500 Jahre Reformation: Bücher zu Luther, Zwingli & Co.

Die Reformation und ihre Protagonisten

von Günter Nawe

Was am 31. Oktober 1517 geschah, hatte den Charakter einer „Revolution“; der Anschlag der 95 Thesen an der Schlosskirche in Wittenberg sollte die Welt verändern. Martin Luther (1483 bis 1546), der ehemalige Mönch, setzte mit diesen 95 Thesen die Reformation in Gang. Und setzte dabei die Einheit der Kirche aufs Spiel, provozierte politische Ereignisse und hat mit seiner Bibelübersetzung sozusagen die deutsche Sprache „erfunden“. Damit begann ein Modernisierungsprozess in Kirche, Staat und Gesellschaft – mit weltweiten Auswirkungen bis heute.

Martin Luther (1483-1546 - Lucas Cranach d.Ä.)
Martin Luther (1483-1546 – Lucas Cranach d.Ä.)

Auslöser des Ganzen waren Luthers Thesen zum Ablass, ein Verfahren der Kirche, mittels dessen die Gläubigen gegen Geld Vergebung ihrer Sünden erlangen sollten. Luther monierte dieses Verfahren und forderte stattdessen, dass die Kirche die Gläubigen lehre, das „Evangelium und die Liebe Christi“ zu lernen. Was sich daraus entwickelte, war vergleichbar einem Erdbeben mit unabsehbaren Folgen.
Dieser Mann war Vieles in Einem: Reformator, Mönch und Theologe, Mystiker, Professor, Fürstenfreund und Bauernfeind, Antisemit, Vater und Ehemann, Übersetzer und Schriftsteller und Publizist. Ihm widmete die Evangelische Kirche, die Christenheit insgesamt und Deutschland im Besonderen ein ganzes Gedenkjahr.
Vor allem waren (und sind es noch immer) Bücher und Artikel, Biographien und historische sowie theologische Abhandlungen, die versuchen, Martin Luther auf die Spur zu kommen, die Bedeutung der Reformation für Religion und Geschichte auszuloten und nicht zuletzt Luthers überragende Leistung als Sprachschöpfer zu würdigen.

Ein deutscher Rebell: Martin Luther

Heimo Schwilk: Luther - Der Zorn Gottes
Heimo Schwilk: Luther – Der Zorn Gottes

Als einen „deutschen Rebellen“ sehen ihn Autoren wie Willi Winkler und Heinz Schilling. In ihren ausgezeichneten Biographien, zu denen auch die grossartige Arbeit von Lynda Roper, und die Luther-Arbeit von Volker Reinhardt zu zählen ist, zeigen sie ihn uns als ein Mann der Zeit, geben Orientierung und bringen uns den Menschen Luther näher. Das gilt auch für die Biographie von Heimo Schwilk: Luther – Der Zorn Gottes, der seiner Arbeit den Untertitel „Der Zorn Gottes“ gibt und damit aufzeigt, dass Luther vom „Furor des Gottsuchers“ angetrieben sowohl Gottesbindung als auch Obrigkeitstreue als wichtige Elemente seines Lebenswerks sah. So gelingt es Schwilk, dem Leser deutlich zu machen, was Luther bewegt hat. Seine Biographie bietet wenn schon nicht einen ganz neuen, doch einen frischen Blick auf den Reformator, auf sein Leben, seien Theologie und sein Werk.

Die Entwicklung der Reformation und ihre Folgen

Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte - Eine Geschichte der Reformation
Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte – Eine Geschichte der Reformation

Die volle Wucht der Reformation können wir erahnen, wenn wir über ihr Entstehen, ihre Entwicklung und die Folgen Bescheid wissen. Einen solchen Bescheid vermittelt uns Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Kaufmann hat ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung abgeliefert. Kaum einer weiss mehr über das Thema – und kaum einer weiss besser darüber zu erzählen. So haben wir die Geschichte der Reformation, einer Epoche voller Dramatik, bisher noch nicht gelesen: faszinierend geschildert, kenntnisreich, packend und kritisch.

Johannes Calvin (1504-1569 - Hans Holbein d.J.)
Johannes Calvin (1504-1569 – Hans Holbein d.J.)

Wenn wir aber schon von Reformation reden, ist ein Blick von Wittenberg nach Zürich und nach Genf unausweichlich. Denn Luther war kein einsamer Gestalter. In der frühen Neuzeit gab es religiöse Bewegungen und Zeitgenossen wie Philipp Melanchthon und Thomas Müntzer, im weitesten Sinne auch Erasmus von Rotterdam, vor allem aber Huldrych Zwingli (1484 bis 1531) und Johannes (Jean) Calvin (1509 bis 1564), deren Denken und Tun für die Zeit ebenso prägend und folgenreich war. Beide begründeten mit Luther und doch unabhängig von ihm einen recht eigenständigen Protestantismus.

Besonders strenger Bibel-Interpret: Johannes Calvin

Volker Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend - Calvin und die Reformation in Genf
Volker Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend – Calvin und die Reformation in Genf

So ist es nur recht und billig, im zu Ende gehenden Reformationsjahr auf sie mehr als nur hinzuweisen. Volker Reinhardt, mit Luther ebenso vertraut wie mit Johannes Calvin, hat in seinem bereits 2009 erschienenen Buch Die Tyrannei der Tugend – Calvin und die Reformation in Genf aufgezeigt, wie der Prediger Johannes Calvin, Reformator der zweiten Generation, zum Begründer des Calvinismus, einer besonders strengen Auslegung der Evangelien, wurde. Mehr noch, so Reinhardt, hat Calvin, hat der Calvinismus nicht nur die Welt durch seine Sittenstrenge, Askese und Bilderfeindlichkeit verändert, sondern auch zur Entstehung des Kapitalismus wesentlich beigetragen. Reinhardt erzählt zudem anschaulich, wie es dem wortgewaltigen Prediger Calvin gelungen ist, Genf zu einem „reformierten Rom“ zu machen.

Schlüsselfigur der Reformation: Erasmus von Rotterdam

Ueli Greminger: Im Anfang war das Gespräch - Erasmus von Rotterdam und der Schatten der Reformation
Ueli Greminger: Im Anfang war das Gespräch – Erasmus von Rotterdam und der Schatten der Reformation

Die Zürcher Reformation und überhaupt die Reformation hat ohne Zweifel Erasmus von Rotterdam (mit-) geprägt. Nicht zuletzt durch seine Bibelübersetzung aus dem Griechische ins Lateinische (Novum Instrument – Neues Testament), die auch zur Grundlage der lutherischen Übersetzung ins Deutsche wurde. So hat er den Anfang des Johannes-Evangeliums nicht mit dem üblichen „Im Anfang war das Wort“ übersetzt, sondern mit „Im Anfang war das Gespräch“. Dies ist auch der Titel eines kleinen Büchleins von Ueli Greminger: Im Anfang war das Gespräch – Erasmus von Rotterdam und der Schatten der Reformation. Er zeichnet im Rahmen eines Gesprächs zwischen einem Theologen und einem Psychologen das Menschen- und Gottesbild des Erasmus und lässt damit den Denker als eine Schlüsselfigur der Reformation erkennen.

Älteste protestantische Bibel-Übersetzung: Huldrych Zwingli

Peter Opitz: Ulrich Zwingli - Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus
Peter Opitz: Ulrich Zwingli – Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus

Eine Schlüsselfigur der Reformation ist zweifellos auch Huldrych Zwingli. Ihm hat die protestantische Welt die Zürcher Bibel zu verdanken. Sie entstand bereits fünf Jahre vor Luthers Übersetzung und gilt als die älteste protestantische Übersetzung der gesamten Bibel. Damit nicht genug: In 67 Thesen (auch hier gibt es Parallelen zu Martin Luther), die in mehreren Disputationen zur Diskussion gestellt wurden, hat er seine Ansichten deutlich gemacht. In seinem Kommentar zum wahren und falschen Religion zeigte Zwingli sich in vielen Punkten mit Luther einig. Was die Liturgie betraf, war er radikaler als Luther. Und was das Abendmahl betraf unterschied er sich wesentlich vom deutschen Reformator. Nachzulesen ist dies und mehr in der Biographie des Zwingli-Forschers Peter Opitz: Ulrich Zwingli –  Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus.

Die Frauen an der Seite der Reformatoren

Luther, Zwingli, Calvin – alle drei Reformatoren hatten Frauen an ihrer Seite. Über Luthers Frau Katharina Bora, die ehemalige Nonne, gibt es Literatur in Hülle und Fülle. Wogegen wir von Idelette Calvin, der Frau des Genfer Reformators, relativ wenig wissen. Und Zwingli? Er war neun Jahre, von 1522 bis 1531, mit Anna Reinhard verheiratet. Sie, die als Tochter eines Gastwirts zur Frau des Reformators wurde, war die starke Frau an seiner Seite. Am Ende verlor sie Mann und Sohn auf dem Schlachtfeld von Kappeln.
Ihrem Leben und Wirken ist die Romanbiografie von Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli gewidmet. Sigrist, Pfarrer am Grossmünster in Zürich und damit Nach-Nachfolger des Leutpriesters Zwingli, hat, wie Klara Obermüller in ihrem Vorwort schreibt, „einer Frau, die im grossen Schatten ihres Mannes zu verschwinden drohte, ihre Stimme und ihr Gesicht zurückgegeben. Und er lässt uns den Mann, Zwingli, noch einmal ganz neu sehen durch die Augen seiner Frau.“

Reformatorisches Liebespaar: Anna und Ueli

Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli
Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli

Sigrist hat eine fiktive Biographie geschrieben, die in Form eines Tagebuchs nachträglich das Zusammenleben vorstellbar macht. Anna, der ihr Ueli fehlt, schreibt über ihre Liebe zueinander, über die Kinder, das Hauswesen, aber auch über seine Theologie und ihr Verständnis davon – und das beileibe nicht unkritisch. So gelingt Sigrist ein brillantes Psychogramm des Reformators und eines aussergewöhnlichen Paares in aussergewöhnlicher Zeit. Beide, Ulrich und Anna, treten auch in dem Mysterienspiel Die Akte Zwingli auf, für das Christoph Sigrist den Text geschrieben hat und Hans Jürgen Hufeisen die Musik. Das Libretto ist – sie schön ergänzend – der Romanbiografie angefügt.

Am Ende: Ohne das gedruckte Wort hätte es wohl keine Reformation gegeben. Bücher und Schriften, Flugblätter, Pamphlete und Karikaturen verbreiteten die Ideen und Überzeugungen der Reformatoren in Windeseile. Grossmeister des Metiers war zweifellos Martin Luther. Und 500 Jahre danach sind es wieder Medien der unterschiedlichsten Art, die uns die Reformation, dieses Weltereignis, und ihre Protagonisten einmal mehr näher bringen. Historisches, Theologisches, Biographisches – alles zu diesem Thema ist mehr oder weniger lesenswert. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Mittelalter und Renaissance“ auch das
Interview mit Rebecca Gablé („Der dunkle Thron“)

… sowie zum Thema Mittelalter auch über
Martin Grubinger: Drums `N` Chant (Audio-CD)

Ines Oppitz: Bild-Meditation über „Landschaft mit Laternen“

inmitten / abgewandt

Bild-Meditation über „Landschaft mit Laternen“ von Paul Delvaux

Ines Oppitz

Paul Delvaux - Landschaft mit Laternen - Ölbild 1956 - Glarean Magazin
Paul Delvaux – Landschaft mit Laternen – Ölbild 1956

müdigkeit auf den lidern wie schnee fällt und wind sich senkt in die felle / schwer die lider die erinnerung licht / jetzt die erinnerung gelichtet der abend in die helle genommen die dahinziehenden wände / umschliessung wie in nach unten weit geöffneten armen / in diesem schutz tritt sie / im ausgegossenen licht / wachsamen laternenspalier / zierlich auf abstand distanz wie gemessen / tritt sie ins bild / ein wenig verkürzt der saum das schwarze gewand ein wenig im nirgendwo über dem bildrand / nur ein schritt könnte sagen woher / zurück nur ein schritt ohne nachrücken des bildes / ein schritt oder zwei oder und… tritt sie ins bild fehlendes saumstück / der saum das pflaster umschwebend dunkel die schwere das kleid die schleppe schmal hin zur mitte des leibes zart aufsteigendes spiel um die schultern / alabaster der nacken / geknotet das monddurchsponnene haar / die gestalt aufrecht undeutbar / licht über den wänden wie tag / trapeze / astgewirk an den stämmen der pappeln / aufwärts als wäre der himmel zu tragen / tiefschwarz der himmel seelenkleid schwarz die blicke der wände ins innere eines gehöfts / breit fliesst der weg / strömt abwärts unmerklich in streng quadratisch abgezirkelten steinen schwärzlich gefügt / strömt abwärts der weg auf seinem rücken das licht das abnimmt hinaus in das tal / am unteren bildrand steht sie tritt in das bild rücklings eine andere wirklichkeit / abgewandt / erhöht steht sie in der szene des bilds der dämmrigen landschaft zu / der fahlen wiese dem milchigen see der blassen kahlheit der berge / stille ist / ruhe / knistert leise das licht / fängt sie frieden ein in der brust / mit übereinander liegenden händen ist es wie immer ersehnt im einklang des abends im versiegenden schläfrigen tag / ruhe ist… oder erschreckend / schrecken abwehrende geste …

falbweiss zur mitte des bildes hin zwei gestalten nahe am wasser / der schritt ohne hast / im gleichmass der schritt das gehen gravitätisch hintereinander / zwischen ihnen die bahre hoch gebauscht darauf gellend weiss das schreiende tuch… ♦


Ines OppitzInes Oppitz - Lyrik-Autorin im Glarean Magazin

Geboren in Wels/A, Ausbildung zur Lehrerin in Linz, anschliessend sechs Jahre Schuldienst an Volks- und Hauptschulen; Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft und Philosophie, Ausbildung zur diplomierten Literaturpädagogin; Verschiedene Buchpublikationen, zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien, Literatur- und Kulturzeitschriften; lebt als freiberufliche Literaturpädagogin in Wels

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Bild-Meditation auch Johanna Klara Kuppe: Über Bilder von Böcklin und De Chirico

Mario Andreotti: Wie Jugendliche heute schreiben

Sprachwandel oder Sprachzerfall?

Wie Jugendliche heute schreiben

von Mario Andreotti

„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben; sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur und Sprache zu erhalten.“ Worte eines frustrierten Lehrers, werden Sie jetzt vielleicht denken. Weit gefehlt. Das ist nicht die Klage eines Zeitgenossen; die Klage findet sich vielmehr auf einer rund 3000 Jahre alten babylonischen Tontafel.
Warum führe ich das an? Aus dem ganz einfachen Grunde, weil die ältere Generation zu allen Zeiten über den Zustand der jüngeren geklagt hat. Uralt schon ist dieses Reden vom Sprachzerfall, und hätte es zu jeder Zeit zugetroffen, so würden uns heute fast gänzlich die Worte fehlen und unsere Kommunikation wäre wohl nur noch auf ein Stammeln, ein Grunzen oder Pfeifen reduziert.
Stimmt es aber, dass die sprachlichen Fähigkeiten unserer Jugendlichen derart zurückgegangen sind, wie man immer wieder hören kann? Um es gleich vorwegzunehmen: Die Antwort auf diese Frage wird nicht ein Ja oder Nein, sondern ein differenziertes Urteil sein.

Jugendliche schreiben heute mehr als früher

Jugendliche - Girls - Handy - Kommunikation - Glarean Magazin
Jugendliche schreiben heute mehr als je zuvor: Young Ladies beim Konsultieren ihres Lieblingsspielzeuges

Beginnen wir mit einem vielgehörten Vorurteil, das da lautet, Jugendliche würden ausserhalb der Schule kaum noch schreiben; sie sässen in ihrer Freizeit vielmehr vor dem PC, den sie vor allem für Spiele und für das Surfen auf Unterhaltungsseiten im Internet nutzten. Ein Vorurteil, das so nicht stimmt, denn die Fakten sprechen eine andere Sprache: Jugendliche schreiben heute mehr als je zuvor. Ob sie mit Klassenkameraden chatten, E-Mails verfassen, Mitteilungen über SMS machen, sich an Online-Spielen beteiligen, ihr Profil auf Facebook aktualisieren oder einen Kommentar in einem Blog veröffentlichen: Sie schreiben. Selbst das Handy dient Jugendlichen, anders als das Telefon früher, vorzugsweise zum Schreiben, nicht zum Sprechen. Ja, es wird im privaten Raum heute derart viel geschrieben, dass wir Germanisten geradezu von einer „neuen Schriftlichkeit“ sprechen. Nur ist es ein etwas anderes Schreiben, als es sich besorgte Eltern, Lehrer und Arbeitgeber wünschen – ein Schreiben, das von ihnen häufig als defizitär bezeichnet wird. Doch wie sieht dieses Schreiben unserer heutigen Jugendlichen konkret aus?

Aneinanderreihung von Hauptsätzen

Bevor ich diese Frage beantworten kann, gilt es, darauf hinweisen, dass frühere Generationen ihr Schwergewicht zum einen auf die geschriebene Sprache legten und zum andern diese geschriebene Sprache häufig mit der hohen Sprache der Dichtung gleichgesetzt haben. Im Schüleraufsatz eines 16-jährigen Jugendlichen aus den 1950er Jahren tönte das dann, recht abgehoben, etwa so:

Dann betraten sie das kühle, dämmerige, kerzenerleuchtete Kirchenschiff. Wärme zog ein in ihre erkalteten Herzen und verbreitete den heissen ersehnten inneren Frieden.

