Einfall gleich Ausfall die Bande über den Spiegel genommen im Kristall ein ungebügeltes Hemd Buchrücken gestapelte Wünsche hinter einem schiefen Regal eine verbotene Tür
wir äugen.
FORT
achtend ich
was reifen darf
in zyklischen Kaskaden
fordert Treibgut Strände ein
um die Ausgeglichenheit zu wahren
mehrt vielleicht mein Zorn
sich still zur Fläche hin
die Springflut der
Erinnerung.
Geb. 1992, Studium an der Hochschule für Musik Karlsruhe, langjähriges Mitglied im Bundes-Jugendorchester, seit 2016 Lyrik-Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften, 2020 Abschluss des Medizin-Studiums, lebt als Arzt in Freiburg/Breisgau (BRD)
wellen / ein ton wächst ins haar / gesang aus unruhiger tiefe / luft dröhnt / klippen ragen/ möwen schrei / schäumende gischt / schaudern überläuft die felsen / treibholz und fleisch / totengesang
mit möwenstaccato an a.
hörst du es? übertönt das rauschen. die schattenhand in den dünen. sand rieselt singt.
meine schulter gelehnt an den zaun. der morgen wirft seinen hut in die luft. grüßt.
Geb. 1948 in Wuppertal/D, Erzieherin, Musikalienhändlerin, Lyrik-Veröffentlichungen in Anthologien, Online-Magazinen und Literaturzeitschriften, von 2010 bis 2018 Literaturprojekte mit der Gruppe „HandvollReim“, seit 2003 Lesungen/Themenlesungen, lebt in in der Nähe von Stuttgart
Das japanische Kurzgedicht Tanka ist eine über 1’300 Jahre alte, reimlose Lyrik-Form mit 31 gewichteten Silben (Moren) im Rhythmus 5-7-5 (Oberstollen) und 7-7 (Unterstollen).
Unser Herbst-Gedicht des Tages „Wenn das Herbstlaub fällt“ stammt von dem japanischen Lyriker Minamoto Yorizane. Er war ein Dichter der Haian-Zeit und lebte von 1015 bis 1044. ♦
Lili Reinhart, US-amerikanische Schauspielerin und Aktivistin, hat Ende September ’20 ihr erstes Buch „Swimming Lessons“ veröffentlicht. Keine zwei Wochen später hat Fischer bereits eine zweisprachige Ausgabe (dt. Titel: „freischwimmen“) herausgegeben. Dass diese Entscheidung mehr auf der Bekanntheit der Autorin beruht als auf der Qualität des Werks, liegt nahe. Aber versuchen wir, vorurteilsfrei heranzugehen.
Was als erstes auffällt: Das gebundene Buch ist ziemlich dick, eher wie ein Roman als ein Gedichtband. Kein Schutzumschlag. Auch kein Lesebändchen. Zielgruppe ist vielleicht nicht der klassische Lyrikleser.
Die Einsparungen gehen im Inneren weiter: Es gibt keine Seitenzahlen (ungefähr 270 Seiten dürften es nach meiner Zählung sein, darunter einige leere und einige nur mit Illustrationen), kein Inhaltsverzeichnis. Das Fehlen der Seitenzahlen ist besonders deshalb störend, weil nur eine Handvoll Texte so etwas wie einen Titel hat. Die Kurzbiographie macht die Autorin gleich einmal um sechs Jahre älter.
Der eigentliche Inhalt besteht aus gut hundert „Gedichten“ – auf die Anführungszeichen werde ich noch zurückkommen – im Umfang zwischen zwei Zeilen und sechs Seiten. Die Übersetzung findet sich jeweils im Anschluss an den Originaltext, für den Leser deutlich unpraktischer als eine links/rechts-Aufteilung. Auch mit bloßen Schulkenntnissen sollte man allerdings keine größeren Schwierigkeiten mit dem englischen Text haben.
