Der Roman „Normale Menschen“ von Sally Rooney handelt von Marianne und Connell – einer studentischen On/-off-Beziehung im Kontext von gesellschaftlicher Konvention und transzendentaler Obdachlosigkeit. Rooney’s Erzählen hat seine Stärken – und noch mehr Schwächen.
Im 13. Jahrhundert schickte sich Gottfried von Straßburg, ein Kleriker im Dienste des bischöflichen Hofes an, die aus unterschiedlichen Quellen bereits überlieferte Liebesgeschichte zweier edler Herzen neu zu erzählen: Tristan und Isolde. Mit der Bewahrung des Andenkens an ihre im Tode endende, innige Liebe wollte er nicht nur herzensedle, aber unglücklich Liebende stärken, sondern auch seelenlos, weil nur aus äußerlichen und gesellschaftlichen Erwägungen Liebende läutern.
In seinem Prolog erhält die Minne seiner aus irdischen Gefilden stammenden Liebenden exemplarische Vorbildhaftigkeit, ja sogar die Weihe eines Mysteriums, das seine konkrete Gestaltung in der Liebesgrotte von Cornwall in der Höhle eines Venusberges findet, wo die beiden Ausgestoßenen ihrer idealen, aber verbotenen Liebe eine Zeit lang frönen – ein Sanktuarium der höchsten Liebe.
Die Liebe – im Tod unzerstörbar?
Dahinter steckt die Vorstellung von der Liebe als einer unzerstörbaren, weil zwei Wesen in ihrer Einzigartigkeit für immer (im Tod) miteinander verschmelzenden Kraft. Darum geht es spätestens seit Gottfrieds mittelalterlicher Versdichtung in allen Liebeserzählungen, so auch in dem internationalen Bestseller „Normal People“ der irischen Autorin Sally Rooney. Der Roman geht inzwischen auch als TV-Soap in Serie und ist in aller Munde (und Auge). Was wird also aus den Liebenden im Roman des 21. Jahrhundert, so könnte man fragen – oder: Was wird aus der Idee der absoluten Liebe und dem Triumph über konventionelle Moral und Gesellschaftsordnung?
Kein innovativer Plot
Januar 2011. Connell ist der uneheliche Sohn von Lorraine, die bei Denise Sheridan, einer verwitweten Rechtsanwältin der Oberschicht in Westirland, als schlecht bezahlte Putzfrau arbeitet. Er ist sportlich, attraktiv und am College daher angesehen. Als er seine Mutter von der Arbeit abholt, begegnet er Marianne, Denises Tochter, eine ungeliebte, von ihrem älteren Bruder Alan überwachte, intelligente und geistvolle, aber unterdrückte Seele.
Da ihre Liebe keine Anerkennung finden kann, halten beide ihre erotischen Treffen geheim. Doch als Connell nicht Marianne, sondern ein anderes Mädchen zum Abschlussball einlädt, kommt es zum Bruch. An der Universität ändern sich die Vorzeichen. Nun ist Connell der gesellschaftliche Outsider, während Marianne als wohlhabendes Mitglied der Upper-Class aufblüht. Doch ihre Beziehungen mit anderen sind zum Scheitern verurteilt. Marianne landet zunächst beim Schnösel Jamie, dann bei einem zwielichtigen schwedischen Fotographen. Connell hingegen fällt nach dem Selbstmord eines Freundes und der oberflächlichen Beziehung zu Helen in tiefe Depression.
Doch egal was kommt, die beiden finden sich immer wieder, ihre Vertrautheit, ihre erotische Anziehungskraft und das Gefühl der Einzigartigkeit ihrer Liebe hält an – bis zum Schluss (Februar 2015)? So weit der zugegeben wenig innovative Plot.
Und wenn man ehrlich ist, bleibt der ganze Hype um Sally Rooneys zweiten Roman rätselhaft, denn weder die Geschichte selbst mit ihren für das Genre typischen Missverständnis-Wendungen und stereotypen gesellschaftlichen Hürdenklischees, noch die seichte und monoton dahin plätschernde Sprache verleihen dem Roman Tiefe oder seelischen Reichtum. So wird man den Eindruck nicht los, dass die beiden vor allem deshalb nicht zusammenkommen können, weil die Autorin es für die Dramaturgie ihres Plots nicht will. Soziale Barrieren werde nämlich höchstens angedeutet.
Erzähltechnisch liest der Roman sich weitgehend wie eine Anhäufung von Regieanweisungen, also äußerer Handlungen, die für den Leser offen und vielseitig interpretierbar, damit aber auch belanglos und beliebig bleiben. So etwas ist leicht konsumierbar, weil man es nicht nicht verstehen kann, bzw. jegliche Interpretation irrelevant ist. Ständig muss man lesen, wie ein Glas angefasst, eine Zigarette angezündet oder eine leere Gestik ausgeführt wird. Die Dialoge bleiben blass. Der Blick hinter die Fassade fehlt.
Nicht etwa, dass einem Connell und Marianne gleichgültig bleiben, aber liegt dies nicht an der lieblosen und oberflächlichen Zeichnung aller anderen Figuren? An der kaum einmal vertieften Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeiten? An den nur in Umrissen skizzierten beruflichen Tätigkeiten und Freizeitaktivitäten aller Figuren?
Zweifellos hat der Roman seine Stärken. Wenn die beiden Figuren sich begegnen und Rooney deren vertrautes und liebevolles Verhältnis keinesfalls unerotisch und kontrastiv zur weiteren Romanlangeweile auf die Leinwand – Verzeihung: auf das Papier – tupfert, dann tröstet das über manche banale Passage hinweg. Für einen gelungenen Liebesroman ist dies jedoch zu wenig.
Kommerziell angelegtes Romanprojekt
Und deswegen ist diese Geschichte eben nur ein geschickt lanciertes und oberflächen-taugliches Konstrukt, das – gerade in seiner audiovisuellen Verwertbarkeit – nur vordergründige Bedürfnisse des Publikums befriedigt, aber keine Innerlichkeit, Authentizität oder Originalität bietet. Der Roman hinterlässt keine Spuren, sondern eher das Gefühl, man habe sich durch einen grauen Schleier durchgearbeitet. Man würde ihn keinesfalls ein zweites Mal lesen. Der Schluss passt in dieses Bild eines vor allem kommerziell angelegten Romanprojektes.
Fazit: Wer einen aktuellen Liebesroman sucht, findet ihn sicherlich in Sally Rooneys „Normale Menschen“ auf der Höhe, aber auch auf der Tiefe der Zeit. Wer mitreden will, muss ihn lesen.
Wer aber etwas Wesentliches oder gar Neues über das Wesen der Liebe erfahren möchte, wer eine neue Sprache für die Liebe sucht, wer eine neue, originelle Liebesgeschichte erwartet, der sollte sich anders orientieren. ♦
Machen wir einmal ein Gedankenexperiment. Nehmen wir an, Amélie Nothomb, eine relativ bekannte belgische Schriftstellerin, würde ihren Roman „Die Passion“ in hundert Jahren, also 2120 schreiben und ihr Manuskript dem Diogenes Verlag anbieten. Dort hat sie schon 22 Bücher veröffentlicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Diogenes Verlag das Manuskript ablehnen. Zu riskant, würde es heißen. Wer will schon ein Buch über einen unbekannten Religionsstifter lesen? Innerhalb von zwei Wochen hätte sie ihr Manuskript wieder zurück.
Aber das Experiment geht noch weiter. Nehmen wir an, Amélie Nothomb hätte „Die Passion“ vor 400 Jahren geschrieben. Sie hätte einige Abschnitte ihrer besten Freundin vorgelesen. Die wäre einerseits begeistert gewesen, weil die Zweifel der Hauptfigur an ihrer bevorstehenden Hinrichtung mit den eigenen Zweifeln an der Religion korrespondiert hätten und andererseits erschrocken. Darf man so an der eigenen Religion zweifeln? Ist das nicht Ketzerei? Die beste Freundin hätte es ihrem Mann erzählt, und der wäre zur Obrigkeit gegangen. Man hätte Nothomb festnehmen lassen, sie wäre gefoltert worden und wenn sie große Glück gehabt hätte, hätte sie selbst ihr „Machwerk“ öffentlich verurteilen und ins Feuer werfen müssen. Falls sie weniger Glück gehabt hätte, nun ja … Was für ein Glück, dass die Zeit der Hexenverbrennungen endgültig vorbei ist.
Womit ich nicht sagen will, dass Amélie Nothomb keine Hexe ist. Sie ist eine. So wie jeder gute Autor und jede gute Autorin ein Hexenmeister oder eine Hexe ist. Weil sie im Inneren ihrer Figuren leben. Weil sie Besitz von ihnen ergreifen und sie wie einen Sukkubus lenken.
Aber Amélie Nothomb ist noch aus einem anderen Grund eine Hexe. Sie lässt Jesus von Nazareth im Augenblick seiner „Passion“ lebendig werden. „Ich wusste schon immer, dass sie mich zum Tode verurteilen werden“, so beginnt ihr neuer Roman.
Kombination von Gott und Mensch
Amelie Nothomb alias Fabienne Claire Nothomb (geb. 1966)
Da spürt jeder aufrechte Christ einen ersten kleinen Stachel. Noch ist er winzig; immerhin heißt es ja schon in den „Leidensankündigungen“ der Evangelisten: „Der Menschensohn muss“ seinen Leidensweg gehen und am Ende gekreuzigt werden aber diese Leidensankündigungen stehen im zweiten Drittel der Evangelien. Nur das Johannesevangelium macht da eine Ausnahme.
Aber Christen sind großmütige Leute, und so werden sie der Autorin gern vergeben, denn der Jesus von Amélie Nothomb ist ein wahrhaft göttlicher Mensch. Nie hat mir die Kombination von Gott und Mensch so eingeleuchtet wie bei ihr.
Sie zweifelt nicht an den Wundern, wie das auch viele Theologen der letzten 200 Jahre getan haben. Das Wunder, Wasser in Wein zu verwandeln, gelingt ihm beinah nebenbei. Nur – und jetzt kommt wieder der Stachel – dass das Brautpaar, dessen Hochzeit Jesus mit seinem Wunder gerettet hat, unter den Hauptzeugen der Anklage vertreten sein werden. „Warum hat er es so spät getan?“ fragen sie. „Eine Stunde früher, und er hätte uns die Blamage erspart.“ Die anderen, an denen ein Wunder geschah, sind ähnlich unzufrieden. Nicht einmal der königliche Beamte, dessen Sohn vom Tode errettet wurde, ist Jesus dankbar, sondern klagt über die Verzögerung und die dadurch ausgestandene Angst.
Jesus – ein Sinnenmensch?
Unzufriedenheit ist überhaupt ein Stichwort. Auch Judas ist unzufrieden, mit der Welt im Allgemeinen und mit Jesus im Besonderen. Er stellt alles in Frage. An das Gute kann er nicht einmal glauben, wenn er es vor Augen hat. Judas ist der Protagonist der „Menge“ die Jesus schließlich verurteilt.
Jesus selbst ist das Gegenteil. Er kann sich an den kleinen Dingen des Lebens freuen: am Geschmack frischen Brotes, an einer Blüte am Wegrand, am aufdämmernden Tag, vor allem am Wasser. Wenn man Durst hat und man zögert das Trinken noch ein paar Augenblicke hinaus, schmeckt frisches Wasser umso köstlicher, behauptet er
Jesus – ein Sinnenmensch? Jesus gar, der die Frauen liebt? Der für ihre Schönheit empfänglich ist? Der gar eine Beziehung mit Maria Magdalena eingeht? Und der deshalb auch nicht sterben will? Und dessen Verbindung zum Vater nun abreißt, obwohl er bis dahin eng mit ihm verbunden war?
Da möchte jeder gute Christ „Ketzerei“ schreien. Der Glaube oder das Dogma fordert, dass Jesus freiwillig den Willen seines Vaters auf sich genommen hat, um die Sünde der Welt zu tragen. Das unschuldige Opfer leidet für die Schuldigen. Wenn dann jemand kommt, die anscheinend mit dem Glauben sympathisiert und dann behauptet, Jesus habe das Leben zu sehr geliebt um freiwillig in den Tod zu gehen – da sitzt der Stachel ziemlich tief.
Der Masochismus des Christen
Freilich ist Nothomb nicht die erste, die den „Masochismus“ des christlichen Glaubens geißelt. Der erste war Friedrich Nietzsche, der meinte, die Christen müssten erlöster aussehen, bevor er an ihren Erlöser glauben könne. Oder der Theologe Thomas Müntzer, Anführer der Bauern im thüringischen Bauernkrieg 1525, der den „bitteren Christus“ predigte und dafür hingerichtet wurde.
So einfach ist der Autorin also nicht beizukommen. Es sei denn, dass man sie zur „Hexe“ erklärt.
Schöne Schilderungen und viel Reflexion
Wie gesagt, Nothombs Beobachtungen sind zwar meist unverhofft, leuchten aber ein. Dass Jesus dem Leben zugewandt war, kann man leicht an seinen Gleichnissen sehen. Ihre Sprache ist farbig. Die Beziehung zu Maria Magdalena ist zwar ein Klischee – jeder der ein bisschen ketzern wollte, hat sie erwähnt -, aber dafür wunderschön geschildert, so wie nur eine Frau sie beschreiben kann, die selbst Liebe erfahren hat.
„Masochismus des christlichen Glaubens“? Szene aus dem Skandal-Film „Die Passion Christi“ von Mel Gibson (2004)
Mit 128 Seiten ist der Roman recht kurz; es gibt wenig Handlung – z.B. ist die Verhandlung vor dem Hohen Rat weggelassen (hat vermutlich auch nicht stattgefunden) -, aber dafür viel Reflexion. Manchmal wird Nothomb weitschweifig: Noch ein Satz über den Durst, und noch einer, der mit anderen Worten das Gleiche sagt (der Roman ist ursprünglich unter dem Titel „Soif“ – „Durst“ in Paris erschienen). Da hätte ein rigoroseres Lektorat sicher segensreich wirken können. Aber das ändert nichts daran, dass ich den Roman mit Genuss gelesen habe.