Ganz anders ein paar Sätze aus einem 2015 entstandenen Aufsatz zum Thema „Eifersucht“ einer ebenfalls sechzehnjährigen Schülerin:

Wir sind umgezogen und ich kam in eine neue Schule, es war mir peinlich als Frau Schmidt (die Direktorin) mich der Klasse vorstellte, sie sagte: „So, das ist die neue Schülerin Vanessa“! Ich kam mir echt blöd vor, dann sagte Frau Schmidt zu mir, das ich mich zu Kevin setzen soll, das ist ein Junge mit blauen Augen und blonde Igelhaare, er hätte auch super coole Klamotten an, er sah echt süss aus. In der ersten Woche waren alle auch sehr nett zu mir, vor allem Kevin. In der Pause hängte ich immer mit Kevin rum.[…]

Duden - Sprache - Rechtschreibung - Lesen - Lupe - Glarean Magazin
Hat Pause, wenn es bei Jugendlichen um genauen Ausdruck und korrekten Satzbau geht: Der Duden

Das ist, wie man sofort bemerkt, nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich ein ganz anderer Text. Was an diesem Text, neben den Orthografie- und Grammatikfehlern, sofort auffällt, die fast ausnahmslose Aneinanderreihung von Hauptsätzen, die jeweils weder durch ein Satzschlusszeichen abgeschlossen noch ausreichend kausallogisch miteinander verknüpft werden. Man beachte beispielsweise nur schon den ersten Satz „Wir sind umgezogen und ich kam in eine neue Schule“, der kausallogisch korrekt folgendermassen heissen müsste: „Weil wir umgezogen waren, kam ich in eine neue Schule.“ Auch die beiden Sätze „Ich kam mir echt blöd vor“ und „dann sagte Frau Schmidt zu mir […]“ sind unsauber miteinander verknüpft: „dann“ ist eine temporale Partikel; zwischen den beiden Sätzen besteht aber kein temporaler Bezug.

Merkmale des Sprechens in die Schriftsprache transferiert

Und noch etwas muss uns aufgefallen sein, die Tatsache nämlich, dass der Text der Schülerin typische Merkmale der gesprochenen Sprache aufweist. Beachten wir nur, wie die einzelnen Aussagen und Sätze weniger einer grammatischen Logik als vielmehr einem vagen Assoziieren folgen, so wie sich die Gedanken der Schreiberin im Augenblick gerade ergeben. Besonders schön zeigt sich dies in den beiden bereits vorhin genannten Sätzen „Wir sind umgezogen und ich kam in eine neue Schule“ und „Ich kam mir echt blöd vor, dann sagte Frau Schmidt zu mir usw.“, die nicht durch logische Konjunktionen, sondern rein assoziativ miteinander verbunden sind. Überhaupt fehlen im Text die Konjunktionen, die ja eine Art Scharnier zwischen den einzelnen Aussagen bilden, fast ganz. Sehen wir uns dazu beispielsweise die folgenden drei Sätze an, die durch keinerlei Scharniere miteinander verknüpft, nebeneinander stehen: „das ist ein Junge mit blauen Augen und blonde Igelhaare, er hätte auch super coole Klamotten an, er sah echt süss aus.“ Kausallogisch sauber verbunden, könnten die drei Sätze etwa folgendermassen lauten: „Das ist ein Junge mit blauen Augen und blonden Igelhaaren, der super coole Klamotten trug, so dass er echt süss aussah.“
Zur mehr assoziativen als logischen Schreibweise unserer Schülerin tritt aber noch etwas Weiteres: Warum wohl sagt die Schreiberin „er hätte auch super coole Klamotten an“ und nicht „er trug super coole Klamotten“? Ganz einfach deshalb, weil es in unserer Mundart auch heisst „Er hett super cooli Klamotte a“. Die Schülerin gleicht also den hochdeutschen Satz an die Mundart, unser mündliches Sprechen an. Ganz ähnlich verfährt sie mit dem Satz „In der Pause hängte ich immer mit Kevin rum.“ Das ist eine dem Dialekt angenäherte Umgangssprache, welche die Schülerin anstelle des hochsprachlich formulierten Satzes „In der Pause halte ich mich zum blossen Zeitvertreib mit Kevin auf“ wählt.

Unlogische Konjunktionen zwischen zwei Aussagen

Was wir im Text unserer Schülerin vorfinden, ist eine Schreibweise, wie wir sie in vielen Texten Jugendlicher antreffen. Sie zeigt sich vor allem in fehlenden oder unlogischen Konjunktionen zwischen zwei Aussagen, in einem häufig unlogischen Gedankengang, in langen Sätzen mit wenig gliedernder Interpunktion, in einem vagen Assoziieren, in einer oftmals ungenügenden äusseren Gliederung und nicht zuletzt in einer gewissen Geschwätzigkeit. Fassen wir diese Ergebnisse zusammen, so lässt sich sagen, dass sich bei unsern Jugendlichen eine zunehmende Angleichung der geschriebenen Sprache an die gesprochene Sprache vollzieht, in der wir ja in der Regel auch nicht stringent logisch, sondern vielmehr assoziativ argumentieren, indem wir immer wieder von einem Gedanken zum andern springen. Die Germanistik bezeichnet diese Tendenz zur Vermündlichung der Sprache, die übrigens nicht nur bei jugendlichen Schreibern, bei diesen aber besonders ausgeprägt, feststellbar ist, mit dem Begriff „Parlando“ – einem Begriff, der aus der Musiktheorie stammt und dort eine musikalische Vortragsweise meint, die das natürliche Sprechen nachzuahmen versucht.

Unter Jugendlichen gibt es mit Blick auf ihre Parlando-Texte so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, das aus folgenden vier Schreibanweisungen besteht:

  1. Nimm das einzelne Wort, den einzelnen Satz nicht allzu wichtig. Schreib weiter.
  2. Gehe davon aus, dass der Leser das, was Du schreibst, auch so versteht wie Du.
  3. Rechne mit dem gesunden Menschenverstand des Lesers; vermeide unnötige Differenzierungen.
  4. Nimm den Inhalt wichtiger als die Form.

Inhalt wichtiger als die Form

Handy - Smartphone - Jugendliche - Instagram - Glarean Magazin
Beeinflussen wesentlich das Sprachverhalten der Jugend: Das Handy und die Social Media

Diese letzte Anweisung „Nimm den Inhalt wichtiger als die Form“ ist dabei die wichtigste dieser vier Schreibanweisungen. Sie ist ganz wesentlich verantwortlich für den häufig sorglosen Umgang mit den Normen und Ansprüchen der geschriebenen Sprache, wie das Erwachsene, vor allem Eltern, Lehrer und Arbeitgeber, bei den heutigen Jugendlichen mit einem gewissen Entsetzen feststellen. So machen Schüler heute, wie der Vergleich von Schulaufsätzen aus drei Jahrzehnten gezeigt hat, doppelt so viele Rechtschreib- und vor allem Interpunktionsfehler als noch vor vierzig Jahren, wobei die Mädchen statistisch immer noch besser abschneiden als die Jungen. Und so hapert es denn auch bei der Grammatik, der Stilistik und der Sprachlogik zum Teil gewaltig, so dass wir in Schulaufsätzen beispielsweise Sätze wie die folgenden zu lesen bekommen:

Der Blitz hat uns erschrocken.
Er hing die Bilder an die Wand, aber sie hängten schief.
Graubünden ist ein gebirgiges Volk, das sich vorwiegend von Touristen ernährt.
Unsere Welt nimmt in erschreckendem Masse zu.
Fünf Prüfungstage mit weichen Knien sind abgeschlossen.

Sorglosigkeit der Sprache gegenüber

Bemerkenswert ist dabei, dass all diese Fehler weniger mit mangelnder Sprachbeherrschung zusammenhängen als vielmehr mit einer gewissen Sorglosigkeit der Sprache gegenüber. Besonders schön zeigt sich das an den auffallend vielen Rechtschreibfehlern in Wörtern, die eher einfach zu schreiben sind: Ich fant die Läute gemein.
Wie erklärt sich diese Vernachlässigung der sprachlichen Form, wie wir sie in Parlando-Texten unserer Jugendlichen, geradezu gehäuft vorfinden? Dafür gibt es selbstverständlich verschiedene Gründe; die drei wichtigsten möchte ich kurz nennen:
Der erste Grund – wie könnte es anders sein – ergibt sich aus dem Aufkommen neuer, elektronischer Medien wie E-Mail, SMS, Chat, Facebook, Whatsapp usw., wo das ungeschriebene Gesetz der Sprachökonomie gilt, d.h., wo alles möglichst schnell, kurz und der mündlichen Redesituation angepasst sein muss. So tippen Jugendliche in ihren Mails beispielsweise nur das Kürzel gn8, wenn sie dem Freund „Gute Nacht“ wünschen, oder OMG (oh my god), wenn für sie etwas furchtbar ist oder hdgdl, wenn sie jemandem sagen wollen: „hab dich ganz doll lieb“. Und gegrüsst wird nur noch mit Kürzungen wie LG (liebe Grüsse) oder „hegrü“, falls man sich überhaupt noch Zeit für einen Gruss lässt. Kommas lässt man selbstverständlich möglichst weg; sie kosten ja auch nur Zeit. Schliesslich schreiben Jugendliche etwa beim Chatten konsequent klein; das geht schneller, als wenn sie zwischen gross- und Kleinbuchstaben abwechseln müssen.

Persönliche Erfahrung als Massstab des Schreibens

Dass dieses informelle, verkürzte Schreiben in den neuen Medien das Schreiben in den übrigen Texten, etwa in Schulaufsätzen, beeinflusst, steht ausser Frage, auch wenn dieser Einfluss, wie neuere linguistische Studien gezeigt haben, nicht überschätzt werden darf. Es gibt da nämlich noch ein weiteres wichtiges Moment, das sich auf die Schreibweise unserer heutigen Jugendlichen auswirkt. Wurde früher, etwa in Schulaufsätzen an der Oberstufe die Darstellung schulischer Inhalte gefordert, lautete ein Thema etwa „Der Freiheitsbegriff in der Schweizerischen Bundesverfassung“, so wird heute eine stärker eigenständige Auseinandersetzung mit Themen verlangt. So z.B. „Welchen Wert hat der Sport für mich?“. Persönliche Erfahrungen werden für die Jugendlichen so vermehrt zum Massstab ihres Schreibens. Sie äussern sich in der Formulierung einer Ich-Perspektive, zeigen sich im Anspruch der Jugendlichen, authentisch zu sein, was dazu führt, dass sich ihr Schreiben der gesprochenen Sprache stark annähert. Das hat einerseits zur Folge, dass die Texte spontaner, ja lebendiger wirken, dass andererseits aber ihre formale Korrektheit abnimmt, was Grammatik, Rechtschreibung und vor allem die Interpunktion betrifft.

Verwischung der Sprachebenen

Sprechen - Verständigung - Mann und Frau - Missverständnis - Glarean Magazin
Für sprachbewusste Erwachsene bloss Fragezeichen, für inhaltsbewusste Jugendliche no problem: „Hey Kellner, schwing mal a cold one rüber.“

Schliesslich gibt es da noch einen dritten Grund für den häufig sehr sorglosen Umgang unserer Jugendlichen mit der Sprache. Er besteht in einer gewissen Demokratisierung der Sprache. Was ist damit gemeint? Ich sage es: In der deutschen Sprache haben Normen in der Grammatik, vor allem aber in der Rechtschreibung, anders als etwa im Englischen, einen sehr hohen Stellenwert, weil wir ihre Beherrschung als Zeichen für Intelligenz und schulischer Bildung nehmen. Machen wir die Probe aufs Exempel: Ich frage meine Leserinnen und Leser: Würden Sie als Arbeitgeber jemanden für einen verantwortungsvollen Posten einstellen, der in seinem Bewerbungsschreiben Grammatik- oder gar Orthografiefehler macht? Höchstwahrscheinlich nicht. Zu wichtig sind Ihnen nämlich sprachliche Normen. Und genau gegen diese Normen, die sie als elitär empfinden, rebellieren viele unserer Jugendlichen. Sie neigen zu einer Sprache, die nicht mehr grammatisch korrekt, stilistisch rein sein will, sondern in der sich verschiedene Sprachebenen gewissermassen verwischen, die – mit einem Wort – demokratisch ist. Das zeigt sich zum einen in ihrem häufig spielerischen und sorglosen Umgang mit der geschriebenen Sprache, und dies alles mit einer starken Orientierung an der Mündlichkeit, und zum andern in einem zunehmenden Einbezug der Mundart. Ohne die geringsten sprachlichen Skrupel können sie dann beispielsweise „I bi xi“ anstatt hochdeutsch „Ich bin gewesen“ schreiben. Das schafft für sie offenbar Nähe.

Unterschied zwischen Hochsprache und Dialekt verwischt

Bei Jugendlichen läuft der private schriftliche Austausch – per SMS, Chat, Mail, Whatsapp usw., aber auch in vielen nichtelektronischen Texten – heute fast ausschliesslich in der Mundart ab; für sie existiert der Unterschied zwischen Hochsprache und Dialekt nicht mehr, so dass die Linguisten längst von einem „Schriftdialekt“ sprechen. Interessant ist dabei, dass diese Tendenz zur Dialektisierung der Hochsprache zunehmend auch junge Erwachsene erfasst. Als unsere Tochter Flavia, die Lehrerin ist, für ihre beruflichen Leistungen vom Schulrat mit einer Prämie belohnt wurde, gratulierte ihr unser 28jähriger Sohn Fabio, der Jurist ist, mit folgender Mail:

Sehr geilö Flav
gratuliere vu herze
lg Fab (Herzchen)

Was an dieser Mail auffällt, sind nicht nur die Mundart und die Kürzung lg für „Liebe Grüsse“, sondern auch der typisch jugendliche Ausdruck „geilö“, der hier nichts weiter meint, als dass man etwas gut findet, und das Herzchen am Schluss, das nicht fehlen darf. Denn Jugendliche empfinden eine Nachricht als unvollständig, wenn nicht mindestens ein Smiley oder ein Herzchen gesetzt wird. Die Linguisten sprechen inzwischen gar von einer „Gefühlsstenografie“. Zu ihr gehört auch, ganz nach amerikanischem Vorbild, die informelle, stark emotional gefärbte Anrede, die inzwischen mehr und mehr auch von Erwachsenen, ja selbst von Unternehmen praktiziert wird, wie das folgende Beispiel zeigt, das übrigens meine Frau in St. Gallen entdeckt hat:

"Informelle und stark emotional gefärbte Anrede": An Jugendliche gerichtete Plakat-Sprache
„Informelle und stark emotional gefärbte Anrede“: An Jugendliche gerichtete Plakat-Sprache

Man beachte in dieser etwas kumpelhaften Anwerbung nicht nur die typische Jugendsprache, sondern auch die mit ihr zusammenhängenden Anglizismen „hey“ und „cool“. Dass englische Wörter unsere deutsche Sprache zunehmend vereinnahmen, ist längst eine Tatsache. Dass sie bei Jugendlichen besonders beliebt sind, hängt unter anderem damit zusammen, sich als Gruppe von den Erwachsenen abgrenzen zu können. Dazu kommt das hohe Prestige des Englischen, wirkt es doch so modern, so snappy, so sexy, wie es Deutsch offenbar nicht kann. „Tschau Simon, see you later“ verabschieden sich Jugendliche untereinander heute. Und wenn sie etwas essen, dann „fooden“ sie, und wenn sie beim Essen ein Bier bestellen, dann rufen sie nicht einfach nach einem Bier, sondern dann heisst es „Hey Kellner, schwing mal a cold one rüber.“ Und wenn sie schliesslich etwas nicht hinbekommen, dann sagen sie nicht „Scheisse“, sondern „Shit“.

Jugendliche passen die Sprache der Situation an

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Jugendliche schreiben heute informeller als noch vor 30 Jahren, machen z.T. auch deutlich mehr grammatische und orthografische Fehler. Das ist wahr. Dafür schreiben sie aber auch viel kreativer, wie neuere Studien gezeigt haben. Zudem können sie sehr wohl unterscheiden, ob sie eine SMS oder einen Deutschaufsatz schreiben. Sie passen ihre Sprache der Situation an. Und vergessen wir zum Schluss nicht: Die sprachlichen Anforderungen sind heute in einem Masse gestiegen, dessen wir uns erst allmählich bewusst werden. Was früher nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung sprachlich zu leisten war, wird heute von vielen gefordert. Daher kommt dem Auf- und Ausbau der Sprachfähigkeit unserer Jugendlichen in der Schule, aber auch später eine fundamentale Rolle zu. ♦


Mario Andreotti - Literatur-Autor im Glarean MagazinProf. Dr. Mario Andreotti

Geb. 1947, Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich, 1975 Promotion über Jeremias Gotthelf, 1977 Diplom des höheren Lehramtes, danach Lehrtätigkeit am Gymnasium und als Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, langjähriger Referent in der Fortbildung für die Mittelschul-Lehrkräfte und Leiter von Schriftstellerseminarien, seit 1996 Dozent für Literatur und Literaturtheorie an der Zürcher Fachhochschule für Angewandte Linguistik; Verfasser mehrerer Publikationen und zahlreicher Beiträge zur modernen Dichtung, darunter das Standardwerk: Die Struktur der modernen Literatur; Mario Andreotti lebt in Eggersriet/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin auch von Mario Andreotti:

Aspekte und Tendenzen der neueren und neuesten Schweizer Literatur

Ist Dichten lernbar?