Liebe und Liebeskummer
Lili Reinhart (geb. 1996)
Der weitaus größte Teil der Gedichte dreht sich um Liebe und Liebeskummer. Dazwischen finden sich einzelne Texte, in denen Lili Reinhart sich mit ihren Dämonen auseinandersetzt; dies sind auch die einzigen, die ernsthaft lesenswert sind. So erklärt sie etwa: „This is how I explain it to someone / who can’t fully understand. (…) This is you, every day. (…) Elated. High. Full of energy (…) Of course I am able to feel these things. It’s / harder to achieve, but I can get there. // It’s just that I’ll have / a greater fall back down to reality. (…)” Eine der konzisesten Beschreibungen einer leichten Depression, die ich je gelesen habe.
Ein bisschen dunkler wird es mit: „I tried explaining to my mother why / I was crying this morning. // It’s always different, / the reason or the circumstance. (…) Sometimes it just feels like sadness, / like a dark shadow / mirroring my every move. (…) I want to be alone, unbothered // And then I feel guilty / for being cold (…) Innocent volunteers that I’m / shutting down. (…)“
Ohne inhaltlichen Anspruch
Leider gibt es nur wenige dieser relevanten Texte. Der ganz überwiegende Teil klingt wie: „Of all the elements, // I’ll say that I’m snow, // melting on impact // from your warmth”
oder: „It is a privilege to know you / in such a way that no one else does. // To be the someone who sees / your intimate self so completely”
Es sind Texte, wie sie jeder zweite Teenager in sein Tagebuch kritzelt, ohne besonderen inhaltlichen oder sprachlichen Anspruch.
Zurück zu den Anführungszeichen. Ungeachtet formaler Definitionen wirken die Texte nicht wie Gedichte. Ja, es gibt Verse, es gibt Strophen – wobei ein sehr großer Teil der Strophen nur aus einem einzigen Vers besteht –, es gibt ein Ich. Doch das Ich hört sich an wie der Sprecher eines Textes; die Aufteilung in Verse und Strophen scheint kaum inhaltliche oder klangliche Bedeutung zu haben, sondern nur kürzere oder längere Sprechpausen zu markieren.
Das Buch ist kein Gedichtband. Es ist eine Zitatsammlung. Reinharts Zitate aus der Rolle ihres Lebens, einer fiktiven Telenovela, in der die Hauptdarstellerin sich immer wieder unsterblich verlieben darf, immer wieder enttäuscht wird, ihrem Schatz Liebeserklärungen macht, ihn mit einer anderen sieht, ihn anschreit, verflucht, mit einer Freundin banale Diskussionen über den Sinn des Lebens führt, und ab und zu einmal einen großartigen Monolog halten darf.
Und erstaunlicherweise: Wenn man das Buch so liest, dann wird es plötzlich stimmig. Dann vermisst man keine Gedichttitel mehr, keine Seitenzahlen. Dann sind Pathos und Banalität keine lästigen Begleiter mehr, sondern notwendige Voraussetzungen für ein Gelingen. Und die guten Texte werden zu den Sternstunden der Serie und von den Fans hundertfach auf Pinterest gepostet.
Der durchschnittliche Lyrikleser wird dieses Buch nicht unbedingt benötigen. Als Weihnachtsgeschenk für einen Teenager, dem er das Konzept von Lyrik näherbringen möchte, scheint es mir aber bestens geeignet.
Lili Reinhart: Swimming Lessons / freischwimmen, zweisprachige Ausgabe englisch/deutsch, übersetzt von Anna Julia Strüh, 272 Seiten, FISCHER New Media, ISBN 978-3-7335-0615-5
Lina Fritschi (1919–2016) war eine der grossen italienischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Nördlich der Alpen blieb sie trotz ihrer Schweizer Abstammung praktisch unbeachtet. Dies dürfte sich mit dem vorliegenden zweisprachigen Band „Ein anderer Traum / Un altro sogno“ ändern.
66 Gedichte hat der Übersetzer Christoph Ferber aus Lina Fritschis umfangreichem Werk ausgewählt, die Mehrzahl davon aus ihrem Schwanengesang „Poesie estreme“, im Jahr 2000 erschienen. Jede Doppelseite enthält konsequent links den italienischen Originaltext, rechts die deutsche Übersetzung. An der gesamten Gestaltung gibt es nichts zu bemängeln.
