents zwischen den wie schon so oft in seiner Geschichte kalten Kriegsmächten im Osten und Westen, seinen Friedensbotschafter der Musik in einem sich neu formierenden Europa auf der Schwelle hin zur Zukunft. ♦
Jürgen Kirschner
Geb. 1964 in Heggen/BRD, als freier Publizist und Schriftsteller zahlreiche Lyrik-, Prosa- und essayistische Publikationen in Anthologien und Zeitschriften
Bereits als Neunjähriger soll der am 22. März 1948 im englischen Westminster als Sohn des Professors für Musiktheorie & Komposition am Royal College of Music William S. Lloyd-Webber geborene Andrew Lloyd Webber ein Theaterstück für Kinder geschrieben haben. 1971 gelang ihm mit der (umstrittenen, das Neue Testament eigenwillig interpretierenden) Rockoper „Jesus Christ Superstar“ der erste Welterfolg. Nach und nach kamen mit „Evita“ (1978), „Cats“ (1981), „Starlight Express“ (1984) weitere Musical-Hits auf die internationalen Show-Bühnen – alle mit durchschlagendem Erfolg.
Heute dürfte Lloyd Webber (nicht zuletzt dank eines effizient im Hintergrund wirkenden Text- und Songwriter-Teams sowie einer perfekt funktionierenden PR-Maschinerie) der berühmteste (und reichste) U-Komponist aller Zeiten sein.
Aufwändige Inszenierung mit Lichteffekten und exqusitem Outfit
Andrew Lloyd-Webber (*1948)
Alle Webber-Musicals leben von einer aufwändigen Inszenierung mit effektvoller Lichtregie und kostspieligen Kostümen. Darüber hinaus stellen sie teilweise hohe Ansprüche an die tänzerischen, gesanglichen und schauspielerischen Fähigkeiten der Darsteller. Formal sind sie meist nach dem konventionellen Muster der klassischen „Nummern-Revue“ gestrickt, wobei die Stoffe entweder literarische Vorlagen adaptieren (T.S. Eliot bei „Cats“, G. Leroux beim „Phantom“) oder auf eigenen Drehbüchern – Webbers „Lieblingstexter“ sind Tim Rice und Richard Stilgoe – basieren.
Eines der meistaufgeführten Musik-Bühnenstücke der Welt: Andrew Lloyd-Webbers „Cats“
Musikalisch ist der erfolgsverwöhnte Musical-König mit allen Wassern gewaschen, und die Palette seiner Stilmittel ist für einen Unterhaltungs-Komponisten erstaunlich breit. Vom akkordisch einfachen Liebesduettchen bis zum dissonant-martialischen Orchestertutti, von der lyrischen Solo-Arie bis zum rockigen „Chorus Line“ ziehen seine (gelegentlich durchaus kitschigen Herz-Schmerz-) Stücke sämtliche Ausdrucksregister des modernen Bühnen-Entertainments.
Populär-süsslicher Abstecher in die „Klassik“
1985 kam mit dem „Requiem“ sogar ein (melodisch teils betont populär-„süβlicher“, deshalb geschmacklich auch heftig umstrittener) Abstecher in die „Klassik“ hinzu. Das grossangelegte Werk (nach der lateinischen Totenmesse) wurde in der New Yorker Thomas-Kathedrale uraufgeführt – immerhin mit dem renommierten English Chamber Orchestra unter Lorin Maazel sowie Placido Domingo und (Webbers Ex-Ehefrau) Sarah Brightman in den Solo-Parts.
Uraufführung des Requiems 1985 mit Domingo und Brightman unter Lorin Maazel
Gewiss biedert sich hier Lloyd-Webber ganz unverhohlen einmal mehr mit melodischer Eingänglichkeit und harmonisch leicht nachvollziehbarer Simplizität bei einem „Klassik“-Publikum an, das in erster Linie weder musikgeschichtliche Progresssivität noch stilistische Komplexität, sondern schlicht Unterhaltung mit einem kleinen wohligen Schuss „Ewigkeitsschauer“ sucht.
Doch gleichzeitig ist manchen Teilen des Werkes eine gewissse Aufrichtigkeit des Gestus‘ und eine zuweilen durchaus anrührige Naivität des religiösen Ausdrucks nicht abzusprechen. Es ist wirkungsvolle Musik, die zwar nur bedingt in die grosse Tradition einer mehrhundertjährigen Messe-Vertonung zu zählen ist, die sich qualitativ aber in ihrer klanglichen Vielfalt und auch zuweilen experimentellen Instrumentenbehandlung doch wieder deutlich von anderen „poppigen“ Verschnitten des lateinischen Requiem-Ritus abhebt.
Zwischen Schein und Sein, zwischen Kitsch und Kunst
Der weltweite, nun schon seit 35 Jahren anhaltende Erfolg des mehrfach preisgekrönten Musical-Schöpfers Sir Andrew Lloyd-Webber kann nicht allein auf romantischen Kuss-Szenen, kreativen Syntheziser-Klängen, gigantischen Licht-Orgien oder millionenschweren Saal-Bauten beruhen. Lloyd-Webber, das ist auch eine Traumfabrik. Kein anderer Show-Komponist vor ihm hat die moderne Widersprüchlichkeit zwischen „Schein und Sein“, aber auch „Kitsch und Kunst“ so psychologisch raffiniert, musikalisch vielfältig und gleichzeitig szenisch virtuos auf die grossen Showbühnen der internationalen Musik-Szene gebannt. Das ist der Grund, warum man einige der besten Stücke des A. Lloyd-Webber auch noch in den nächsten 50 Jahren auf den wichtigen Spielplänen der Welt antreffen dürfte. ♦