Ausserdem zum Thema Kulturgeschichte über die Albert-Schweitzer-Monographie von Claus Eurich: Radikale Liebe

Kopf des Monats: Ferdinand Hodler (Scherenschnitt)

…zum Geburtstag am 14. März

Die Mainzer Schriftstellerin und Künstlerin Simone Frieling stellt im Glarean Magazin jeweils einen „Kopf des Monats“ in Form von Scherenschnitten vor. Diesmal: Den bedeutenden Schweizer Maler Ferdinand Hodler und seine Muse…

© Copyright 03/2017 by Simone Frieling

Sehen Sie im Glarean Magazin auch den „Kopf des Monats“ im Februar 2017:
Karl Jaspers

8. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

Die Offenbarungen des Schwarzen Quadrats

Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst

von Bernd Giehl (Texte)  &  Hubertus Graef (Fotos)

Das Gemälde Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch wurde zum ersten Mal 1915 bei der letzten futuristischen Ausstellung in Petrograd (St. Petersburg) gezeigt und gilt seither als eine der Ikonen der Malerei des 20. Jahrhunderts.
In der damaligen Ausstellung wurde es an der höchsten Stelle einer Ecke des Raums mit der Bildfläche leicht schräg nach unten befestigt, umgeben von anderen Bildern des Malers.
Das Schwarze Quadrat nahm damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus einer religiösen Ikone vorbehalten ist.

Das Schwarze Quadrat - Kasimir Malewitsch - Glarean Magazin
Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch

Kasimir Malewitsch selber zu seinem Werk: „Als ich den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellt ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weissen Grundfeld… Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“

Das Schwarze Quadrat steht im Zentrum eines vierteiligen, meditativen Zyklus‘ mit Texten und Bildern des Bad-Marienberger Pfarrers und Schriftstellers Bernd Giehl und des Göttinger Digitalkünstlers Hubertus Graef. Unter dem Titel „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ vereint das Werk zahlreiche je korrespondierende Wort-Bild-Kombinationen zu den Themata „Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst“.

Autor Bernd Giehl schreibt zur Entstehungsgeschichte: „Auf der Suche nach einem Titel für das gemeinsame Werk fielen mir ein paar Zeilen aus meinem Gedichtzyklus ‚Zwiegespräch‘ ein: ‚Verborgen seit jeher / Versteckt unter tausend Masken / Kein Wort so missbraucht wie dieses / Das Schwarze Quadrat / Eine Offenbarung / Verglichen mit dir / Wessen Stimme hörte Mose / Im Dornbusch in der Wüste?‘
Sowohl in den Gedichten wie auch in den Bildern geht es um Grenzerfahrungen, die manchmal, vielleicht nicht immer, mit Glauben zu tun haben“.

Als Erstveröffentlichung dieser „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ publiziert das Glarean Magazin in unregelmässiger Folge acht Auszüge des insgesamt 68 Seiten umfassenden Wort-Bild-Projektes. (we)


Von den Gedichten

Längst vergangen die Zeiten
in denen man Gedichte kaufte
wenn man um eine Frau warb
oder ein Kind gestorben –
von Hand gearbeitet
wie die Schuhe, die man trug. Heute
gibt’s Karten zu jedem Anlass
in der Postagentur.

Etwas mit eigenen Worten sagen
wie antiquiert ist das denn? „Schöngeist“
ein Schimpfwort, „Poet“ …erledigt
Wer kann geht in die EDV
die Leute
verlieben sich nicht mehr
und sterben
ist auch aus der Mode

*

Nur die Reichen
kaufen noch massgeschneidert
oder von Hand genäht vielleicht
spüren sie noch die Abgründe.
Aber wer
Ist reich genug
einen Dichter zu halten? Jedoch:
die letzten kann man mieten
wie einen Rolls
oder einen Berater.

Tanz über dem Abgrund
oder auf dem Vulkan
bald ist‘s der neueste Schrei
die Droge: nicht Ecstasy
oder Pilze
sondern Worte.

*

Hier grasen Monster
doch Gefahr ist mein Geschäft. Wir
sind die Priester des göttlichen Feuers
das euch verbrennt.
Hineinspaziert meine Damen
den Eintrittspreis
entrichten die Herren
für beide Geschlechter.

Keine Sorge wir
arbeiten mit Seil
und doppeltem Boden wir
halten die Monster in Schach
das Labyrinth betreten sie nur
mit unserem unkaputtbaren
Theseus-Faden.

Kommen Sie erleben Sie
den Schrecken
hautnah.

Hubertus Graef: Von den Gedichten (Fotografie)
Hubertus Graef: Von den Gedichten (Fotografie)

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7. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

… sowie zum Thema Wort-Bild-Mediation auch über
Urs Widmer: Valentin Lustigs Pilgerreise

7. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

Die Offenbarungen des Schwarzen Quadrats

Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst

Bernd Giehl (Texte)  &  Hubertus Graef (Fotos)

Das Gemälde Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch wurde zum ersten Mal 1915 bei der letzten futuristischen Ausstellung in Petrograd (St. Petersburg) gezeigt und gilt seither als eine der Ikonen der Malerei des 20. Jahrhunderts.
In der damaligen Ausstellung wurde es an der höchsten Stelle einer Ecke des Raums mit der Bildfläche leicht schräg nach unten befestigt, umgeben von anderen Bildern des Malers.
Das Schwarze Quadrat nahm damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus einer religiösen Ikone vorbehalten ist.

Das Schwarze Quadrat - Kasimir Malewitsch - Glarean Magazin
Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch

Kasimir Malewitsch selber zu seinem Werk: „Als ich den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellt ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weissen Grundfeld… Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“

Das Schwarze Quadrat steht im Zentrum eines vierteiligen, meditativen Zyklus‘ mit Texten und Bildern des Bad-Marienberger Pfarrers und Schriftstellers Bernd Giehl und des Göttinger Digitalkünstlers Hubertus Graef. Unter dem Titel „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ vereint das Werk zahlreiche je korrespondierende Wort-Bild-Kombinationen zu den Themata „Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst“.

Autor Bernd Giehl schreibt zur Entstehungsgeschichte: „Auf der Suche nach einem Titel für das gemeinsame Werk fielen mir ein paar Zeilen aus meinem Gedichtzyklus ‚Zwiegespräch‘ ein: ‚Verborgen seit jeher / Versteckt unter tausend Masken / Kein Wort so missbraucht wie dieses / Das Schwarze Quadrat / Eine Offenbarung / Verglichen mit dir / Wessen Stimme hörte Mose / Im Dornbusch in der Wüste?‘
Sowohl in den Gedichten wie auch in den Bildern geht es um Grenzerfahrungen, die manchmal, vielleicht nicht immer, mit Glauben zu tun haben“.

Als Erstveröffentlichung dieser „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ publiziert das Glarean Magazin in unregelmässiger Folge acht Auszüge des insgesamt 68 Seiten umfassenden Wort-Bild-Projektes. (we)


Hemsil

Flaschengrün und strudelweiss
und schwärzer als die Nacht
in Hemsedal. Inseln
von Türkis

wild und wirbelnd
im Zaubergarten der Steine
der alles verwandelt
in Farbe als wär’s van Gogh

bald taucht’s hinab
ins Kellerlicht
der grauen Katzen
und Gestalten

und auch der Schatten
der von der Brücke
auf die Felsen fiel
wird bleiben

nur in der Tiefe
die alles einsaugt
und wieder freigibt
zu ihrer Zeit.

2

Hier sass ich, schaute den Anglern zu
die nichts fingen, sah den Fluss fliessen
und nicht von der Stelle kommen
und lernte warten

auf nichts
nur das Tosen des Wassers
und darin die Stille
wie ein grosser Fisch

mit silbernen Schuppen
unbeweglich am Grund. Mehr
ist nicht zu verlangen
von uns.

3

Die Fotos im Album
sind stumm
wie ein Brief
aus Karnak. Strandgut
einer uralten Expedition.

Orte der Stille existieren
womöglich in Alaska
oder Atlantis. Hier
ist jeden Tag Jahrmarkt

mit Truhen und Kisten
voll von verschlissenen Sätzen
die wandern von Hand zu Hand
und kleiden gut.

Wo bin ich gewesen?
Ich find mich nicht zurecht.
Kein Name auf der Karte
der mir bekannt vorkommt.

Hubertus Graef: Hemsil (Fotografie)
Hubertus Graef: Hemsil (Fotografie)

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die
5. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

6. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

Die Offenbarungen des Schwarzen Quadrats

Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst

Bernd Giehl (Texte)  &  Hubertus Graef (Fotos)

Das Gemälde Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch wurde zum ersten Mal 1915 bei der letzten futuristischen Ausstellung in Petrograd (St. Petersburg) gezeigt und gilt seither als eine der Ikonen der Malerei des 20. Jahrhunderts.
In der damaligen Ausstellung wurde es an der höchsten Stelle einer Ecke des Raums mit der Bildfläche leicht schräg nach unten befestigt, umgeben von anderen Bildern des Malers.
Das Schwarze Quadrat nahm damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus einer religiösen Ikone vorbehalten ist.

Das Schwarze Quadrat - Kasimir Malewitsch - Glarean Magazin
Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch

Kasimir Malewitsch selber zu seinem Werk: „Als ich den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellt ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weissen Grundfeld… Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“

Das Schwarze Quadrat steht im Zentrum eines vierteiligen, meditativen Zyklus‘ mit Texten und Bildern des Bad-Marienberger Pfarrers und Schriftstellers Bernd Giehl und des Göttinger Digitalkünstlers Hubertus Graef. Unter dem Titel „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ vereint das Werk zahlreiche je korrespondierende Wort-Bild-Kombinationen zu den Themata „Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst“.

Autor Bernd Giehl schreibt zur Entstehungsgeschichte: „Auf der Suche nach einem Titel für das gemeinsame Werk fielen mir ein paar Zeilen aus meinem Gedichtzyklus ‚Zwiegespräch‘ ein: ‚Verborgen seit jeher / Versteckt unter tausend Masken / Kein Wort so missbraucht wie dieses / Das Schwarze Quadrat / Eine Offenbarung / Verglichen mit dir / Wessen Stimme hörte Mose / Im Dornbusch in der Wüste?‘
Sowohl in den Gedichten wie auch in den Bildern geht es um Grenzerfahrungen, die manchmal, vielleicht nicht immer, mit Glauben zu tun haben“.

Als Erstveröffentlichung dieser „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ publiziert das Glarean Magazin in unregelmässiger Folge acht Auszüge des insgesamt 68 Seiten umfassenden Wort-Bild-Projektes. (we)


Smile

Giuseppe hätte Freude daran
obwohl er das Gemalte vorzog
(ansonsten gab’s ja nur Skulpturen)
nichts liebte er mehr
als verrätselte Bilder

„Der Teil und das Ganze“
hiess seine Arbeit zur Erlangung
des Doktorgrads der freien Künste, später
malte er das Ganze in Teilen –
jedes für sich ein Ganzes

und Kaiser Rudolf
der ihn nicht verstand
aber bezahlte
zog den Hut vor ihm
den er nur selten trug

vor seinen Bildern
vergass er Habsburg
und die Kriege
so viel Leben in diesen Bildern
da sass man gern davor.

Hubertus Graef: Smile (Fotografie)
Hubertus Graef: Smile (Fotografie)
Lesen Sie im Glarean Magazin auch die
4. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

5. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

Die Offenbarungen des Schwarzen Quadrats

Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst

Bernd Giehl (Texte)  &  Hubertus Graef (Fotos)

Das Gemälde Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch wurde zum ersten Mal 1915 bei der letzten futuristischen Ausstellung in Petrograd (St. Petersburg) gezeigt und gilt seither als eine der Ikonen der Malerei des 20. Jahrhunderts.
In der damaligen Ausstellung wurde es an der höchsten Stelle einer Ecke des Raums mit der Bildfläche leicht schräg nach unten befestigt, umgeben von anderen Bildern des Malers.
Das Schwarze Quadrat nahm damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus einer religiösen Ikone vorbehalten ist.

Das Schwarze Quadrat - Kasimir Malewitsch - Glarean Magazin
Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch

Kasimir Malewitsch selber zu seinem Werk: „Als ich den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellt ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weissen Grundfeld… Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“

Das Schwarze Quadrat steht im Zentrum eines vierteiligen, meditativen Zyklus‘ mit Texten und Bildern des Bad-Marienberger Pfarrers und Schriftstellers Bernd Giehl und des Göttinger Digitalkünstlers Hubertus Graef. Unter dem Titel „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ vereint das Werk zahlreiche je korrespondierende Wort-Bild-Kombinationen zu den Themata „Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst“.

Autor Bernd Giehl schreibt zur Entstehungsgeschichte: „Auf der Suche nach einem Titel für das gemeinsame Werk fielen mir ein paar Zeilen aus meinem Gedichtzyklus ‚Zwiegespräch‘ ein: ‚Verborgen seit jeher / Versteckt unter tausend Masken / Kein Wort so missbraucht wie dieses / Das Schwarze Quadrat / Eine Offenbarung / Verglichen mit dir / Wessen Stimme hörte Mose / Im Dornbusch in der Wüste?‘
Sowohl in den Gedichten wie auch in den Bildern geht es um Grenzerfahrungen, die manchmal, vielleicht nicht immer, mit Glauben zu tun haben“.

Als Erstveröffentlichung dieser „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ publiziert das Glarean Magazin in unregelmässiger Folge acht Auszüge des insgesamt 68 Seiten umfassenden Wort-Bild-Projektes. (we)


Kobold

(Für LH)

Wirbelnd
im Wind
tanzend
ekstatisch
ein Umriss im Feuer
sich bildend
und wieder vergehend

Ein Kobold, ein Schatten
zur Nacht
komm, tanz mit mir
lern Leichtigkeit
vergiss die Erde
los, flieg mit mir
nach Utopia

Elfen werden kommen
Speise bringen von Luft
werden wir leben
im Feuer
und mit ihm
nichts
wird uns halten

nur der Wind
wird wehen
wohin er will.
Komm
tanz mit mir.

*

Sitzt in der Ecke
zerschlissnes Selbstbild
im Arm
kann nicht reden

tanzt nicht
zündet kein Feuer an
wirbelt nicht mal
den Wind.

Kein Schmetterling
zum Verspeisen
Asche im Mund. Die Welt
ist erloschen

Kobold friert
erbärmlich.

*

Ist wieder obenauf
hat Asche ausgespuckt
macht Feuer
unter meinem Allerwertesten so
dass Ich hopse
wie ihm das gefällt.

So ein … Kerl
möcht ihm die Ohren lang
und‘ s Fell möchte ich ihm
was will man alles –
ach was
ich trink ‘nen Schnaps
und Kobold
hockt beleidigt in der Ecke.

Hubertus Graef: Autos in der Nacht (Kobold) - Fotografie
Hubertus Graef: Autos in der Nacht (Kobold) – Fotografie

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Magdalena Jagelke: Drei Poesien (Gedichte)

4. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

Die Offenbarungen des Schwarzen Quadrats

Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst

Bernd Giehl (Texte)  &  Hubertus Graef (Fotos)

Das Gemälde Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch wurde zum ersten Mal 1915 bei der letzten futuristischen Ausstellung in Petrograd (St. Petersburg) gezeigt und gilt seither als eine der Ikonen der Malerei des 20. Jahrhunderts.
In der damaligen Ausstellung wurde es an der höchsten Stelle einer Ecke des Raums mit der Bildfläche leicht schräg nach unten befestigt, umgeben von anderen Bildern des Malers.
Das Schwarze Quadrat nahm damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus einer religiösen Ikone vorbehalten ist.

Das Schwarze Quadrat - Kasimir Malewitsch - Glarean Magazin
Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch

Kasimir Malewitsch selber zu seinem Werk: „Als ich den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellt ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weissen Grundfeld… Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“

Das Schwarze Quadrat steht im Zentrum eines vierteiligen, meditativen Zyklus‘ mit Texten und Bildern des Bad-Marienberger Pfarrers und Schriftstellers Bernd Giehl und des Göttinger Digitalkünstlers Hubertus Graef. Unter dem Titel „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ vereint das Werk zahlreiche je korrespondierende Wort-Bild-Kombinationen zu den Themata „Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst“.

Autor Bernd Giehl schreibt zur Entstehungsgeschichte: „Auf der Suche nach einem Titel für das gemeinsame Werk fielen mir ein paar Zeilen aus meinem Gedichtzyklus ‚Zwiegespräch‘ ein: ‚Verborgen seit jeher / Versteckt unter tausend Masken / Kein Wort so missbraucht wie dieses / Das Schwarze Quadrat / Eine Offenbarung / Verglichen mit dir / Wessen Stimme hörte Mose / Im Dornbusch in der Wüste?‘
Sowohl in den Gedichten wie auch in den Bildern geht es um Grenzerfahrungen, die manchmal, vielleicht nicht immer, mit Glauben zu tun haben“.

Als Erstveröffentlichung dieser „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ publiziert das Glarean Magazin in unregelmässiger Folge acht Auszüge des insgesamt 68 Seiten umfassenden Wort-Bild-Projektes. (we)


Hochhaus

(Für Sophie Uphoff)

Der Scheiben wegen
leb ich hier
und weil hier keiner keinen

kennt hinter all den
Spiegeln und Türen
Begegnung nur im Fahrstuhl

Gibt viele Klingeln
Und viele „Meyers“
im Wolkenkratzer

Der mich nicht kratzt
kann gehn wohin ich will
keiner fragt

nach Papieren
und im Café
kennt dich kein Kerl

Komm heim
seh mich von aussen
hoch oben an Fassade

Seh mein Gesicht
oh Horror
Ich greife durch

Greif durch das Glas
verlier die Fassung, verlier
Das Gleichgewicht

Begegne mir
wo ich’s nicht wollte.
unten am Boden.

Hubertus Graef: Hochhaus (Fotografie)
Hubertus Graef: Hochhaus (Fotografie)

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die
3. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

3. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

Die Offenbarungen des Schwarzen Quadrats

Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst

Bernd Giehl (Texte)  &  Hubertus Graef (Fotos)

Das Gemälde Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch wurde zum ersten Mal 1915 bei der letzten futuristischen Ausstellung in Petrograd (St. Petersburg) gezeigt und gilt seither als eine der Ikonen der Malerei des 20. Jahrhunderts.
In der damaligen Ausstellung wurde es an der höchsten Stelle einer Ecke des Raums mit der Bildfläche leicht schräg nach unten befestigt, umgeben von anderen Bildern des Malers.
Das Schwarze Quadrat nahm damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus einer religiösen Ikone vorbehalten ist.