Der entgleitende Hintergrund
Das grosse Thema der Sammlung ist der Umgang mit Verlust, insbesondere dem frühen Tod ihres Ehemannes. Im Traum begegnet sie ihm immer wieder, ob in „Auch nach dem Tod“:
Auch nach dem Tod, hab ich gefragt. Auch nach dem Tod, hat er geantwortet – und gelächelt
… im titelgebenden „Ein anderer Traum“:
Immer verschwinden sie alle (…) Wenn ich mich an seine Schulter lehne und frage, wo denn die anderen seien, antwortet er, ich weiss nicht, das war ein anderer Traum.
… oder in den Betrachtungen zum Tavoliere:
Immer, jedes Jahr zu Weihnachten, kehrt diese Reise zurück. Und wir drei, der Zeit und dem Tod enthoben, spielen unsere Rolle vor dem uns entgleitenden Hintergrund.
Lina Fritschi schafft es, sich und den Leser davon zu überzeugen, dass sie in diesen Momenten glücklich ist.
Doch nicht jede Erinnerung endet so gut:
Doch war es Sommer? Ich weiss es nicht mehr, denn sogleich ist wie ein Falke der Winter auf mich gestürzt und hat unter Eis mich begraben
… heisst es in „Winter“. Und erst die Evidenz des Sarges lässt Fritschi den Tod ihres Gatten überhaupt zur Kenntnis nehmen:
Ich konnte dem Telegramm nicht glauben, ein Irrtum, sagte ich zum Soldaten, (…) tut mir leid, gnädige Frau, die Beerdigung findet in Lecce statt.
Auch der Vater stirbt in einem Gedicht, eine Freundin, eine Katze, der Sommer. Und als früheste Kindheitserinnerung ein junger Onkel, umrahmt – die vielleicht einzige humoristische Szene der Sammlung – von seinen beiden Verlobten.
Selbstreflexive Poesie
Ihren eigenen Tod spürt Lina Fritschi in zahlreichen Gedichten näherkommen, so etwa in Abschied:
Ich verabschiede mich von den Versen, vielleicht auch vom Leben.
… oder in „Naher Tod“:
Man sagt, im Alter, wenn der Wunsch nach Liebe zurückkehre, sei dies ein Zeichen des nahen Todes.
Teilweise wünscht sie den Tod auch herbei (in „Gebet“):
Wüsste ich nur zu welchem Gott beten, dass die Zeit, die mir bleibt, eiligst vergehe.
Als Grund dafür findet sich immer wieder ihre Blindheit, die ihr offensichtlich schwer zu schaffen gemacht hat. Diese war auch die Ursache dafür, dass sie ihre geliebte Heimat im Piemont verlassen musste, um sich in der Toskana von der Tochter versorgen zu lassen. Auch wenn das für uns deutsche Touristen nicht so weit klingt, liegt es immerhin 400 km auseinander.
Ein etwas zwiespältiges Verhältnis hat Fritschi zur Dichtkunst. Mal bezeichnet sie (in „Überlebt“) die Poesie als
Hexe, Gefährtin und Feindin. Auch jetzt noch bedrängst du mich, jetzt, wo ich alt bin.
… mal erklärt sie:
Ich habe keine Angst vor dem Wort, ich liebe es, manipuliere es, wälze es um.
… und lässt sich vorsorglich vom Pfarrer bescheinigen, dass dies gottgewollt sei („Noch ein Dialog“).
Lyrik-Sprache nahe an der Prosa
Die Sprache ist klar, direkt, konzise, oft lakonisch, oft nahe an der Prosa. Auffällig ist die Häufung von relativierenden Begriffen wie „forse“ („vielleicht“) und „a volte“ („manchmal“). Es gibt keine Reime, kein durchgehendes Metrum, noch nicht einmal Strophen. Die Vers-Aufteilung ist nur vereinzelt sinngebend. Es sind das durchwegs klar hervortretende lyrische Ich und seine reflektierende Beschäftigung mit seiner eigenen Stellung in der Welt, die die Texte fraglos zu Gedichten machen.