Allerdings warte ich noch auf das Buch, das meine Frage, warum Jesus sterben musste, und vor allem, warum Gott das wollte, hinreichend beantwortet. Es muss auch kein Roman sein. ♦
Amélie Nothomb: Die Passion (Roman), 128 Seiten, Diogenes Verlag, ISBN 978 3 257 07141 2
Historische Fotografien von Männern, die sich lieben, sind selten, möchte man annehmen. Homosexualität ist erst seit wenigen Jahrzehnten akzeptiert und wird in manchen Ländern der Erde immer noch geächtet und strafrechtlich verfolgt. Trotzdem ist es Hugh Nini und Neal Treadwell gelungen, über 2’800 Fotos von männlichen Paaren zu finden und zu einer Sammlung zusammenzutragen. Eine Auswahl dieser einzigartigen historischen Aufnahmen, ist nun in deutscher Übersetzung als Fotoband erschienen. In „Loving“ werden etwa 350 Bilder, die zwischen 1850 und 1950 entstanden sind, von Männern, die sich lieben in Originalgröße gezeigt.
Der Blick ist bei der Auswahl der Fotos immer das entscheidende Kriterium, schreiben Hugh Nini und Neal Treadwell in ihrem Text „Eine Zufallssammlung“. Als sie vor 20 Jahren bei einem Händler ein Foto von einem schwulen Liebespaar entdeckten, waren sie noch überzeugt davon, eine Seltenheit in Händen zu halten. Doch bald zeigte sich, dass es auch vor über 100 Jahren mehr männliche Liebende als angenommen gab, die ihre Gefühle füreinander bildlich festhalten wollten.
Homosexualität in Zeiten der Diskriminierung
In seinem Vorwort erläutert Régis Schlagdenhauffen, Experte für die Geschichte der Sexualität und Homosexualität sowie Gender Studies und Dozent an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), wie Homosexualität in Zeiten der Diskriminierung gelebt wurde. Insbesondere in Großstädten wie New York gab es bereits im 19. Jahrhundert eine lebhafte Schwulenszene, die über eigene Codes verfügte, um sich gegenseitig zu erkennen. Auch auf den Fotos im Bildband sind subversive Codes versteckt, die Bezug auf zeittypische Praktiken nehmen. Es gibt zum Beispiel Aufnahmen, die Paare mit einem Sonnenschirm – einem klassischen weiblichen Accessoire – zeigen, Paare, die einen Blumenstrauß halten, wie er auf Hochzeitsfotos üblich ist oder Männer auf einer Mondschaukel, die auf den Honeymoon, die im frühen 19. Jahrhundert in Großbritannien entwickelte Tradition der Flitterwochen, verweist.
In höheren Gesellschaftsschichten war Homosexualität eher akzeptiert als bei Bauern oder Arbeitern. Gesetzlich wurden Schwule trotzdem verfolgt – Oscar Wilde ist ein bekanntes Beispiel dafür. Er verbrachte zwei Jahre in Haft, weil er einen Mann liebte. Bei einer Razzia in einem US-amerikanischen Hotel, die im Februar 1903 stattfand, wurden mehrere Männer verhaftet und wegen „Analverkehrs“ zu Haftstrafen von bis zu 20 Jahren verurteilt.
Die Männer, die auf den Fotos in diesem Bildband zu sehen sind, haben also viel aufs Spiel gesetzt, denn sie mussten ihre Liebe stets geheim halten. Auf einigen Fotos sind – neben den Liebenden – noch weitere Personen zu sehen, etwa Soldaten oder Frauen. Zu diesen müssen die Abgebildeten großes Vertrauen gehabt haben. Ebenso zu den Fotografen und Fotolaboranten, die die Bilder entwickelten.
Vorhang des Lebens gelüftet
Herausgeber Hugh Nini und Neal Treadwell
Zu sehen sind Aufnahmen von Männern aus jeglichen Gesellschaftsschichten. Wohlhabende Angehörige der Oberschicht, Soldaten, Landarbeiter und Fabrikarbeiter. Die Mehrzahl gehört einer höheren Schicht an – Fotografien konnten sich im 19. Jahrhundert auch nicht alle leisten. Die Sammlung umfasst Bilder aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Italien, Frankreich, Kroatien, Bulgarien, Serbien, Australien, Japan, Ungarn, China, Estland, Russland, der Tschechoslowakei und anderen Ländern. Im Bildband sind fast ausschließlich Aufnahmen aus den USA zu sehen.
Im Anhang befindet sich ein Register, in dem auch Notizen verzeichnet sind. Einige Fotos sind auf der Rückseite beschriftet, etwa mit den Worten „Ich schicke dir ein Foto, das wohl den Vorhang von einem kleinen Teil meines Lebens lüftet“. Auf einem anderen Bild findet sich nur die Notiz: „Mein Liebling“.
Das Faszinierende an den Aufnahmen sind die bereits erwähnten Blicke, die voller Zuneigung und Liebe sind – und die Gesten und Haltungen, die sich wiederholen. Es scheint ein recht geringes Repertoire an Posen zu geben, in denen sich die Liebenden zeigen. Oft wird ein Arm um den anderen gelegt, manchmal berühren sich die Männer auch nur leicht, wie zufällig, etwa mit den Füßen. Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Natürlich kennen wir als Betrachter nicht die Hintergründe, aber die Bilder eröffnen Einblicke in untergegangene Lebenswelten. Cowboys, Matrosen und Soldaten, Fabrikarbeiter, Junge und Alte vor den verschiedensten Hintergründen zeigen, dass die Liebe auch den widrigsten Bedingungen standhielt.
„Loving“ enthält Zeugnisse der Zuneigung in sepia und schwarz-weiß. Es sind unglaublich berührende Fotos, die man immer wieder betrachten kann, denn sie erzählen von einer „Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt“ (Lord Alfred Douglas) – und es auf den Fotos doch getan hat, wenn auch meistens versteckt. Doch Liebe kann man nicht verbergen. Gut, dass Hugh Nini und Neal Treadwell zumindest Teile ihrer wunderbaren Sammlung nun der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben. Dieser Bildband des Elisabeth Sandmann Verlages ist ein einzigartiges historisches Dokument. ♦
Hugh Nini & Neal Treadwell: Loving – Männer, die sich lieben, Fotografien aus den Jahren 1850 bis 1950, 336 Seiten, Elisabeth Sandmann Verlag (Suhrkamp), ISBN 978-3945543825
„Literatur setzt sich nur aus scheinbaren Kleinigkeiten zusammen. Scheinbaren – weil das kleinste Detail stets mitentscheidet.“ Karlheinz Deschner
Ich verstehe es einfach nicht. So einfach ist es. Klar: Die Verkaufszahlen sprechen für sich (und zwar tatsächlich, auch in meinem Sinne; siehe unten), und wer beim Lesen glücklich ist, immerhin, dem ist dies an sich Wertung genug. – Trotzdem verstehe ich es nicht. Denn ich habe im Studium unter Professor von Matt an der Universität Zürich gelernt, dass man gute Literatur durchaus von schlechter unterscheiden kann und dass ausgebildete Germanisten das durchaus auch können sollten. Und drum wohl kann ich es nicht verstehen. Worum es geht? „Goldene Jahre“, das neue Buch von Arno Camenisch (*1978 in Tavanasa), erschienen im Mai dieses Jahres 2020, stand – wie man der Webseite des Schriftstellers entnehmen kann – wochenlang in den Bestsellerlisten. Es muss sich gut verkauft haben. Vor allem aber war es, als ich es kaufte, für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert, eines von zwanzig Büchern im gesamten deutschen Sprachraum.
Zweiter Frühling zweier Damen
Weil Juroren solcher Preise in der Regel durchaus sachgerecht beurteilen können, dachte ich mir ganz ohne Hintergedanken, ich könnte mir da wieder einmal ein Buch eines Mitautors gönnen, das ich gerne lese werde, wie etwa Daniel Kehlmanns Bücher, die sich ja ebenfalls gut verkaufen und deren Autor auch viele Preise bekommen hat.
Doch was für eine Enttäuschung! Klar, das Buch hat einen griffigen Titel und kommt sogar, anders als man es auf den ersten, vereinfachten Blick erwarten würde, nicht in einem goldenen Kleid daher. Der eher leuchtend grasgrüne Umschlag steht damit geschickt vielmehr für den Frühling als für die späten Jahre des Frauenduos, um das sich in „Goldene Jahre“ alles dreht. Erleben doch die beiden Damen durch das Erzählen, so könnte man sich denken, eine Art zweiten Frühling, und ganz sicher spielt das Buch im Frühling. Nur nicht allzu offensichtlich daherkommen, das unterscheidet Literatur manchmal lohnenswerter Weise vom Journalismus. So denke ich mir zu Beginn auch nichts über die Situation, in der die beiden Frauen im Buch quasi berichten. Es wird sich dann schon noch klären, denke ich, welche dialogische oder erzählerische Situation hier vorliegt.
Gestelzt-unglaubwürdige Sprache
Arno Camenisch (*1978)
Aber dazu gleich vorneweg: Die Leserin oder der Leser wird sich bis zum Ende fragen müssen, wenn sie/er sich das fragen will, an wen die beiden Frauen sich hier eigentlich wenden: Es ist kein auf ein Speichermedium gesprochener Brief, kein Bericht einer Radio- oder Fernsehanstalt und sie filmen sich auch nicht selbst zur Erinnerung. Sie erzählen einfach füreinander (nur „einander“ kann ich nicht gut sagen, spricht doch etwa Margrit am Anfang ins Leere hinaus, ohne dass Rosa-Maria schon direkt bei ihr wäre). Und da war es bei mir als Leser schon so weit, dass ich mehr als stutzte: Wenn man sich derart lange kennt wie die beiden Protagonistinnen, und wenn man zusammen seit 51 Jahren einen Kiosk führt, dann beginnt man doch nicht aus dem Nichts heraus folgendermassen zum Gegenüber zu reden: „Eine Freude ist das, wie schön sie leuchtet, sie lächelt, da geht einem grad das Herz auf, wenn wir am Morgen die gelbe Leuchtreklame einschalten, in aller Herrgottsfrühe, wenn noch die letzten Sterne am Himmel sind.“
Abgesehen davon, dass einem wohl nach 51 Jahren im selben Job, so gerne man ihn tut, nicht mehr jeden Tag das Herz aufgeht über dieser Tätigkeit, so falsch ist es, wenn der Autor hier die eine Figur zur anderen – obwohl die in dem Moment wie gesagt nicht mal dort steht – sagen lässt, dass die Leuchtreklame gelb ist. Das wüsste die doch schon lange! Man sagt auf der Baustelle auch nicht: „Gib mir mal den gelben Meter“. Die Farbe ist hierbei total unwichtig (ausser es läge ein anderer roter daneben). Ebenso wüsste ihr Gegenüber im Buch wohl, dass sie dies jeweils sehr früh am Morgen tun und dass dann, zumindest in dem betreffenden Monat, die Sterne teilweise noch am Himmel stehen (und für das ganze Jahr gesehen wäre dies zudem schlicht falsch). Oder noch anders gesagt: Keine alte Kollegin spricht so gestelzt zu ihrer alten Kollegin.
Nun könnte man einwenden, es sei nicht ganz sicher, ob beziehungsweise was da alles gesprochen werde, denn das „sie lächelt“ spricht sie kaum aus; sie könnte sich das also bloss bei sich denken. Doch da verteidigt mich der nächste Satz: „Und bald wird es hell, sagt sie“. Sie spricht also wirklich; aber eben: Im ganzen Text kann man nie herauslesen, dass sich die Frauen an einen Dritten wenden würden. Da macht es auch keinen Sinn, dass sie weiter anfügt: „Seit 1969 gibt es uns, bereits, ja, ja, im 69 ist die Leuchtreklame zum allerersten Mal angegangen, in ihrer ganzen Pracht, das ganze Tal ist aufgeleuchtet an diesem Tag, sogar von Brigels runter konnte man die Leuchtreklame sehen, wenn man oben auf der Kante stand, dort wo der steile Hang beginnt, und runterschaute, sah man das Licht auf dem Dach vom Kiosk brennen wie das ewige Liechtli in der Kirche.“ Erstens ist der Vergleich mit dem ewigen Licht in der Kirche nicht gut gewählt, denn dies brennt auch in der Nacht, aber das kann man immerhin noch der Figur zuschreiben; zweitens aber: Wer braucht einer Geschäftspartnerin, die seit 51 Jahren am gleichen Ort arbeitet, die nähere Umgebung noch zu beschreiben? Es ist ihr doch klar, wo genau die betreffende Stelle in Brigels wäre, von dem man die Leuchtreklame sehen kann. Völlig blöd wird es dann, wenn die Margrit gleich darauf dialogisch zu wiederkäuen beginnt: „Ein Bijou von einer Leuchtreklame ist das, sagt die Margrit, im August 1969 ist sie das erste Mal angegangen“. In welcher denkbaren Szene, selbst wenn das Ganze für eine Dritte oder einen Dritten gesprochen wäre, sollte sie das wiederholen? – Die Erzählsituation für das ganze Buch ist schlicht falsch.
„Ein lieber feiner Kerli“
„Sogar von Brigels runter konnte man die Leuchtreklame sehen“: Das Surselva Tal im Schweizer Kanton Graubünden
Doch war ich hier noch bereit, das einfach mal zu akzeptieren; es könnte ja sein, dass Camenisch wenigstens ein guter Beobachter der Menschen in dem Bündner Tal, der Surselva, wäre. Aber das musste ich mir ebenso gleich aus dem Kopf schlagen, folgt doch Plattitüde auf Plattitüde. Dass sie bereits 51 Jahre an ihrem Kiosk arbeiten, will die Rosa-Maria gar nicht recht glauben, es komme ihr vor, und hier also die Plattitüde, „als seien wir doch erst gerade gestartet“. Huch, man sieht regelrecht das erstaunte Gesicht über dem abgelebten halben Jahrhundert. Hier stellte sich mir dann eben die Frage: Will der Autor eigentlich einfache Menschen darstellen oder eher tiefsinnige? Wären sie tiefsinnig, würden sie sich bestimmt nicht derart simpel und ohne weitere Gedanken über die Jahre wundern. Wären sie aber einfache Büezer, so reden sie nicht entsprechend.