Das Schwarze Quadrat - Kasimir Malewitsch - Glarean Magazin
Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch

Kasimir Malewitsch selber zu seinem Werk: „Als ich den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellt ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weissen Grundfeld… Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“

Das Schwarze Quadrat steht im Zentrum eines vierteiligen, meditativen Zyklus‘ mit Texten und Bildern des Bad-Marienberger Pfarrers und Schriftstellers Bernd Giehl und des Göttinger Digitalkünstlers Hubertus Graef. Unter dem Titel „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ vereint das Werk zahlreiche je korrespondierende Wort-Bild-Kombinationen zu den Themata „Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst“.

Autor Bernd Giehl schreibt zur Entstehungsgeschichte: „Auf der Suche nach einem Titel für das gemeinsame Werk fielen mir ein paar Zeilen aus meinem Gedichtzyklus ‚Zwiegespräch‘ ein: ‚Verborgen seit jeher / Versteckt unter tausend Masken / Kein Wort so missbraucht wie dieses / Das Schwarze Quadrat / Eine Offenbarung / Verglichen mit dir / Wessen Stimme hörte Mose / Im Dornbusch in der Wüste?‘
Sowohl in den Gedichten wie auch in den Bildern geht es um Grenzerfahrungen, die manchmal, vielleicht nicht immer, mit Glauben zu tun haben“.

Als Erstveröffentlichung dieser „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ publiziert das Glarean Magazin in unregelmässiger Folge acht Auszüge des insgesamt 68 Seiten umfassenden Wort-Bild-Projektes. (we)


Unterwegs

auf zwanzig Baustellen
von A nach F
und H ist auch gleich dran
zu schnell – selbst fürs Radar

Porsche
müsste man fahrn
nur dass der Chef sagt –
Egal

was willst du wissen?
Ja, gleich,
ich kümmre mich

später

werd ich leben
am Comer See
oder am Kap –
whalewatching nennen sie‘s

Gedichte schreiben
wenn ich Zeit hab
für ‘ne neue Liebe
ach wär das schön – jedoch

bin unterwegs
von H nach K
und O
ruft grad auf i-phone an.

Hubertus Graef: Strassenbahn (Untewegs) - Fotografie
Hubertus Graef: Strassenbahn (Unterwegs) – Fotografie

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2. Wort-Bild-Meditation über „Das Schwarze Quadrat“

2. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

Die Offenbarungen des Schwarzen Quadrats

Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst

Bernd Giehl (Texte)  &  Hubertus Graef (Fotos)

Das Gemälde Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch wurde zum ersten Mal 1915 bei der letzten futuristischen Ausstellung in Petrograd (St. Petersburg) gezeigt und gilt seither als eine der Ikonen der Malerei des 20. Jahrhunderts.
In der damaligen Ausstellung wurde es an der höchsten Stelle einer Ecke des Raums mit der Bildfläche leicht schräg nach unten befestigt, umgeben von anderen Bildern des Malers.
Das Schwarze Quadrat nahm damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus einer religiösen Ikone vorbehalten ist.

Das Schwarze Quadrat - Kasimir Malewitsch - Glarean Magazin
Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch

Kasimir Malewitsch selber zu seinem Werk: „Als ich den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellt ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weissen Grundfeld… Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“

Das Schwarze Quadrat steht im Zentrum eines vierteiligen, meditativen Zyklus‘ mit Texten und Bildern des Bad-Marienberger Pfarrers und Schriftstellers Bernd Giehl und des Göttinger Digitalkünstlers Hubertus Graef. Unter dem Titel „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ vereint das Werk zahlreiche je korrespondierende Wort-Bild-Kombinationen zu den Themata „Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst“.

Autor Bernd Giehl schreibt zur Entstehungsgeschichte: „Auf der Suche nach einem Titel für das gemeinsame Werk fielen mir ein paar Zeilen aus meinem Gedichtzyklus ‚Zwiegespräch‘ ein: ‚Verborgen seit jeher / Versteckt unter tausend Masken / Kein Wort so missbraucht wie dieses / Das Schwarze Quadrat / Eine Offenbarung / Verglichen mit dir / Wessen Stimme hörte Mose / Im Dornbusch in der Wüste?‘
Sowohl in den Gedichten wie auch in den Bildern geht es um Grenzerfahrungen, die manchmal, vielleicht nicht immer, mit Glauben zu tun haben“.

Als Erstveröffentlichung dieser „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ publiziert das Glarean Magazin in unregelmässiger Folge acht Auszüge des insgesamt 68 Seiten umfassenden Wort-Bild-Projektes. (we)


Fragile

Heute
kommt er
auf seinem Luftrad
der Wind

weht ihn
über die Dächer
drückt ihn
in unsere Gasse

von weitem schon
schwenkt er
den gelben Umschlag
hoch über mir
all meine Hoffnung
ein Stück Papier

Hubertus Graef: Plane (Fragile) - Fotografie
Hubertus Graef: Plane (Fragile) – Fotografie

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1. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

1. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

Die Offenbarungen des Schwarzen Quadrats

Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst

Bernd Giehl (Texte)  &  Hubertus Graef (Fotos)

Das Gemälde Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch wurde zum ersten Mal 1915 bei der letzten futuristischen Ausstellung in Petrograd (St. Petersburg) gezeigt und gilt seither als eine der Ikonen der Malerei des 20. Jahrhunderts.
In der damaligen Ausstellung wurde es an der höchsten Stelle einer Ecke des Raums mit der Bildfläche leicht schräg nach unten befestigt, umgeben von anderen Bildern des Malers.
Das Schwarze Quadrat nahm damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus einer religiösen Ikone vorbehalten ist.

Das Schwarze Quadrat - Kasimir Malewitsch - Glarean Magazin
Das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch

Kasimir Malewitsch selber zu seinem Werk: „Als ich den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellt ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weissen Grundfeld… Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“

Das Schwarze Quadrat steht im Zentrum eines vierteiligen, meditativen Zyklus‘ mit Texten und Bildern des Bad-Marienberger Pfarrers und Schriftstellers Bernd Giehl und des Göttinger Digitalkünstlers Hubertus Graef. Unter dem Titel „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ vereint das Werk zahlreiche je korrespondierende Wort-Bild-Kombinationen zu den Themata „Glaube, Liebe, Hoffnung, Kunst“.

Autor Bernd Giehl schreibt zur Entstehungsgeschichte: „Auf der Suche nach einem Titel für das gemeinsame Werk fielen mir ein paar Zeilen aus meinem Gedichtzyklus ‚Zwiegespräch‘ ein: ‚Verborgen seit jeher / Versteckt unter tausend Masken / Kein Wort so missbraucht wie dieses / Das Schwarze Quadrat / Eine Offenbarung / Verglichen mit dir / Wessen Stimme hörte Mose / Im Dornbusch in der Wüste?‘
Sowohl in den Gedichten wie auch in den Bildern geht es um Grenzerfahrungen, die manchmal, vielleicht nicht immer, mit Glauben zu tun haben.

Als Erstveröffentlichung dieser „Offenbarungen des Schwarzen Quadrats“ publiziert das Glarean Magazin in unregelmässiger Folge acht Auszüge des insgesamt 68 Seiten umfassenden Wort-Bild-Projektes. (we)


Jona hadert mit dem Herrn

Ich wollte nicht Prophet sein
Schafzüchter hätte mir genügt
Landpfarrer, Herr
ist auch ein ehrbarer Beruf

dabei
das Rosen züchten lernen
oder Weinstöcke schneiden
im Frühjahr.

Immer, Herr
wäre ich dankbar gewesen
ein Glas vom eignen Wein
hätt‘ ich dir vorgesetzt
wenn du gekommen wärst.

Warum nur, Herr
dein WORT –
als Feuer fiel’s auf mich

Hubertus Graef: Jona (Kokon) - Fotografie
Hubertus Graef: Jona (Kokon) – Fotografie

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von Christl Greller: Ich denke positiv (Gedichte)

Jörg Schuster: Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900

Der Brief als artifizieller Schutzraum und schriftliche Selbststimulation

von Karin Afshar

1. Vorwort zu einer Besprechung

Vor mir liegt eine Habilitationsschrift, ein Buch von 396 Seiten, ohne Literarturverzeichnis. „Kunstleben“ heisst dieses Buch – der Untertitel lautet: Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes. Auf dem Einband: Rilke – schreibend.
Abgesehen davon, dass ich einen Vorteil habe (ich muss und werde nie eine Habil-Arbeit verfassen), habe ich ein Problem: ich kann das Thema und das Buch nicht auf einer Seite besprechen. Machen Sie sich auf ein längeres Verweilen-Müssen gefasst. Ferner hoffe ich, dass sowohl Jörg Schuster als auch der Wilhelm Fink Verlag Verständnis dafür haben, wenn ich die Rezension so gestalte, dass sie auch für Nicht-Wissenschaftler lesenswert und informativ wird. Deshalb werde ich meinen Text nicht als Literaturwissenschaftlerin oder auch nur annähernd als Germanistin verfassen, sondern als neugierige Leserin, die wissen will, was es mit dem Briefeschreiben um 1900 (zugegebenermassen interessiert mich Rilke mehr als Hofmannsthal) auf sich hat.
Ich hoffe ausserdem, dass auch jene meine Rezension lesen, die vielleicht niemals das Fachbuch – ein ausgezeichnetes Kompendium voller Details und Verknüpfungen – in die Hände bekommen.

Jörg Schuster: Kunstleben - Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 - Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes (Wilhelm Fink Verlag)Es geht also um Briefe, und um eine bestimmte Art von Briefen, die zu einem bestimmten Zweck und mit bestimmten Inhalten mit ganz bestimmten Mitteln geschrieben wurden. Die Aufgabe, dieses „bestimmt“ zu beschreiben, hat sich Jörg Schuster gesetzt. Der Mann hat Neuere deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie studiert. Seine Dissertation hat er in Tübingen über die „Poetologie der Distanz – Die ‚klassische‘ deutsche Elegie 1750-1800“ verfasst. Das war 2001; 2012 legte er in Marburg, wo er an der Philipps-Universität als Wissenschaftlicher Mitarbeiter wirkte, seine Habilitationsschrift vor. Wie ich dem Netz entnehmen kann, lehrt er zur Zeit am Germanischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universtät in Münster.

2. Wer waren Hugo von Hofmansthal und Rainer Maria Rilke?

Sie lesen diese Rezension bestimmt deshalb, weil Sie einen der beiden Herren kennen? Bevor ich zu den Briefen komme, erlauben Sie mir, Ihnen einige Angaben zu Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke ins Gedächtnis zurückzurufen. Ersterer lebte von 1874 bis 1929, war österreichischer Schriftsteller, Dramatiker und Librettist. Er wird als der Repräsentant des fin de siècle und der Wiener Moderne schlechthin bezeichnet und hat – „Triumphpförtner“ österreichischer Kunst  – die Salzburger Festspiele (1918/1919) mitgegründet, die vielleicht nicht eine Gegenidee, so doch aber Entwurf zu einer Alternative zur Wiener Moderne sein wollte: klerikal, antidemokratisch, antiaufklärerisch.1)

Hugo von Hoffmansthal
Hugo von Hofmannsthal

Hugo von Hofmannsthal hatte bereits promoviert und habilitiert, als er um 1900 in eine persönliche Krise stürzte. Am 18. Oktober 1902 erschien Ein Brief („Chandos-Brief“ – ein fiktiver Brief eines Lord Chandos, der seine Zweifel an den Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks niederschreibt) in der Berliner Literaturzeitschrift Der Tag. Der Chandos-Brief zeigt, aus welchen Gedanken heraus Hofmannsthal die Poetologie seiner Jugend ablegt, und markiert eine Zäsur in Hofmannsthals Kunstkonzept. Rückblickend erscheint ihm das bisherige Leben als bruchlose Einheit von Sprache, „Leben“ und Ich. Nun aber kann das Leben nicht mehr durch Worte repräsentiert werden; es ist vielmehr direkt in den Dingen präsent… Neben lyrischen und theatralischen Werken ist eine umfangreiche Korrespondenz Hofmannsthals in Höhe von etwa 9’500 Briefen an nahezu 1’000 verschiedene Adressaten überliefert.

Rainer Maria Rilke
Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) gilt als bedeutendster Lyriker Deutschlands. 1895 bestand er die Matura und begann Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie in Prag zu studieren, wechselte 1896 zur Rechtswissenschaft und studierte ab September 1896 in München weiter. Etwa von 1910 bis 1919 hatte Rilke eine ernste Schaffenskrise, der dann allerdings eine um so intensivere Schaffenszeit folgte. Er vollendete innerhalb weniger Wochen im Februar 1922 die Duineser Elegien. In unmittelbarer zeitlicher Nähe entstanden auch die beiden Teile des Gedichtzyklus Sonette an Orpheus. Beide Dichtungen zählen zu den Höhepunkten in Rilkes Werk. Sein umfangreicher Briefwechsel – wird mit mehr als 10’000 Briefen angegeben – bildet einen wichtigen Teil seines Schaffens.  Es wurden mittlerweile 70 Bände mit Rilke-Briefen herausgegeben. Allein eine Ausgabe von 2009 umfasst 1134 „Briefe an die Mutter“, darin enthalten sind die Briefe aus der Kinder- und Jugendzeit. Es hat den Anschein, als hätte Rilke in seinen Briefen gelebt. Hofmannsthal wie Rilke waren „manische“ Briefeschreiber.

3. Warum Briefe untersuchen?

Bevor ich weiter auf ausgewählte Themen eingehe, die Schuster in seiner Arbeit herausarbeitet, wende ich mich an Sie. – Schreiben Sie (noch) Briefe? – Würde ich gefragt werden, würde ich antworten: ich habe früher viel geschrieben, heute greife ich kaum noch zu Papier und Stift und schreibe einen Brief von 10 oder 12 Seiten. Meine heutigen Briefe beschränken sich auf in die Tastatur geschlagene Buchstaben in Mails, die ausgedruckt allerhöchstens die Länge einer halben DIN A 4-Seite erreichen.
Briefe sind ein Medium, das uns zur Verfügung steht, um zu Papier zu bringen, was an Gedanken mehr oder weniger geordnet in uns herumschwirrt.  Briefe schreiben wir, weil und wenn unser Gegenüber abwesend ist. Der Gesprächspartner, mit dem wir uns im Dialog befinden, ist räumlich oder zeitlich von uns getrennt – wir möchten ihm etwas mitteilen. In diesem Wunsch, mitzuteilen, schreiben wir von uns, von dem, was uns zugestossen ist, was wir gedacht, gefühlt und getan haben. Im Schreiben erwachen Empfindungskräfte – wir empfinden uns als uns, wir finden unsere Identität und – auch das ist möglich, unsere Individualität. Tagebuchschreiben und das Schreiben von Briefen haben diese identitätssteigernde Kraft.
Briefe zeugen vom Schreiber und seiner Autobiographie; sie entstehen nie in einem Vakuum. Manche Briefe sind als Liebesbriefe exklusiv, und zwei Menschen und deren Beziehung zueinander vorbehalten, andere sind Abbildungen der Alltäglichkeit, vielleicht Beschreibungen der Lebens- und Gedankenwelt, andere Briefe gehen über Schreiber und Leser hinaus und sind Abbilder der Zeit und Umstände, Abbilder der Problemlösungsfindungen dieser Menschen, noch andere sind Korrespondenzen zwischen Lehrer und Schüler, Ratgeber und Ratsuchender.
Und manchmal sind die Umstände, unter denen man schreibt, kritisch – dann sind die Briefe „Krisensymptome“ (vgl. Angelika Ebrecht 2000) des Selbst wie auch der Zeitepoche.
Briefe können inspirieren, d.h. der Gedanke, jemandem darüber zu schreiben, woran man gerade arbeitet, kann neue Ideen freisetzen, zu Höhenflügen bringen. Je nach Briefpartner stachelt man sich gegenseitig an, oder zieht sich herunter.
Das  Gros der Literaturwissenschaftler hat jedenfalls die Korrespondenzen von um 1900 als Spiegel von „Krisensymptomen“ gelesen und bezeichnet: Als Ausdruck der Unsicherheit, die „das Bürgerliche“ erfasst hatte. Die Modernisierungsprozesse sind eine nächste Interpretationssicht auf die Bedeutung der Briefe: Was machte die Urbanisierung, Industrialisierung, die Steigerung der Mobilität und die Beschleunigung mit den Menschen überhaupt? Jörg Schuster jedenfalls fragt in seinem Buch nach einer noch „anderen“ Funktion der Briefe – nach der produktiven kulturpoetischen, und er hat sich zur Beantwortung seiner Frage der Briefwechsel jeweils von Hofmannsthal und Rilke angenommen.
Was findet er? – Analog zum Jugendstil in der Bildenden Kunst und Architektur findet er Briefe als Form der „Gebrauchskunst“.  Diese Art von Kunst reagiert auf anstehende Modernisierung. Inwieweit es sich um die Konstruktion einer Text- und Lebenswelt, die nur als ästhetische zu ertragen ist, handelt, ist Gegenstand von Schusters Buch. Er studiert und analysiert genauer hin, er nimmt „Versuche literarischer Kreisbildung“ und Experimente „ästhetischer Erziehung“ ebenso unter die Lupe wie die Ökonomie des Briefs und – im Kontext einer Kulturpoetik des (Innen-)Raums um 1900 – Konzepte des „epistolaren Interieurs“.  (Zugegeben, das habe ich dem Ankündigungstext entnommen.)
Das Buch ist, wie bereits gesagt, umfangreich. Ich greife deshalb nur einzelne Kapitel heraus und stelle Sie Ihnen genauer vor.