Die Übersetzung ist, soweit ich das mit meinen bescheidenen Italienisch-Kenntnissen beurteilen kann, gelungen. Natürlich ist Übersetzung immer auch Auslegung, aber nur an ganz wenigen Stellen hatte ich den Eindruck, dass der Sinn des Originals – nach meinem natürlich ebenso subjektiven Verständnis – verfehlt wurde, etwa wenn in Der Engel „L’avvertimento è una spada nel cuore“ mit „Die Warnung ist: im Herzen ein Schwert“ wiedergegeben wird anstatt mit „Die Warnung ist ein Schwert im Herzen“. Doch das Schöne an zweisprachigen Ausgaben ist, dass man sich auch dazu eine eigene Meinung bilden kann.
Anregungen für den Umgang mit Krankheit und Einsamkeit
Grösster Schwachpunkt des Buches ist das Nachwort, das sich ein bisschen wie der überlange Entwurf für einen Klappentext liest, die dürftigen biographischen und bibliographischen Angaben, die man im deutschsprachigen Internet findet, wenig liebevoll mit nochmaligem Abdruck einiger Gedichte aus dem Buch auf ein paar Seiten ausgedehnt. Aber natürlich, das darf man so deutlich sagen, ist das ein echtes Luxusproblem.
Wer Anregungen benötigt, wie man mit Verlust, Trauer, Krankheit, Einsamkeit oder Tod umgehen kann – und wer benötigt die nicht? –, wird in diesem Gedichtband von Lina Fritschi fündig. Definitive Kaufempfehlung. ♦
Lina Fritschi: Ein anderer Traum / Un altro sogno – Gedichte Italienisch und Deutsch, übersetzt von Christoph Ferber, 152 Seiten, Limmat-Verlag, ISBN 978-3-85791-896-4
Sagen Sie, was kann man da machen? Da kann man nichts machen, denn da ist nichts zu machen. Wenn da nichts zu machen ist, ist nichts zu machen. Warum wollen Sie etwas machen, das führt stets zu nichts. Wenn nichts zu nichts führt, führt nichts zu etwas. Etwas ist immer nichts, deshalb ist etwas nichts. Also ist nichts nichts und etwas ist auch nichts. Da ist nichts zu machen, da hilft alles nichts. Na sagen Sie mal, da hört alles auf
Wer sich mit der Lyrik des 20. Jahrhunderts beschäftigt, kommt an Sarah Kirsch (1935-2013) nicht vorbei. Anlässlich des 85. Geburtstages der Dichterin hat ihr Sohn einen Band „Freie Verse – 99 Gedichte“ mit einer Auswahl von 80 alten und 19 „neuen“ Gedichten herausgegeben. Am Inhalt gibt es dabei kaum etwas zu bemängeln, die Ausführung fällt dagegen ein bisschen ab.
Der Titel der Sammlung „Freie Verse“ bezieht sich nicht nur auf die bekannte Vorliebe der Dichterin, von Formalitäten wie Metrum und Reim möglichst die Finger zu lassen, sondern auch auf das gleichnamige Gedicht – es gehört zu den „alten“ Texten im Buch –, wo es von Versen heisst: „Sie müssen hinaus / In die Welt. Es ist nicht möglich sie / Ewig! hier unter dem Dach zu behalten.“
Und glaubt man den Angaben des Herausgebers, sind die neuen Gedichte genau dort, auf dem Dachboden, gefunden worden.
Gelungene Textauswahl
Die Textauswahl ist durchaus gelungen. Im ersten Teil, den 80 bereits veröffentlichten Texten, finden sich neben Klassikern wie Datum und Reisezehrung auch zahlreiche lesenswerte Gedichte, die zumindest mir noch nicht bekannt waren. So geht es in Die Verdammung um einen Prometheus, der seine Strafe längst abgesessen hat, aber sich aus Gewohnheit weiter quälen lässt: „(…) Als die Ketten zerfielen der Gott / Müde geworden an ihn noch zu denken / (…) / Gelang es ihm nicht sich erheben den / Furchtbaren Ort für immer verlassen (…)“. Neben Gedichten enthält die Sammlung auch eine Handvoll Notate, etwa das bekannte Im Glashaus des Schneekönigs; es mag meiner mangelnden Flexibilität geschuldet sein, aber auf mich machen diese Prosatexte immer den Eindruck, dass die Deadline zu früh kam…
Der zweite Teil ist überschrieben mit „Neunzehn neue Gedichte“. Dabei ist das Wort „neu“ für Gedichte aus den frühen 70er Jahren natürlich genauso problematisch wie der im Klappentext verwendete Begriff „unveröffentlicht“, wenn – wie im Nachwort erklärt wird – fünf dieser Texte bereits vor drei Jahren im Poesiealbum erschienen sind.