Tatsächlich sind die Plattitüden wohl auch eher die des Autors. Wird doch im Folgenden dann fast jeder Mann, dem die beiden in der Zeit als Kiosk-Frauen begegnet sind, „ein feiner Bursche“, „ein lieber Kerl“ o. Ä. genannt, so oft, dass es auch nicht mehr ein bestimmtes Wesensmerkmal sein kann, vor allem, da beide Frauen das eine oder andere Mal diese Beschreibung wählen (was traut der Autor diesen Frauen eigentlich alles nicht zu?). Der Astronaut Collins: „der liebe Kerli“; der Radrennfahrer Eddy Merckx: „ein feiner Bursche“; Hugo Koblet (dessen Rennen aber eigentlich vor ihrer Zeit sich abspielten): „ein Hübscher“; sogar der Glasaugen-Columbo aus der TV-Serie ist „charmant“ (und ausgerechnet bei dem sagt die Margrit: „Wenn der hier an unserem schönen Kiosk mit Zapfsäule mit seinem Cabriolet angefahren gekommen wäre, ich weiss nicht, was dann passiert wäre“; als würden sich Frauen nur die ‹Charmanten› auswählen, nicht etwa jene, die richtig sexy sind; ob da einer ein völlig falsches Frauenbild hat?); Roger Moore ist ebenfalls „ein feiner Kerl“; und auch der Ludovic ist – na: was? – „ein feiner Kerl“.
Von dreirädrigen Autos
Noch bis in die 1970er Jahre hinein auf Bündner Strassen zu sehen: Die legendäre 3-rädrige Isetta BMW
Ähnlich platt oder falsch die Vergleiche, wie schon beim ewigen Licht: „Das ist wie ein Auto mit drei Rädern“ – gerade die beiden Geschäftspartnerinnen am Kiosk mit Tankstelle seit 1969 sollten wissen, dass es dreirädrige Autos gab und gibt – bis in die 1970er-Jahre hinein war zum Beispiel die BMW Isetta noch oft im Strassenbild zu sehen. Die beiden Frauen aber wollen bloss wissen, dass es in Italien solche Modelle gibt, ohne genauere Kenntnis. Da spielt es im Sinne des Autors auch keine Rolle, dass eine Dreierbeziehung, von der die beiden Frauen reden, als eine solche „über Kreuz“ bezeichnet wird. Eine Liebe ‹übers Kreuz› müsste wohl eher vier Parteien haben, nicht drei.
So verpasst Camenisch auch zuverlässig die Orte, an denen er punkten könnte, etwa seine beiden weiblichen Hauptpersonen betreffend. Klar sagt Margrit einmal, sie wären Exoten gewesen, aber nicht etwa dafür, 1969 als Frauenzweierteam ein Geschäft eröffnet zu haben, sondern für eine Banalität: „Man stelle sich vor, ein Kiosk, sagt die Margrit, und gleich dazu noch eine Zapfsäule, und das im Jahr 1969, das war revolutionär, Exoten waren wir“. Waren doch damals, als die Autobenzintanks noch kleiner waren und der Kilometerverbrauch grösser, die Zapfsäulen an den Strassen in den Schweizer Alpen keine Seltenheit. Und weil man als Besitzer oder Angestellter nicht im Kalten oder im Regen warten konnte, baute man eben einen kleinen Laden oder Kiosk dazu. Sie aber, die beiden Frauen, die gerade sagten, sie seien Exoten gewesen, etwas, was es selten gab, meinen dann noch, dass sie „eine Epoche […] geprägt [hätten] mit unserem Kiosk mit Leuchtreklame, das muss uns jemand zuerst mal nachmachen.“ – Ja, genau: Das gezielte Nachmachen anderer, also das Vorbild-Sein wäre eben gerade die Definition davon, wie man eine Epoche prägt! Hingegen wären sie dann wiederum keine Exoten. Man kann es drehen und wenden wie man will: Es ist schlicht falsch.
Aber um nochmals auf das zurückzukommen, was Margrit und Rosa-Maria zueinander nach 51 Jahren reden. Meint doch die Margrit zu ihrer Kollegin, mit der sie über ein halbes Jahrhundert dort gearbeitet hat: „Dafür ist der Service top, sagt die Maria, also wer hier tankt, bekommt für einen kleinen Aufpreis auch gleich noch einen Kaffee, den haben wir immer parat“. Ach so, möchte man im Namen der Kollegin sagen, ich weiss: Ich bin seit 51 Jahren mit dabei! Aber Rosa-Maria scheint die Demenz zu haben: „Ausser Kerosin gibt es hier alles, und sobald die Pistole im Tank steckt und die gute Zapfsäule den Most hochpumpt, gehen die Zahlen auf der Anzeige durch und zählen dir auf den Rappen genau, wie viel jemand schon wieder getankt hat.“ Nicht wahr? Ich weiss! Aber es endet keineswegs dort: „Den Kaffee gibt’s, wie bereits gesagt, obendrauf, der ist gratuit“. Nicht wahr?! (Ausser dass er zuvor noch „einen kleinen Aufpreis“ kostete!)
Wirklichkeit falsch wiedergegeben
Radrennen im Gebirge: Mehrmals auch durch die Bündner Surselva
Je nun, wir aber sind weiter beim Autor Camenisch, der sich offensichtlich auch nicht gut informiert über Themen, die er nicht kennt. So meint er etwa, bei einer Tour de Suisse sollte an allen Orten, die befahren würden und heikel sind, die Strassen vorher neu geteert werden; man wolle doch die Fahrer nicht gefährden. Dabei ist das so nicht der Fall; im Gegenteil: Oft werden Strecken ausgewählt, auf denen der Belag im Rang etwas ausmachen kann, bei dem also fahrerisches Geschick gefragt ist. Zudem soll bei Camenisch die Tour de Suisse nur ein einziges Mal in der Surselva vorbeigekommen sein, wenn man doch leicht nachschauen kann, dass dies seit 1969 mehrmals der Fall war.
Dem Autor aber scheint so etwas egal zu sein; in einem Interview wundert er sich sogar, dass es das Fruchtbonbon ‹Sanagol›, das 2020 im Buch noch gelutscht wird, seit 2002 nicht mehr gibt. Da ist dann auch das Lob der NZZ ein leeres, wenn sie schreibt, der Autor halte in seinen Büchern getreu fest, welche Welten alles verschwänden: Wer diese so total falsch darstellt, tut den verschwundenen Welten keinen Gefallen, sondern lässt sie eher noch mehr verschwinden, weil man sich ihrer nach der Lektüre vermutlich falsch erinnert (und es wäre ein Leichtes gewesen, die Fruchtbonbons nur bis ins Jahr 2002 zu erwähnen).
„Leg dich nicht mit den Sternen an“
Stützte wissenschaftlich das heliozentrische Weltbild von Kopernikus: Galileo Galilei
Da erstaunt es dann schon nicht mehr, dass der Autor selbst innerhalb der Geschichten Unlogisches berichtet: Einerseits schauen die beiden Damen immer in die Unterhaltungsmagazine, die bei ihnen ausliegen. Und zwar quer durchs Sortiment. Sie sind stolz drauf, vieles anzubieten und selbst zu kennen. Und dennoch wissen sie nicht, was ein Elektrovelo ist, ja, dass es überhaupt existiert, als das erste Mal eine ganze Gruppe älterer Damen damit an ihnen vorbeirauscht – also nicht etwa Exoten, sondern zu einem Zeitpunkt, als das eBike schon gang und gäbe gewesen sein musste (eine Gruppe älterer Damen).
Da mag es den meisten Leserinnen und Lesern schon gar nicht mehr auffallen, dass sich der Autor an einer Stelle, Seite 69, eigentlich endgültig selbst erledigt: „Schau dir den Galileo an, als der behauptete, die Welt sei eine Kugel und nicht eine Scheibe, hätte man ihm am liebsten die Zunge rausgeschnitten. Ja, mit den Sternen sollte man sich nicht anlegen.“ –
Hat der Mensch denn keine Bildung? Dass die Welt eine Kugel ist, wusste man seit der Antike. Galileo hat lediglich das Kopernikanische Weltbild verteidigen wollen, dass die Erde sich um die Sonne drehe und nicht umgekehrt. Da hätte dann der zweite Satz von den Sternen auch Sinn gemacht – nicht aber auf die Flacherde bezogen! Und nochmals: Klar könnte das den Figuren absichtlich in den Mund gelegt worden sein. Aber dann traut der Autor den beiden Frauen wirklich nichts zu – und vor allem glaube ich das bei all den anderen Fehlern einfach nicht.
„Winter lang wie Autobahnen“
„Winter lang wie Autobahnen“ (Arno Camenisch)
Ach, danach quälte ich mich durchs Buch. Mal sind „Winter lang wie Autobahnen“ – also ein Zeitmass wird durch ein Längenmass ausgedrückt. Klar könnte das eben einer Figur geschuldet sein; aber es hiesse den beiden Frauen als Erzähler echt nicht viel zuzutrauen, wenn man sie wirklich alle die Banalitäten und falschen Vergleiche sagen liesse, durch die sie wie etwas dümmliche Menschen herüberkommen. Oder sollte das sogar das Ziel sein?
Denn meine Frage nach der Erzählsituation wird in der Mitte des Buches definitiv gelöst. Da kommt die Margrit „mit einer Blechbüchse in der Hand aus dem Kiosk, schau dir dieses schöne Foto an“. Sie zeigt es daraufhin Rosa – und nur Rosa. Also wird wirklich nicht nach aussen berichtet, sondern es spricht eine Frau zur anderen. Doch kann man an dieser Stelle eine Demenz auch ausschliessen: Zu gut erinnern sich beide an die 51 Jahre. Warum aber dann das Foto zeigen, als der Kiosk im Schnee versank? Erinnern sich doch beide ungefragt daran: „Als hätten die Heiligen uns den schönen Kiosk weggezaubert, sagt die Rosa-Maria.“ Und: „Da haben wir schon noch gestaunt, sagt die Margrit, als wir am Morgen über die Brücke kamen“. Kann man sich diesen Dialog zwischen zwei Kolleginnen vorstellen, die seit 51 Jahren jeden Tag nebeneinander arbeiten und alles miteinander erleben?
Ach, wie soll man danach zu Ende lesen… Ich habe noch Klischees rausgesucht. Und man sage mir nicht, dass dies alles Wahrheiten sein könnten; natürlich können sie das; aber in dieser Masse sind es eben wirklich nur noch Klischees: Da kauft der Pfarrer Sexhefte; da nehmen die beiden Frauen keine Tausendernoten an; da leidet der Kiosk an einer Umfahrungsstrasse, wodurch die Kundschaft wegbleibt (aber andererseits seien sie die Zentrale des Dorfes!); der Fotograf aus dem Städtli hat ein Glasauge (haha); Rosa-Maria trägt eine Brille mit Goldrand; seit den neunziger Jahren gibt es keine richtigen Winter mehr; und obwohl sie vor einer Kurve ein Schild aufstellen, passieren regelmässig Unfälle (man sieht regelrecht die komikhafte Situation in einem Trickfilm); und „wenn die Wetterfrösche in den Nachrichten sagen, dass es am nächsten Tag schneie, dann schiffet es meistens“; und selbstverständlich finden die beiden Frauen, dass Autos ohne Benzinmotor keine richtigen Autos seien.
Metaphorische Spagate voller Klischees
Das Roman-Klischee vom Pfarrer, der am Kiosk Sexheftchen kauft…
Aber auch das gebe ich auf und blättere durchs Buch nur noch für deutliche Fehler: Etwa, dass Camenisch im Jahr 1989 eine Kanu-Weltmeisterschaft in Tavanasa stattfinden lässt. Nein! Es waren die Junioren da, und das fand 1990 statt. Klar, die beiden Frauen könnten sich im Jahr getäuscht haben, aber der Autor lässt sie auch noch sich vergewissern: „Das weiss ich noch genau, wir hatten nämlich in jenem Sommer unser 20jähriges Jubiläum. Stimmt, sagt die Margrit und nickt, zum 20Jährigen hat uns der Kosmos das beste Jahr geschenkt“. –
Ach genau, esoterisch veranlagt sind die Frauen auch noch. Warum? Weil das für Frauen typisch ist?! Aber Camenisch lässt sie ja obendrein noch glauben, dass wenn „einer mit dem Schlauch [im Auto] drin“ losfahre, dann gäbe „das eine Explosion“. Und rechnen können sie als von einem Mann geschaffene Figuren in einem Roman auch nicht: „Oh, wenn man mit zwanzig anfängt, ist man einundfünfzig Jahre später knapp siebzig“!
Aber auch sprachlich greifen sie, etwa bei Metaphern, voll daneben. Also auch das mag ihnen der Autor nicht gönnen oder er merkt es selbst keineswegs: „Da haben wir bereits ziemliche Spagate gesehen vor unserem schönen Kiosk, wenn es darum ging, etwas am Preis zu schrauben.“ Wie bitte? Was soll da ein Spagat sein? Sie wollen bloss etwas billiger. Nichts sonst. Bei einem metaphorischen Spagat versucht man eben mit viel Mühe, zwei gegensätzliche Positionen zu überbrücken. Hier wollen die Kunden nur etwas billiger haben, basta. Da erstaunt die fasche Verwendung von „Jet-Set“ wahrlich nicht mehr: „Jet-Set, sagt die Rosa-Maria, wenn eben jemand etwas über die Stränge schlägt und von einer Party zur nächsten schwebt.“ Denn: nein, mit Jet-Set ist eine bestimmte Gesellschaftsschicht gemeint. Dass die sich mehr Partys leisten können ist klar, aber nicht automatisch gemeint.
Vielleicht hätte Arno Camenisch besser daran getan, das Kiosk-Sterben als eigene persönliche Erinnerung zu deklarieren, statt zwei Frauenfiguren einzuführen, deren sich Frauen eigentlich schämen müssen. Zudem wären dann die falsch erinnerten Zeitereignisse nicht so wichtig. Und wie er sich im jetzt gedruckten Buch noch selbst einbringt, ist einfach nur peinlich. Da kommt er auf den Seiten 44 bis 47 vor als „der Sohn vom Tini“, der „Poet“ (!) geworden ist, aber trotzdem „ein lieber Kerl“ geblieben sei, der immer freundlich grüsst. Auf Seite 46 ist er dann der Sohn von Bernadetta, „also die Mutter vom Dichter“ (!), die es, ach, „in der Tat nicht“ etwa „einfach“ gehabt hat. Jaja. Und Seite 71 zitiert Camenisch sich dann gleich noch selber, weil er ja „der Dichter“ des Dorfes ist (obwohl er längst nicht mehr dort wohnt).