4. Hofmannsthals bitterer Briefwechsel mit Stefan George – symbolisches Experiment am Vorübergehenden

Stefan George
Stefan George

Schuster beginnt mit einem Gedicht Hofmannsthals2) – George nach einem Treffen überbracht –, in dem es zunächst unverfänglich um eine poetische Standortbestimmung geht, bei der George vom Jüngeren die Rolle des Lehrers zugewiesen bekommt. Hofmannsthal ist 17, George 23 Jahre alt. Dem Gedicht ist ein Geschenk vorangegangen: George hat Hofmannsthal seinen ersten, im Vorjahr erschienenen Gedichtband Hymnen geschenkt und ihm vermutlich auch Einblick in seine Übersetzungen aus dem Französischen gegeben. Der Ältere erläutert dem Jüngeren das Pariser Vorbild einer „poésie pure“, die mit der Tradition der Weltabbildung in der Literatur radikal gebrochen hat: das Gedicht ist nunmehr subtiles Gewebe von bildlichen Übergängen, von Klängen und rhythmischen Einheiten, ein autonomes Gebilde, das die Möglichkeiten der Sprache und nicht die Zwänge der Wirklichkeit offenbart. Hofmannsthal lernt schnell. Schon wenige Tage später, am 21. Dezember 1891, schickt er George dann sein Gedicht, das von Anspielungen auf die ausgetauschten und besprochenen Texte durchsetzt ist.
Das Gedicht ist eine klingende Antwort auf ein Vorübergehen, das steht fest, und es gleicht einem Gedicht Baudelaires „À une passante“, das George übersetzt hatte. Was ist die Absicht Hofmannsthals? Meint er mit dem Vorübergehenden George, oder sich selbst? – Viele Andeutungen, über die sich zu lesen lohnt, und ein flüchtiges Erlebnis als Inspiration zur Kunst. – Interessanterweise gibt es dieses Gedicht in zwei Versionen. Eine in deutscher Schrift, mit grossen Anfangsbuchstaben und Interpunktion auf Papier mit dem Wappen Hofmannsthals. Das andere in lateinischer Schrift, mit kleinen Anfangsbuchstaben, ohne Interpunktion. Diese Version zitiert  Georges Schriftstil und dieses ist es, was Hofmannsthal ihm überreicht.
Gedicht an einen Vorübergehenden ist ein Widerspruch an sich, aber er wirkt. Hofmannsthal selbst gibt an, dass es ein persönliches Bekenntnis sei – er selbst sei der Vorübergehende, der Inspirierte. George allerdings fasst das Gedicht als Ausblick auf eine festere, dauerhaftere Zusammenarbeit auf – als ein Angebot zu Nähe. Es kommt zu einem Missverständnis, das die beiden Männer anschliessend immer weiter bearbeiten. Jörg Schuster geht nun dem darauf folgenden Briefwechsel nach und findet „den Haken“ in der Beziehung zwischen den beiden Männern und spannt einen Bogen zur Funktion des Briefes.
Auch der Briefwechsel hat den Charakter eines Gesprächs zwischen Meister (George) und Jünger (Hofmannsthal): der Meister ist in Besitz des Geheimnisses des mit der künstlerischen Produktion verbundenen Leidens (S. 49), das er nach und nach lüften wird, indem er Andeutungen macht. Die Briefe nun atmen die Sehnsucht nach poetischer Inspiration auf beiden Seiten, für George noch essentieller als für Hofmannsthal. Im Verlaufe des Briefwechsels kehrt George von der „verletzbaren Gewalt“ (ein Bekenntnis, das er abgelegt hat) zu einem vornehmen Pathos der Distanz zurück, woraufhin Hofmannsthal ratlos nachfragt, was geschehen sei. Dazu verweigert George die weitere Kommunikation und bricht in ein Schweigen ab.
Hofmannsthal schreibt einen nächsten Brief an George: „Ich kann auch das lieben, was mich ärgert“, bekennt er. George findet diesen Brief zu diplomatisch, zu glatt und neutral. Hofmannsthal halte sich bedeckt. Die Korrespondenz eskaliert, und mündet in Georges Androhung zum Duell. Wie nun rettet sich Hofmannsthal? – Er beruft sich auf seine Nerven („Verzeihen Sie meinen Nerven […] jede vergangene Unart“). Die Nerven erlauben dem reizbar-sensitiven Künstler alles. George hat allerdings mit der Androhung übertrieben, und versucht in der Folge abzuwiegeln. Dabei wirkt er beinahe „komisch“ (S. 53), Hofmannsthal kann das nicht einordnen – der Bruch in der Beziehung ist nicht zu vermeiden.
Hofmannsthal und George ringen in ihrem Briefwechsel um Distanz und Nähe. Sie kennen sich aus Briefen, haben sich aber nur selten getroffen, in ihrer distanzierten Nähe sind Briefe ihr Medium zum Austausch von Lebenszeichen. – Nun ist George aber der, der die Regeln vorgibt. Der Jüngere entzieht sich, bleibt auf „orientalisch“ (S. 55) und auf einschmeichelnde Art konsequent und virtuos. Hofmannsthal beherrscht schon hier die Kunst der „epistolaren insinuatio“ (rhethorisches Mittel, das jemand verwendet, wenn er von vorneherein davon ausgeht, dass sein Zuhörer gegen ihn ist): er entzieht sich, macht sich klein, gibt vor, dem Gegner nicht gewachsen zu sein.
Alles in allem betrachtet, ist dieser Briefwechsel das Land, in dem die Krise (die je eigene der beiden und die ihrer Beziehung) in gegenseitigem Bekennen, Fordern, Ausweichen, Vereinnahmungsversuchen als Krisenbriefwechsel ausgetragen wird.

5. Die einsame Imagination, Lebensverdächtigung und ein verfehlter Geburtstagsbrief – Der Briefwechsel mit Richard Beer-Hofmann

Handschrift von Hofmannsthal
Handschrift von Hofmannsthal

In den vorangehenden Kapiteln hat Schuster bereits eine „Brüchigkeit“ in Hofmannsthals Briefen herausgearbeitet. Im Briefwechsel mit Richard Beer-Hofmann tritt eine neue Qualität hinzu.
Mit Beer-Hofmann verbindet Hofmannsthal „grosse menschliche Vertrautheit“ (S. 118), die beiden kennen einander gut und treffen sich häufig. Auch sie sind junge Männer, als sie sich (um 1896/97) kennenlernen: Beer-Hofmann ist etwa 31 und Hofmannsthal 23 Jahre alt. Ihre Begegnungen haben für beide einen hohen Stellenwert, es gibt viele Gespäche über Machtverhältnisse und die Rollenverteilung. In diesem (im Vergleich zu dem mit George)  Briefwechsel ist Hofmannsthal der Zudringlichere und Beer-Hofmann der Zurückhaltende. Ausgerechnet der Ästhet Hofmannsthal lässt sich hinreissen und schreibt „Hässliches, ja Ekelhaftes“ (S. 119). Hofmannsthal sucht die Konfrontation und provoziert. „Epistolares Imponiergehabe“, heisst es bei Schuster, lege er an den Tag. Er trifft auf einen, der sich nicht zwingen lässt: „Ich weiss, Sie nehmen es mit mir nicht genau; Briefe „schuldig sein“ ist ja auch nur ein Bourgois-Begriff.“ (S. 120). Doch Hofmannsthal nimmt es sehr genau, und ärgert sich. „Warum schreiben Sie mir nicht?“ – Beer-Hofmann verweigert sich. Er will nicht als „Inspirationsmittel“ für die poetische Produktion jüngerer Kollegen fungieren. Er identifiziert sich mit der Rolle des „Hemmschuhs“.  Hofmannsthal wiederum fühlt sich nicht geachtet genug. Es deprimiert ihn, dass die Beziehung sich nicht als ideale poetische Lebens- und Arbeitsgemeinschaft entwickelt bzw. gestaltet. Es gelingt ihm nicht, Beer-Hofmann aus dem Leben hinein in seine Briefwelt zu ziehen (S. 124), schreibt in einer Mischung aus Zudringlichkeit und Ich-Bezogenheit.
In einem Geburtstagsbrief (vom 6. Juli 1899) an Beer-Hofmann bricht – völlig deplaziert und verfehlt –  die Erwartung aus Hofmannsthal heraus. Hier liegt ein Konflikt, so schreibt Schuster, zwischen dem Menschlichen (dem Leben) und der produktiven Fähigkeit (bzw. der Poesie) vor. Das Leben kann sich uns im Brief nur in Form von Schrift und Imagination nähern, wobei die Imagination eine emphatische ist. Einfühlung ist hier das Stichwort – paradoxerweise fühlt sich Hofmannsthal so sehr in Beer-Hofmann ein, dass er ihm mit seiner Kritik und den Vorwürfen zu nahe tritt und die Grenze des guten Anstands überschreitet. Beer-Hofmann antwortet lakonisch: „Lieber Hugo, Sie haben Recht, nur […] an einen Arzt oder Medikamente glaube ich bei diesen Dingen nicht.“ – Bündiger, so Schuster, könne die eigene Resignation, aber auch das Zurückweisen der selbstbezogenen Zudringlichkeit Hofmannsthals nicht ausgedrückt werden (S. 126). Briefe – so sehen wir hier – können und werden im Sinne einer „Distanzmedizin“ geschrieben (S. 181).
„Medizinbriefe“ wie die  an Beer-Hofmann sind einseitig – sie sind und bleiben Hofmannthals „Welt in der Welt“. Anders als der Poet Hofmannsthal beherrscht der Briefschreiber Hofmannsthal etliches nicht: souveränes, prägnant-wirkungssicheres sprachliches Übertragen und Hervorrufen von Stimmungen.  – Dass und wie es im Briefwechsel zu einer Wende kam, ist im Buch nachzulesen – die Auflösung auf Seite 147. In dieser Art, ausführlicher und noch mehr Hintergründe heranziehend, geht Schuster die Briefe durch, die er in grössere und kleinere Kategorien zusammenfasst.

6.  Rilkes transportable Welt und sein fein verteiltes Irgendwo-Sein

Handschrift von Rilke
Handschrift von Rilke

Wussten Sie, dass Rilke täglich durchschnittlich an die zehn Briefe schrieb? – Stellen Sie sich vor, Sie schrieben heutzutage täglich an 10 Personen aus Ihrem Bekanntenkreis 10 Seiten!? An manche dieser Personen zweimal pro Woche.
Rilke produziert in guten Zeiten Briefe „mit Dampf“ – und vermerkt ausserdem noch alle Daten rund um die Briefe. Ist er ein Maniker? Ist er nicht – schon einmal vorweggenommen. Hätte es damals facebook oder überhaupt das Internet gegeben – Rilke hätte es genutzt: um ein Netzwerk aufzubauen, um seine Werke vorzubereiten und sich selbst zu vermarkten. Er war ein Öffentlichkeitsarbeiter.
Wir erfahren, dass Rilke Wert auf das aussehen seiner Briefe legte: Briefpapier wird von ihm speziell ausgewählt, er schreibt in einer besonderen Handschrift („th“ und „y“ schreibt er auf unverwechselbare Weise und lädt sie mit einer besonderen Bedeutung auf). Rilkes Briefe sind Gesamtkunstwerke, die gleichzeitig den Alltag poetisieren und entpragmatisieren – und die doch wieder nützlich werden. Im Kreis des literarischen Betriebs Fuss zu fassen, ist Rilkes Absicht. Die Briefe dienen ihm als Ersatz für noch nicht erlangten Erfolg vor grösserem Publikum. Er schafft sich einen Kreis, in dem die Briefe einen Heimatersatz für ihn, den Ortlosen, bilden. Doch das „Irgendwo“, das er sich damit verschafft (dazu mehr weiter unten), ist nicht der letzte Aspekt dieser Briefe.
Für Rilke ist der Brief nicht Medium der Intimität, sondern Vorzeigeobjekt. Das epistolare Subjekt Rilke – so Schuster – bildet eine Funktionsstelle ähnlich einer Durchgangsstation, eines Relais (S. 222). Rilkes Briefe sind nämlich öffentlich: sie dürfen und sollen von den Adressaten anderen im Bekanntenkreis gezeigt werden. Auch das „Subjekt des Empfängers“ wird somit zur Funktion: er soll multiplizieren.
Rilke, der Vielschreiber, versteht die an einem Tag geschriebenen Briefe als eine Einheit – und als Werk an sich, das erlaubt, das Leben ätherisch und literalisiert zu „rezipieren und zu modellieren“ (S. 224).
Ganz abgesehen davon macht Rilke das, was auch heute die Selfpublisher mit ihren selbstveröffentlichten Werken tun: Sie probieren Entwürfe und Vorarbeiten im Netz aus. Sie achten auf ihre Wirkung und Rückmeldung, nehmen Anregungen auf, ändern ab. – Vorab in den Briefen Rilkes öffentlich gemachte Textabschnitte finden sich in seinen literarischen Werken wieder. Rilke inszeniert den Schaffensprozess in seinen Briefen.

7. Esoterik der Briefe und die Exoterik der Konversation

Dass Rilke zwischen einem Gespräch und einem Brief einen grossen Unterschied macht, ist bereits mehrfach durchgeschimmert. Das Konkurrenzverhältnis der beiden „Medien“ zueinander ist über Jahrzehnte sein Thema (S. 224): Dem Draussen des Gesprächs steht das einsame Drinnen des Briefs entgegen. Briefe zu schreiben, ist ein Sich-Sammeln. „Als ob Du bei mir eintreten könntest“ ist der Titel eines Abschnitts (S. 249ff), in dem Schuster sich mit einem Brief Rilkes an Lou Andreas-Salomé und dem nachfolgenden Briefwechsel beschäftigt. Der Brief, um den es gehen wird, ist vom 13. Mai 1897. Es ist Rilkes erster Brief an die 10 Jahre ältere Frau, die später 30 Jahre lang erst seine Geliebte, dann Vertraute und „Beichtmutter“ sein wird. Ohne Lou Andreas-Salomé wäre Rainer Maria Rilkes Leben anders verlaufen, heisst es. Er lernt sie in München, wo er studiert und Kontakte zur literarischen Szene sucht, im Mai 1897 eher zufällig kennen. Er ist 26 Jahre alt, Lou Andreas-Salomé bereits renommierte Autorin. Man kennt ihre Erzählungen und Romane, ihr Buch über Ibsen. Sie hat gerade einen Heiratsantrag von Nietzsche abgewiesen. Der erste Brief, den Rilke schreibt, verrät eine geradezu religiöse Verehrung und er verfolgt eine deutliche Absicht: er möchte ein exklusives Verhältnis zu ihr haben, schreibt sie persönlich und sehr höflich an, versichert ihr, dass es eine „Auszeichnung“ sei, sie kennenzulernen – und möchte ihr imponieren (S. 249). Was Rilke dabei schon damals „beherrscht“ ist, was man heute „name-dropping“ nennt.
Rilke hatte die Dame am Vortag getroffen und möchte – enttäuscht von der mündlichen Kommunikation – seine Bewunderung auf dem brieflichen Weg ausdrücken. Der Brief, so Schusters Hypothese, stiftet somit eine Beziehung zu Lou Andreas-Salomé im Sinne „eines der Exoterik des gesellschaftlichen Gesprächs entgegengesetzten esoterischen Mediums“ (S. 250).
In diesem Fall sehen wir den Brief als „Medium der Nähe und der Intimität“, wobei er dem Gespräch, der vollständigeren Form der Kommunikation, unterlegen ist. Die bereits angedeutete Thematik „Gespräch vs. Brief“ bleibt während der Korrespondenz und im Verlauf der Liebesbeziehung zu Lou Andreas-Salomé bestehen. Nach Abbruch und Wiederaufnahme der Beziehung gilt jeder Brief, den er ihr schreibt, dem Wunsch nach dem Gespräch. Da dieses zwischen beiden schwierig ist, sehnt sich Rilke alsbald nach an einem Ort, nach einer Wohnung, an dem und in der er das nötige „setting“ findet, den Ruheort, um die nötigen Briefe schreiben zu können. Überhaupt fehlt Rilke eine „Stube“, also erbaut er sich eine („ein Stück Stube […], die ich mir damals erbaut habe“ (S. 257) – er arrangiert sich ein Stück Wirklichkeit. Der Nachteil dieser Wirklichkeit besteht darin, dass es sich nicht um Lebenswirklichkeit handelt, sondern um das Hervorbringen von Schrift und Poesie. Der Verfasser der Schriften jedoch ist nicht mehr als eine „zerbrochene Schneckenschale“. Das Briefeschreiben wird nicht nur zum Ausweg aus der Suche nach dem (Schreib-) Ort sondern auch aus Rilkes Dilemma. Im Laufe des Briefwechsels mit Lou Andreas-Salomé wird der Brief immer mehr der Ort der Ruhe, die Schreibsituation des Briefes verwirklicht seine Sehnsucht – und das ersehnte Gespräch damit schliesslich überflüssig (S. 264). Wie es nun im Einzelnen mit Rilke und AS endete, kann dem Buch entnommen werden. Soviel an dieser Stelle. Zusammenfassend kann gesagt werden: auch wenn zwar im Falle dieses Briefwechsels ein „Ausschluss der Öffentlichkeit“ vorliegt, ordnet Schuster den Brief bzw. den Briefwechsel in letzter Konsequenz doch eher dem „Zweck einer Stimulation“ zu.

8. Lebenspraxis + Briefpoesie = die kleine Lebenshilfe?

Die vorangegangenen Seiten haben lediglich einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtwerk gezeigt. Es gibt ungleich mehr zu entdecken. Der ältere Hofmannsthal schreibt in seinen Briefen anders und über anderes, ebenso der ältere Rilke, der viele Briefe von männlichen wie weiblichen Lesern erhält und „Lehrbriefe“ schreibt. Schuster analysiert etliche dieser Briefwechsel.  Zu kurz gekommen in der Rezension ist der Lebens- und Schaffenshintergrund der Beteiligten, der Briefe zu Ratgebern werden lässt. Dieses und eine akribische Untersuchung der dichterischen Sprache habe ich links liegen gelassen.

Jörg Schuster
Jörg Schuster

Zu Anfang hatte sich Schuster die Frage gestellt, inwieweit die Briefkultur um 1900 symptomatisch für die kulturgeschichtliche Situation des fin de siècle und des frühen 20. Jahrhunderts ist. Was leisten Briefe dieser Zeit, was bringen sie auf kommunikativem Weg hervor? (S. 388)
Die Funktion der Briefe ist – alles in allem und zusammenfassend – dass sie dem Zweck dienen, Distanz zu schaffen und zu wahren. In dieser Distanz werden sie zu Repräsentanten des „Jugendstils“ und damit – Gebrauchskunst (S. 389), mit der die Autoren die „artifizielle Innen-Einrichtung ihrer sozialen Welt“ gestalten.
Hoffmannsthal arrangiert sich die Wirklichkeit, wie man einen Ausstellungsgegenstand hinstellt und arrangiert (S. 388), und Rilke verwebt sich, mittels seiner Briefe kontinuierlich in den Kokon einer Einrichtung.
Die Briefe fungieren als zugleich „private“ wie auch höchst artifizielle Schutzräume, statt eines tatsächlichen Zusammenwirkens herrschen einsame Imagination und schriftliche Selbst-Stimulation vor, bei denen die Adressaten als Vorwand dienen (S. 392). Bei Rilke haben wir noch den Eindruck, wir könnten jederzeit eintreten, dennoch hält er eine tatsächliche Begegnung in der Schwebe.
Zwei Repräsentanten ihrer Zeit – und es bleibt mir nach der Lektüre die traurige Frage (sie wird hoffentlich erlaubt sein): Was wohl, wenn wir unsere heutigen Briefwechsel ähnlich akribisch unter die Lupe nähmen und eine Anamnese vornehmen würden, die Diagnose ergäbe? Für mich ganz persönlich nehme ich mit, dass ich in puncto Rilke die richtige, hier bereits angedeutete, Vermutung hatte. Leider konnte ich nicht auf all die anderen Fragen eingehen, die im Buch aufgeworfen und beantwortet werden. Leider, auch das bereits angedeutet, bin ich zu wenig Literaturwissenschaftlerin, um Schusters Werk für die Literaturwissenschaft würdigen zu können. Es sei dennoch ans Herz gelegt: wenn wir unsere Geschichte verstehen, verstehen wir auch die Gegenwart!

Jörg Schuster: Kunstleben – Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes, 428 Seiten, Wilhelm Fink Verlag, ISBN 978-3770556021

1) Norbert Christian Wolf: Eine Triumphpforte österreichischer Kunst – Hugo von Hofmannsthals Gründung der Salzburger Festspiele, Jung und Jung (Salzburg)

2) Herrn Stefan George
einem, der vorübergeht

du hast mich an dinge gemahnet
die heimlich in mir sind
du warst für die saiten der seele
der nächtige flüsternde wind

und wie das rätselhafte
das rufen der athmenden nacht
wenn draussen die wolken gleiten
und man aus dem traum erwacht

zu weicher blauer weite
die enge nähe schwillt
durch pappeln vor dem monde
ein leises zittern quillt

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Rainer Maria Rilke auch über Jessica Riemer: Rilkes Frühwerk in der Musik

… sowie zum Thema Poetik über Monika Rinck: Wirksame Fiktionen (Göttinger Poetik-Vorlesungen)

Karin Afshar: Bildung und Schule (Essay)

Bildung heute – Spiegel innerer Besitzlosigkeit?

von Karin Afshar

Schule, Lehrer, Lernen – das ist in aller, und wenn nicht in aller, dann doch in vieler Leute Munde, und ständig in den Medien. Zu recht? Etliche Lehrer schreiben offene Briefe über die Unerzogenheit von Schülern, Eltern sind aufgebracht gegen Lehrer und das restrukturierte und rerestrukturierte System, und Buchautoren analysieren die Bildungsmisere ebenso vehement wie Mediziner konstatieren, dass die Kinder Konzentrationsdefizite und Lernstörungen haben, ja sogar z.T. mit 10 Jahren auf dem emotionalen Stand von 16 Monate alten Kleinkindern stünden.

Ich tue einen Stossseufzer: Bin ich froh, dass meine Kinder aus der Schule sind, und ich heute nicht mehr zur Schule gehe! Ich meine nicht nur als Schülerin, sondern auch als Lehrerin. Und trotzdem mache ich mir immer wieder Gedanken zu meinem Lieblingsthema: Lernen und Bildung. Im Folgenden gibt es etwas dazu, was Lernen mit den Menschen und mit Bildung zu tun hat.

1. Vom Wesen des Lernens

Menschen lernen. Kinder lernen krabbeln, laufen, sprechen. Sie lernen, wie man mit der Schere ausschneidet, wie man sich an- und auszieht; sie lernen selbständig zu essen und zur Toilette zu gehen… Sie lernen im Kindergarten, in der Schule, in der Lehre, auf der Universität … so geht es immer weiter. „Lernen“ ist Entwicklung. Jede Entwicklung hat unterschiedliche Stufen, deren jede genommen werden muss, bevor es zur nächst höheren Stufe geht.
Je nach entwicklungspsychologischer Schule (z.B. Jean Piaget) oder kognitions-psychologischer Schule (z.B. Jerome Bruner) werden die Phasen/Stufen der ersten Jahre unterschiedlich benannt, sagen jedoch in der Essenz: Die Entwicklung geht vom Einfachen zum Komplexen, und (hauptsächlich Piagets Prämisse): keine spätere Phase kann ohne die vollständige Erlangung der früheren erreicht werden.
Im Einzelnen – weil es wichtig ist, uns das Wesen des Lernens zu veranschaulichen – können die Stadien wie folgt charakterisiert werden:

Ein Stadium umfasst einen Zeitraum, in dem ein bestimmtes Schema in seiner Struktur begriffen und schliesslich angewendet wird.
Beispiel: Zwischen dem 4. und dem 8. Lebensmonat entdeckt ein Kind, dass es durch eigene Aktivitäten bestimmte Effekte in der Umwelt hervorrufen kann. Es wirft die Rassel aus dem Kinderwagen – die Mutter wird sich bücken, und sie ihm wieder in die Hand geben.

Im Kind wächst die Fähigkeit zwischen einem gewünschten Ziel/einer erwünschten Reaktion und dem angewandten Mittel zur Erreichung des Ziels zu unterscheiden.

Jedes Stadium geht aus einem vorangegangenen hervor, bezieht das Gelernte ein und wendet es in anderen Zusammenhängen an.
Beispiel: Zwischen dem 8. und dem 12. Lebensmonat probiert das Kind aus, wie und womit es die Aufmerksamkeit von Personen erwecken kann. Es wirft den Gegenstand vielleicht nicht mehr weg, sondern macht Lärm mit ihm. Weiterhin werden die bereits vorhandenen Schemata immer besser koordiniert und somit Bewegungsabläufe flüssiger.

Die Stadien laufen immer in der gleichen Reihenfolge ab. Zwar kann es leichte kulturelle Unterschiede in der Auskleidung der Operationen geben, auch können sie verschieden schnell oder langsam durchlaufen werden – aber dass sie in geänderter Abfolge auftreten, ist nicht möglich.

Alle Kinder durchlaufen die Stadien. Bleibt ein Kind in einem Stadium stecken, handelt es sich um eine Entwicklungsverzögerung oder Retardierung.

Jedes Stadium schreitet vom Werden zum Sein.

Fünf relevante Intelligenz-Entwicklungsstufen

Die Stufen im Einzelnen: der Stufe der Entwicklung der sensumotorischen Intelligenz (0 bis 1,6/2,0 Jahre) folgt die Stufe des symbolischen oder vorbegrifflichen Denkens (ca. 1,6/2,0 – 4,0 Jahre), dann kommt die Stufe des anschaulichen Denkens (4,0-7,0/8,0), gefolgt von der Stufe des konkret-operativen Denkens (7,0/8,0-11,0/12,0 Jahre) und der Stufe des formalen Denkens (ab dem 12. Lebensalter).

Beispiel: Der bekannteste Versuch von Piaget zeigt anschaulich die „logischen Irrtümer“ der unter 7-Jährigen: Zeigen Sie Ihrem Kind ein breites Gefäss (vielleicht eine Brotdose) mit Wasser und schütten Sie das Wasser vor seinen Augen in ein hohes schmales Glas um. Zu Beginn der präoperationalen Phase wird Ihr Kind meinen, dass im Glas viel mehr Wasser ist, als in der Brotdose war. Erst mit einem Alter von ca. 7 Jahren „wissen“ Kinder, dass die Flüssigkeitsmenge sich beim Umschütten nicht verändert.

Beispiel: Ab ca. 4 Jahren, in der intuitiven, anschaulichen Phase, vermindern sich zwar einige „logische Irrtümer“, dennoch ist das Denken der Kinder stark egozentrisch, d.h. sie betrachten die Welt ausschliesslich von ihrer Warte aus: Das Kind hat seine Ansicht und hält seine Ansicht für die einzig mögliche und somit auch für die einzig akzeptable. Ein egozentrisches Kind kann sich die Sichtweise anderer nicht zu eigen zu machen, denn Egozentrismus bedeutet nicht etwa Ichbezogenheit, sondern ganz einfach nur die Schwierigkeit, sich eine Sache oder aus einer anderen Sicht anzusehen oder sich in eine andere Person hineinzuversetzen. (Dieser Satz wird später noch wichtig werden!)

Beispiel (nach Mönks & Knoers 1996):
– Peter, hast du einen Bruder?

– Ja.
– Wie heisst denn dein Bruder?
– Hans.
– Hat Hans auch einen Bruder?
– Nein.

Alles Lernen ist ein stetiger Prozess, in dem der Lernende – in unserem Beispiel das Kind – immer wieder ein Gleichgewicht herzustellen versucht. Die Anpassung vorhandener Schemata an eine aktuelle Situation geht in zwei Teilprozessen vor sich: Assimilation und Akkommodation.

Beispiel: Ein Kind hat bereits gelernt, einen Apfel zum Mund zu führen, den Mund zu öffnen und ein Stück abzubeissen. Jetzt bekommt es eine Birne – und wird in sie hineinbeissen. Es erkennt Apfel und Birne als ähnlich.

Assimilation bedeutet die Eingliederung neuer Situationen oder Erlebnisse in ein bereits bestehendes Schema (um in der Begriffswelt von Piaget zu bleiben). Die Wahrnehmung der Ähnlichkeit von Apfel und Birne führt dazu, dass das Schema „grün-annähernd rund-essbar“ an-gewendet, bestätigt und um ein neues Element erweitert wird. Assimilation ist die Reaktion auf eine Situation, die auf bereits in uns abgebildetes Wissen oder Erfahrungen trifft.

Beispiel: Ein anderes Kind versucht, in einen Plastikapfel zu beissen. Auch sein Schema sagt: „grün-apfelförmig-essbar“. Von einem Plastikapfel aber kann es nichts abbeissen – das Kind muss akkommodieren und sein Schema insofern differenzieren, als echte Äpfel und unechte Äpfel verschiedene Kategorien bilden.

Akkommodation tritt auf den Plan, wenn die Assimilation nicht ausreicht, eine wahrgenommene Situation mit den vorhandenen Schemata zu bewältigen. Diese werden erweitert und angepasst. Akkommodation ist die Reaktion auf eine Situation, die noch nicht in uns abgebildet ist.

Vom Einfachen zum Komplexen

Ich könnte viele weitere Beispiele für die phantastische Leistung der kindlichen Entwicklungswege anbringen, möchte aber nun doch vom Entwickeln zum Lernen kommen. Lernen als Gegensatz zum Erwerb können wir am Beispiel von Sprechen und Sprachen betrachten:
Eine erste Sprache erwirbt jeder Mensch als  Kind. Manche Kinder erwerben zwei oder drei Sprachen1) gleichzeitig. Von Erwerb spricht man, wenn das Aneignen „ungesteuert“ und ohne Anleitung geschieht. Die Entwicklung der Kognition2) ist bei einem Kind noch nicht abgeschlossen, was bedeutet, dass der kindliche Spracherwerb mit der Entwicklung des Denkens, des Wahrnehmens und des Bezeichnens einhergeht. Noch anders ausgedrückt: als „Erwerb“ bezeichnet man einen unbewussten Prozess, der ohne Anleitung, durch Kontakte in einer natürlichen Umgebung in alltäglichen sozialen Zusammenhängen (z.B. beim Einkaufen oder auf der Strasse) auskommt.
Sprachenlernen dagegen erfolgt bewusst, ist angeleitet, wird gesteuert. Jedes Lernen bzw. jeder Lernende bedient sich der Kognition. Lehrer innerhalb von Institutionen (Schulen) oder ausserhalb dieser strukturieren den Lernfortgang und geben Anleitungen. Schulisches Lernen vor Erreichen einer bestimmten Kognitionsstufe (vergl. Piaget oder Bruner) macht keinen grossen Sinn, sondern stört nachgerade. Die Aufgabe des Lehrers im Lernprozess des Schülers ist, den Stand seines Schülers einzuschätzen und nach einer bewältigten Unterrichtseinheit den nächsten Schritt vorzugeben.
Auch das Lernen folgt dem Prinzip „Vom Einfachen zum Komplexen“, und bevor komplexe Strukturen verstanden werden, müssen die einfachen Operationen sitzen und hinreichend eingeübt sein. Es ist am Lehrer, die Anleitungen hilfreich und verständlich anzubringen. Unterricht ist dann am ergiebigsten und motivierendsten, wenn er mit dem Wesen der Schüler in Einklang steht. Ein Unterricht mit einem Lernstoff, der den Schüler erreicht, wird ihn bilden. Lehrer, die auf ihre Schüler eingehen, sind wie Hebammen, die heben, was bereits in jenen schlummert und Anleitungen geben, die die Gebärenden befolgen können. An das bereits Eigene können diese dann die Informationen der Welt knüpfen und assimilieren. Und was sie nicht in sich finden, sondern im Aussen neu erkennen, hilft ihnen ihre Innenwelt zu erweitern. Ein Lehrer öffnet Augen, Ohren und Herzen und ist im Leben von Menschen, und nicht nur von jungen, enorm wichtig. Deshalb muss ein Lehrer ein Mensch sein, der sich selbst gut kennt. Denn wenn er sein Eigenes erkannt hat, kann er andere Menschen erkennen.

2. Bildung und das Höhlen-Gleichnis (Platon)

"Das Einzige, das schlimmer ist als zu erblinden, ist als Einzige zu sehen.“ (aus: "Stadt der Blinden") - Illustrationen: K. Afshar
„Das Einzige, das schlimmer ist als zu erblinden, ist als Einzige zu sehen.“ (aus: „Stadt der Blinden“) – Illustrationen: K. Afshar

Die unterirdische Höhle ist bei den Griechen allgemein ein Bild für den Hades, das Reich der Toten. Platons Höhle steht für unsere alltägliche Welt, in der wir leben. Wir Menschen, so zeigt uns Pla-ton in seinem Gleichnis, sind Gefangene in unserer gewohnten Behausung.
Oberhalb von und hinter den Gefangenen brennt ein Feuer. Die Höhle wird von diesem Feuer beleuchtet. Die Gefangenen sitzen nun unbeweglich da, denn sie sind an ihre Sitze gefesselt. Das heisst nicht etwa, dass sie sich nicht bewegen, nein, sie sind sehr rege, was Verkehr, Wettstreit und anderes angeht. Nur sind sie unbeweglich, was ihre Einstellungen angeht. Sie haben eine unveränderliche Einstellung zu dem, was sie für das Wirkliche halten.
Ausser den Gefangenen gibt es nun noch (Platon nennt sie die Gaukler) andere Gestalten. Sie bewegen sich vor dem Feuer hinter den Gefangenen, und ihre Schatten werfen sich auf die Wände der Höhle vor ihnen. Sie sind die (modernen) Intellektuellen, die Künstler, die Politiker, die Designer, die Psychologen, die Moderatoren, die Berater… Sie bestimmen den Hinblick, sie entwerfen die Bilder für die Menschen. Die Gefangenen halten ihre Schatten für das Wahre.
Überhaupt sehen die Menschen sich und ihre Mitgefangenen und die Gaukler als Schatten – sie sehen immer nur die Projektion. Bei Homer ist „Schatten“ der Name für die Seelen der Toten.
Im Schattendasein der Menschen (in diesem Traum in einem Traum) wird nun einer der Gefangenen von seinen Fesseln erlöst. Er steht auf, geht einige Schritte, blickt hoch zum Licht, ist geblendet, wendet sich ab und blickt noch einmal hin … sieht, dass er bis jetzt lediglich das Abbild des wahren Lichts (von ausserhalb der Höhle) gesehen hat und begreift unter Schmerzen sein Gefangensein.

Der, der ihn losgebunden hat, war ein Lehrer. Er hat dem Gefangenen eine neue Sichtweise ermöglicht, hat ihn „sehend“ gemacht. Dem allerdings ist das helle Flimmern des Lichts zunächst ungewohnt, und er erkennt das Gesehene nicht, er findet es unheimlich und befremdlich. Der Gefangene steht ganz am Anfang seiner neuen Freiheit und muss lernen im Licht zu sehen. Seine Augen aber beginnen zu schmerzen. Bald will er nicht mehr ins Feuer des Lichts blicken, er will zurück zu den Schatten, und er wendet sich ab und flieht zurück.
Der Versuch einer Befreiung ist zunächst misslungen. Bildung – und das ist u.a. die wechselweise Anwendung von Assimilation und Akkomodation von Wahrgenommenem – ist Platon zufolge etwas, das Menschen nicht unbedingt wollen… Man muss sie zum Sehen zwingen, ansonsten ziehen sie es vor, blind für das Licht zu bleiben.
Sokrates, der unbequeme Lehrer, wurde wegen seines „schlechten Einflusses“ auf die Jugend von den Athenern umgebracht. Platon seinerseits hat seine Akademie ausserhalb der Polis errichtet. Und Aristoteles, der zehn Jahre lange Platons Schüler in der Akademie war, ergriff in ähnlicher Situation die Flucht aus Athen, als ihm der Asebie3)-Prozess gemacht werden sollte.
Lehrer zu sein bedeutet, nach oben zu gehen und den Weg wieder nach unten steigen zu müssen, um vom Gesehenen zu berichten… Wer jedoch von oben kommt, wird verlacht, wird nicht ernst genommen, denn er berichtet von merkwürdigen Dingen, die es gar nicht gibt. Bildung ist ein Prozess, der, je weiter er fortschreitet, umso mehr Distanz zu den Blinden bedeutet.

3. Das Bild vom Menschen

"Mich interessiert nicht wie du aussiehst." - "Aber wie können wir uns dann erkennen?" - "Ich kenne den Teil in dir, der keinen Namen hat und das ist es doch was wir sind, richtig?" (aus: "Stadt der Blinden")
„Mich interessiert nicht wie du aussiehst.“ – „Aber wie können wir uns dann erkennen?“ – „Ich kenne den Teil in dir, der keinen Namen hat und das ist es doch was wir sind, richtig?“ (aus: „Stadt der Blinden“)

 Schauen wir uns den Begriff „Bildung“ noch näher an, finden wir ihn als einen Schlüsselbegriff in der Epoche Goethes. Hier wie aber auch schon zuvor bei Meister Eckhart, Johannes Tauler oder Heinrich Seuse hat er seinen Ursprung in einem zentralen Gedanken der Mystik. Das Bild ist die Gestalt, das Wesen dessen, was ist (das griechische idea und eidos stecken darin). Die Mystik denkt die Wiedergeburt des Menschen in drei Stufen: Entbilden, Einbilden und Überbilden. Entbilden heisst frei werden von den Bildern dieser Welt als Voraussetzung für die nächsten Stufen. Ziel ist das Sich-Hinein-Verwandeln in Christus bzw. das Eins-Werden mit dem Göttlichen. Transformari haben die Mystiker mit „Überbilden“ übersetzt. Das trans gibt das Ziel an: das reine Licht des Göttlichen. Die christliche mittelalterliche Mystik denkt das Sein als Herausbildung des im Menschen angelegten Bildes Gottes.
Aus der islamischen Mystik ist ein dem christlichen nicht unähnliches Bild  dazu bekannt: Der Sufi Al-Halladsch hatte einen der 99 Namen Gottes für sich selber „beansprucht“, indem er den Ausspruch anã al-haqq tat. Seine Lehre brachte ihm später eine Fatwa ein, seine in den Augen der damaligen Religionswächter häretische Aussage war mit dem Tode zu bestrafen. Niemand, kein lebender Mensch, konnte und kann nach exoterischer Lesart wie Gott sein, sondern immer nur durch Gott. In den Werken der Sufi-Dichter wie u.a. Yunus Emre, Rumi und Nezami trifft man auf Al-Halladschs Lehre der Eins-Werdung mit Gott bzw. der Auflösung des Ichs in Gott.
Der Hauptgedanke der Mystik – in modernen tagesverständlichen Worten ausgedrückt – besagt, dass der Mensch sich zum Menschen dadurch entwickelt, dass das in ihm angelegte Bild, sein Wesenskern, sich entfaltet. Ein Mensch kann werden, was er bereits ist – aber er kann nichts werden, das er nicht bereits in sich birgt. Was wie eine Begrenzung erscheinen könnte, kann als Bestimmung und Aufgabe umschrieben werden. Diese zu erkennen und zu erfahren ist die Eins-Werdung mit dem Göttlichen: das zu sein, als das man gedacht ist.

Mystik lehrt Demut

Unsere Zeiten sind säkulär-moralisch, ungern bezieht man sich auf diese Urbilder, aus denen unser heutiger Begriff aber nun einmal hervorgegangen ist. Heute denkt man Bildung als etwas, das dem Menschen „sozialgerecht“ von aussen angetragen wird, ohne dass sie auf den Einzelnen eingeht. Pädagogik ist ein Studienfach, das Lehrer unbedingt, Mystik eines, das sie ganz bestimmt nicht belegen müssen. Was die Mystik letztlich und paradoxerweise – und zwar unabhängig von der vordergründigen Religion – lehren kann, ist Demut.
Ein demütiger Lehrer wie auch ein demütiger Schüler haben Achtung vor dem Sein. Die Neugier des Schülers richtet sich auf ganz bestimmte Dinge, die ihn befähigen, sich selbst zu erkennen. Und selbst wenn der Schüler lernen muss, was in der Schule im Lehrplan vorgesehen ist, ohne dass es eine vordergründige Beziehung zu ihm hat, wird ein „mystischer“ Lehrer es schaffen, dem Schüler das Wissen der Welt ehrfürchtig ans Herz zu legen.

4. Bildung und Humboldt

„Hast du Angst deine Augen zu schliessen“ - „Nein, aber sie wieder zu öffnen.“ (aus: "Stadt der Blinden")
„Hast du Angst deine Augen zu schliessen“ – „Nein, aber sie wieder zu öffnen.“ (aus: „Stadt der Blinden“)

Etwa um die Jahrhundertwende von 1800 herum bezog man sich auf den mystischen Bildungsbegriff – und aktualisierte ihn. Jetzt ging es nicht mehr so sehr um die Verwirklichung der Gottesgeburt in der eigenen Seele, als vielmehr um die allumfassende Ausbildung aller Fähigkeiten. – Diese Ausbildung wird in einem Mittelpunkt (Wissen um die Bestimmung des Menschen) zentriert. Der klassische Bildungsbegriff geht in Richtung Allgemeinbildung, und Wilhelm von Humboldt hatte ein Ideal vor Augen. Sein Bildungsideal entwickelte sich um die zwei Zentralbegriffe der bürgerlichen Aufklärung: den Begriff des autonomen Individuums und den Begriff des Weltbürgertums. Die Universität sollte ein Ort sein, an dem autonome Individuen und Weltbür-ger hervorgebracht werden bzw. sich selbst hervorbringen.

Wer ist man, wenn man Weltbürger ist? – Weltbürger sein heisst heute, sich mit den grossen Menschheitsfragen auseinanderzusetzen. Der dahingehend Gebildete bemüht sich um Frieden, Gerechtigkeit, um den Austausch der Kulturen, andere Geschlechterverhältnisse oder eine neue Beziehung zur Natur.
Humboldt blickte auf den einzelnen Menschen als unverwechselbares, einzigartiges Individuum. In diesem Blick lag die Sehnsuchtsbewegung des menschlichen Lebens: fest verwurzelt sich bis an seine, ja, über seine Grenzen hinaus strecken zu können. Was tun junge Menschen? – Sie gehen in die Welt hinaus, nehmen sie in sich auf, entfalten die Fähigkeiten, die in der menschlichen Natur liegen, stärken und üben sie. Anschliessend kehren sie zurück und nehmen ihren Platz dort ein, wo sie verwurzelt sind. Inwieweit ist dieses heute noch aktuell?

Andere Sprache = andere Weltsicht

Ein zweiter Exkurs zum Lernen von (Fremd)Sprachen – immerhin ist Wilhelm von Humboldt auch „mein Ziehvater“: Das Erlernen fremder Sprachen hat nicht allein einen ökonomischen Nutzen (der durchaus in der Bildung von Menschen liegt), sondern einen Nutzen in einem emphatischen Sinn. Eine fremde Sprache zu lernen, heisst nämlich eine andere An-Sicht der Welt kennen zu lernen und eine andere Weise, sich in der Welt zu bewegen. Der Sprachlehrer kann als der Bringer eines neuen Selbstverständnisses, das das Eigene ergänzt und es bereichert, gesehen werden. Je mehr ich mir bewusst gemacht habe, desto mehr sehe ich in der Welt. Das, womit ich mich bekannt gemacht habe, ist mir nicht mehr fremd – ich muss es nicht mehr bekämpfen. Ein Lehrer, der vermag, dieses Feuer in seinem Schüler zu wecken, ist ein Brückenbauer, und der Schüler, der sein Feuer trägt, wird nicht mehr brandschatzen, sondern wertschätzen.

5. Bildung und der Einzelne

"Er ist blind! Er ist weder gut noch schlecht. Er ist einfach nur blind." (aus: "Stadt der Blinden")
„Er ist blind! Er ist weder gut noch schlecht. Er ist einfach nur blind.“ (aus: „Stadt der Blinden“)

In unserer heutigen (westlichen) Welt brechen uns die Traditionen ein, ach, wir stellen sie derart in Frage, als gälte es, uns in selbstvernichtendem Bestreben für eine grosse Schuld zu bestrafen. Sinnstiftende Weltbilder sind auch in früheren Zeiten immer wieder zerbrochen, doch dann sind neue an ihre Stelle getreten. Jetzt scheint es, als seien die Menschen gewissermassen experimentierend auf einem ziellosen Weg, auf dem das Individuum noch nicht einmal unterwegs erfährt, wer und was es ist. Da ist kaum Substanz, kaum Wesen, das in einer individuellen Lebensgeschichte zu entfalten wäre.
Um mit Sartre zu sprechen: Selbstverwirklichung heisst heute Verwirklichung von Nichts, nämlich von nichts Vorgegebenem. Es bleibt das Experiment, das der Mensch mit sich selber macht. Wir sind inzwischen sogar noch weiter, als Sartre beschrieb. Inzwischen erschöpft sich das Leben in nichts weniger als in aberwitzigen Vorgängen und Funktionen. Erlebnis und Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung und Entfaltung der je eigenen Individualität sind heute unbedingte Werte, die alle anstreben – und paradoxerweise zeigt nachgerade das vehemente Bestreben, sie zu erreichen, ihre Abwesenheit. Psychotherapie wird zum Dauerzustand. Alle wollen mehr und anderes sein als die anderen, und als das, was sie in ihrem Kern wären, in ihren mitgebrachten Umständen sind. An die Stelle des Seins – wie gesagt – ist der Vorgang getreten. Wir leben, indem wir tun und in der Welt agieren.
Meistens tun wir das durch das Setzen von Regeln und verzeichnen dabei den Verlust realer Allgemeinheit. Das heisst, wir wissen nicht mehr, wer wir als Menschen sind, und was wir als Menschen zu sein hätten. Zusammen mit der Tradition haben wir das Wissen um die Bestimmung des Menschen und um die Menschheit in uns verloren.

Gegen die Eltern, gegen die Schüler, gegen die Kollegen

Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem ich Ihnen von meinem Abstecher an eine Schule, einer Stätte modernen Lernens und von Bildung erzählen muss. Obwohl ich keine ausgebildete Pädagogin mit Staatsexamen und absolviertem Referendariat bin, unternahm ich vor sieben Jahren den Versuch, an einer öffentlichen Schule zu unterrichten. Ich bewarb mich an einem Gymnasium auf eine Stelle als Deutschlehrerin. Knapp 49 Jahre alt war ich, und sehr gespannt auf das, was mich erwartete: zwei zehnte und eine neunte Klasse. Zuvor hatte ich mir Gedanken gemacht. Hier sind einige von ihnen zusammengefasst, auf dass meine Sicht auf das Lernen und Unterrichten deutlicher werde.

Gedanke 1: Ein Mensch lernt dort, wo er sich konfrontieren kann, zu provozieren versucht oder Provokation erfährt. Widerspruch ist im Lernprozess sehr wichtig. Wo er nicht möglich ist, und eigene und fremde Erkenntnisse im Fragen nicht freigelegt werden können, versiegt das Lernen und ein Glaube muss her.

Gedanke 2: Lernen ist nur dann und dort möglich, wenn und wo Menschen frei sind, ihre Erkenntnisse zu haben, und sich diese Freiheit auch erlauben. Diesen Gedanken habe ich bei Konfuzius gefunden. – Die Möglichkeit, die sich uns in einem kleinen Zeitfenster bot, war die der Möglichkeit, sich zu dieser Freiheit zu entscheiden. Das Fenster in der Zeit ist wieder geschlossen, und die Errungenschaften der Menschwerdung scheinen im ewigen Kreislauf in einen neuen – vermutlich niederen – Zustand überzugehen.

Gedanke 3: Einer von Konfuzius‘ wesentlichen Gedanken war der der zweifachen Menschlichkeit. Diese besteht im Bewusstsein der persönlichen Mitte und der Fähigkeit, andere gerecht und unparteiisch zu behandeln. Nur ein Mensch, der mit sich selbst im Reinen ist, kann das Wesen anderer Menschen verstehen. Dann wird er im Umgang mit anderen keine Konflikte brauchen, keine Verwicklungen, weil er jene für etwas benutzt, das er ins Aussen übertragen muss. Kämpfe zwischen Menschen entstehen aus falschen Gewohnheiten heraus; Menschen sind durch Konventionen, deren Bedeutungen sie nicht verstehen, schlimmer noch: durch Konventionen, die möglicherweise bar jeder Bedeutung sind, voneinander getrennt.

Ich fand mich drei Fronten gegenüber: die eine bestand aus den Eltern. Oh, da ist eine Lehrerin, die kein Referendariat durchlaufen hat. Ist sie in der Lage, mit unseren Kindern umzugehen? – Ich sage es gleich hier: ja, ich war in der Lage. Die Eltern hatte ich am Ende des ersten Halbjahres durchweg auf meiner Seite. Die zweite Front waren die Schüler. 75 an der Zahl, in einem Alter zwischen 13 und 16, geringfügig mehr Mädchen als Jungen, einige der Schüler mit einer anderen Erstsprache als Deutsch. Dies Alter ist bekannt als jenes, in dem junge Heranwachsende am allermeisten mit sich selbst beschäftigt sind, mit ihrem erwachsenden Körper und ihrem erwachenden Trieb in die Welt hinein. Sie haben Fragen und wollen Antworten.

Die ersten Wochen vergingen mit Annäherungen – an den Unterricht, an die verschiedenen Menschen, an den Lernstoff. Es kostete mich doppelt so viel und dreimal mehr Zeit, den Stoff vorzubereiten als es einen routinierten Lehrer gekostet hätte. Ich fing mit allem bei Null an, auch mit der Notengebung und überhaupt mit den Bewertungsrichtlinien. Es kostete viel Geduldenergie, die Tests der Schüler zu durchlaufen, um ihnen zu beweisen, dass ich sie ernst nehme. Es bedurfte – im Nachhinein besehen – grossen Mutes, Dinge zu tun, die „man sich“ nicht mehr im Unterricht leistete. Die ersten Streiche überstand ich, mit Rotwerden, mit Herzklopfen. Ich überstand die Unlustattacken, die sich im Lärmpegel niederliessen, den offenen Widerstand mit Verweigerungen. Ich bestand die Nagelprobe mit Theaterbesuch, Besuch einer Zeitung und eines Kinos, und die ersten Zeugniskonferenzen. Danach hätten wir zur Normalität übergehen können, aber ich streckte die Segel.

Tiefenverbindung von Lernstoff und Lebensumfeld

Grund dafür war die Front Nummer 3 – die Lehrerkollegen. Dazu weiter unten mehr. Als die Schüler soweit Vertrauen gefasst hatten, dass sie offen mit mir redeten, kam ihr Frust zutage. Wir wissen nicht, warum wir das lernen sollen. Frau Deutschlehrerin stellte dann gleich etwas klar: ihr wisst sehr wohl, warum. Eure Frage ist: Wozu müssen wir das lernen? – Ihr fragt, was die aristotelische Poesie mit der Welt da draussen zu tun hat. Ihr fragt, was die rhetorischen Muster in Remarques „Im Westen nichts Neues“ mit eurer Realität zu tun haben? – Ich sagte es ihnen. Ein Schüler fragte zweifelnd, warum er eine Zwei im Referat bekommen hatte, während der sonstige Klassenbeste eine Drei bekam: ob ich wüsste, dass es andersherum sein müsste. Ein anderer Schüler, sonst schriftlich auf Vier abonniert, bekam von mir eine Zwei. Einer, der kaum etwas sagte, ging mit einer Zwei nach Hause; eine Schülerin, die sich ständig mündlich äusserte, mit einer Drei. Ich erspare uns hier Einzelheiten. Um es zusammenzufassen: ich versuchte, den Lernstoff mit dem Lebensumfeld der Schüler in Zusammenklang zu bringen, ich stellte Tiefenverbindungen her und nahm mir dafür Zeit. Ich brachte unbekannte Komponisten via CD mit ins Klassenzimmer, und wir sahen uns gemeinsam einen Film an, bei dem die Schüler darauf gewettet hatten, ich würde ihn nicht kennen. Wir lasen eine ernsthafte Lektüre zu Faschismus und machten ein Drehbuch daraus, wir lasen Dürrenmatt und vertieften uns in Medea, kamen bei Christa Wolf und dem Geteilten Himmel heraus. Sie lernten nebenbei so viel, weil sie nicht merkten, dass sie lernten, sondern ihr gewecktes Interesse stillten. Die Klassenarbeiten, die wir schrieben, waren auf diese Art Lernen zuge-schnitten. Ich glaube, nach zwei Durchgängen brauchte keiner mehr Angst zu haben, er würde völligen Unsinn abliefern. Denn ich hatte gesagt: das gibt es gar nicht! Natürlich mussten wir in der Vergleichsarbeit scheitern! Ich scheiterte, weil mich die Kollegen nicht einbezogen, was die Wahl des Themas, seine Präsentation und die Aufgaben anging. Sie waren zu viert und sich einig, ich war alleine. Meine Schüler scheiterten, denn ich hatte ihnen in nur sieben Monaten eine Art zu arbeiten gezeigt, die sie aufgeweckt hatte, aber das war nicht vorgesehen. Ich hatte sie damit verdorben, und das liess man mich spüren.