An erster Stelle zu nennen (und auch abgedruckt) ist Ahrenshooper Sommer. Dort heisst es: „(…) Ach das Meer ist aus blauem Glas / hervorströmts unterm Scheinwerferlid / ach die Soldaten leuchten so schön / dass niemand nach Dänemark zieht“. Kein Zweifel, dass das in der DDR ein hochpolitischer Text war. Ob das Gedicht aber wirklich gerade deshalb der Selbstzensur unterfallen ist, wie der Herausgeber behauptet, erscheint fraglich. Es ist das einzige „klassische“ Gedicht im gesamten Buch, mit Reim und durchgängigem Metrum; dass es schlichtweg in keinen ihrer zahlreichen Bände so richtig gepasst hat (und vielleicht irgendwann vergessen wurde), kommt mir wesentlich plausibler vor.
Auffällig ist weiter, dass im zweiten Teil die Zahl der Enjambements – die man wohl getrost als das wichtigste und typischste Stilmittel Kirschs ansehen kann – deutlich reduziert ist. Bärenhäuter etwa beginnt: „Traf einen der Schwalben ass / die Taschen hatte er voller Nester / Flüche und Schnaps im Mund / (…)“. Man vergleiche dies beispielsweise mit Russ aus dem ersten Teil: „Die Touristen sind letztlich / Gestorben. Ich habe Lust durch die / Sümpfe zu gehen. Gänseschwarm / (…)“.
Aus meiner Sicht liegt es nahe, dass Kirsch die Gedichte in erster Linie aus solchen literarischen Gründen nicht veröffentlicht hat. Die Texte scheinen mir jedenfalls politisch nicht problematischer zu sein als so manche andere, die noch in ihrer DDR-Zeit erschienen sind.
Die politische Dichterin
Gruppenbild mit Dame: Schriftstellerlesung in Berlin (DDR) am 10.Mai.75. Motto der Jahrestagung: „Plädoyer für Poesie“. Von links nach rechts: Günther Deicke, Volker Braun, Sarah Kirsch, Wieland Herzfelde, Günther Rücker, Franz Fühmann, Stephan Hermlin
Dieses emphatische Bemühen des Herausgebers, Sarah Kirsch als politische Dichterin „entdecken“ zu wollen, ist überhaupt mein grösster Kritikpunkt an dem Buch. Eine Frau mit dem bürgerlichen Vornamen Ingrid, die sich aus Protest gegen den Nationalsozialismus das Pseudonym Sarah zulegt; die zu den Erstunterzeichnern der Protesterklärung gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann gehörte – sogar an allererster Stelle – und dann erwartbarer Weise ebenfalls das Land verlassen musste; die dann im Westen aus Protest gegen die NS-Vergangenheit von Bundespräsident Carstens das Bundesverdienstkreuz ablehnte; für die der Herausgeber selbst 80 bereits veröffentlichte politische Gedichte findet; eine solche Frau als politische Dichterin erst entdecken zu wollen, ist mutig.
Empfehlung für Kirsch-Unkundige
Ansonsten gibt es noch ein paar kleine störende Punkte. Nennen Sie mich oberflächlich, doch die Umschlaggestaltung des Buchs mit dicken, rot-weissen, dreidimensionalen Buchstaben auf einem blass-grünen Untergrund animiert mich nicht unbedingt zum Kauf. Fairerweise muss man dazu sagen, dass es auf Papier weniger schlimm aussieht als in der glatten Online-Version.
Warum man 19 unveröffentlichte Gedichte bewirbt, wenn davon fünf bereits veröffentlicht wurden, ist mir ein Rätsel.
Und sehr schade ist es gerade bei einer solchen Querschnitt-Ausgabe mit dem Fokus auf politische Gedichte, dass zu den einzelnen Texten kein Entstehungs- oder wenigstens Erstveröffentlichungsjahr angegeben ist. Das würde die Einordnung doch deutlich erleichtern.
