im schatten insel
hafen im meer felsen
burg bruchstein
mauern schlüssel das
offene tor unter schwarz
pappeln ankert der
kahn unter schwarz
himmel vom weissen
balkon der blick:
ohne begrenzung
weite sicht
(zu Arnold Böcklin: Toteninsel – 1883)
Giorgio de Chirico: „Die beunruhigenden Musen“
sitzen auf der PIAZZA
stehen im langen
SCHATTEN wortlos die
türme der kathedrale
ansonsten
LEERE die steine
dösen am mittag faul im
folgsamen rhythmus zeit
loser ZEIT schwanken
KOPFLOS die KÖPFE ab
gelegt im bunt
gelackten gedanken
kasten vertrocknen
die wörter
(zu Giorgio de Chirico: Die beunruhigenden Musen – 1917)
Johanna Klara Kuppe
Geb. 1948 in Wuppertal/D, Erzieherin, Musikalienhändlerin, Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien, lebt in Waiblingen/D
Das schäumende Blau der Wellen leckte an dem Schiff. Anfangs beinahe zärtlich wie ein Hund über die zum Streicheln ansetzenden Hände seines Herrchens, doch dann immer gieriger und gieriger. Sie stand reglos da, entblösste mit der rechten Hand das Bild von dem schweren, seiden schimmernden Vorhang, im linken Arm noch den Wassereimer haltend. Stand und betrachtete die Szenerie. Stand so lange, bis sich der türkisfarbene Himmel unter ihren ahnungsvollen Blicken verdüsterte und die immer grösser werdenden Wellen mit dem immer kleiner werdenden Schiff ihr höhnisches Spiel trieben.
`Wie kommt es nur, dass ich die Entfernung, die zwischen uns liegt, nicht spüre? Ich spüre sie nicht, aber ich wünschte, ich würde es tun. Ich wünschte, ich würde dich nicht in Allem, was mich umgibt, erkennen! Zum Beispiel in der Art, wie das Licht in einem bestimmten Moment in diesen Raum fällt und ihn mit deiner Fröhlichkeit und Güte erwärmt. In diesen Raum, der sonst durch die Gegenwart deiner Frau kleiner und enger wird, als er sich anfühlt. Der gleichermassen erdrückt wird von ihren neidischen Blicken, die sich erbarmungslos auf jeden meiner Schritte, auf jede der hunderttausend Bewegungen heften, die ich tagtäglich beim Putzen, Waschen, Bügeln und Bettenmachen verrichte. (Mit einer Anmut, die einer Dienstmagd fern ist und die ihresgleichen sucht, wie du mir einmal zugeflüstert hast.) Nur jetzt ruhen ihre schweren Augen nicht auf mir, jetzt sitzt sie keine zwei Schritte entfernt auf einem Stuhl und liest deinen Brief. Ich kann ihre Kälte auf meinem Gesicht spüren. – Was schreibst du ihr? Worte der Liebe, des Vermissens, der grossen Versprechungen, die sich nie erfüllen, weil der, der verspricht, vergisst, dass die Dinge sich ständig ändern; dass nichts Bestand hat. Wie gern würde ich sicher sein können, dass es anders ist, dass das, was ich als wirklich empfinde, auch von dir als wirklich empfunden wird!`
Ihr Blick richtete sich unversehens wieder auf das Bild: Was würde er in ihm sehen? Die leicht bewegte See, auf dessen schäumend blauen Wellenkronen ein Schiffchen tanzt oder einen durch ein schreckliches Unwetter in Not geratenen Dampfer?
Ein plötzliches Rascheln riss sie aus ihren Gedankengängen. Die Hausherrin faltete den Brief ihres sich auf einer seiner Geschäftsreisen befindenden Mannes zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Die Dienstmagd begriff dies auch sogleich als Anlass, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Behutsam liess sie den schweren, seiden schimmernden Vorhang wieder über das Bild gleiten. Da spürte sie plötzlich eine Berührung am rechten Bein. Es schien ihr, als ob der Hund des Hausherrn über ihre Wade gestrichen wäre. Doch die Berührung erwies sich als so flüchtig, dass man sich fragen könnte, ob sie nicht nur eingebildet war. ♦
Stefanie Schaefer
Geb. 1984 in Bühl/D, Studium der Neueren Deutschen Literatur und der Romanistik (Italienisch und Französisch) in Tübingen, Promotion 2010
Die Brandung. Laut. Hoch. Es ist früher Nachmittag. Neumondzeit.
Sie steigen die Felsen hinunter. Das Licht ist grell. Weiss. Es kommt keine Welle wirklich ans Land. Hans und Ute glauben das. Immer, wenn sie ans Meer gehen. Das ist die letzte Sicherheit. Bevor sie ertrinken.
Irgendwann.
Sorgen
Sie stehen im Schnee. Es ist dunkel. Ein Zug ist ausgefallen. Der nächste hat Verspätung. Es schneit stärker. Zwei Frauen lachen. Dann kommt die Durchsage.
Verschoben auf unbestimmte Zeit. Witterungsbedingt. Es ist der Jahrestag der Bombennacht. Oder sonst einer Nacht. Sinnlos. Es ist sinnlos, sich Sorgen zu machen.
Tausend Schirme
Eine Burg. Bernd und Ilse auf dem Weg. Steil. Felsig. Kurven. Ein von Bodenweiler wohnte da. Eng. Kalt. Oben ein Turm. Verfallen. Ohne Halt. Ohne Zinnen. Ohne Geländer. Bernd steigt auf die Brüstung. Es ist Sonntag.
Im April. Sonnig. Bernd weiss es. Auch dass es steil ist. Es ist wie beim Löwenzahn. Wenn er stirbt, fliegen tausend Schirme.
Otto Taufkirch: Gouache
Windstill
Es wird hell. Windstill. Wir gehen ins Tal. Die Nacht hat keine Stimme. Es ist Samstag morgen.
Martina hat Halsschmerzen. Auf dem Weg liegt eine Ratte. Tot.
Ein toter Baum. Vorne schimmert das Wasser. Als Fläche. Hinten geht Max. Alleine. Später wird man sagen, er hat sich verlaufen. Ein Singular ist lange teilbar. So lange, bis Max gefunden wird.
Hilfe
Die Arkaden. Ein Mann. Eine weisse Bank. Ein Arm. Der Mann mit einem Arm. Ein Arm mit einem Mann. Ein Stock. Karl und Ute stehen davor.
Vor dem Stock. Vor dem Arm. Vor dem Mann. Es ist Montag. Die Kurpromenade ist leer. Der Mann glaubt nicht an Gott. Er hat seinen Stock. Seine Arkaden. Seinen Arm. Karl und Ute flüchten. In die Liebfrauenkirche.
Was immer das ist. Seit sie ein Licht angezündet haben, sind sie ruhiger.
Für jeden gibt es eine Hilfe.
Sei ohne Tun…
Es ist Erntezeit, sagt Franz, wir müssen auf alles gefasst sein.
Er hat es beim Frühstück gesagt, beiläufig, ohne Pathos.
Sie erinnert sich daran, viel später.
Dann kam alles auf einmal, zuerst der Seenebel, dann stürzte die Gartenmauer ein. Der Wind frischte auf.
Die Erntezeit nahm Franz mit. Auf die Reise. Er hatte das Marcumar abgesetzt. Er wollte es nicht mehr.
Der Fluss wurde gestoppt. Nichts was dann ungetan bliebe, sagt Lao Tse.
Geb. 1942; Maler, Zeichner und Lyriker; zahlreiche Ausstellungen in Deutschland, Italien, Frankreich und Portugal; diverse Lyrik-Publikationen; lebt in Lauf/D
Schimmernde Samennetze wabern im Meer. Der Fisch und seine Gefährtin tanzen lautlos im Rausch der Zeugung.
Die Frau schwebt im Wasser, versucht, in der Strömung ihren Platz zu behalten, nichts aufzuwirbeln, sachte, als sei sie wieder das Kind an der Hand des Grossvaters im Wald, schleichend auf der Pirsch in anderen Farben. Sie verhält sich wie ein erregter Jagdhund.
Das Wesen mit der schimmernden Haut vor ihr steht im grünen Licht, Kringel und Spiralen tanzen in zärtlichem Smaragd, schliessen Helligkeit ein, Gelb sickert herab, flüssiges Glas, das sich auf die dunkle Haut legt. Der Fisch verharrt völlig bewegungslos, sieht sie immer noch an, abwartend, sehr distanziert, mit diesen starren Pupillen, diesem Schwarz, als presse er sich an ein Okular und verstecke sein wahres Auge dahinter. Er ist schön. Seine Bewegungen sind sparsam, voll verhaltener Energie, sein Körper glänzt fest und glatt, im Schwarz königlichen Leichengepränges.
Sie öffnet ihre Finger zu Fächern, langsam, behutsam, das Wasser rinnt dazwischen durch, streichelt an der zarten Haut ihrer Handteller entlang. Sie spürt die Wärme, die von oben herunterdringt, die Farben und Lebewesen rund um sich, ohne sie bewusst wahrzunehmen, sie spürt, dass sie da sind. Doch alles ist nur offen für das Fischauge gegenüber, und so verharren sie in gegenseitiger Betrachtung.
Im weissen Sandbett ruhen die schwarzen Felsblöcke, rosafarben leckt das Meer an den von grünbraunen Algen überzogenen Wänden. Es ist ein Stein im Schwarz dumpfer Katakomben. In Spalten lauern kobaltblaue Striche, schiessen ein in das Schwarz, bewegen sich hin zu violett, aus Rissen rieselt stumpfes Anthrazit. Nackt liegt das Schwarz der prallen Sonne ausgesetzt, die Lebendigkeit der Schatten am Fuss der Felsen weicht starrer Leblosigkeit. Es ist, als zöge sich der Glanz zurück ins uralte, feuchte Innere, hinterliesse ein Schwarz, seiner Seele beraubt, das unterm dem tropischen Licht zerbröckelt zu russigem, apathischem Dunkel. Die Felsen warten. Wie urzeitliche Panzertiere haben sie sich in sich zurückgezogen und brüten über den Farben.
Der Mann nimmt den Apfel und legt ihn auf die nassen Finger der Frau. Salz verkrustet sich im Wind an den winzigen, aufgerichteten Häärchen. Der Apfel ist rot, prall und glatt. Die Frau hält Leben in der Hand.
Licht tanzt über dem Meer, die braunen Erdtöne steigen auf, bieten sich der Sonne dar, Ocker schwelt über Umbra, Karmin, leuchtet im Schatten der grünen Pflanzendächer, Siena vermischt sich mit zartem Rosa und schmilzt ins pudrige Beige des Strandes. Die See ist wie ein Schild, bleiweiss in der vergehenden Hitze verbirgt sie den lautlosen Kampf, die lautlose Schönheit, die lautlose Jagd, das lautlose Werben, die lautlose Vernichtung, die lautlose Geburt.
Unter den Blättern verharrt seufzend die aufsteigende Brise, Schleier ziehen von den Hängen herab. Schräge Bronzetöne verdampfen auf der Haut der Frau. Der Mann beugt sich über die Schatten, beisst in den Apfel, das Fleisch kracht saftig zwischen seinen Zähnen, der Zauber bricht.
Der Fisch und seine Gefährtin umtanzen die befruchteten Schnüre, beobachten das keimende Leben.
Auf dem sich kräuselnden Wasser liegen Boote mit aufgerollten Netzen.
Kraniche staksen nebelig weiss auf dürren Beinen zwischen glänzenden, kunstvoll geschichteten Melonen, den reifen Tomaten, deren sanftes Rot in den Körben schimmert. Die Vögel hocken auf den durchhängenden Planen, wetzen die halboffenen Schnäbel, recken die Hälse und schiessen hinunter auf den nassen Tisch mitten zwischen die braunen Hände mit den pastellfarbenen Geldscheinen, die sich den Fischbündeln entgegenstrecken. Sie zielen auf Fischreste, Schwänze und Innereien, schnappen auf, schlucken ruckartig mit den sich krümmenden Hälsen. Die Finger weichen nicht zurück, die Kraniche heben ab.
Ein Fischauge liegt auf dem nassen Holz, Schuppen kleben wie Katzensilber auf dem Tisch, abwaschbare Intarsien des Tiertodes.
Hoch über dem Wasser steht das weisse Haus mit der schmalen Brüstung, auf der Veranda tanzen Menschen. Die grünen Sprossen der glaslosen Fenster leuchten im Kerzenschein. Die Frau und der Mann schauen über die verstreuten Lichter unter ihnen hinaus auf das silbrige Grau des Meeres, die blauschwarzen Kuppen der vorgelagerten Inseln.
Im warmen Bambuston hinter den grünen Sprossen legt eine nussfarbene Frau mit langgezogenen Fingern und weissen Halbmonden auf Perlmuttnägeln ein Stilleben des Todes. Sie hält die Papaya, sie spürt die wächserne Haut der grobporigen Orange, sie fährt über das angelaufene matte Grau der Platte, prüft das Gewebe des Tuches, zieht daran. Auf dem Teller liegen der Fisch und seine Gefährtin, appetitlich und prall. Die gebrochenen Augen verwandeln sich zu Löchern ins bodenlose Schwarz.
Betrachtung hält die Zeit an. Stille. Die Frau lächelt den Mann an, ihre Lippen berühren sich. In der Unbeweglichkeit des Augenblicks verlöscht der Tod im Leben.
„Es ist angerichtet“, sagt die nussbraune Frau, und das Paar wendet sich ihr zu. ♦
Geb. 1954 in Steyr/A, Studium der Anglistik und Romanistik, Prosa-Buchveröffentlichungen, verschiedene internationale Kunstausstellungen, diverse Literatur-Auszeichnungen, lebt in Bisamberg/A
Christian Born Geb. 1957 in Freiburg/D, Ausbildung in verschiedenen Kunstklassen der Malerei, Zeichnung und Graphik, div. Ausstellungen in Deutschland, Illustrationen in verschiedenen Periodika, lebt als freischaffender Illustrator in Freiburg
Schon die im Titel dieses Textes verwendeten Begriffe wird man als vage und mehrdeutig bezeichnen. Sie sind es, und dass sie es sind, ist notwendig, um die Bedeutungen und Spielarten hinlänglich beschreiben zu können, in denen sich Kultur heute ereignet – in diesem Kontinent, der unfreiwillig der internationalste, der am wenigsten regional und provinziell geprägte, der verflochtenste und trotz seiner ökonomischen Potenz und relativen politischen Stärke der kulturell am wenigsten selbstbestimmte der fünf bewohnten Kontinente ist.
„Neue Kultur“ bezeichnet nicht einfach das gerade eben mit kulturellem Anspruch ins Werk Gesetzte. „Volkskultur“ bezieht sich nicht auf die touristisch inspirierten Darbietungen alter Leute in alten Kostümen. „Neue Kultur“ umschliesst all die vielgestaltigen, tastenden Versuche einer neuen Bewegung, ihre eigenen Erfahrungen und ihr momentanes Bild einer anderen Weltordnung zu vergegenständlichen. Diese unverbrauchte, in vielem noch unentwickelte und gestaltlose Kultur findet ihr Gegenstück – halb Spiegelbild, halb Antagonismus – in einer Volkskultur, die aus zerstörten Resten aufscheint oder sich neu entzündet an populären Gefühlen, an Kämpfen und Identifikationen.
Alternativ und avantgardistisch
Eine alternative Kultur kann sich nicht damit abgeben, den Menschen zu sagen, was sie längst wissen und tun. Sie muss avantgardistisch sein, sie muss einen Schritt voraus sein oder auch einige Schritte, und sie darf nicht gemessen werden am sogenannten gesunden Menschenverstand.
Wider die „Ehedramen und Kleine-Leute-Geschichten“: Wolf Vostell mit seiner „Elektronischen dé coll age“ 1968
Eine der erbärmlichsten Sachen ist es, wenn sogenannte Linke sich nicht zu schade sind, das auf den Hund gekommene Volksempfinden zu Hilfe zu rufen gegen all das, was sie nicht verstehen können und nicht verstehen wollen. Natürlich gibt es auch Pseudo-Avantgardismus, gibt es Scharlatanerie und serielles Kunstgewerbe, wo ein Otto Herbert Hajek so impotent ist wie einstmals ein Bernard Buffet. Natürlich ist nicht die Haltung der kritiklosen Bewunderung – platt auf den Bauch, die Augen fest geschlossen – gefordert, also jene servile Museumswächter-Mentalität, die schon aufschreit, wenn jemand unerlaubterweise eine Beuyssche Stahlrohrkonstruktion berührt.
Aber es ist eben einfach daran festzuhalten, dass ein Vostell in seinen Fluxus-Containern mehr transportiert an Gegenwart und an Zukunft als ganze Güterzüge voller Spätimpressionismus und „sozialistischem Realismus“. Die bleiern schweren Grabfiguren, der messergespickte Hund im roten Pfefferstaub – das ist viel näher dran an unseren wirklichen Problemen als all die Ehedramen und Kleine-Leute-Geschichten, als all die engagierte Künstlichkeit der Arbeitnehmer-Reportagen.
Den Künstlern die Freiheit lassen, so zu sein, wie sie sind
Überhaupt sollten wir uns lösen von der Doktrin, dass der Künstler gefälligst als zugleich genialer und brav progressiver Kulturschaffender ein wackerer Gewerkschafter, ein zuverlässiger Parteimann, ein konsequenter Revolutionsasket zu sein habe. Wir müssen uns freimachen von diesen Fiktionen, wir müssen den Künstlern und der Kunst die Freiheit lassen, so zu sein, wie sie sind – eine totale, schrankenlose Freiheit, nicht eine halbe und kastrierte im Sinne einer regierungsoffiziellen sowjetischen Broschüre aus der Breschnew-Ära, in der es heisst: „Schriftsteller, Maler oder Regisseure sind in ihrem Schaffen frei. Es gibt weder verbotene Formen noch verbotene Themen. Das Prinzip der Schaffensfreiheit ist jedoch mit Anschlägen auf die Lebensinteressen der Gesellschaft und der Werktätigen unvereinbar. Die Gesellschaft lässt weder die Propaganda des Krieges zu noch das Schüren von rassistischer oder religiöser Feindschaft, sie verbietet die Verbreitung von Pornographie oder Werken, die von antihumanem, antisozialistischem Geist durchdrungen sind.“ (Presseagentur Nowosti „Jahrbuch UdSSR 1984“, APN-Verlag, Moskau 1984).
Die Kunst zu widersprechen – die Widersprüche der Kunst
Man wird akzeptieren müssen, dass Künstler nicht immer Heroen sind, sondern alles und jedes: Klerikale Spinner die einen, ängstliche Psychopathen die anderen, brutale Saufbolde oder prosaische Buchhalter, geldgierige Bonvivants oder rachsüchtige Menschenfeinde. Man wird akzeptieren müssen, dass Künstler keine Vorbilder sind. Man wird akzeptieren müssen, dass etliche Künstler nicht „“links, wo das Herz ist“, ihren Platz gehabt haben, sondern auf der anderen Seite der Frontlinie.
Faschist und genialer Lyriker: Ezra Pound (1885-1972)
Dass Ezra Pound ein Sympathisant der italienischen Faschisten war, hat nicht verhindert, dass er einer der grössten Lyriker dieses Jahrhunderts war und blieb. Gerade in Deutschland ist ein nationaler Konsens nötig darüber, welche der in den Faschismus verstrickten Künstler wir auf den Sperrmüll der Geschichte werfen sollten und welche nicht.
Unwissenheit und Ohnmacht
In einer längst nicht mehr europäisch zentrierten und sich rapide wandelnden Welt wäre es notwendig, dass bei einer Pflichtschulzeit von zwölf oder dreizehn Jahren jeder, der nicht lernbehindert ist, also auch jeder heutige „Hauptschüler“ am Ende zwei Weltsprachen fliessend spricht, geschichtliche, politische und geographische Zusammenhänge kennt, die Grundzüge mathematischen und philosophischen Denkens begreift, die elementaren Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften zumindest in metaphorischer Form nachvollzogen hat, das Handwerkliche der Kunst kennengelernt und in kreativer, selbstbestimmter Arbeit zu eigenständiger Gestaltung gefunden hat, mehrere Sportarten beherrscht, sowie gelernt hat, wie in Fabriken und Labors, in Handwerksbetrieben und in der Landwirtschaft die Hände und der Kopf gebraucht werden.
Natürlich, das ist eine Utopie. Aber eine vom Gang der Geschichte diktierte, der die europäischen Länder nur um den Preis ihres kulturellen und wirtschaftlichen Zurückbleibens ausweichen können. Diese Utopie zu verwirklichen wird nicht nur grosse Geldsummen, sondern auch Schweiss und Tränen und den Verzicht auf liebgewordene Vorurteile kosten.
Für das, was anders ist
Wir müssen die Verschiedenartigkeit, die Eigenartigkeit, die Einzigartigkeit, das besondere Gesicht unserer eigenen Kultur verteidigen – die in aller Vermischung unvertauschbare und unübertragbare Einzelexistenz, das Phänotypische. Es ist eine Entscheidung, die wir zu treffen haben: Wollen wir eine von allen nationalen Exzentrizitäten gereinigte, jeden Bezug auf das eigene Land ängstlich vermeidende Kultur, die in Melbourne und in München, in Vancouver und in Frankfurt die eine, ewig gleiche, unterschiedslose Weltkunst (oder ihre europäisch-abendländische Variante) inszeniert? Wollen wir eine Kultur, die den Charakter ihrer Charakterlosigkeit bezieht aus der fröhlichen Befolgung von globalen Marktgesetzen und international gültigen Sebstverstümmelungs-Mechanismen – oder wollen wir eine aus den nur begrenzt miteinander verbundenen, nur begrenzt vermittelbaren Sonderkulturen all der vielen Völker entstehende Weltkultur, in der das einigende Band sehr lose und sehr äusserlich ist und so verschwindet wie ein Faden, der unter den vielen bunten Blumen fast unsichtbar bleibt und doch das Gebinde zusammenbringt? Ich plädiere für eine bei aller wechselseitigen Beeinflussung und Befruchtung unaufhebbare Schranke zwischen den Kulturen, für eine deutsche und eine spanische und eine französische Kultur statt eines Einheitsbreis nach Europa-Norm.
Dies bedeutet natürlich ein Abkoppeln von einer als unaufhaltsam dargestellten „allgemeinen Entwicklung“, von der zwanghaft auf Uniformität und Verflachung abgerichteten Wanderbühnenkunst, deren Heimat das Nirgendwo und deren letzter Grund das Geschäftemachen ist. Dies bedeutet ein Ausklinken aus den aktuellen „Sachzwängen“, mit denen das allseitige Angleichen, Abschleifen und Verflachen erreicht werden soll. Die Zerstörung des Besonderen jeder Kultur im heutigen freien Westen hat ihre unübersehbare Parallele in der Zerstörung der vielgestaltigen natürlichen Ökotope wie in der Zerstörung gewachsener Stadtteilstrukturen. Das triste Einerlei der durch Emissionen, Kultivierung und freizeitgerechte Abnutzung sterbenden Wälder, die todtraurige Langweiligkeit der wuchernden Hochhaus- und Reihenhausgeschwulste – all das wächst auf demselben Boden wie die Vermarktung der Kultur und ihre industrielle Verarbeitung zu geschmacksneutralen Appetithappen. Die Macht, die die Natur und die Menschen zugrunde richtet, ist dieselbe, die die menschlichen Schöpfungen zu vernichten sucht: Eine zentralistische, monopolistische, industrialistische Lebens- und Arbeitsstruktur, die sich in Herrschaftsordnungen und Wirtschaftsformen, in Denkgewohnheiten und Herrscherfiguren verkörpert, welche – je mehr sie miteinander in Verteilungskämpfe geraten – sich um so ähnlicher werden.
Was Europa sein könnte
„Kleineuropa der Bürokraten und ihres parlamentarischen Begleitorchesters“: Die EU-Kommission in Brüssel
Wir wollen eine regionalistische Kultur der Völker in einem Europa, das nicht das Kleineuropa der Euro-Bürokraten und ihres parlamentarischen Begleitorchesters ist, sondern jenes grosse und grossartige Gesamteuropa, das vom Bosporus bis Spitzbergen, von Gibraltar bis zum Ural reicht, zu dem all die kleinen, von den Grossmachtpolitikern ebenso unterschätzten wie unterdrückten Völker gehören, ob heute in einem eigenen Staat lebend wie Albaner und Finnen oder noch in einem fremden Staatsverband eingepfercht wie Basken und Korsen, ein Gesamteuropa, das all die in einen anderen Kontinent hinüberreichenden halbeuropäischen Brücken- und Zwischen-Länder (die Sowjetunion, die Türkei, Zypern, Malta, Grönland) – zu Austausch und enger Kooperation aufruft und den aussereuropäischen Mächten USA und Kanada den kostenlosen Heimtransport ihrer Soldaten und Vernichtungswaffen spendiert.
Ein solches Europa wird sich freimachen von der engstirnigen Fixierung auf ein christkatholisches Abendländertum, es wird die widersprüchliche Vermischung der Ethnien, und Kulturen in der europäischen Geschichte bewusst aufgreifen als Chance für Vielgestaltigkeit und Formenreichtum. Es wird weder romanisch noch germanisch sein, weder slawisch noch „nordisch“, es wird ebenso eine Balance seiner kulturellen Bildungselemente ermöglichen wie ein politisches Gleichgewicht der Mächtegruppierungen. Europa hat eine Chance zu überleben, wenn es sich politisch, wirtschaftlich und militärisch abkoppelt von den USA, wenn es aus der Distanz der Nicht-Paktgebundenheit heraus eine Mittlerrolle einnimmt – zwischen Westen und Osten, zwischen Nordamerika und Asien, zwischen „erster“ und „dritter“ Welt.
Zu dieser Unabhängigkeit gehört aber auch, dass Europa nicht länger sich der amerikanischen kulturellen Hegemonie beugt, die – ohne dass politischer Druck und militärische Erpressung hinzutreten müssten – allein durch den Selbstlauf der technologischen Entwicklung immer weiter anwächst: Als Kommerzialisierung, als Trivialisierung, als Schablonisierung, von den Werbemythen bis hin zu den Schnellrestaurants, von den Seifenopern bis hin zur elektronischen Kinderstube.
Was verteidigen wir, was geben wir auf?
Kulturelle Grenzüberschreitung durch omnipräsentes McDonald’s?
Was heisst das konkret, für viele Einzelkulturen der europäischen Völker statt für die Chimäre einer einheitlichen „Europa-Kultur“ einzutreten? Es bedeutet zunächst einmal, nichts, was lebensfähig ist, aufzugeben aus den lokalen, regionalen und nationalen Traditionen, sondern es zu bewahren und zu erneuern: Die bunten Häuser Portugals und die weissen Andalusiens, die Fachwerk-, Schiefer- und Bruchsteinhäuser Deutschlands, das „unmögliche“ zungenbrecherische Walisisch, die griechische und die kyrillische Schrift, Trachten und Tänze und Volksmusik, bayrisches Brauchtum und die Riten der unchristlichen Abendländer (der Mohammedaner auf dem Balkan), die eigene Literatur der baltischen Völker oder der albanischen Minderheit in Italien, die den Zentralisten verhasste und als Separatismus verdächtige Wiederbelebung einer elsässischen oder katalanischen oder sowjetischen Identität…
Aber es geht um mehr als um ein Konservieren und Restaurieren. Notwendig sind Kulturen, die neue Schöpfungen hervorbringen und neue Traditionen begründen, die das moderne Leben der Völker zum Leben bringen in Kunstwerken, die mehr sind als Kopien oder späte Nachklänge der alten Meister. Eine solche Kunst muss notwendig avantgardistisch sein, sie kann nicht spekulieren auf unmittelbare Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit. So wie wir in der Pädagogik die Doktrinen des Laisser faire und der Anpassung ans jeweils niedrigste Niveau, die Anbetung der spontanen Ignoranz und die Orientierung am Flachkopf und am Faulpelz endlich überwinden und der verdienten Lächerlichkeit preisgeben sollten, so ist auch auf kulturellem Gebiet ein fundamentales Umdenken an der Zeit. Es muss in die Köpfe hinein, dass ein Kunstwerk sich immer wieder der Vereinnahmung und Vereindeutigung entzieht, dass Ehrfurcht und Schweigen angebrachter sind als interpretierendes Gefasel, dass das Verstehen eines Kunstwerkes nur aus der Distanz möglich ist, dass dieses Verstehen mit geistigen Anstrengungen, mit Arbeit, mit inneren Kämpfen und Schmerzen, mit Risiken und mit Sich-Bewähren zu tun hat.
Das Feuer auf die Erde!
Göttin Europa, gestützt von Afrika und Amerika (William Blake, 1796)
Dort, wo sich wirklich etwas abspielt, wo Bücher mehr sind als Papierkram, wo Maler mehr vollbringen als gehobene Anstreicherei, wo die Musik die Dämonen und die Götter beschwört, dort ist eine Chance für den schöpferischen Menschen, sich vom Wiederkäuen der Realität zu lösen, sich aus den Zwangsgedanken des Foto-Realismus zu befreien und das Feuer auf die Erde zu bringen, das ebenso gemeingefährlich wie schön ist.
So wie die modernen Abenteurer aus dem Bannkreis der begradigten Flüsse, möblierten Wälder und seilbahnerschlossenen Berge flüchten, das Unkalkulierbare, den Tanz auf dem Seil suchen und den möglichen Tod der sicheren Langeweile vorziehen, so steigen die Künstler aus dem vermarkteten, reglementierten, korrumpierten und keimfreien Kulturbetrieb aus – across the river and into the trees.
Natürlich ist dies eine romantische Attitüde, natürlich ist dies Flucht und Verweigerung, aber es ist überlebensnotwendig, wenn man der geistigen Verödung, Versteppung und Verwüstung, der Plattwalzung und Ruhigstellung entgehen will. Ob stiller Rückzug in ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, ob aggressive Aufkündigung des Mitspiel-Engagements, ob Gegen-Offensive oder autistische Abkehr – in jedem Fall geht es darum, sich nicht als Quisling der kulturellen Nivellierung und Verblödung zur Verfügung zu stellen. Es geht darum, frei zu bleiben, unbestechlich und souverän. ♦
Geb. 1949 in Mühlheim/D, Studium der Psychologie in Tübingen und Köln, zahlreiche fachwissenschaftliche und belletristische Publikationen in Büchern und Zeitschriften, früher SDS-Aktivist, Mitbegründer der Grünen Deutschland, umfangreiche fotokünstlerische Arbeit, lebt in Köln
Geb. 1942; Maler, Zeichner und Lyriker; zahlreiche Ausstellungen in Deutschland, Italien, Frankreich und Portugal; diverse Lyrik-Publikationen; lebt in Lauf/D
Geb. 1942; Maler, Zeichner und Lyriker; zahlreiche Ausstellungen in Deutschland, Italien, Frankreich und Portugal; diverse Lyrik-Publikationen; lebt in Lauf/D
Das Buch „Valentin Lustigs Pilgerreise“ handelt von Bildern – des Malers Valentin Lustig. Und von den Bildern dieser Bilder – des Autors Urs Widmer. So weit, so schwierig. Aber jetzt kommt’s: Es sind da noch die Bilder der Bilder der Bilder – von uns, der Seh-/Leserschaft.
Hmm, nochmals von vorne: Also, es gibt den 33-jährigen, im rumänischen Klausenburg geborenen, seit 25 Jahren in Zürich lebenden Maler Valentin Lustig. Und den 70-jährigen Basler, auch in Zürich wohnenden Schriftsteller Urs Widmer – und der Diogenes Verlag meint (zuhinterst, also zuvorderst): Die beiden „haben sich als Seelenverwandte entdeckt, ein künstlerischer Dialog hat sich entsponnen“, daraus sei nun ein raffiniert komponiertes Gesamtkunstwerk entstanden.
Diese Bemerkung stimmt – ist aber eine leere Werbe-Sprechblase. Es hilft also nichts: man muss noch weiter, mindestens bis zum Buch-Titel zurück, um anzufangen – nämlich: „Urs Widmer: Valentin Lustigs Pilgerreise – Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde – Mit Briefen des Malers an den Verfasser“. Ja, so packt der Rahmen diese Galerie richtig, und nun kann man auch das allererste Bild aufrufen. Man betrachte es gut, denn es beinhaltet das ganze Buch und heisst „Vier lachende Knaben“:
Valentin Lustig: „Vier lachende Knaben“
Weisst du denn nicht, dass der Erdenkreis von Toten bevölkert ist?
Und dann hat, nach dem Maler, der wohl seit Jahren bild-gewaltigste Texter der Schweiz seinen ersten Auftritt – und weit holt er schon zu Beginn aus, den Maler ein, und den Betrachter hinein:
„Weisst du denn nicht, dass der Erdenkreis von Toten bevölkert ist? Den Verstorbenen alter und auch junger Zeiten? So sieben Milliarden Schatten dürften sie inzwischen sein, die Toten aller Zeiten, vom allerersten homo sapiens an, der keine vierzehn Jahr alt und eine Frau war, die nach der Geburt des dritten Menschen unserer Art starb, bis hin zu deinem Freund, der gestern verschied. Inzwischen leben mehr Menschen auf der Erde, als jemals auf ihr gestorben sind. Obwohl wir uns immer noch umbringen und auch die Viren ihr letztes Wort noch nicht gesprochen haben. – Die Toten gehen so, wie sie im Augenblick ihres Todes waren. Schwarz und nackt im Fall der ersten Gestorbenen, oder eben im Pyjama, mit einem eingeschlagenen Schädel, ohne Beine, bleich, im Gehrock, mit einer Schiebermütze auf dem Kopf, einem Stahlhelm. Wir sehen die Seelen nicht, die Aufmerksameren unter uns spüren sie zuweilen, vor allem, wenn wir durch eine hindurchgehen, die nicht ausweichen kann oder will. Wozu auch? Wir frösteln und haben einen Widerstand gespürt, so etwas wie dicke Luft.“
Zwei Ver-rückte auf Umwegen in die Hölle, zuweilen in den Himmel
Urs Widmer (1938-2014)
Solchermassen die Route dieser Reise von Lustig und Widmer abgesteckt erhalten, pilgert man nun als Leser los, 140 Seiten lang, an beiden Händen geführt von zwei Ver-rückten, die einen schnurstracks, oder auch auf Umwegen, in die Hölle reissen, zuweilen in den Himmel heben. Gott bewahre, langweilig sind die zwei Autoren wirklich nicht, sie unterhalten auf Teufel komm raus:
„Im Anfang war das Bild. Fürs erste Bild kommt auch der beste Maler heute zu spät. Weil das so ist, wollen die Maler wenigstens das letzte Bild haben. Das ist verständlich. Wozu malten sie sonst. Die Schöpfung war nach sechs Tagen Arbeit ein prachtvolles Gemälde geworden, das sein Schöpfer am siebenten Tag mit Wohlgefallen ansah. Später sah er das, was er da getan hatte, eher als eine Art Testament, ein Vermächtnis, als einen Entwurf für etwas, was ihm später noch viel besser gelingen sollte. Aber er machte sich dann kein zweites Mal an die Arbeit, jene sechs Tage hatten ihn ausgelaugt. […] Die Arbeit Gottes fertigmachen, einer muss es einmal tun. Schönheit schaffen, Entsetzen. So viel Zeit bleibt uns ja nicht mehr dafür. Nirgendwo tanzt es sich schöner als auf der heissen Herdplatte. Keinen Augenblick halten die Tanzenden inne.“
Valentin Lustig (*1955)
Es ist diese spirituelle, um nicht zu sagen religiöse Einkehr von Bild und Text bei „Gott und der Welt und bei allen Zeiten“, die aus jeder Seite des Bandes spricht. Allerdings nicht die stille, kontemplative, quasi versöhnliche Mantra-Einkehr, sondern eine des Nervösen, des Sprunghaften, des freischwebenden Assoziierens – jene, welche die beiden Autoren in ihrem Buch zuweilen als „Insomnia“ bezeichnen. Widmer und Lustig kehren ein bei Kopernikus und bei Bart Simpson, in Hiroshima und in Zürich, zu Michelangelos David und zu den Pagoden Macaos, um endlich über Hamlet und dem Global Warming oder auch über Max Bill und dem Spitzschnabelerpel bei der Madonna in Manhattan und der Tante Hoka in der Badewanne (voller Getier) zu landen. Auf Schritt und Tritt wird der Leser, welcher der dritte Pilger ist, an Abgründe gezerrt, doch nicht hinuntergestossen. Und hinters Licht geführt, auf dass er besser sehe. Und Widmer schreibt und schreibt und schreibt – und keinen Augenblick geschwätzig, sondern unangestrengt konzentriert, falls das geht, und bis in den Mikrokosmos der Wort-Wort-Beziehung hinein auskomponiert: „…Der irische Philosoph de Selby (derselbe, der…)“
Alle Erfahrungswelten mit Sprache erschlossen
In dem Dialog-Band von Urs Widmer: „Valentin Lustigs Pilgerreise – Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde“ beschreiten der Schweizer Dichter Widmer und sein rumänischer Brieffreund Lustig – mal absurd, mal zum Lachen, mal zum Leerschlucken, mal auch bloss interessant – einen Pilgerweg, dessen 33 Stationen nur einen Nachteil haben: dass es nicht 66 oder 99 sind. Denn diesem Paar könnte man noch tagelang beim Kunstmachen zuschauen…
Wer diesem Urs Widmer beim Schreiben zuhört, kann Musik sehen – eine Art Widmer-Sound. Mir ist kein Schweizer Schriftsteller bekannt, der solche Ungeheuer von Gemälde ertönen lassen kann wie dieser zurecht vielfach ausgezeichnete Basler Dichter mit dem zwielichten Blick und dem klaffenden Haar. Diesem Autor scheint keine Erfahrungswelt verschlossen, und kein Gebiet des Erlebens, das sich nicht zumindest andeutungsweise mit Sprache fassen liesse. Der Widmersche Wörter- und Sätze-Kosmos mag (Literatur-verhältnismässig) einfach sein, aber seine Bedeutungs-Weiten sind der schiere Zauber. Er und sein Brief-Freund Valentin beschreiten – mal absurd, mal zum Lachen, mal zum Leerschlucken, mal auch bloss interessant – einen Pilger-Weg, dessen 33 Stationen nur einen Nachteil haben: dass es nicht 66 oder 99 sind. Denn diesem Paar könnte man noch tagelang beim Kunstmachen zuschauen. Auch wenn schon zutrifft, wie’s Seite 102 heisst: „Das Eigentliche bleibt immer ungemalt. Ungeschrieben auch, übrigens.“ ♦
Urs Widmer & Valentin Lustig: Valentin Lustigs Pilgerreise, Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde, Mit Briefen des Malers an den Verfasser, Diogenes Verlag, 140 Seiten, ISBN 978-3257066340
Der deutschstämmige Schweizer Finanz-Publizist und technikbegeisterte Hobby-Historiker Dr. Carsten Priebe (geb. 1967) stellt seinem neuen 156-seitigen Traktat „Eine Reise durch die Aufklärung über die „Maschinen, Manufakturen und Mätressen“ in der Aufklärung einen „gloriosen“ Ausspruch des maliziösen Ironisten Voltaire voran: „… ohne … die Ente von Vaucanson hätten wir nichts, was noch an die Glorie Frankreichs erinnert…“ Die Rede ist von der berühmten mechanischen Ente des Grenobler Konstrukteurs Jacques Vaucanson, der sein technisches Meisterwerk erstmals 1738 in Paris einer staunenden Gelehrten-Welt präsentierte.
Die Ente, auf einem Podest fixiert, vermochte nicht nur mit den Flügeln zu schlagen und zu schnattern, sondern auch zu fressen, zu „verdauen“ und sichtbar auszuscheiden – die perfekte Illusion eines „Tieres“, welches offenbar, zeitgenössischen Berichten zufolge, von nicht wenigen Betrachtern sogar aus der Nähe für lebendig gehalten wurde.
Nach dem Tode Vaucanons (1782) widerfuhr dem mechanischen Wunderding des genialen Technikers eine wahre Irrfahrt durch das ganze gebildete Europa des frühen 18. Jahrhunderts, (in welchem die Automaten als spezielle Ausprägung der aufkommenden Technik-Besessenheit eine zentrale Rolle in der Gunst der aufklärerischen Salons spielten).
Französische Androiden im Jahre 1749
Jacques Vaucanson (1709-1782)
Jacques Vaucanson selber reiste schon von 1732 bis 1740 mit seinen ratternd-rasselnden „Geschöpfen“ durch Frankreich und Italien, darunter auch mit seinem berühmten „Flötenspieler“ und seinem „Trommler“. Einer der öffentlichen Höhepunkte seines Schaffens bildete im Jahre 1749 seine grosse Präsentation von drei neuen Androiden auf dem Markt von St. Germain. Buch-Autor Priebe schildert die technische Leistung der dritten Figur dieses bestaunten Vaucansonschen „Tryptichons“: „Der dritte Android war als Mohr kostümiert und hatte in der einen Hand eine Glocke, in der anderen einen Hammer. Es gelang Vaucanson, die schwierige Aufgabe zu lösen, dass der Mohr zielsicher mit dem Hammer die freischwingende Glocke traf.[…]“
Sittengemälde der ganzen Aufklärung
Jacques Vaucansons mechanischer Trommler (Zeitgenössische Postkarte)
Carsten Priebes „Reise durch die Aufklärung“ wäre allerdings nur halb so interessant, wenn sie es bei der puren Wirkungsgeschichte eines Technik-Wunderwerkes beliesse. Vielmehr gerät des Autors „Suche nach künstlichem Leben“ via zeitgenössische Mechanik zu einer Art Sitten-, Politik- und Philosophie-Gemälde des gesamten Aufklärungs-Zeitalters, einer Tour d’horizont, welche sich vom Russland-Schweden-Krieg (1709) und der Geburt Diderots (1713) über den polnischen Thronfolge-Krieg (1738) und die Geburt Goethes (1749) bis hin zu Napoleon (1769), Louis XVI (1774) und den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) erstreckt. Der Band ist eine sehr belesene, immer wieder frappant die technischen und biographischen mit den sozialen und kulturellen Ausprägungen des Jahrhunderts verknüpfende, dabei flüssig-unterhaltsam formulierte Abhandlung, welche dem Leser eine erstaunliche Fakten- und Detail-Fülle ausbreitet.
Priebe gelingt es durch geschickt verwebendes Dokumentieren, jene damalige und noch heute nachwirkende Technik-Hybris zu veranschaulichen, wie sie u.a. in der berühmten gewordenen, programmatischen Schrift „L’Homme-Machine“ des Philosophen J.O. de la Mettrie gipfelte. Darin beschreibt La Mettrie den Menschen als eine sich selbst steuernde Maschine, die sich – einem präzisen Uhrwerk gleich – allein aufgrund mechanisch-physikalischer Prinzipien definieren lasse.
Im Zuge der aufkommenden Religions-Kritik – pikanterweise war Vaucanson Jesuiten-Zögling! – standen damals Automaten-Konstruktion und Menschenbild in einer wechselseitigen Beziehung, wie sie u.a. der Grazer Kunst-Historiker Wenzel Mracek in seinem Essay „Simulatum Corpus – Vom künstlichen zum virtuellen Menschen“ (Institut für Kunstgeschichte, Graz 2001) formuliert: „Einerseits war es ein mechanistisch bestimmtes Bild vom Organismus, das als Grundlage für die Schaffung künstlicher Menschen in Form immer perfekterer Automaten diente, umgekehrt lieferte der Automatenbau wiederum das Modell für das Menschenbild.“ (250 Jahre später sollte dieser Gedanke in gewandelter Form z.B. als literarische Science Fiction bei Isaak Asimov erneut ungeahnte Erfolge feiern).
Epochales Synonym der Technik-Geschichte
Carsten Priebe
Carsten Priebe legt mit „Eine Reise durch die Aufklärung“ eine gleichermassen informativ wie genussvoll zu lesende Dokumentation vor über eine Ente, die keine ist, und doch mehr ist als eine Ente… Ein Mythos nämlich, und in Wirkung und Geschichte ein Synonym für eine ganze Epoche europäischer Geistesgeschichte. Dabei spart der Autor keineswegs an martialischen Schilderungen auch der finstersten Hinterhöfe jener Zeit, welche bekanntlich nicht nur naturwissenschaftliche Errungenschaften, sondern auch Pest und Siechtum, nicht nur Freigeist-Theorien und revolutionäre Polit-Bewegungen, sondern auch Folter und Hinrichtung, nicht nur technische Höhenflüge, sondern auch Willkür und Feudalismus kannte.
Aufklärung mal ganz anders – als üppig aufbereitete Fährtensuche nach einer Maschine, deren Spur durch ganz Europa an vielen wichtigen Denkern vorbei in zahlreiche wissenschaftliche und gelehrte „Salons“ führt und dabei der Leserschaft auf unterhaltsame Weise nicht nur ein Technik-Genie jener Zeit, sondern auch ein Gedankengut näherbringt, das bis in unsere Tage nachwirkt. ♦
Flower-Power, Sexuelle Revolution, DDR-Mauerbau, Ausserparlamentarische Opposition, Spiegel-Affäre, Emanzipation, Contergan-Skandal, Prager Frühling, Mini-Rock: Der Stich- und Reizwörter im Zusammenhang mit den sog. „60ern“ sind viele. Und kulturgeschichtlich bedeutsame. Dieses Jahrzehnt der weltweiten Veränderungen, ja Umwälzungen arbeitet nun eine grosse, sechsteilige ARD-Politserie auf.
Persönliche Erfahrungen treffen auf geschichtliche Ereignisse
Das Begleitbuch zur TV-Serie „Unsere 60er Jahre“ (Herbst 2007) des Berliner Publizisten und Historikers Rudolf Grosskopff zeigt über die TV-Filme hinaus, wie die globalen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen sich direkt in den Erlebnissen und und Schicksalen zahlreicher Einzelbiographien spiegelten, wobei Autor Grosskopff dabei die persönliche Erfahrungen seiner Zeitzeugen mit den „grossen“ geschichtlichen Ereignissen verwebt.
Der Band besticht weniger durch üppige Bild-Illustrierung denn durch historisch vielfältig dokumentierte, den „Geist“ der Sechziger differenziert beleuchtende Text-Beiträge. Eine willkommene, den Rückblick auf eine spannende Epoche durchaus bereichernde Edition. ♦
Rudolf Grosskopff, Unsere 60er Jahre, Das Buch zur ARD-Serie, Eichborn Verlag, 304 Seiten, ISBN 978-3821856827
Das „klassische“ Bilder-Rätsel, zumal das im 18. und 19. Jahrhundert in Europa verbreitete, – auch unter dem Begriff „Rebus“ bekannt – zählt zu jenen „Denksport-Arten“, die vom Betrachter bzw. Löser oft ein hohes Maβ an Logik, Allgemeinbildung, Assoziationsfähigkeit und Abstraktionsvermögen, aber auch gehörigen Sinn fürs Pittoreske, ja Surreale verlangen. Auf höchstem Niveau wird der Rebus, wo er sowohl zeichnerisch mit Kunstanspruch daherkommt als auch explizit nach Sinn-Sprüchen, Sprichwörtern oder anderen moralischen Sentenzen sucht, gleichsam zur „modernen“ Hieroglyphe, deren Semiotik und Semantik aufzuschlüsseln oft nur in vielstündiger Arbeit gelingt – wenn überhaupt.
Das Bilderrätsel als politische oder religiöse Chiffre
Beispiel eines simplen, aber zeichnerisch reizvollen Rebus aus dem vorletzten Jahrhundert; Gesuchter Begriff: „Eine angesehene Person“
Die Beschäftigung mit dieser nicht erst seit dem vorletzten Jahrhundert (v.a. im romanischen Raum) verbreiteten, sondern schon in der Antike nachweisbaren Form des „Dechiffrierens“ sinnvoll geordneter Bild- und Buchstaben-Elemente ist also meilenweit entfernt davon, bloβ „die Zeit totzuschlagen“. Denn die zu transponierenden Inhalte des klassischen Rebus waren zwar oft unterhaltsamer, aber meistens vielmehr (oder zumindest auch) politischer, gesellschaftlicher, ja gar religiöser Art. Im Gegensatz zum heutigen, in seiner Verbreitung dem früheren Rebus vergleichbaren Kreuzwort- gesellt sich beim Bilder-Rätsel zum rein sprachlich-lexikalischen Kontext noch das Lautmalerische und das Zeichensprachliche – die ganze komplexe Welt des Piktographischen. Damit hat der anspruchsvolle Rebus (vom späten Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert) mit der primitiven Zeichensprache z.B. schriftunkundiger Naturvölker nur noch wenig gemeinsam.
Zu einer regelrechten Mode, die praktisch den gesamten gesellschaftlichen Bereich der Zeit „abdeckte“, wurde der Rebus in der Renaissance. Angeregt von der damals aufstrebenden, die gelehrte (Humanismus-)Welt sofort faszinierende Ägyptologie bzw. Hieroglyphik entstand eine gewaltige Fülle von Bild-Wort-Zeichen-Buchstaben-Fügungen, welche von der Familie bis zum Staat, von der Erotik bis zur hohen Politik fast alles an Höfischem und Gehobenem, aber nicht immer „Salonfähigem“ chiffrierte.
Jenseits aller gelehrten Spielerei
Melchior Mattsbergers „Biblische Figur-Sprüche“
Der Rebus wurde also zu weit mehr als einer gelehrten Spielerei, und bald prangten auf allen möglichen Kunst-Gegenständen, Pfortensäulen und Medaillen der Renaissance solche Rätsel-Inschriften. Das 17. und 18. Jahrhundert weitete den Rebus dann sogar religiös aus zur „Geistlichen Herzenseinbildung“ (z.B. beim Augsburger Autor Melchior Mattsperger), welche biblische Inhalte rebusartig „übersetzte“ – zur „Erbauung und frommen Unterrichtung der Jugend“.
Anhand des folgenden, mittelschweren, in der Komposition aber repräsentativen Rebus aus der seinerzeit berühmten Postille „Über Land und Meer“ – ihr sind praktisch alle unsere Grafiken dieses Artikels entnommen – sei nachstehend beispielhaft untersucht, wie ein Rebus zusammengesetzt ist – und wie man ihn knackt:
Rebus aus der seinerzeit berühmten Postille „Über Land und Meer“
Das Rätsel ist mit seinen drei Zeilen und deren deutlich abgegrenzten Bildmotiven (3-4-3) graphisch klar strukturiert, und obwohl es kaum „Sprach-liches“ (Wörter&Buchstaben), sondern fast ausschlieβlich „Bild-haftes“ (Figuren und Zeichen) aufweist (was die Lösung gemeinhin erschwert), lassen sich seine Elemente gut isolieren und damit leichter analysieren:
Der halbierte Adler (= Ad) und die zwei Buchstaben vo = Advo…
DieKatzen ohne das Z (durchstrichen) = katen —> Advokaten
Das liegende Fragezeichen als Brücke über den Fluss zwischen Malmö und Kopenhagen = Öresund; das anführende Apostroph (nach Kopenhagen) als häufiges Auslassungszeichen im Rebus = und
= Soldaten
Das Kind mit dem auslassenden Apostroph bzw. dem ersetzenden s = sind
Die Musiknote = des
Der Teufel mit angefügtem s = Teufels
Der Spiegel mit den beiden durchstrrichenen Buchstaben g und l = Spiel…
Die Kamera mit dem auslassenden Apostroph am Schluss = …kamer… —> Spielkamer…
Unterhalb von Sanaa am Golf = …aden —> Spielkameraden
Die Lösung lautet hier also: „Advokaten und Soldaten sind des Teufels Spielkameraden“
Vom simplen Bild-Motiv bis zur komplexen Verschlüsselung
Wie immer in einem anspruchsvolleren Rebus wechseln sich auch hier leicht ersichtliche Bild-Motive (z.B. „Soldaten“) und schwierigere, nicht ohne Recherche-Arbeit zu enträtselnde Verschlüsselungen (z.B. Öres“und“brücke) ab. Mit etwas Hartnäckigkeit und Allgemeinbildung (nicht zuletzt auf dem Gebiete der gängigsten alten Sinn- und Moralsprüche…) ist aber auch in unserer Zeit jedes noch so künstlerisch-abstrakte Bilderrätsel aus dem 19. Jahrhundert decodierbar. Wobei nicht vergessen werden sollte, dass seinerzeit weder genaue Landkarten noch Google bekannt waren…
Lehnen Sie sich also mal entspannt zurück und widmen Sie Ihren ganzen Scharfsinn der folgenden Knacknuss. Gesucht ist einmal mehr ein „Spruch zur Erbauung und Belehrung“ – viel Erfolg…
Ein Rebus der anspruchsvolleren Art aus dem 19. Jahrhundert. Gesucht ist einmal mehr ein „Spruch zur Erbauung und Belehrung“…
Der Rebus als „intellektuelle Kunst“
Die Hochblüte des Rebus als eigentliche „Kunstgattung“, welche weder gesellschaftliche noch moralische Legitimation benötigte und sowohl inhaltlich wie formal völlig autark auftrat, datiert im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Rasanz der Presse-Entwicklung in Europa, v.a. die enorme Verbreitung der sog. „Illustrirten“ förderte die Beliebtheit dieser Rätsel-Form aus Bildern, Zahlen und Buchstaben ungemein. Ganze Rebus-Almanache lagen nun plötzlich in den Buchhandlungen – das moderne Sudoku-Fieber unserer Tage lässt grüβen…
Auch hier: Oft ist das grafisch-malerische Primat vor inhaltlicher Komplexität anzutreffen (Mitte 19. Jh.)
Möglich war jetzt die gesamte Zeichen-Palette, über welche sich das aufgeklärte Lesepublikum des gehobenen Bürgertums als semantischen Konsens verständigte. (Denn Voraussetzung für eine sinnvolle Rebus-Lektüre ist u.a. selbstverständlich, dass Verfasser und „Leser“ dieselbe Lautschrift benutzen; was für den deutschen Rebus-Löser schnell entschlüsselbar ist, wird dem Andersprachigen zum kontextlosen Kauderwelsch, und umgekehrt.) Die Konstruktion dieser illustrierten Denksportaufgaben folgte keinem Regel-Kanon mehr, die immer komplizierter, vertrackter werdenden graphischen Kabinettstückchen erwuchsen der bildungs-beflissenen Mittelschicht zur intellektuellen Kurzweil erster Güte. Der Schwierigkeitsgrad eines Rebus ist, sobald in ihm das Bildzeichen als die tragende Zeichen-Art fungiert, wesentlich abhängig von der Technik, wie seine Elemente komponiert sind: Je einheitlicher seine „Sinnträger“, desto „sinnfälliger“, sprich einfacher die Lösung; je variabler die Gestaltung seines Materials ausfällt, desto schwieriger, gleichsam „esoterischer“ wird es, die Bild(er)figuren und Schriftzeichen auch inhaltlich aufeinander zu beziehen. Ein zusätzlich verwirrendes Moment gesellt sich in der Optik hinzu.
Verwirrung stiften, doch ästhetischen Reiz schaffen
Vielfach sind es graphische bzw. ästhetische und nicht „lesetechnische“ Gesichtspunkte, welche die Anordnung bzw. Gröβe der verschiedenen Elemente bestimmen. (Insgesamt dürfte beim klassischen Bilderrätsel die Lösung dort vereinfacht sein, wo die nichtfigürlichen, also die Wort und Buchstaben-Bestandteile gegenüber den figürlichen Elementen überwiegen.)
Die sog. Allgemeine Illustrirte Zeitung „Über Land und Meer“ war nur eine der vielen Postillen im vorletzten Jahrhundert, welche das Bilderrätsel als noblen Zeitvertreib breiter gebildeter Schichten etablierten
Jeder Rebus mit qualitativem Anspruch ist eine semiotische „Welt für sich“, Dinge enthaltend, die bekannt sind, und die man doch nicht kennt – wenn Kenntnis hier nämlich „sinnstiftender Zusammenhang“ meint. Diese nur scheinbar fehlende Ordnung ist vom „Lesenden“ erst herzustellen, das Surreale im Bilderrätsel bedarf zwingend des Lösungssatzes. Letzterer ist oft genug trivial bis läppisch – und doch decodiert er je einen ganzen Kosmos.
Zum Schluss dieses kleinen Tractatus über ein uraltes Kulturphänomen, das bis heute nichts von seiner Faszination eingebüβt hat – und zum Beispiel in der modernen Plakat-Werbung eine bedeutende Rolle spielt! – noch ein besonders schönes Rebus-Exemplar, das ebenfalls aus der berühmten Illustrierten „Über Land und Meer“ stammt und einigen detektivischen Spürsinn abverlangt… ♦
Entschlüsseln Sie die Bild-Motive und versteckten Rebus-Wörter und puzzlen Sie diese zu einem Lösungssatz!
An Vernissagen von Galerien würde man ihm mit grosser Wahrscheinlichkeit begegnen, denn gewissermassen ist es seine Pflicht, an solcherlei Anlässen zu erscheinen. Diese Feierlichkeiten – eher von politischer und banaler denn ästhetisch-philosophischer Natur. Er ist also zugegen, hat seine Atelierumgebung verlassen, hat seine übliche Arbeitsgarderobe gegen eine andere getauscht. Er fühlt sich möglicherweise unwohl, ist irritiert ob der vermeintlich interessierten Kreise, die durch seltsam gesponnene Netze ihre Wege zu diesem Abend gefunden haben. Der Künstler inmitten derer, die wahrscheinlich nie hungern, und welche mehr Faible als aufrichtiges Kunstverständnis auszeichnet.
Er steht wahrhaftig da, und doch entfernt. Potentiell steht er Red und Antwort, und wer etwas später ins leise Glasklirren und Parfümgewölk kommt, der wird den Protagonisten des Abends möglicherweise lange suchen. Denn sehr oft ist es der kleine Unscheinbare, der den Spiess umgedreht hat und selber in eine Beobachterrolle geschlüpft ist. Man erkennt ihn weniger am stolzen Gang oder am Posieren als an dem auf den zweiten Blick Erkennbaren; oft erst im Vergleich zu den aufgetakelten und angeblichen Schöngeistern fällt sein schlichtes Schuhwerk auf, das eher schlecht gebügelte Hemd, der subtil eingestickte Markenname auf der linken Brusttasche abwesend. So pedantisch Künstler, die mir bisher begegnet sind, sein können, die Übergenauigkeit bezieht sich auf ihr Werk und Tun, nicht auf ihr aussehen. Im Gesicht ein verschlagen-leuchtendes Augenpaar, das etwas Verschmitztes ausstrahlt und einen kindlichen Geist erahnen lässt.
Die Künstlerseele macht den Künstler aus
Wenn ich von einem Künstler spreche, meine ich aber keineswegs Äusserlichkeiten, die für alle gleichermassen da sind, für die Schauenden und Sehenden. Das Visuelle, wie die Sinne überhaupt, sind in ihrer potentiell jederzeit entflammbaren Art naiv demokratisch, stehen unvoreingenommen zur Verfügung auch für Ignoranten und Fanatiker. Nur die Erkenntnissuchenden nehmen die scheinbare Oberfläche als Schlösser und Türen wahr, die lohnen und leise fordern geknackt, geöffnet zu werden. Wenn ich vom Künstler spreche, dann spreche ich auch nicht vom Werk und jenen Spiegelungen und Reflexionen, die vom Macher kommen. Mit Künstler meine ich die Künstlerseele.
Die Künstlerseele ist es, die einen Künstler zu einem Künstler macht. Es ist nicht das artistische Werk, nicht das Nochnichtdagewesene, weder das Provokative noch das historisch, handwerklich gut Umgesetzte. Eine Künstlerseele ist auch nicht messbar an Qualitätsbarometern. Selbst das Genie seines Genres gewährleistet keine Garantie. Am wenigsten meine ich mit dem Begriff das Künstlerklischee des verschrobenen Menschenbildes. Oder jenen erfolgsverwöhnten Mann, der sich geschickt im Netzwerk der Galeristen, Mäzene und Agenten bewegt, sich ihrem Vermittlungsspieltreiben opfert und dies mit keiner Faser seines Gemüts bezahlt, was ihn für mich verdächtig macht.
Zweifelsohne kann eine Künstlerseele auch einen Sieggekrönten beleben, und sie tut es immer wieder. Aber die Faktoren, die für Aufstieg und Durchbruch stehen, lassen sie jedenfalls unberührt. Einzig aus sich heraus soll sie tun oder unterlassen, triumphieren oder scheitern. Eine Künstlerseele ist eine Seele, die nicht fordert und nicht muss. Sie darf sich in ihrem Ausdruck, sei er nun elegant und tiefsinnig oder dahingeschmiert und von willkürlicher Anrührung, austoben. Potentiell darf sie immer inaktiv bleiben. Es genügt, wenn sich ihr monologischer Dialog im Innern abspielt, wenn sie ans Ausserhalb anspruchslos Grösse zeigen kann. Wenn sie in jenem richtigen Moment versteht, wo es um das Wahre geht, ohne das pro-aktive Zutun. Das Schaffende und Erschaffte also ausser Acht. Sie begreift ihr Sein mit dem Verzicht auf schmückende Attribute oder Werte, denn sie ist genügende Tatsache.