Als ich es merkte, war die erste Hälfte des zweiten Halbjahres fast vorbei. Ich beraumte eine Sitzung mit meinen Schülern ein und eröffnete ihnen, dass ich gehen würde. Nichts sagte ich von den Kollegen, wohl aber sagte ich, dass ich merkte, ich wäre am falschen Ort. Sie verraten uns! riefen sie zu Recht. Das sei nun mal so gelaufen – ich hatte das nicht erwartet. Weiterzumachen aber täte mir nicht gut, denn ich hätte immer das Gefühl, sie nicht auf das vorzubereiten, was von ihnen verlangt würde. Ich eigne mich nicht zu dieser Art von Ausbilder, und deshalb müsse ich gehen. Sie gingen heim, zwei Wochen später hatte der Schulleiter einen Brief aller Klassenvertreter mit der dringenden Bitte, meinen Vertrag zu verlängern und mich da zu behalten, auf dem Tisch. Meine Entscheidung aber war unumstösslich.

An dieser Schule ist mir klar geworden: es geht nicht mehr um Bildung, es geht, wenn überhaupt auch das noch, um Aus-Bildung. Schüler sammeln ein Wissen, das weit davon entfernt ist, in Zusammenhang mit ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu stehen, das eingeatmet, und sobald die Klassenarbeit vorüber ist, wieder ausgeatmet wird.

6. Der Mensch in der Bildungswüste

Die Bildung des Menschen zu sich selbst, das Sehenlernen des wahren Lichtes, auf dass man sich und die anderen erkenne, die Vielfalt der Selbstverständnisse – alles das ist in einer Landschaft des Unterschiedlosen untergegangen. Es hat ganz schleichend angefangen. Vielleicht mit der französischen Revolution, vielleicht mit der Industrialisierung, vielleicht mit dem Kapitalismus, der als die andere Seite des Kommunismus nicht viel anders als jener ist. – Alle Menschen sind Funktion von etwas oder einem anderen. Alle Menschen sind gleich. Erst vor dem Recht und schliesslich vor den Vielen. Gleichmacherei steht der Bildung des Eigenen entgegen. Da, wo nicht unterschieden wird, wird auch nicht geachtet, wert geschätzt. Dann haben wir die Einöde, die Wüste.

Exkurs: Über die Toleranz

„Kein Araber liebt die Wüste. Wir lieben Wasser und grüne Bäume. In der Wüste ist nichts. Kein Mann braucht Nichts.“ (aus: "Lawrence of Arabia")
„Kein Araber liebt die Wüste. Wir lieben Wasser und grüne Bäume. In der Wüste ist nichts. Kein Mann braucht Nichts.“ (aus: „Lawrence of Arabia“)

In einem papiernen Aufschrei hatte ich vor langer Zeit einmal geschrieben, ich wolle nicht akzeptiert, sondern toleriert werden (etwa: „Du musst mich nicht mögen oder mir zustimmen, aber lass mich sein, wie ich bin!“). Anschliessend hatte ich in einem öde langen Text versucht, zu definieren, was denn nun Toleranz und was Akzeptanz sei. Am Ende war alles – von Augen Dritter ungelesen – in einem der digitalen wie realen Ordner verschwunden. Und war vergessen worden.
Nun habe ich ihn wiedergefunden. Zu meinem Schrecken verstand ich meine eigenen Worte nicht mehr. – Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich sprach/schrieb sofort alarmiert mit etlichen Leuten und erfragte ihre Definition von Toleranz und Akzeptanz. Fragte dabei auch nach, welchem sie den Vorrang geben würden. In meiner Verwirrung hätte ich keine Prognose abgeben wollen, tendierte aber immer noch zur Toleranz, wie vor Jahren. Die Befragten allerdings legten den Schwerpunkt auf die Akzeptanz. Akzeptiert zu werden bedeute die Anerkennung der Meinung, die man vertrete, las ich da. Man werde mit den eigenen Ansichten und Taten in eine Gemeinschaft, die diese für gut befände, aufgenommen.

Toleranz, sagten sie, sei eine Einstellung der Nicht(be)achtung. Eine, die in sich trage, dem Toleranten sei das Gegenüber egal. Man interessiere sich nicht wirklich, sondern bleibe unverbindlich und beziehe keine Position. In einem Artikel, den ich im Internet fand, las ich, dass etwas aus der Position eines Herrschenden heraus zu akzeptieren etwas völlig anderes – sogar gegensätzliches – sei als zu tolerieren. Letzteres heisse, etwas zu dulden und zu erlauben (auch etwas, das falsch sei, was natürlich überhaupt nicht gehe!), während ersteres bedeute, etwas als wünschenswert anzunehmen und zu fördern. Toleranz sei eine Haltung des Verzichts auf ein bestimmtes, klar umrissenes Menschenbild, demgemäss man als Einzelner die Gesellschaft formen könne. Zwar habe eine tolerante Person eine ungefähre Ahnung, wie sich Menschen der eigenen Meinung nach verhalten sollten, doch ob sie das auch wirklich täten, würde dann nicht weiter beachtet. Das Führen des eigenen Lebens gehe jenen vor dem Einwirken auf das Leben der anderen, und das sei Gleichgültigkeit. Ich verstummte und ging in mich.

"Was reizt Sie eigentlich persönlich an der Wüste?" - "Sie ist sauber." (aus: "Lawrence von Arabien")
„Was reizt Sie eigentlich persönlich an der Wüste?“ – „Sie ist sauber.“ (aus: „Lawrence von Arabien“)

Meine Verwirrung weigerte sich beharrlich zu weichen, nein, sie vergrösserte sich: war nicht früher, vor nicht allzu vielen Jahren Toleranz der Wert in unserer Mitte, dem das grössere Gewicht beigemessen wurde? Was war aus Nathan dem Weisen aus der Ringparabel Lessings geworden? Darin ging es doch um Toleranz, oder? Oder hatte ich alles falsch verstanden?
Mir fehlte ein entscheidender Baustein zum Verständnis des hausgemachten Unverständnisses, und ich entwickelte den Verdacht, dass hier eine Umgewichtung, eine Umdeutung der Begriffe, die mich in ihren Strudel gerissen hatte, im Gange war.

Dogmatismus kontra Moral

Der fehlende Baustein kam in Form einer Zigarette, die jemand vor der Tür eines Restaurants stehend rauchte, daher. Zigaretten sind gefährlich, d.h. Rauchen gefährdet die Gesundheit. Ist bekannt. Das hört und liest man allerorten, steht auch auf den Schachteln drauf. Also wird was dran sein. Wenn dem so ist, dann empfiehlt es sich, möglichst nicht zu rauchen, insofern man gesund bleiben will oder bleiben muss. Das könnte man als Dogma formulieren. Ihr Arzt vertritt möglicherweise dieses Dogma, d.h. er macht die Aussage der Gefährlichkeit der Zigaretten für sich zur ausschliesslich gültigen Aussage. Wenn Sie ihn aufsuchen, wird er Ihnen nahelegen – eingedenk der später eintretenden Folgen – sofort mit dem Rauchen aufzuhören. Er wird sagen: Sie sollten aufhören zu rauchen, denn sonst… Und dann wird er Ihnen freistellen, ob Sie seinen Rat befolgen oder nicht. Der Mensch Arzt als Dogmatiker wird Sie nicht persönlich dafür abstrafen, dass Sie Raucher sind. Er wird Sie aber vielleicht durchaus interessiert fragen: Geniessen Sie Ihre Zigaretten wenigstens? Und das meint er nicht ironisch.
Hat Ihr Arzt eine hohe Moral, dann wird er Ihnen ebenfalls sagen, dass Sie aufhören sollten zu rauchen. Er wird dies ebenfalls mit der Gefährlichkeit begründen, und er wird anführen, dass Rauchen auch die anderen Menschen gefährdet, jene, die in Ihrer Nähe leben, die Sie einnebeln, die passiv mitrauchen. Er ist ein Moralist, denn er wird eine bedrohliche Information in seiner Empfehlung mitschwingen lassen: Hör auf zu rauchen, sonst müssen wir dich ausschliessen, sonst müssen wir uns überlegen, wie wir dich vom Gegenteil überzeugen. Die Moralisten haben es inzwischen geschafft, die Raucher draussen vor die Tür zu schicken.

Verwischen der Begriffe in unserer Zeit

Ein Dogmatiker kann tolerieren, dass jemand etwas für sich Falsches tut, wenn er nur die Konsequenzen seines Handelns übernimmt. Ein Moralist muss jemanden, der im Begriff ist, einen Fehler zu begehen, davon überzeugen, es anders zu machen, nämlich so, dass es mit der Mehrheitsgemeinschaft konform geht. Ein Moralist kann akzeptieren, was seinen Grundsätzen ähnlich ist. Es ist nicht so, dass ein Dogmatiker nicht weiss, was für den anderen gut wäre – nur: er wird es nicht einfordern. Das jedoch tut der Moralist.

„The trick, …, is, not minding that it hurts.“ (aus: "Lawrence of Arabia")
„The trick, …, is, not minding that it hurts.“ (aus: „Lawrence of Arabia“)

In unseren Zeiten ist diese Begrifflichkeit verwischt. Weil Schwarz-Weiss ein Ideal ist und es dieses real nicht gibt und folglich auch nicht geben darf, dafür immer nur verschiedene Abstufungen von Grau, haben sich im Zuge der Relativierung und Neutralisierung Verwechslungen eingeschlichen. Das tut es immer, wenn man die Pole, zwischen denen sich das Leben abspielt, nicht mehr eindeutig benennen darf. Immer gibt es und hat es Mischtypen gegeben. Inzwischen allerdings kommen Dogmatiker moralisch verkleidet daher, und Moralisten wechseln auch schon mal ins dogmatische Lager, wenn eine angesagte Meinung in eine andere Phase tritt. Was zu beobachten ist: wir haben einen gewollten Überhang zum Moralischen. Die Werte an sich sind verloren gegangen (sage nicht nur ich), der Ethos ist futsch. Stattdessen haben wir Normierungen und Regelungen.

7. Rekonstruktion von Bildung

Fassen wir zusammen: Das Leben ist ein Traum oder ein Schattenspiel. Die Menschen darin – blind und ohnmächtig – jene, die das, was wirklich ist, nicht sehen, die das, was keineswegs wirklich ist, für wirklich halten. – Das war das Thema von Aischylos, damit sind wir wieder zurück bei den Griechen – und den Höhlenmenschen. Die Blinden, die Gefangenen könnten lernen zu sehen, und wollen es doch nicht.

"Ein Blinder ist etwas Heiliges, einen Blinden bestiehlt man nicht." (aus: "Stadt der Blinden")
„Ein Blinder ist etwas Heiliges, einen Blinden bestiehlt man nicht.“ (aus: „Stadt der Blinden“)

Die Mystik mit dem Bild vom innewohnenden Wesen, das in einem Äusseren eingewickelt ist: die ganze Eiche ist bereits in der Eichel angelegt, der Baum wird sich von innen nach aussen entfalten und entwickeln. Das ist im Groben das Wesen des mystischen Bildungsweges. So könnte es aussehen, doch die exoterischen Auslegungen haben der Mystik und den Menschen diesen Weg versperrt. Es bleib in heutiger Zeit ein Abklatsch – die kommerzielle Esoterik, die in Dualität zum Ursprung geht.
Humboldt zeigte an der Gestalt eines Baumes die Bewegung auf, die Sehnsuchtsbewegung, die das menschliche Leben voranzieht: Überhaupt liegt in den Bäumen ein unglaublicher Charakter der Sehnsucht, wenn sie so fest und beschränkt im Boden stehen, und sich mit den Wipfeln, so weit sie können, über die Grenzen der Wurzeln hinausbewegen. Ich kenne nichts in der Natur, was so gemacht wäre, Symbol der Sehnsucht zu sein. – In der Erde verwurzelt, wissend, wer wir sind, könnten wir die Welt erobern. Doch es ist etwas geschehen:
Statt Nächstenliebe haben wir den Sozialstaat. Nächstenliebe ist die Liebe zum Nächsten, den man in seinem Schicksal zu verstehen sucht. Wir mildern uns gegenseitig das Begreifen unserer Schicksale, d.h. unserer jeweiligen Bestimmungen, was uns nicht dessen enthebt, uns selbst und unser Leben eigenständig zu leben. Im Nächsten tolerieren wir sein je Eigenes. Mit „sozial“ hat das nichts zu tun.

Der Sozialstaat anstelle von Nächstenliebe

Wenn ich sozial bin, befinde ich mich von vorneherein, als mich bedingend und sichernd, in einem Kollektiv. In einem Kollektiv geht es nie um den Einzelnen, das Individuum. Da können sie reden, wie sie wollen: das geht nicht zusammen!

In der Nächstenliebe werden die Unterschiede zwischen den Menschen bewahrt und geachtet. Im Sozialen geht es darum, diese Unterschiede aufzuheben, so dass es keine Einzelnen, keine Individuen mehr gibt. Indem wir die Unterschiede ausgleichen wollen und die Diskriminierung (das Bezeichnen der Unterschiede, und im Zuge dessen das Handeln, das diesem Bezeichnen folgt) zu vermeiden versuchen, geben wir die Möglichkeit zur Toleranz preis – und auch die Möglichkeit zur Entwicklung des Einzelnen zu dem Baum, der er ist. In einer sozialen Monokultur ohne Unterschiede gibt es keine Konkurrenz. Das könnte Frieden bedeuten, sollte man meinen. Es wird auch so kommuniziert. In Wirklichkeit bedeutet es den Tod.

Die moderne Schule stiehlt den Kindern ihr Selbst

Der moralische Überhang ist eine der Ursachen dafür, dass wir im Sozialrausch die Chance auf Eigenständigkeit unseres Seins verlieren und aufgeben, und damit die Bildung unseres Selbst. In der Ausübung und im Vorgang-Sein meinen wir, jederzeit einschreiten zu dürfen und setzen den Zwang zum Handeln an die Stelle des Geschehenlassens. Wir sind scheinbar überaus beweglich, dabei äusserlich getrieben und innerlich eingeschlossen und isoliert. Höhle – Sokrates!

Die meisten Lehrer in den Schulen, auf die unsere Kinder gehen, sind davon überzeugt, das Beste zum Besten der Kinder zu tun. Dass sie alles gelten lassen, dabei bewerten, und die Bewertungen sofort relativieren, weil niemand aufgrund eines Unterschieds Vorteile haben darf, ist tägliches Brot.
Dass aber heute die Menschen sich selbst gestohlen werden, wird keine Medizin richten können. Von derlei Dingen muss man sprechen, wenn man über Bildungspolitik spricht, und von noch anderen mehr, die ich hier überhaupt nicht angesprochen habe. ♦

1)Sprache im weitesten Sinne, auch Dialekte
2)Kognition: Zu den kognitiven Fähigkeiten zählen: die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit, die Erinnerung, das Lernen, das Problemlösen, die Kreativität, das Planen, die Orientierung, die Imagination, die Argumentation, die Introspektion, der Wille, das Glauben und einige mehr. Es geht im Wesentlichen um Informationsverarbeitung. Der Begriff ist Gegenstand einiger Diskussion; ich verwende ihn in Anlehnung an die Arbeiten der kognitiven Psychologie, zusammengefasst in Oerter & Montada: Entwicklungspsychologie
3)Frevel gegen die Götter.


Karin Afshar

Karin Afshar - Glarean MagazinGeb. 1958 in der Eifel/D, Studium der Sprachwissenschaft, Finn-Ugristik und Psychologie, Promotion, zahlreiche belletristische und fachwissenschaftliche Publikationen, lebt in Bornheim/D

Lesen Sie im Glarean Magazin von Karin Afshar auch über Esther Kinsky: Fremdsprechen – Das Übersetzen

… sowie über die Anthologie mit Sprach- und Bildungs-Essays von Mario Andreotti: Eine Kultur schafft sich ab

W. Ehrismann: Meditation über „Grande Arlequinade“

Ein Maskenreigen

Bild-Meditation über das Gemälde „Grande Arlequinade“

von Walter Ehrismann

Walter Ehrismann: Grande Arlequinade, Oeltempera und Sand auf Leinwand
Walter Ehrismann: Grande Arlequinade, Oeltempera und Sand auf Leinwand

Vor uns ein wirrer Maskenreigen von Gesichtern – kleine Zirkuskunststücke werden uns dargeboten: Seiltänzer, Gaukler, Trapezkünstler beherrschen die Szene. Herrisch dirigiert ein farbig geschminkter Clown die Gruppe. Akrobaten, der grüngesichtige Zauberer, Feuerschlucker, Scharlatane und Harlekine unter ihrer schwarzen Augenmaske. Ein hoher Federdreispitz bedeckt den Kopf – schwarzblau, grün, rot und gold sind die vorherrschenden Farben, aus tiefstem, schwärzesten Grund ans Licht gebracht. Rhombenartig gewürfelt ihr Fleckenkleid. Sie  unterhalten die staunende Menge. Der Weisse führt sie an. Sein glitzerndes Seidenkostüm mit den zugespitzten Achselpolstern, die samtene Pumphose, der hohe Hut verleihen ihm diabolische Würde. Auf dem Saxophon bläst er schauerliche Töne. Sie wirken wie die Schreie archaischer Klageweiber.
Gemessenen Schritts umrundet er die Menge. Endlich steht er vor mir, beugt sich zu mir herab. Sein aufgerissener Mund und die Ohren sind grellrot geschminkt, das Gesicht ist erstarrt unter seiner bleichen Maske. Aus leeren Augenhöhlen fixiert er mich. Über allem liegt ein Hauch heiterer Schwermut. Alles, was ich in dem Bild erkenne, das sich vor mir ausbreitet, erzählt etwas über mich. Auch wenn ich nichts sehe: Ich bin es. ♦

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