Insgesamt ist das Buch aber eine Empfehlung für jeden Fan von Sarah Kirsch, der hier neues, lesenswertes Material geliefert bekommt, und eine noch deutlichere Empfehlung für jeden, der sich bisher nicht näher mit Sarah Kirsch beschäftigt hat und die wichtigsten Gedichte in schöner Auswahl erhält. ♦
Das japanische Kurzgedicht Tanka ist eine über 1’300 Jahre alte, reimlose Lyrik-Form mit 31 gewichteten Silben (Moren) im Rhythmus 5-7-5 (Oberstollen) und 7-7 (Unterstollen).
Unser Frühlings-Gedicht des Tages „Weil die Nachtigall“ stammt von der japanischen Lyrikerin und Nonne Nomuro Bôtô (Moton Nomura). Sie war eine Dichterin der späten königlichen Tokugawa-Ära und lebte von 1806 bis 1867, also gegen Ende der Edo-Periode. ♦
„Gedichte werden nie aussterben! Die jungen Leute heute glauben, das Digitale sei die Lösung. Aber jeder von diesen Schülern kann mindestens ein Dutzend Pop-Songs auswendig, auch den Text. Und was ist der Text eines Pop-Songs? Er ist, technisch gesprochen, ein Gedicht! Also, das wird nicht verschwinden.
Oder die alte Frau, die betet: „Vater unser…“. Was ist das anderes als ein Gedicht! Oder der Fussballer, der die Nationalhymne singt – was ist denn das? Das sind alles Gedichte!
Also, ich habe keine Angst, dass das Gedicht ausstirbt…“
Karikatur von Theo Zasche: „Schach! Schach!“ (Polit-Schlacht auf dem Brett…)
Die harte Schlacht wogt lang schon hin und her. Der Brite scheint die Oberhand zu haben, das schwarze Heer liegt still im Schützengraben – die Defensive hält, da geht nichts mehr.
Der König schläft gemütlich im Palast. Der Krieg, die Schlacht, das Sterben, sie sind weit. Was kümmert den Monarchen wohl das Leid? Es sind ja nur Soldaten, keine Hast.
Dann dringen doch die Rufe an sein Ohr: „Oh grosser König, rette uns, wir hungern, lass uns nicht länger in der Fremde lungern.“ Und er erwacht und schwingt sich schnell empor.
Er bricht auf! Zu Fuss! Ohne Pferde! Ohne Garde! Er marschiert! Und marschiert! Und marschiert! Und marschiert! Und kein Feind – nicht Streitross, nicht Wachturm, nicht Bauer – hält ihn auf.
Nach langem Marsch steht er vor seinem Ziel. Dem dunklen König sieht er in die Augen. „Du weisst, ein Fluchtversuch wird nichts mehr taugen, und zur Verteidigung hast Du nicht viel.“
Es dauert etwas, bis der Feind kapiert, und endlich aufgibt. Friede allen Ländern! Die Welt wird diese Wanderung verändern. Sie hat auch mich – wie viele – inspiriert.
Stefan Walter
Geb. 1978, Autor von Lyrik und Kurzprosa, passionierter Schachspieler, lebt mit seiner Familie als Rechtsanwalt in Neuburg/D
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Lesen Sie im Glarean Magazin ausserdem zum Thema Schach und Literatur über den Schach-Roman von Viola Sanden: Playground Chess
Wenn man die neuen (eher kurzen) Gedichte in „Flügel zum Nichtfliegen“ des Basler Schriftstellers Roger Monnerat nacheinander liest – sagen wir jeden Abend ein paar, was durchaus möglich ist -, dann stellt sich nach und nach der Eindruck ein, hier beschreibe einer ein Leben. Vermutlich sein eigenes, denn er scheint ziemlich vertraut damit zu sein.
Zumeist sind es alltägliche Situationen, die Monnerat beschreibt. Das erste Gedicht beginnt tatsächlich mit dem Aufwachen am Morgen, und das einzig Unerwartete ist, dass die Erde stehen bleibt, während der Protagonist aufsteht, obwohl er ihr doch befohlen hat, sich weiterzudrehen – aber daraus folgt nichts.