Es ist also nicht das Tun und nicht das Resultat, das ihre Existenz stützt. Eine Künstlerseele benötigt kein Leid oder eine Zäsur, um ans Ziel zu gelangen. Sie kennt das Ziel nicht. Auch muss sie nicht viel erlebt haben an Welt. Eine Künstlerseele als solche ist roh und bereits ausgewachsen. Sie ist nicht von unendlicher Auswucherung. Dazu ist sie zu sehr mittiger Stillstand. Sie hat kein Geschlecht und kein Alter. Einzig ist sie. Das Sein als Matrix.
Das Sein als Matrix…
Die Künstlerseele nämlich ist im Sein bereits entfaltet. Ob sie glücklich oder betrübt gefärbt ist, hängt vom „Träger“ ab oder vom Zufall der Tageszeit. Dass es von diesem An-Sich-Sein Abervarianten und -versionen gibt, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Dass man von ihr weniger spricht als vom Künstler, gründet vielleicht in unserer Vorstellung, Sachen wie Personen dingbar, fassbar machen zu wollen. Auf einen Künstler kann man mit dem Finger zeigen. Gegen ein Gemälde ein Wortreich erbauen. Aber selbst die akkurateste Wahl der Worte und Hintergründe ist in ihrer Form physischer als die Vorstellung davon, was die Künstlerseele ist: körperlos.
Ohne Seele keine Künstler. Aber viele Werke muten seelenlos an. Das Werk also ist es nicht, an welchem wir eine solche Seele erkennen. Dem Mann mit dem leicht unbekümmerten Gesicht – der in der Galerie seinen potentiellen Kunden, für die er weder lebt, aber vielleicht von ihnen, gegenüber steht – man wird es ihm nicht ansehen, ob er sie nun hat oder nicht. Dieser gelobte Künstler, der in der Ausstellung so nah ist, als lebe er just in derselben an Widerspruch und Kompromiss reichen Welt.
Vielleicht trösten wir uns ein Stück damit, dass er ja da ist und es ihn sichtlich nicht „besser erwischt“ hat als unsereinen, Besserbetuchten, die uns zynisch Brötchenverdiener nennen und uns manchmal, in einem Anflug von Ausbruch, aberwitzig kleiden wie gerade jetzt, uns in sog. Künstlerkreise mischen, das Sektglas lässig in der Hand, eine entrückte Aufgeregtheit im Blick, als wäre man gerade verliebt, und die von einer lokalen Zeitungsreporterin versehentlich um ein Interview gebeten werden. Zunächst beschämt, erleben wir sogleich ein Gefühl von Anerkennung. Und das Paradoxe der Situation und die Phantasie lassen es zu, dass wir uns hinleiten zu diesem romantischen Bild, auf dem Land, in einer malerischen Scheune, wie wir aus einem Stück roher Marmormasse die für unser erfahrenes Auge schon erkennbare Form meisseln. In dem Moment haben wir gegenüber den anderen kostümierten Gästen gesiegt und verloren in dem Moment, wo sich unser Blick mit dem wahren Künstler trifft.
Form nach Form unter der Käseglocke…
Aber nicht nur auf Vernissagen trifft man Trittbrettfahrer an. Sie verstecken sich in durchgestylten Bürogebäuden, sie tauchen als spruchreife Ausreden auf, wenn der durch Gänge schlurfende Buchhalter weder einen Satz auf die Reihe kriegt noch über Zahlenflair verfügt, aber mit dem Künstler-Stempel eine ihn fast friedlich anmutende Aura von Akzeptanz umgibt. Oder der Chef, der es schlichtweg nicht im Griff hat, pünktlich den Lohn seiner Untertanen zu bezahlen, weil er sich selber für einen unantastbaren und unerreichbaren Künstler hält. Und er diese Nachricht mit einst gelerntem Marketingflair zur Legende macht, bis er selber wirklich daran glaubt und auf dieser Grundlage seine Marotten züchtet. Das Klischee Künstler, das zum Manierismus verkommt.
Dieses ehrfürchtige Wort „Künstler“ ist ein Phänomen, das sich ausbreitet, ist es einmal verlautbart, bis hin zu den Kreisen, in denen tatsächlich von Kunst die Rede ist. Dass dem auf dem Begriff als Sprungbrett abgehobenen Möchtegern-Künstler keine Beweise abverlangt werden, spricht für die Tatsache, dass ein Künstler auch der sein kann, der keine Werke schafft. Und auch jener, der aus reiner Disziplin unter einer Art Käseglocke Form nach Form erzeugt. Der Ausdruck als Wiederholung eines Glücksmoments, das mit jenem Moment bereits entschwand. Kunst indes hat keine Grenzen. Und nicht weniger als im Angesicht einer erschaffenden Kontinuität, die im Dialog mit dem Ausserhalb steht, kommen mir die grössten Zweifel, ob es sich nicht lediglich um Produktion und Kontaktpunkt, gepaart mit dem fahrlässigen Umgang mit der Figur Künstler, handelt. Der Wahn, der in einer Künstlerseele innewohnt, kann manchmal und oft vor lauter Wollen nicht mehr.
Dem Künstler an der Vernissage sind solche Überlegungen möglicherweise zu anstrengend. Zu sehr nimmt ihn seine Künstlerseele in ihren Gehorsam. Sie verlangt nichts, denn sie ist in ihrem So-Sein gefangen. Sie kann nichts dafür und ist somit nicht schuldig und unschuldig. Erst, wenn der Macher ausbricht und sich in Künstler-Nichtseelen mischt, nimmt die ansonsten leichte Sache einen Weg des Widerstandes. Der Künstler als Seelenzustand – Ruhe in sich gepolt. Zahlreiche Künstler, die ihre Vehikel nicht finden, um sich durchs Werk erkennbar zu machen. Ausserdem Künstler, die durch allzu glatte Umstände im Gesellschaftsrad eine Funktion fanden und davon nicht loskommen, so dass ihre nie alternde Künstlerseele einem kümmerlichen Dasein frönt. Verkannte Künstler und Künstler, die nicht wissen, dass sie Künstler sind…
Des Künstlers neutrale Zufriedenheit
Auf der anderen Seite die gellenden Künstler, clever und produktiv – die Negativform vom verkanntem Künstler? Ein für mein Empfinden wirklich wahrer Künstler, der Werk und Schaffen nicht aktiv auslebt, sagte mir, dass er einen anderen, in seinen Augen wahren Künstler bewundere dafür, dass jener nichts weiter benötige als fast nichts zu tun – und dieses Fast-nichts mit niemandem zu teilen brauche und dabei eine neutrale Zufriedenheit lebe. Das imponiere ihm – und während er sich seine Pfeife stopfte, sagte er zu mir: „Ist das nicht wunderbar? Ich wäre so glücklich, wenn ich schon dort wäre“. Vielleicht lag es an seinem zerbrechlichen Tonfall und seinem tief sitzenden Verständnis, die mir in jenem Moment die leise Anerkennung weckte, als wäre mein Bekannter da gerade oder überhaupt nicht weniger als eben ein Künstler-Seelenverwandter. Jemand, der nie den Anspruch haben würde, das Wort „Künstler“ für sich zu beanspruchen, weil es zum einen seine Bescheidenheit und Demut nicht zuliessen und zum anderen, weil er das Wort „Künstler“ zu sehr im entwürdigten Status sieht.
Leicht kommen einem die Worte „Künstler“ – ggf. noch mit dem Anhängsel „halt“, das vorflunkert wirklich zu wissen, worum es da gehe – über die Lippen. Worte und Tugenden wie „Ehrfurcht“, „Übermenschliches“, „Sosein“ wirken auf der Zunge plump und pathetisch. Vielleicht deswegen spreche ich lieber von der Künstlerseele. Ich wage zu behaupten, ich hätte es damals gespürt in jenem beinah flüchtigen Moment, als seine eigene über die andere Seele sprach. Als es um das Irgendwo und Irgendwen ging, um das Fast Nichts im Nicht-Dialog mit Niemand. Da war es. Zwischen seinen Worten: wahre Grösse spürbar. Überwältigung schwang mit, die mir die Sprache verschlug und mich augenblicklich klein fühlen liess. Es war ein nicht zu beweisender Beweis, dass auf einmal beide zugegen waren. Oder etwas. Ein kurzes Anleuchten auf ein Dasein fern physischer Grenzen. Künstlerseelen.
Denn es gibt sie wirklich. Und vielleicht ist die Achtung vor dieser nicht in Worten zu fassenden Tatsache ein kleines Verbindungsglied, das filigrane Brücken schlägt zu diesen auf wunderbar geheimnisvolle Weise verborgenen Künstlerseelen. ♦
Joanna Lisiak
Geb. 1971 in Polen, Lyrik- und Prosa-Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften, Dokumentarfilme und Hörspiele, Radio-Moderation, Mitglied des PEN, Jazz-Sängerin, lebt in Nürensdorf/CH