Welpenschutz bei der Literaturkritik
Jährlich erhalten 15 Nachwuchsschriftsteller die Möglichkeit zu einem 3-jährigen Studiengang „Literarisches Schreiben“: Das Schweizerische Literaturinstitut in Biel
Als ich mit dieser Beurteilung bis hierhin gekommen bin, erfahre ich, dass Arno Camenisch nicht in die Short List des Deutschen Buchpreises aufgenommen worden ist. Ich atme etwas auf: Die Juroren sind also wie gedacht nicht völlig verblendet (wenn ich auch die Aufnahme in die Long List nach wie vor nicht verstehe – vielleicht braucht es einen bestimmten Schweiz-Anteil bei den Kandidaten; wenn aber alle am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel Ausgebildeten so schreiben, ist es mit der Schweizer Schreibkunst nicht weit her – und immerhin wird Camenisch von der Anstalt immer wieder als Musterabgänger herumgereicht, was einiges über das Literaturinstitut aussagt). Auch nicht durch die Auflagenzahlen verblendet (die man dem Buch übrigens – Autor und Verleger haben sich wahrlich gefunden – nicht entnehmen kann; der Klappentext weist übrigens bei der Inhaltsangabe ebenfalls mehrere Fehler auf; zudem übersieht der Verleger, der in Personalunion Lektor des Buches ist, solche Fehler wie „der Präsident Bahamas“ [recte: der Bahamas]).
Doch spricht der Instant-Erfolg (Verkaufszahlen, Besten-Listen; Longlist) und die bereits kurz danach abnehmende Anerkennung (nicht auf der Shortlist; nicht mehr auf den Besten-Listen; angedeutete Verrisse im Berner ‹Bund› [„da steht einer in der Literaturkritik unter Welpenschutz, schreibt jedes Jahr den gleichen Roman, und keiner sagt was?“; 19.09.2020)] ja auch für sich: Der Jahrhundertroman „Ulysses“ verkaufte sich in den ersten Jahren kaum, während Colin Ross einer der bestverkauften Schriftsteller in den 1920er-Jahren war. – Wer? Genau!
Unkritisches Lesen als Defekt im Leben
Bleibt für den zustimmenden Leser und die zustimmende Leserin noch das scheinbare Glück beim Lesen. Aber Achtung: Da die Sprache das entscheidende Kriterium in einem Sprachkunstwerk ist, das sogar alles andere mitenthält, ist Kitsch, also sind Klischees und ständig sich wiederholende Floskeln nicht bloss eine ästhetische Kategorie, sondern auch eine ethische, eine geschichtskritische, eine lebenskritische Kategorie. Gefühle, Bewusstseinszustände, das Denken und Handeln, ja, ein ganzes Menschendasein kann verkitscht sein.
Wer solch ein Buch wie „Goldene Jahre“ von Arno Camenisch unkritisch liest und sich darüber freut, dem sitzt der Defekt letztlich im Leben. Oder der anerzieht sich einen solchen mit der Lektüre. Und das ist eigentlich ebenso schlimm wie die Verbreitung von Fake News. Dafür schäme ich mich als Schweizer Kollege.
Eine Dorfwelt ohne Dorf
Die Tavanasa-Bahnstation bei Breil/Brigels in der Surselva
Und deswegen greife ich hier auch zur metaphorischen Feder: Wenn die Kritiker solch einen Roman loben, muss man doch mal aufzeigen, was unter anderem daran alles falsch ist. Heisst es doch unter anderem über dieses Buch, der Kiosk sei in dieser Geschichte wirklich die Zentrale im Dorf. Das lässt sich aus dem Roman aber gerade nicht schliessen: In der ganzen Erzählzeit kommt kein Kunde vorbei (nur in Erinnerungen). Oder andere meinen, Camenisch sei ein „sprachgewaltiger Schriftsteller“. Sprachgewaltig? Wer auf einer halben Seite die beiden Frauen drei Mal als sich ‹schüttelnd› beschreibt! Also so: „Es schüttelt sie“; und zwei Zeilen weiter: „Die Margrit schüttelt es vor Lachen“; zwei Zeilen weiter: „es schüttelt sie“ – und nein, das lässt sich definitiv nicht mehr auf die Figuren schieben.
Aber auch ein weiteres Lob stimmt da nicht: Camenisch beschreibe die Dorfwelt eines Dorfes der Surselva wie kaum einer: Dabei kommt das Dorf praktisch nicht vor; der Kiosk steht wie in einer leeren Welt. Aber selbst von der Kiosk-Welt, von der überall gelobt wird, der Autor zeige ihr Verschwinden auf, spürt und liest man kaum etwas: Es ist, als wären in diesen 51 Jahren keine Änderungen aufgetreten. Man findet nichts davon, dass heute die Lotterie-Auswertungen digital ablaufen, nichts davon, dass heutzutage wirkliche Kiosk-Besitzer oft klagen, dass sie für Paketdienste die ganzen Pakete zurücknehmen müssen, obwohl an den meisten Orten dazu der Platz fehlt. So steht denn bei den über 70-Jährigen Kioskbesitzerinnen auch nichts und nie etwas von Krankheiten, die sie hindern würden, die harten Schichten durchzustehen.
Was stimmt nicht mit der Schweizer Literatur?
Am Ende beschleicht einen echt das Gefühl: Da hat einer einfach noch kurz was aufgeschrieben, an was er sich beim Kiosk so erinnert, also eine sehr spezifische Erinnerung einer einzelnen Person, verbrämt mit etwas Eigenlob („Der Schnauz ist der Tiger vom Denker“, Seite 71) und mit einigen Geschichten, die wohl cool wirken sollen aber so was von unauthentisch sind, dass man nicht versteht, wie so etwas je gerne gelesen werden könnte.
Und man versteht also nicht, warum solch ein Buch sich gut verkaufen kann und noch weniger, warum es die meisten Kritiker nicht verreissen. Irgend etwas stimmt hier einfach nicht. ♦
Arno Camenisch: Goldene Jahre – Roman, 100 Seiten, Engeler Verlag, ISBN 978-3-906050-36-2
Geb. 1974 in Luzern/CH, Ausbildung zum Primarlehrer, anschliessend Studium der Germanistik und Philosophie, Promotion und Gymnasiallehrerschaft in Stans und Immensee, 2007-2009 „Kulturminister der Schweiz“ mittels Internet-Wahl aus 25 Kandidaten, diverse kulturpolitische Aktivitäten, zahlreiche belletristische Publikationen in Büchern und Zeitungen, literarische und kulturelle Auszeichnungen, lebt als freier Schriftsteller in Ittigen/Bern
Die guten alten Zeiten sind nun endgültig vorbei. Mit „Olympia“ nimmt Volker Kutschers achter Gereon-Rath-Roman an Fahrt auf und knüpft – wenngleich inzwischen ein weiteres Jahr ins Land gegangen ist – mehr oder minder nahtlos an „Marlow“ (2018) an. Eine Abwendung vom klassischen Krimi mithin, wie wir ihn seit „Der nasse Fisch“ (2008) kennen.
„Wie kann ein Mensch zum Unmensch werden, das höchste Gut mit Füßen treten?“ So die Band PUR in ihrem Lied „Leben“ (Abenteuerland, 1998).
Thrillerqualitäten schreibt Kutscher bereits seit „Marlow“ groß. Man gewinnt den Eindruck, dass Kutscher im vorliegenden Band – mit dem er langsam, aber sicher an das Ende seiner Serie gelangt (wenn ich nicht irre, hatte er von geplanten neun Teilen gesprochen) – versucht, die Entwicklung von ganz normalen Menschen zu Bestien in Uniform zu zeigen. Und dies unvermittelt, im Kleinen wie im Großen und dadurch umso eindringlicher, auswegloser und beklemmender.
Archetypisches Figuren-Inventar
Da gibt es den Prototyp des Sadisten in Gestalt des uns seit „Akte Vaterland“ bekannten SS-Mann Sebastian Tornow, dessen Natur seine Stellung im Sicherheitsdienst widerspiegelt. Des weiteren: Gräf, der alte Freund, der exemplarisch für den guten Kerl, der sich – irgendwo und irgendwie zum Mitläufer mutiert – trotzdem einen Hauch von Menschlichkeit bewahrt. Er verliert allerdings im Vergleich zu den Anfängen, die acht Jahre zurück in Gennats Mordinspektion liegen, deutlich an Sympathie und Menschsein. Gereon Rath, ebenso archetypisch den Mitläufer repräsentierend, muss sich hingegen eingestehen, dass die Ausübung der Berufung eben nicht mehr problemlos zu rechtfertigen ist, wenn er für den Sicherheitsdienst tätig ist. Und er muss letztlich einsehen, dass Charly in ihrer gefährlichen Arbeit gegen das Regime das Richtige tut. Denn irgendwann kann man auch mit der richtigen Einstellung formal nicht mehr mit dem Strom schwimmen.
Dichotomie: Das weiße, strahlend helle Olympia-Ereignis, die perfekte Selbstinszenierung, wie man sie aus den Filmen von Leni Riefenstahl kennt, bildet den Rahmen für ein Deutschland, das ein vollkommen falsches Bild vom Status Quo der Welt vermittelt. Mittendrin ist Fritze, inzwischen von seinen Adoptiveltern getrennt, für den Jugendehrendienst tätig. Und während ihm alles möglich scheint und er sich im Glanz des Dritten Reiches sonnt, werden die Schattenseiten auch für ihn immer offensichtlicher: Als er Zeuge des Todes eines US-Sportfunktionärs wird, sticht er in ein Wespennest, in dessen Folge sich die Leben seiner Lieben dramatisch verändern werden.
Am Scheitelpunkt eines verkorksten Lebens
Lieferte mit dem Roman „Der nasse Fisch“ die Krimi-Vorlage für den Film-Hit „Babylon Berlin“: Volker Kutscher
Und so ist Kommisar Rath acht Jahre nach seinem unglamourösen Debüt in „Der nasse Fisch“ am Scheitelpunkt seines inzwischen ziemlich verkorksten Lebens angelangt.
Großer Pluspunkt von „Olympia“: Man taucht noch tiefer in die unauslotbaren Tiefen der Rath’schen Welt ein, in seinen Alltag und in seine ganz normalen Ehe-Sorgen und Nöte. Dies gelingt nicht zuletzt durch eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit, die Kutscher in der ihm eigenen Dichte äußerst glaubwürdig zu vermitteln vermag, ohne einen Hauch von Pathos.
Nachteil des achten Teils, gegenüber den klassischen Kriminalfällen, die Rath und Co. unter Gennat aufklären: Ein in sich nicht wirklich geschlossener Fall, zwei Todesfälle (das ist nur der Anfang), die eben nicht zusammenhängen, und die schließlich zur Katstrophe führen. Dazu eine Erpressung, die im 7. Fall begründet liegt (ehrlich gesagt hab ich mich nur schwerlich erinnert).
Verzeihliche Schwächen im Plot
Willkommene PR-Bühne für Nazi-Deutschland: Die Berliner Sommer-Olympiade 1936 (Einmarsch zur Eröffnungsfeier, im Vordergrund Hitler, links IOC-Präsident Baillet-Latour, rechts OK-Präsident Theodor Lewald)
Trotzdem verzeiht man gewisse Schwächen im Plot und dessen Aufbau als eingefleischter Rath- bzw. Kutscher-Fan quasi sofort. Und so bleibt am Ende, nach einem viel zu kurzem Leseerlebnis nur die Hoffnung auf einen weiteren Teil 2022, der den gnadenlos fiesen Cliffhanger hoffentlich zur Freude des Lesers aufklärt – und falls nicht, die losen Fäden der anderen Figuren zum Abschluss bringt.
Was für mich den Reiz der Serie ausmacht, ist definitiv die Figur des Gereon Rath: Schwer zu fassen, oft mit sich selbst im Unreinen, wandert er zwischen den Welten und verstrickt sich in Machenschaften, die ihn letztlich spätestens in „Marlow“ zum Verhängnis werden und im vorliegenden Buch zum unumkehrbaren Wendepunkt führen. Kurzum profitiert Kutschers Serie von der Rath’schen Vielschichtigkeit, die es uns eben verbietet, ihn in ein Korsett aus gut oder böse, aufrecht oder opportun zu stecken. Das Leben ist eben selten schwarzweiß, stattdessen nuanciert, über hell- bis dunkelgrau.
Durch leise Töne eindringlich
Und so überrascht es keineswegs, dass „Olympia“ in einem Knall endet – im wahrsten Sinne des Wortes. Und den Prolog, der bereits zu Beginn Böses ahnen lässt, um ein vielfaches steigert. Wo andere recht brav und bieder ihren Kommissar ermitteln lassen im Glanz einer längst vergangen Zeit, testet Kutscher Spielräume aus, lässt seinen Antihelden Fehler über Fehler begehen und ihn dabei trotzdem immer wieder als Held erscheinen. Und ganz im Gegensatz zu Tykwers fürchterlich überzogenem Mainstream-Machwerk „Babylon Berlin„, in dem Exzesse und ein Bilderrausch ungeahnten Ausmaßes das eigentliche (und viel spannendere) Geschehen vollkommen in den Hintergrund treten lassen, ist die Vorlage zwar leiser und unaufgeregter, weniger farbenprächtig, dafür aber ungleich spannender und durch die leisen Töne umso eindringlicher. ♦
Die Unsicherheit und die Angst wohnen oft in einem Zwischenraum, in dem Ungewissheit herrscht, weil zu vieles ungesagt bleibt. Der deutsche Schauspieler und Autor Christian Berkel erzählt in „Ada“, dem Nachfolger seines ersten durch die eigene Familiengeschichte inspirierten Romans „Der Apfelbaum“ eine Geschichte, in der es um das Schweigen einer ganzen Generation geht – und darum, wie die Nachfolgegeneration damit umgeht.
Februar 1945. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird in Leipzig ein Mädchen geboren, das Ada heißt. Ihre Mutter ist Jüdin, der Arzt, der das Kind zur Welt bringt, ein alter Naziprofessor. Nach Kriegsende emigrieren Mutter und Kind nach Argentinien, wo sie einige Jahre leben, bevor sie nach Deutschland zurückkehren.
Das Mädchen weigert sich zunächst lange Zeit, zu sprechen, was ihre Mutter frustriert: „Ich entpuppte mich von Anfang an als eine Enttäuschung, eine Blamage, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Ich, als Kind einer unvorstellbar großen Liebe, einer Liebe, die kein Krieg, kein Gott, ja nicht einmal der kleine österreichische Maler kleingekriegt hatte, der Gefreite mit dem neckischen Oberlippenbart, der Hitler eben. Dieses Kind, also ich, konnte oder wollte nicht sprechen. Ich hatte mich scheinbar entschieden, nicht mitzumachen.“
Das Gefühl, von der Mutter nicht wirklich akzeptiert zu werden, wird sie ihr ganzes Leben lang begleiten.
Suche nach Orientierung
Schauspieler, Autor, Romancier: Christian Berkel (*1957)
Ada wächst zunächst vaterlos auf. Erst nach ihrer Rückkehr nach West-Berlin nimmt ihre Mutter Sala doch wieder Kontakt zu dem Mann auf, der Adas Vater sein soll. Otto ist Arzt und schenkt dem Mädchen ein Fahrrad, wofür es ihn liebt. Doch die Vaterschaft ist nicht endgültig geklärt. Im Leben der Mutter gab es nämlich einen zweiten Mann, Hannes, den sie nie vergessen hat.
Die Ungewissheit in Bezug auf den Vater ist aber nicht die einzige Unsicherheit in Adas Leben. Auch die Vergangenheit ihrer Mutter bleibt lange Zeit ein Geheimnis. Als Mopp, eine langjährige Freundin der Mutter sich um Ada kümmert, weil Sala nach Argentinien gereist ist, erfährt das Mädchen, dass ihre Mutter Jüdin ist und in Gurs interniert war. Niemand spricht offen über die Vergangenheit. Es sind immer nur Fragmente, die Ada in Erfahrung bringen kann. Diese vergebliche Suche nach Orientierung macht sie wütend. Sie begehrt gegen die Elterngeneration auf, so wie es die Nachkriegsgeneration eben getan hat.
Kluft zwischen zwei Generationen
Ausgelassenheit mit Zigarette: Jugendliche am Konzert der Rolling Stones in der Berliner „Waldbühne“ 1965
Als Jugendliche liebt sie leidenschaftlich und unvorsichtig. Ihren viele Jahre jüngeren Bruder, der von allen nur Sputnik genannt wird, bringt sie versehentlich fast um. Und die Kluft zwischen ihr und den Eltern wird immer größer. Zur depressiven Mutter hat sie nie ein wirklich gutes Verhältnis, und auch ihr Vater, der seine traditionellen Werte hochhält, bleibt ihr fremd.
In einer Hippie-Kommune sammelt sie erste Erfahrungen mit Drogen und mit der freien Liebe. Im September 1965 erlebt sie die Randale beim Stones-Konzert auf der „Waldbühne“. Auch bei dieser gewaltsamen Auseinandersetzung geht es um die Kluft, die sich zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration aufgetan hat.
Bei ihrem Großvater und dessen Lebensgefährtin, die in der DDR leben, lernt sie doch noch so etwas wie Geborgenheit kennen und erfährt etwas über ihre eigene Geburt…
„Ada“ ist eine spannende Auseinandersetzung mit einer interessanten Zeit. Christian Berkel ist ein großartiger Erzähler. Ihm ist eine sehr einfühlsam geschriebene Geschichte um eine junge Frau gelungen, die ihren Platz in der Welt sucht. Es wird noch einen dritten Band geben, in dem die Familiengeschichte weiter erzählt werden wird. Man darf also gespannt sein! ♦
Christian Berkel: Ada – Roman, 400 Seiten, Ullstein Verlag, ISBN 978-3550200465
Bücher über Heldinnen sind gerade in. Im April hatte die ZEIT Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ mit ihren abstehenden roten Zöpfen aus Anlass ihres 75. Geburtstages auf der Titelseite und konnte ihre Verfasserin nicht genug loben ob ihres Beitrags zu einem alternativen weiblichen Rollenbild. Und im Oktober bekam Anne Weber den deutschen Buchpreis für ihren Roman Annette – ein Heldinnenepos. Man könnte meinen, der schottische Schriftsteller Stuart Hood wolle sich in diese Tradition, falls es denn eine ist, einreihen. Immerhin heißt sein neuer Roman ja „Das Buch Judith“.
Und gleich zu Anfang zitiert er das biblische Buch Judith, das sich in den Apokryphen zwischen Altem und Neuem Testament findet. Auch dort gibt es eine Heldin, eben jene Judith, die sich ins Lager des mächtigen Feindes schleicht, der gerade Israel erobert hat, und dem Feldherrn Holofernes den Kopf vom Rumpf trennt.
Aber dann beginnt der Autor mit einem Mann, der sich mit Leib und Seele einer Sache verschreibt und dafür alles andere für unwichtig erklärt. Fergus Mc Iver ist ein schottischer Kommunist, der 1975 im Todesjahr des Faschisten General Franco für die BBC einen Film über den Freiheitskrieg Spaniens gegen Napoleon drehen will. Dafür reist er mit seiner Mitarbeiterin Judith, die zugleich seine Geliebte ist, nach Spanien. Im Gepäck hat er einen ecuadorianischen Pass für einen Genossen im Untergrund, der damit aus Spanien fliehen will, weil er von Francos Polizei gesucht wird.
In den Wirren der Franco-Diktatur
Als das erledigt ist, hofft Judith, sie könnten jetzt zum normalen Leben zurückkehren, aber stattdessen bekommt Fergus von den spanischen Genossen einen neuen Auftrag. Jetzt soll er ein Paket in dem mutmaßlich eine Bombe enthalten ist, nach Los Huertas schmuggeln. Auch das erledigt Fergus, weil er die Gefahr ebenso liebt, wie die Partei, aber diesmal sind es die eigenen Genossen, die ihm nicht vertrauen, weil er von einer Frau begleitet wird, die nicht Mitglied der Partei ist. Beide werden an verschiedenen Orten festgehalten. Schließlich entschließen sie sich, Fergus zu glauben, dass er kein Spion der CIA sei (oder vielleicht tun sie auch nur so), und geben ihm den nächsten Auftrag.
Er soll die Bombe mit einem Wagen ins Zentrum von Madrid bringen. Alles ganz freiwillig natürlich, aber wenn er dazu bereit ist, darf er Judith zu sich holen. Fergus willigt ein. Bis zu seiner Rückkehr nach der Fahrt in die Stadt darf Judith das Haus nicht verlassen. Dass sie eine Geisel ist, die für das Gelingen des Attentats einstehen muss, wird zwar nicht gesagt, aber zumindest zwischen den Zeilen deutlich.
Geschichte aus zwei inneren Perspektiven
Judith wechselt also ihren Standort. Ob sie will oder nicht, wird sie nicht gefragt. Da Stuart Hood abwechselnd aus beiden Perspektiven erzählt, kennt der Leser auch ihre Gedanken. Fergus wird ihr immer fremder. Er entscheidet über ihrer beider Leben, ohne sie vorher zu fragen. Nach dem Ende dieser Reise wird sie ihn verlassen, beschließt sie. Am Abend liegen zwei Menschen, die sich einmal geliebt und gemeinsam tagelang in großer Gefahr geschwebt haben, voneinander abgewandt im selben Bett, ohne sich zu berühren.
Kämpferisch, emanzipiert, feminin: Judith mit Schwert, nach einem Gemälde von August Riedel (1840)
Dabei gibt es zwischen Fergus und Judith durchaus Berührungspunkte. Beide haben Väter, die im Krieg gekämpft haben; Judiths Vater war Mitglied der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg 1936-39 und ist seither verschollen; Fergus‘ Vater kämpfte im Zweiten Weltkrieg, kehrte zurück und wurde zum Säufer, der seinen Sohn die Rute küsse ließ, bevor er ihn schlug.
Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – sucht Fergus die Gefahr, um den Vater zu übertrumpfen. Dabei nimmt er auf Judith keine Rücksicht. Dass sie ihn begleitet, um die Spuren ihres Vaters zu suchen, interessiert ihn wenig. Er entscheidet für sie mit; er bringt beide in große Gefahr, aber er fragt nicht, was sie dazu sagt. Sie ist eine Frau; sie hat sich dem Mann und der Sache, für die er kämpft, unterzuordnen. Ein Frauenbild wie aus den Fünfzigern.
Seitenlange Reflexionen
Judith mit dem abgeschlagenen Kopf des Holofernes, nach einem Gemälde von Gustav Klimt (1901)
Insofern finde ich den Namen des Romans sonderbar. Schwer vorstellbar, dass der Titel erst gewählt wurde, als das Buch schon fertig war. Immerhin hat Hood die Reminiszenz an die biblische „Heldin“ ja nicht zufällig gewählt. Insofern hätte man sich auch vorstellen können, dass Hood aus der Perspektive Judiths erzählt. Und wenn er schon beide Sichtweisen wählt, wünschte man sich, dass beide gleich stark ausfallen.
Aber es ist wieder einmal das alte Lied: Der Mann zieht hinaus ins feindliche Leben, und die Frau muss das Taschentuch schwenken und es dann benutzen, un ihre Tränen wegzuwischen. Anders gesagt: Die Passagen, in denen Judith zu Wort kommt, sind deutlich schwächer.
Weltrevolution vor Gleichberechtigung
Womöglich empfand Hood ja Sympathie für den Feminismus. Vielleicht wollte er ein Buch über ihren Kampf für die Gleichberechtigung schreiben. Aber dann kam ihm der Einsatz für die Weltrevolution in die Quere, und die war sowohl Fergus als auch dessen Autor, der selbst Kommunist war, wichtiger. Der Autor tritt öfter hinter seiner Person hervor und belehrt uns durch Fergus‘ Mund über bestimmte politische Probleme. Diese seitenlangen Reflexionen sind öde und führen auch nicht wirklich weiter.
Wirklich spannend wird Stuart Hoods „Das Buch Judith“ erst zum Schluss. Da tut Judith etwas Überraschendes: Sie befreit sich von dem, der bis dahin ihr Leben bestimmt hat. Damit wird sie in gewissem Sinn zur biblischen Judith, und der Leser wünscht ihr, dass sie aus dem Land des sterbenden (und zu diesem Zeitpunkt schon toten) Generalissimus entkommt… ♦
Lili Reinhart, US-amerikanische Schauspielerin und Aktivistin, hat Ende September ’20 ihr erstes Buch „Swimming Lessons“ veröffentlicht. Keine zwei Wochen später hat Fischer bereits eine zweisprachige Ausgabe (dt. Titel: „freischwimmen“) herausgegeben. Dass diese Entscheidung mehr auf der Bekanntheit der Autorin beruht als auf der Qualität des Werks, liegt nahe. Aber versuchen wir, vorurteilsfrei heranzugehen.
Was als erstes auffällt: Das gebundene Buch ist ziemlich dick, eher wie ein Roman als ein Gedichtband. Kein Schutzumschlag. Auch kein Lesebändchen. Zielgruppe ist vielleicht nicht der klassische Lyrikleser.
Die Einsparungen gehen im Inneren weiter: Es gibt keine Seitenzahlen (ungefähr 270 Seiten dürften es nach meiner Zählung sein, darunter einige leere und einige nur mit Illustrationen), kein Inhaltsverzeichnis. Das Fehlen der Seitenzahlen ist besonders deshalb störend, weil nur eine Handvoll Texte so etwas wie einen Titel hat. Die Kurzbiographie macht die Autorin gleich einmal um sechs Jahre älter.
Der eigentliche Inhalt besteht aus gut hundert „Gedichten“ – auf die Anführungszeichen werde ich noch zurückkommen – im Umfang zwischen zwei Zeilen und sechs Seiten. Die Übersetzung findet sich jeweils im Anschluss an den Originaltext, für den Leser deutlich unpraktischer als eine links/rechts-Aufteilung. Auch mit bloßen Schulkenntnissen sollte man allerdings keine größeren Schwierigkeiten mit dem englischen Text haben.
Liebe und Liebeskummer
Lili Reinhart (geb. 1996)
Der weitaus größte Teil der Gedichte dreht sich um Liebe und Liebeskummer. Dazwischen finden sich einzelne Texte, in denen Lili Reinhart sich mit ihren Dämonen auseinandersetzt; dies sind auch die einzigen, die ernsthaft lesenswert sind. So erklärt sie etwa: „This is how I explain it to someone / who can’t fully understand. (…) This is you, every day. (…) Elated. High. Full of energy (…) Of course I am able to feel these things. It’s / harder to achieve, but I can get there. // It’s just that I’ll have / a greater fall back down to reality. (…)” Eine der konzisesten Beschreibungen einer leichten Depression, die ich je gelesen habe.
Ein bisschen dunkler wird es mit: „I tried explaining to my mother why / I was crying this morning. // It’s always different, / the reason or the circumstance. (…) Sometimes it just feels like sadness, / like a dark shadow / mirroring my every move. (…) I want to be alone, unbothered // And then I feel guilty / for being cold (…) Innocent volunteers that I’m / shutting down. (…)“
Ohne inhaltlichen Anspruch
Leider gibt es nur wenige dieser relevanten Texte. Der ganz überwiegende Teil klingt wie: „Of all the elements, // I’ll say that I’m snow, // melting on impact // from your warmth”
oder: „It is a privilege to know you / in such a way that no one else does. // To be the someone who sees / your intimate self so completely”
Es sind Texte, wie sie jeder zweite Teenager in sein Tagebuch kritzelt, ohne besonderen inhaltlichen oder sprachlichen Anspruch.
Zurück zu den Anführungszeichen. Ungeachtet formaler Definitionen wirken die Texte nicht wie Gedichte. Ja, es gibt Verse, es gibt Strophen – wobei ein sehr großer Teil der Strophen nur aus einem einzigen Vers besteht –, es gibt ein Ich. Doch das Ich hört sich an wie der Sprecher eines Textes; die Aufteilung in Verse und Strophen scheint kaum inhaltliche oder klangliche Bedeutung zu haben, sondern nur kürzere oder längere Sprechpausen zu markieren.
Das Buch ist kein Gedichtband. Es ist eine Zitatsammlung. Reinharts Zitate aus der Rolle ihres Lebens, einer fiktiven Telenovela, in der die Hauptdarstellerin sich immer wieder unsterblich verlieben darf, immer wieder enttäuscht wird, ihrem Schatz Liebeserklärungen macht, ihn mit einer anderen sieht, ihn anschreit, verflucht, mit einer Freundin banale Diskussionen über den Sinn des Lebens führt, und ab und zu einmal einen großartigen Monolog halten darf.
Und erstaunlicherweise: Wenn man das Buch so liest, dann wird es plötzlich stimmig. Dann vermisst man keine Gedichttitel mehr, keine Seitenzahlen. Dann sind Pathos und Banalität keine lästigen Begleiter mehr, sondern notwendige Voraussetzungen für ein Gelingen. Und die guten Texte werden zu den Sternstunden der Serie und von den Fans hundertfach auf Pinterest gepostet.
Der durchschnittliche Lyrikleser wird dieses Buch nicht unbedingt benötigen. Als Weihnachtsgeschenk für einen Teenager, dem er das Konzept von Lyrik näherbringen möchte, scheint es mir aber bestens geeignet.
Lili Reinhart: Swimming Lessons / freischwimmen, zweisprachige Ausgabe englisch/deutsch, übersetzt von Anna Julia Strüh, 272 Seiten, FISCHER New Media, ISBN 978-3-7335-0615-5
Erratisch, linear, fragmentarisch, geister- und dämonenfroh: Mit „Basquiat“ ist dem Duo Julian Voloj (Texte) & Sören Mosdal (Zeichnungen) eine weitgehend eindrückliche Graphic Novel gelungen, die passend zum Leben von Jean-Michel Basquiat starke Schlaglichter, Zerrungen und Verwirrungen aufgreift, um so dem Leser diesen kultischen, viel zu früh an Drogen verstorbenen schwarzen Pop-Künstler nahezubringen. Dies zu einem Zeitpunkt, da die Rassismus-Debatte brisanter und trauriger denn je ist…
Zunächst lässt sich die Geschichte sehr verständlich an, geschickt aufgebaut durch Vorwegnahme des Endes. Auf einer realen Ebene wird retrospektiv das Leben des jungen Basquiat in den wichtigsten Stationen abgeklappert. Dass der innere Blick durch das Äussere nicht getrübt wird, dafür sorgt der innere Monolog mit Basquiats lebenslangen Dämonen, visuell dargestellt durch wohl eines seiner prägnantesten Bilder.
Anstrengende Bruchstücke
Basquiat-Kunst hat inzwischen Millionen-Wert
Doch was zunächst gut funktioniert und den Leser zu fesseln vermag, wird durch diese bruchstückhafte Kürze/Versatzhaftigkeit schnell anstrengend. Wenn eine Frau der anderen die Klinke in die Hand gibt und man rätselt, ob die Blonde hinter dem Tresen, mit der er nun zusammenziehen will, jene ist, die sein Kind nicht will…
Abhilfe schafft zwar das Glossar, das der Novel zum Schluss angehängt ist! Doch manchmal ist weniger mehr, und viel hinten hilft nicht unbedingt viel vorne, salopp gesagt!
Insofern ist die Lektüre zwar kurzweilig, aber anstrengend. Zugleich hält sich der Mehrwert, wenn man z.B. eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit dem Schaffen, dem Kunstverständnis Basquiats oder auch mit der Popkultur erwartet, in Grenzen. Psychologisch zwar durchaus ausgefeilt und erzählerisch geschickt konstruiert, zeigt der Aufbau ab der Mitte Schwächen.
Zeichnerisch – zumindest für jemanden, der Wert auf klare Linienführung und zeichnerisches Detail legt und dabei umfassendere Graphic Novels bevorzugt – ist „Basquiat“ eher schwierig zu beurteilen. Sicherlich passt das Knallige, auch das Düstere, die Farbgebung insgesamt gut zum Big Apple der 1980er, zum Lebensgefühl der Popkultur. Und bringt zudem Basquiats lebenslange Zerrissenheit, seine Suche nach sich selbst, angefangen mit seinem dysfunktionalen Elternhaus, treffend auf den Punkt.
Trotzdem ist der Stil Sören Mosdals recht reduziert und auf die Dauer von 131 Seiten zu fratzenhaft. Graphisch wäre mehr mehr gewesen, aber über Geschmack lässt sich bekanntermassen trefflich streiten. Zu rudimentär und atavistisch, ist man versucht, es auf zwei Adjektive herunterzubrechen.
Dennoch hinterlässt Volojs Geschichte um Basquiats wechselhaftes Leben auf der Überholspur, nicht zuletzt durch Mosdals erratische Darstellung, einen gewissen Nachhall, der sowohl bei Basquiat-Kennern als auch bei solchen, die es eventuell werden wollen, einen bleibenden Eindruck. Viel Herzblut steckt in diesem Werk, wie auch das Nachwort sonnenklar bestätigt. Und wie die „Black Lives Matter“-Bewegung und die aktuellen Geschehnisse in den USA seit dem Sommer dieses Jahres zeigen: An der Realität afroamerikanischer Menschen hat sich seit dem sinnlosen Tod Michael Stewarts infolge polizeilicher Brutalität, die (natürlich) auch Eingang in Basquiats Oeuvre gefunden hat, wenig geändert.
Basquiats kurzes, aber intensives Leben in eine kleinformatige, „nur“ 136 Seiten lange Graphic Novel zu bannen war sicherlich eine Herausforderung, die allerdings Texter Julian Voloj – verbunden mit einem starken Interesse an dem Künstler – gut gemeistert hat. Alles, was er im Nachwort schildert, zeigt sich in den Notizen, die während meiner Lektüre entstanden sind. Insofern: Gelungener Comic – mit der Einschränkung, dass sich eine solche Lektüre auch ohne dauerhaftes Blättern im Glossar (zumindest für den interessierten Laien, der vielleicht nicht viel über Basquiat weiss) bewältigen lassen sollte. ♦
Paris. Ein eisiger Januartag des Jahres 1855. Der im Exil lebende Literat Heinrich Heine gibt seinem stets mit einem Hummer an der Leine wandelnden Dichterkollegen Gérard de Nerval fünf Francs und bittet ihn, am Quai des Gesvres nebst einer Flasche Chablis und einer Schale Schalottenragout zwei Dutzend Austern zu besorgen. Beide sind unheilbar krank, bereits vom Tode gezeichnet. – So skizziert im Kapitel „Die Henkersmahlzeit“ der Schriftsteller Henning Boëtius in seinem grandiosen neuen Roman „Der weisse Abgrund“ die letzten Lebensjahre des deutschen Dichterfürsten Heinrich Heine nach.
Nerval lebt und schläft unter Brücken, und Heines nur noch 30 Kilo wiegender Körper ist, von Krämpfen geplagt, zu schwach, um noch einmal ans Meer reisen zu können. Das Rauschen des Verkehrs auf der Balkonbrüstung seiner Wohnung in der Rue Matignon in der Nähe der Champs-Elysées muss ihm das Meeresrauschen ersetzen. Am Abend findet Mathilde ihren Henri in der Pfütze seines Erbrochenen. „Ich war am Meer“, ächzt der Kranke. Sein Arzt Dr. Gruby flösst ihm einen Cannabisextrakt ein und überbringt ihm die Nachricht vom Tod seines Freundes Nerval, der sich am Gitter eines Abwasserkanals an der Rue de la Vieille Lanterne aufgehängt hat.
Faszinierendes Panorama der Pariser Künstlerwelt
Diese kurze Zusammenfassung des bereits erwähnten Buchkapitels umreisst nur eine von 24 stilsicher zusammengefügten Episoden in Henning Boëtius‘ neuem Roman, in dem der nicht nur für seine hervorragenden belletristischen Biographien (Günter, Lenz, Lichtenberg und Rimbaud) bekannte Autor ein einzigartiges Porträt der letzten Lebensjahre des Heinrich Heine zeichnet, eingebettet in ein faszinierendes Panorama der Seine-Metropole.
Heinrich Heine’s Pariser Exil-Adresse Rue de Faubourg-Poissonnière 46 (heute 72), wo er fünf Jahre lang mit seiner Frau Mathilde Mirat wohnte
Boëtius erweist sich darin als ein kluger, präziser Beobachter, ein kenntnisreich aus einem breiten kulturellen Fundus schöpfender Erzähler, der Heines letzten Jahre im französischen Exil unmittelbar zum wieder zum Leben erweckt. Wir erleben direkt die zwischen hohem Kunstideal und frivoler Banalität zerrissene Pariser Künstlerwelt (u.a. mit Gustave Flaubert, der an einem Buch über die menschliche Dummheit arbeitet), in die sich Heine nahtlos einzufügen scheint, wenn er, vom Tode und einem ausschweifenden Leben gezeichnet, bis zuletzt an seinem Opus magnum, den „Memoiren“ arbeitet.
Überlebenskampf einer Künstlerseele
„Der weisse Abgrund“ schildert den tragischen Überlebenskampf einer sensiblen Künstlerseele, die längst an den harten Wirklichkeiten des unbarmherzigen Lebens in der Fremde gereift ist, nicht ohne ihren Tribut an die grausamen Realitäten des literarischen Marktes und das Leben in der Fremde bezahlt zu haben. Es sind Heines an Balzacs mahnende „Illusions perdues“ – Glanz und Elend einer ironisch gebrochenen, romantischen Seele, die das Leben seziert und genossen hat und dem Tod ins Auge blickt, dem „weissen Abgrund“. Rückblick und Porträt eines Lebemanns, der – zierlich gebaut und zugleich muskulös, mit seinen weichen, hellbraunen Haaren, seiner Männlichkeit von kindlicher Grazie – den Damen gefiel und bei den Dirnen sogar mütterliche Gefühle erweckt.
So steht der Roman mitten im Paris des 19. Jahrhunderts und seinen vor dem Hintergrund von Industrialisierung und Modernisierung (Baron Haussmanns Umgestaltung der Pariser Strassenzüge) um den Realismus kreisenden künstlerischen Fragen, die sich auch in der Malerei (Courbet) und Musik (Chopin, Berlioz) stellen, eingebettet in das amüsant, tiefgründig, aber auch augenzwinkernd ausgebreitete Liebesleben der zwischen Prostitution und „amour fou“ pendelnden Pariser Bohème.
Soirées und Matinées zum Leben erweckt
Boëtius erweckt die Soirées und Matinées der illustren Gesellschaft zum Leben, skizziert ihre Garderobe und rezitiert die grossartigen Vorträge der mal mehr, mal weniger tragisch karikierten Künstlerexistenzen (u.a. Baudelaire). Das ist das einfach grandios, nebenbei tiefsinnig und doch kurzweilig. Und so nebenbei erhält der Leser einen erstaunlichen Einblick in die für unsere Zeit äusserst befremdlichen, quasi mittelalterlich anmutenden Methoden und bedauerlichen, weil begrenzten Kenntnisse der Medizin. Da werden Abszesse aufgeschnitten, Körper mit Morphium eingerieben, Augenleiden mit Blutegeln behandelt. Und: Starb Heine nicht an einer Bleivergiftung? Fiel er einem Komplott, das an seinen Memoiren interessiert war, zum Opfer?
Geniale Verknüpfung von Werk und Zeit
Dichter, Spötter, Künstler, Bohèmien, Genie: Heinrich Heine (in einer zeitgenössischen Zeicnnung)
Höhepunkt ist jedoch zweifellos das Kapitel von Heinrich Heines Ableben. Das darf man schon genial nennen, wenn alle Haupt- und Randfiguren seiner Vita wie ein Panoptikum seines Lebens aufmarschieren, quasi als Spiegel des Lebens fungieren und dem Dichter in einer geahnten Aufwartung die letzte zweifelhafte Ehre erweisen. Das muss man gelesen haben.
Henning Boëtius‘ Heine-Roman ist ein rundum gelungener Versuch, das schillernde Leben dieses Dichters und Kritikers des Spiessertums – in genialer Verknüpfung mit seinem Werk und seiner Zeit – von vielen Seiten zu beleuchten und aus seiner Matratzengruft wiederauferstehen zu lassen. Während viele solcher Versuche oft in epischer Breite verebben, gelingt dem erfahrenen Autor eine sehr konzentrierte und amüsante Darstellung auf rund 190 Seiten. Davon hätte man gerne noch mehr gelesen. Grossartig! ♦
Mit ein wenig Verwunderung dürfte die literarische Welt aufnehmen, dass der jüngst so erfolgreiche österreichische Schriftsteller Robert Seethaler sich in seinem neuesten Werk, dem Roman „Der letzte Satz“ mit den letzten Tagen Gustav Mahlers befasst. Gewiss, bereits in bisherigen Werken bewegte Seethaler sich in der Zeit der Jahrhundertwende („Der Trafikant„) oder berührte die Motive Tod („Das Feld“) und Lebensbilanz („Ein ganzes Leben“). Oder liegt es daran, dass über Gustav Mahler bereits Entscheidendes vorliegt? Mahlers 160. Geburtstag am 7. Juli dürfte wohl ebenfalls nicht der Anlass gewesen sein. Viel eher scheint das Interesse an einer überragenden, doch zwiespältigen Künstlerexistenz sein Motiv geworden sein.
Wie steht der Künstler, der sich in seiner eigenen Welt seiner Kunst verschrieben hat, zum Leben, zur Natur und zu den Menschen, die er liebt und doch gleichsam vernachlässigen und entbehren muss – und das im Angesicht des nahenden Todes? Seethalers Roman beginnt an Deck des von New York nach Europa kehrenden Schiffes „Amerika“, auf dem Gustav Mahler, von Krankheit und Todesahnung gezeichnet, seine letzte Reise antritt. Dort erleben wir ihn im Gespräch mit dem respektvollen, aber mitleidlosen Schiffsjungen, meist aber – mit Blick auf das endlos offene Meer – allein in seinen Gedanken und Erinnerungen, die um seine letzten Erfolge in München kreisen, seine bahnbrechende Umgestaltung des Wiener Opern- und Musiklebens, den Sommer in den Bergen, den Tod seiner Tochter Marie und natürlich um seine geliebte Frau Alma, die er schon verloren hat.
Fehlende Tiefenschärfe
Gustav und Alma Mahler (rechts) auf ihrer Schiffsreise im April 1911 nach Amerika
Das scheint insgesamt durchaus stimmig und fügt sich zu einem geschlossenen Bild, wird aber weder den Mahler-Liebhaber noch den an der Künstlerexistenz an sich interessierten Leser zufrieden stellen. Denn es fehlt dem 125 Seiten langen Skript an Umfang und Tiefenschärfe, so dass man allenfalls von einer Novelle sprechen kann, die scheinbar vieldeutig – mit Blick auf Mahlers Neunte Sinfonie – auf den „letzten Satz“ hinsteuert, am Ende aber recht eindimensional in sich zusammenfällt. Seethalers Sprache ist dabei fraglos kunstvoll und bedächtig, aber doch auch impressionistisch geglättet mit Oberflächenspiegelung, dramatische Ausbrüche ausschliessend, letztlich teilnahmslos.
Dass dabei Mahler aus der personalen Erzählperspektive dargestellt wird, ist zunächst als Ausdruck des Respektes angemessen. Doch dieser Respekt erweist sich im Verlauf der Erzählung als hohl und aufgesetzt. Auch der Schiffsjunge ist eben nur ein gewöhnlicher Schiffsjunge, der nie auch nur einen Ton Mahlerscher Musik vernommen hat und vernehmen wird. Er wird lediglich artig bedauern, dass die Musik des grossen Mannes, die er sich als etwas „Grosses, Unberechenbares“ vorstellt, verloren ist. Warum behält er das letzte Wort? Der Ignoranz das Wort?
Damit erweist Seethaler der Kunst und dem Künstler einen Bärendienst. Womit wir beim grössten, unverzeihlichen Versäumnis des Skripts sind: Mahlers Werk. Es bleibt völlig ausgespart, von ein paar Vögeln, die Mahler inspiriert haben, sowie einem Faust-Zitat abgesehen. Wie kann man einen Künstler quasi ohne sein Werk darstellen? Wie kann man Mahlers letzte Reise fassen, ohne etwa seine letzte Symphonie in Betracht zu ziehen? Denn so bleibt Seethalers Novelle eben nur die letzte Reise eines kranken Mannes, der gerne noch ein wenig länger gelebt hätte. Das ist banal.
An dieser Stelle bleibt nur der Hinweis auf Guy Wagners deutlich umfangreicheren, vielschichtigeren und akribisch recherchierten Roman mit Dokumenten-Collage Die Heimkehr – Vom Sterben und Leben des Gustav Mahler.
Fazit: Operation gelungen, Patient tot. Robert Seethaler hat sich in seinem neuen Werk sichtbar verhoben, indem er – allen erzählerischen Fähigkeiten zum Trotz – den grossen Komponisten, Dirigenten und Opernregisseur Gustav Mahler fernab seiner Musik und gestalterischen Absichten dargestellt hat. Er öffnet daher nicht den Zugang zu ihm, sondern verschliesst ihn. Schade. ♦
Robert Seethaler: Der letzte Satz – Roman, Hanser Verlag, 124 Seiten, ISBN 978 3 446 26788 6
Der Feminismus, die weltweite Frauenbewegung hat einen weiten Weg zurückgelegt – der noch lange nicht zu Ende ist. Weltweit herrschen immer noch Verhältnisse, die Frauen systematisch benachteiligen. In Saudi-Arabien haben Frauen bis heute kein Recht auf freie Meinungsäusserung, sie dürfen nicht zusammen mit Männern studieren, und viele Dinge sind ohne Einwilligung eines männlichen Vormundes verboten. Weltweit hat sich in den vergangenen 150 Jahren viel getan, aber selbst in Europa verdienen Frauen immer noch deutlich weniger als Männer. Die auf US-amerikanische Geschichte spezialisierte Historikerin Jane Gerhard hat gemeinsam mit Dan Tucker dieses Coffee Table Book zur Geschichte des Feminismus herausgebracht.
„Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann.“ (Margaret Mead)
Warum ein Bildband? Bilder vermitteln die Dynamik und die emotionalen Botschaften sehr viel intensiver, als ein Text dies könnte. Und es geht auch darum, dass Bilder „die Besonderheiten einer Kultur, einer bestimmten Aufmachung, eines Auftritts und anderer Details, die einer Geschichte erst die Würze verleihen, besonders gut zu transportieren vermögen.“ (Seite 6)
Breit gestreute Themenfelder
Die Bilder (Fotos, Plakate, Gemälde) vermögen tatsächlich, einen sehr lebendigen Eindruck zu vermitteln. Sie zeigen hervorragend auf, wie Frauen aus vergangenen Zeiten und fremden Kulturen alle für eine Sache gekämpft haben: Gleichberechtigung.
Das Buch ist nach unterschiedlichen Themenfeldern gegliedert. Zunächst geht es um politische Mitbestimmung, insbesondere um das Recht zu wählen („Eine Stimme haben“). Hier wird die Situation in den USA sehr stark ins Zentrum gerückt. Dies ist natürlich vor allem dem Umstand geschuldet, dass das Buch eine Übersetzung ist und von US-AmerikanerInnen herausgegeben wurde. Beginnend bei der Seneca Falls Convention, die am 19. und 20. Juli 1848 in Seneca Falls (New York) abgehalten wurde und die „Declaration of Sentiments“ hervorbrachte, wird die Geschichte der Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten sehr gut in Wort und Bild vermittelt.
Interessant fand ich in diesem Zusammenhang auch die oftmals enge Verbindung zwischen der Frauenbewegung und der Abstinenzbewegung, weil Frauen extrem unter dem Alkoholmissbrauch ihrer Männer litten. Die grösste Abstinenzbewegung war die Woman’s Christian Temperance Union (WTCU). Auch die Situation in anderen Ländern (Grossbritannien, Deutschland, China, Saudi-Arabien…) wird aufgegriffen, aber in weitaus geringerem Umfang als diejenige in den USA.
Die weibliche Selbstbestimmung
New Yorker Zeitungs-Illustration aus dem Jahre 1870, die Amerikas erste und einflussreichste Frauenärztin Elisabeth Blackwell bei einer ihrer Anatomie-Lektionen zeigt
Im zweiten Kapitel, „Das Recht auf Selbstbestimmung“, geht es um Bürgerrechte und ganz zentral um das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Es werden beeindruckende Persönlichkeiten wie Elizabeth Blackwell vorgestellt, die als erste Ärztin der Vereinigten Staaten gilt und mehrere medizinische Hochschulen für Frauen gründete. Im Zusammenhang mit den Protesten von AbtreibungsbefürworterInnen fällt eine Person auf, die einen erstaunlichen Sinneswandel durchgemacht hat: Die ehemalige Aktivistin Norma McCorvey (Pseudonym Jane Roe), die noch 1989 für das Recht von Frauen, über ihren Körper selbst zu bestimmen demonstrierte, konvertierte 1994 zum Katholizismus und wurde zur Abtreibungsgegnerin, die ihre Rolle in der Frauenbewegung plötzlich bedauerte.
Das weitverbreitete Abtreibungsverbot
In vielen Ländern ist Abtreibung – selbst nach einer Vergewaltigung oder einer Gefährdung der Mutter – immer noch strikt verboten. In Irland hat das u.a. dazu geführt, dass ein 13-jähriges Vergewaltigungsopfer nicht nach England ausreisen durfte, um dort eine Abtreibung vornehmen zu lassen – und zum Tod einer Frau, bei der eine bereits beginnende Fehlgeburt festgestellt worden war, und die trotzdem nicht abtreiben durfte und schliesslich infolge einer Blutvergiftung starb. Seit 1984 gibt es in den USA (immer wieder durch einzelne Präsidenten gelockert), den Global Gag Rule (Globale Knebelvorschrift), die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Gesundheitswesen eine Aufklärung bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen verbietet – andernfalls droht eine vollständige Streichung der finanziellen Unterstützung durch die US-Regierung.
Die Gleichstellung der Ehepartner
Müssen Frauen gleichberechtigt sein – Strassen-Statements in den 1950er Jahren – Glarean Magazin
In „Raus aus dem Puppenhaus“ geht es um die Ehe und die wirtschaftlichen Rechte von Frauen. Die Gleichstellung der Ehepartner vor dem Gesetz ist dabei ebenso Thema wie die Kinderehe.
„We can do it“ widmet sich der Frau in der Arbeitswelt. Heute noch müssen vor allem Frauen unter katastrophalen Bedingungen arbeiten, die sie oft das Leben kosten. Die Brände in Textilfabriken haben insbesondere die Leben weiblicher Arbeiterinnen gefordert. Frauen verdienen immer noch weniger als Männer und müssen in vielen Fällen Haushalt und Pflege von Kindern und Alten zusätzlich zur Erwerbstätigkeit erledigen.
Sexismus und Rassismus
„Männliche Schönheitsvorstellungen prägten das Bild einer idealen Frau und waren damit Teil männlicher Machtausübung“
Im fünften Kapitel, „Im Auge des Betrachters“, rücken Frauenbilder in den Mittelpunkt. Männliche Schönheitsvorstellungen prägten das Bild einer idealen Frau und waren damit Teil männlicher Machtausübung. Feministische Künstlerinnen setzten dieser Tradition etwas entgegen und ermöglichten auf diese Weise eine Neuidentifikation mit dem weiblichen Äusseren.
Das letzte Kapitel schliesslich, „Gleiches Recht für alle“, widmet sich schliesslich der Gleichberechtigung aller Menschen, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht. Während sich die frühe Suffragettenbewegung weitgehend aus der Oberschicht rekrutierte, setzte sich im Lauf des vergangenen Jahrhunderts (u.a. in der zweiten Feminismuswelle in den 1970er Jahren) zusehends die Einsicht durch, dass es um Gleichberechtigung für alle Menschen gehen muss. Und so wird im im letzten Abschnitt die Überwindung von Rassismus sowie der Sexismus und die LGBTQIA-Bewegung untersucht.
Fokus auf dem Anglo-Amerikanischen
Den ungewöhnlichen, bis anhin kaum gesehenen Ansatz, einen Bildband über Feminismus zu veröffentlichen, finde ich grossartig. Die Umsetzung ist auch sehr gelungen. Ich empfehle, zunächst jeweils den Bildteil und anschliessend den Textteil (oder umgekehrt) durchzulesen, weil der Lesefluss sonst ständig durch den Bildteil (mit umfangreichen Bildunterschriften) unterbrochen wird.
Der Fokus liegt hier ganz klar auf dem anglo-amerikanischen Kulturraum, was ich anfangs etwas irritierend fand. Letztendlich wird aber auch die Entwicklung der weltweiten Frauenbewegung sehr gut umrissen. Ein schöner und gut lesbarer Bildband, den ich allen, die am Thema Feminismus interessiert sind, empfehlen kann. ♦
Lina Fritschi (1919–2016) war eine der grossen italienischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Nördlich der Alpen blieb sie trotz ihrer Schweizer Abstammung praktisch unbeachtet. Dies dürfte sich mit dem vorliegenden zweisprachigen Band „Ein anderer Traum / Un altro sogno“ ändern.
66 Gedichte hat der Übersetzer Christoph Ferber aus Lina Fritschis umfangreichem Werk ausgewählt, die Mehrzahl davon aus ihrem Schwanengesang „Poesie estreme“, im Jahr 2000 erschienen. Jede Doppelseite enthält konsequent links den italienischen Originaltext, rechts die deutsche Übersetzung. An der gesamten Gestaltung gibt es nichts zu bemängeln.
Der entgleitende Hintergrund
Das grosse Thema der Sammlung ist der Umgang mit Verlust, insbesondere dem frühen Tod ihres Ehemannes. Im Traum begegnet sie ihm immer wieder, ob in „Auch nach dem Tod“:
Auch nach dem Tod, hab ich gefragt. Auch nach dem Tod, hat er geantwortet – und gelächelt
… im titelgebenden „Ein anderer Traum“:
Immer verschwinden sie alle (…) Wenn ich mich an seine Schulter lehne und frage, wo denn die anderen seien, antwortet er, ich weiss nicht, das war ein anderer Traum.
… oder in den Betrachtungen zum Tavoliere:
Immer, jedes Jahr zu Weihnachten, kehrt diese Reise zurück. Und wir drei, der Zeit und dem Tod enthoben, spielen unsere Rolle vor dem uns entgleitenden Hintergrund.
Lina Fritschi schafft es, sich und den Leser davon zu überzeugen, dass sie in diesen Momenten glücklich ist.
Doch nicht jede Erinnerung endet so gut:
Doch war es Sommer? Ich weiss es nicht mehr, denn sogleich ist wie ein Falke der Winter auf mich gestürzt und hat unter Eis mich begraben
… heisst es in „Winter“. Und erst die Evidenz des Sarges lässt Fritschi den Tod ihres Gatten überhaupt zur Kenntnis nehmen:
Ich konnte dem Telegramm nicht glauben, ein Irrtum, sagte ich zum Soldaten, (…) tut mir leid, gnädige Frau, die Beerdigung findet in Lecce statt.
Auch der Vater stirbt in einem Gedicht, eine Freundin, eine Katze, der Sommer. Und als früheste Kindheitserinnerung ein junger Onkel, umrahmt – die vielleicht einzige humoristische Szene der Sammlung – von seinen beiden Verlobten.
Selbstreflexive Poesie
Ihren eigenen Tod spürt Lina Fritschi in zahlreichen Gedichten näherkommen, so etwa in Abschied:
Ich verabschiede mich von den Versen, vielleicht auch vom Leben.
… oder in „Naher Tod“:
Man sagt, im Alter, wenn der Wunsch nach Liebe zurückkehre, sei dies ein Zeichen des nahen Todes.
Teilweise wünscht sie den Tod auch herbei (in „Gebet“):
Wüsste ich nur zu welchem Gott beten, dass die Zeit, die mir bleibt, eiligst vergehe.
Als Grund dafür findet sich immer wieder ihre Blindheit, die ihr offensichtlich schwer zu schaffen gemacht hat. Diese war auch die Ursache dafür, dass sie ihre geliebte Heimat im Piemont verlassen musste, um sich in der Toskana von der Tochter versorgen zu lassen. Auch wenn das für uns deutsche Touristen nicht so weit klingt, liegt es immerhin 400 km auseinander.
Ein etwas zwiespältiges Verhältnis hat Fritschi zur Dichtkunst. Mal bezeichnet sie (in „Überlebt“) die Poesie als
Hexe, Gefährtin und Feindin. Auch jetzt noch bedrängst du mich, jetzt, wo ich alt bin.
… mal erklärt sie:
Ich habe keine Angst vor dem Wort, ich liebe es, manipuliere es, wälze es um.
… und lässt sich vorsorglich vom Pfarrer bescheinigen, dass dies gottgewollt sei („Noch ein Dialog“).
Lyrik-Sprache nahe an der Prosa
Die Sprache ist klar, direkt, konzise, oft lakonisch, oft nahe an der Prosa. Auffällig ist die Häufung von relativierenden Begriffen wie „forse“ („vielleicht“) und „a volte“ („manchmal“). Es gibt keine Reime, kein durchgehendes Metrum, noch nicht einmal Strophen. Die Vers-Aufteilung ist nur vereinzelt sinngebend. Es sind das durchwegs klar hervortretende lyrische Ich und seine reflektierende Beschäftigung mit seiner eigenen Stellung in der Welt, die die Texte fraglos zu Gedichten machen.
Die Übersetzung ist, soweit ich das mit meinen bescheidenen Italienisch-Kenntnissen beurteilen kann, gelungen. Natürlich ist Übersetzung immer auch Auslegung, aber nur an ganz wenigen Stellen hatte ich den Eindruck, dass der Sinn des Originals – nach meinem natürlich ebenso subjektiven Verständnis – verfehlt wurde, etwa wenn in Der Engel „L’avvertimento è una spada nel cuore“ mit „Die Warnung ist: im Herzen ein Schwert“ wiedergegeben wird anstatt mit „Die Warnung ist ein Schwert im Herzen“. Doch das Schöne an zweisprachigen Ausgaben ist, dass man sich auch dazu eine eigene Meinung bilden kann.
Anregungen für den Umgang mit Krankheit und Einsamkeit
Grösster Schwachpunkt des Buches ist das Nachwort, das sich ein bisschen wie der überlange Entwurf für einen Klappentext liest, die dürftigen biographischen und bibliographischen Angaben, die man im deutschsprachigen Internet findet, wenig liebevoll mit nochmaligem Abdruck einiger Gedichte aus dem Buch auf ein paar Seiten ausgedehnt. Aber natürlich, das darf man so deutlich sagen, ist das ein echtes Luxusproblem.
Wer Anregungen benötigt, wie man mit Verlust, Trauer, Krankheit, Einsamkeit oder Tod umgehen kann – und wer benötigt die nicht? –, wird in diesem Gedichtband von Lina Fritschi fündig. Definitive Kaufempfehlung. ♦
Lina Fritschi: Ein anderer Traum / Un altro sogno – Gedichte Italienisch und Deutsch, übersetzt von Christoph Ferber, 152 Seiten, Limmat-Verlag, ISBN 978-3-85791-896-4
Der Roman „Und jetzt bin ich hier“ von Jessica Andrews ist die Geschichte vom Lieben und Loslassen in einer Eltern-Kind-Familien-Beziehung. Ein poetisches Buch, ein wunderbares und wunderliches Buch, in dem eine Ich-Erzählerin in kurzen, mit Nummern betitelten Abschnitten, nicht chronologisch, aber stets ergänzend über das Bewusstwerden der eigenen Identität innerhalb der Familiengeschichte berichtet.
Eine junge Frau, die zunächst aus dem lauten London in ein geerbtes Cottage ihres grossvaters nach Irland zieht. Es sind keine linearen Beschreibungen, sondern kleine Aufmerksamkeiten von Alltäglichem, die sich zu einem Mosaik zusammensetzen, das ein fein gezeichnetes Bild von England und Irland der 80-er Jahre ergibt, äusserlich und innerlich. In genau beobachteten Gesten, z.B. wie sich jemand durch die Haare fährt, nähern wir uns anhand von Briefen und alltäglichen Gesprächsfetzen auch einer Liebesgeschichte, die lakonisch daher kommt: „’Darf ich dich küssen?’ fragt er und streckt die Hand nach mir aus. ‚Okay’, sage ich, gefangen in der Hitze seines Körpers.“
Durch Gefühlsvignetten ins Unterbewusstsein
Lucy, die Ich-Erzählerin, die sich mal an die Mutter wendet, mal an uns, ihre Leserschaft, arbeitet sich durch Gefühlsvignetten und kleine Episoden seit der Kindheit bis in die Gegenwart als junge Frau, ins eigene Unterbewusstsein. Der geliebte Vater war Alkoholiker und Lucy denkt: „… man kann geliebt und zugleich verlassen werden.“ Sätze über ihre Eltern wie: „Der Abstand zwischen ihnen glänzte scharf“ sagen auf eine poetische und im Kontext ungekünstelte Weise vieles über die Gefühlszustände aus.
Jessica Andrews beschreibt die Protagonisten anhand von Andeutungen verschiedener Sinneseindrücke, präzise und nie denunzierend, obwohl es die Eltern der Tochter nicht leicht gemacht haben. „Parfüm und Tee und der Rauch von seinen Zigaretten, wunderbar und widerlich zugleich.“ Der Vater verschwand immer wieder, und doch hinterliess er Liebe bei seinen Kindern. Der Bruder wurde taub geboren, aber es gab die Zeichensprache. Die Autorin vermag einzigartig auch die Ruhe und die besondere Form von unterschiedlichen Kommunikationen zu schildern.
Wer Freude hat an geschliffener, feinfühliger Literatur (mit Betonung auf Literatur), voller sehr schöner Beobachtungen, in Bildern eingefangen, die einen staunen oder auch schmunzeln lassen – Zitat: „… auf dem Teppich gesaugte Streifen wie beim gemähten Rasen.“ -, wer Freude hat an einem poetisch suchenden Roman, der findet hier eine leichtfüssige Lektüre. Mehrere Generationen entfalten da punktuell ihren Lebensteppich, und doch geht es schlussendlich um die Gegenwart. Die Gegenwart einer jungen Frau, die auch eine Liebesgeschichte lebt. Lucy lernt sich selber durch die Erinnerungen gut bis in die tiefste Seele kennen. In Gedanken wie „Ich will Üppiges, Schmutziges. Ich will Dunkles, Whiskey und Blutflecken… Das Verlangen in meinen Knochen habe ich von dir. Du stellst deine Bedürfnisse zurück, weil du für andere sorgen musst…“ wendet sie sich an ihre Mutter.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert, deren allmähliches Wachstum eine erfolgreiche, menschliche Reifung darstellt. „Und jetzt bin ich hier“ könnte all jenen gefallen, die sich gerne durch stellvertretende Bilder im familiären Rahmen dem Kern des Seins nähern. Ein grosses Sprachvergnügen ist dieser Roman, geschrieben von einer jungen Frau. ♦
Jessica Andrews: Und jetzt bin ich hier, Roman, aus dem Englischen von Anke Caroline Burger, 328 Seiten, Hoffmann und Campe Verlag, ISBN 978-3-455-00821-0
Wer sich mit der Lyrik des 20. Jahrhunderts beschäftigt, kommt an Sarah Kirsch (1935-2013) nicht vorbei. Anlässlich des 85. Geburtstages der Dichterin hat ihr Sohn einen Band „Freie Verse – 99 Gedichte“ mit einer Auswahl von 80 alten und 19 „neuen“ Gedichten herausgegeben. Am Inhalt gibt es dabei kaum etwas zu bemängeln, die Ausführung fällt dagegen ein bisschen ab.
Der Titel der Sammlung „Freie Verse“ bezieht sich nicht nur auf die bekannte Vorliebe der Dichterin, von Formalitäten wie Metrum und Reim möglichst die Finger zu lassen, sondern auch auf das gleichnamige Gedicht – es gehört zu den „alten“ Texten im Buch –, wo es von Versen heisst: „Sie müssen hinaus / In die Welt. Es ist nicht möglich sie / Ewig! hier unter dem Dach zu behalten.“
Und glaubt man den Angaben des Herausgebers, sind die neuen Gedichte genau dort, auf dem Dachboden, gefunden worden.
Gelungene Textauswahl
Die Textauswahl ist durchaus gelungen. Im ersten Teil, den 80 bereits veröffentlichten Texten, finden sich neben Klassikern wie Datum und Reisezehrung auch zahlreiche lesenswerte Gedichte, die zumindest mir noch nicht bekannt waren. So geht es in Die Verdammung um einen Prometheus, der seine Strafe längst abgesessen hat, aber sich aus Gewohnheit weiter quälen lässt: „(…) Als die Ketten zerfielen der Gott / Müde geworden an ihn noch zu denken / (…) / Gelang es ihm nicht sich erheben den / Furchtbaren Ort für immer verlassen (…)“. Neben Gedichten enthält die Sammlung auch eine Handvoll Notate, etwa das bekannte Im Glashaus des Schneekönigs; es mag meiner mangelnden Flexibilität geschuldet sein, aber auf mich machen diese Prosatexte immer den Eindruck, dass die Deadline zu früh kam…
Der zweite Teil ist überschrieben mit „Neunzehn neue Gedichte“. Dabei ist das Wort „neu“ für Gedichte aus den frühen 70er Jahren natürlich genauso problematisch wie der im Klappentext verwendete Begriff „unveröffentlicht“, wenn – wie im Nachwort erklärt wird – fünf dieser Texte bereits vor drei Jahren im Poesiealbum erschienen sind.
An erster Stelle zu nennen (und auch abgedruckt) ist Ahrenshooper Sommer. Dort heisst es: „(…) Ach das Meer ist aus blauem Glas / hervorströmts unterm Scheinwerferlid / ach die Soldaten leuchten so schön / dass niemand nach Dänemark zieht“. Kein Zweifel, dass das in der DDR ein hochpolitischer Text war. Ob das Gedicht aber wirklich gerade deshalb der Selbstzensur unterfallen ist, wie der Herausgeber behauptet, erscheint fraglich. Es ist das einzige „klassische“ Gedicht im gesamten Buch, mit Reim und durchgängigem Metrum; dass es schlichtweg in keinen ihrer zahlreichen Bände so richtig gepasst hat (und vielleicht irgendwann vergessen wurde), kommt mir wesentlich plausibler vor.
Auffällig ist weiter, dass im zweiten Teil die Zahl der Enjambements – die man wohl getrost als das wichtigste und typischste Stilmittel Kirschs ansehen kann – deutlich reduziert ist. Bärenhäuter etwa beginnt: „Traf einen der Schwalben ass / die Taschen hatte er voller Nester / Flüche und Schnaps im Mund / (…)“. Man vergleiche dies beispielsweise mit Russ aus dem ersten Teil: „Die Touristen sind letztlich / Gestorben. Ich habe Lust durch die / Sümpfe zu gehen. Gänseschwarm / (…)“.
Aus meiner Sicht liegt es nahe, dass Kirsch die Gedichte in erster Linie aus solchen literarischen Gründen nicht veröffentlicht hat. Die Texte scheinen mir jedenfalls politisch nicht problematischer zu sein als so manche andere, die noch in ihrer DDR-Zeit erschienen sind.
Die politische Dichterin
Gruppenbild mit Dame: Schriftstellerlesung in Berlin (DDR) am 10.Mai.75. Motto der Jahrestagung: „Plädoyer für Poesie“. Von links nach rechts: Günther Deicke, Volker Braun, Sarah Kirsch, Wieland Herzfelde, Günther Rücker, Franz Fühmann, Stephan Hermlin
Dieses emphatische Bemühen des Herausgebers, Sarah Kirsch als politische Dichterin „entdecken“ zu wollen, ist überhaupt mein grösster Kritikpunkt an dem Buch. Eine Frau mit dem bürgerlichen Vornamen Ingrid, die sich aus Protest gegen den Nationalsozialismus das Pseudonym Sarah zulegt; die zu den Erstunterzeichnern der Protesterklärung gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann gehörte – sogar an allererster Stelle – und dann erwartbarer Weise ebenfalls das Land verlassen musste; die dann im Westen aus Protest gegen die NS-Vergangenheit von Bundespräsident Carstens das Bundesverdienstkreuz ablehnte; für die der Herausgeber selbst 80 bereits veröffentlichte politische Gedichte findet; eine solche Frau als politische Dichterin erst entdecken zu wollen, ist mutig.
Empfehlung für Kirsch-Unkundige
Ansonsten gibt es noch ein paar kleine störende Punkte. Nennen Sie mich oberflächlich, doch die Umschlaggestaltung des Buchs mit dicken, rot-weissen, dreidimensionalen Buchstaben auf einem blass-grünen Untergrund animiert mich nicht unbedingt zum Kauf. Fairerweise muss man dazu sagen, dass es auf Papier weniger schlimm aussieht als in der glatten Online-Version.
Warum man 19 unveröffentlichte Gedichte bewirbt, wenn davon fünf bereits veröffentlicht wurden, ist mir ein Rätsel.
Und sehr schade ist es gerade bei einer solchen Querschnitt-Ausgabe mit dem Fokus auf politische Gedichte, dass zu den einzelnen Texten kein Entstehungs- oder wenigstens Erstveröffentlichungsjahr angegeben ist. Das würde die Einordnung doch deutlich erleichtern.
Insgesamt ist das Buch aber eine Empfehlung für jeden Fan von Sarah Kirsch, der hier neues, lesenswertes Material geliefert bekommt, und eine noch deutlichere Empfehlung für jeden, der sich bisher nicht näher mit Sarah Kirsch beschäftigt hat und die wichtigsten Gedichte in schöner Auswahl erhält. ♦