Und so geht es weiter. Manchmal stutzt man, so beim Gedicht Nr. 3, wo Monnerat seinen Garten beschreibt und plötzlich fragt: „Wie sähe unser Brunnen / für die toten Kinder aus?“
Aber das gehört natürlich dazu, denn eine Lyrik, die man immer weiterlesen kann, ohne auch nur einmal den Kopf zu heben und zu blinzeln, ist zumindest in der Moderne nicht vorgesehen.
Mit der Kawasaki nach Italien
Abgehoben sind die Gedichte jedenfalls nicht. Tankstellen kommen vor, eine Kawasaki 550, mit der der Protagonist nach Italien fährt, auch von Sexualität ist die Rede. Zitat:
66
Monotone Stunden auf der Autobahn. Zigaretten angebrannt und hinübergereicht, im Radio Musik, die wegrauscht und wiederkehrt.
Später kleine Städte, die Namen gleich wieder vergessen, aber vom letzten Mal erinnert, ein Bistro, mit Spiegeln an den Wänden. Gegenüber ein Tabac und unter Platanen alte Männer auf Stühlen im langen steinernen Brunnentrog plantschen Kinder.
Petra Krause hat das gemocht. Werner Sauber, auf dem Weg hinunter ans Meer.
Eigentlich bräuchte es keine Zeilenbrüche. Es könnte auch der Anfang einer Reisebeschreibung sein. Nur die letzten beiden Zeilen irritieren, weil man nicht weiss, ob das eine Erinnerung an Menschen ist, die man nicht kennt, oder eine Metapher, die man nicht versteht.
Manchmal setzt Monnerat sich auch mit der Lyrik anderer Dichter auseinander. So zum Beispiel in Gedicht Nr. 75 mit William Carlos Williams berühmtem Poem So much depends on a red wheel barrow:
75
Ob viel von der mit Regenwasser gefüllten roten Stosskarette unter weissen Hühnern abhängt, ist Ansichtssache
Gut gemacht scheint mir Cyrano de Bergeracs Nachtigall die, auf einem hohen Ast sitzend, sich tief unten im hellen Bach zwischen den Steinen gespiegelt sieht und glaubt, sie sei ertrunken.
Gewiss kann man über Williams‘ Gedicht diskutieren, weil es so kurz und scheinbar banal ist, aber ob man darüber wiederum ein Gedicht schreiben sollte, erscheint mir doch fragwürdig.
Andere Gedichte erzählen in kurzen Skizzen von Erfahrungen, die fast jeder kennt:
81
Wo ein Haus zwischen Birken steht Und Wäsche aufgespannt an der Leine hängt Werfe ich die Last ab und will bleiben.
Du stehst am Fenster und siehst mich mit Erstaunen.
Kennst du mich noch?
Gibt es einen anderen?
Hast du Kinder? Und wie viele?
Vor der Garage steht ein Motorrad. Fahrräder liegen im Gras.
Ich schultere meine Last und gehe.
Das Wiedersehen mit Menschen, die man einmal geliebt hat, ist ein bekanntes Thema in der Literatur. Monnerat hätte zweifellos mehr daraus machen können; Wenn man das Bild von der „Last“ abzieht, könnte das auch „nur“ eine Kurz- bzw. Kürzestgeschichte sein.
Wahrscheinlich ist es dies, das mich stört: Monnerats Gedichte scheinen mir zu wenig verdichtet, zu nah an der Prosa zu sein. Mehr oder weniger sind es plane Alltäglichkeiten, ausgehend von einer Beobachtung oder einem Gedanken – und oft steht am Ende die Moral von der Geschicht‘.
Man kann sich damit zufriedengeben. Für mein Empfinden ist es ein bisschen zu wenig. ♦
Der Acker leuchtet weiss und kalt.
Der Himmel ist einsam und ungeheuer.
Dohlen kreisen über dem Weiher
Und Jäger steigen nieder vom Wald.
Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt.
Ein Feuerschein huscht aus den Hütten.
Bisweilen schellt sehr fern ein Schlitten
Und langsam steigt der graue Mond.
Ein Wild verblutet sanft am Rain
Und Raben plätschern in blutigen Gossen.
Das Rohr bebt gelb und aufgeschossen.
Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain.