Das deutsche Literatur-Magazin und -Portal „Zugetextet – Feuilleton für Poesie-Sprache-Streit-Kultur“ schreibt für 2021 einen internationalen Literatur-Wettbewerb aus. Der Contest steht unter dem Motto „Klamme Kasse: Wenn am Ende des Geldes noch zu viel Monat bleibt“ und sucht Kurzgeschichten und Gedichte.
„Wir wollen Prosa und Poesie, die auf die Spitze treibt, die weh tut, die Fragen stellt, die zynisch, sarkastisch und satirisch ist. Zugleich wollen wir über den Ernst der Lage lustvoll lachen. Denn Schwarzmalen allein wäre uns zu wenig. Die Texte, die uns anrühren, mit cooler Schreibe und innovativen Bildern werden es in das Magazin und auf den Blog schaffen“.
„Speak Up“ von Laura Steven ist ein witzig und zunächst leichtfüssig im Jugendjargon verfasster Roman in Tagebuchform über mögliche Probleme von Achtzehnjährigen in den USA an einer Highschool. Abgrenzung, Ausgrenzung, Sexualität, Liebe, Freundschaft und Cybermobbing mit allen möglichen Konsequenzen.
Auf Englisch heisst das Buch „The Exact Opposite of Okay“ und trägt in der deutschen Übersetzung den Titel „Speak Up“, was auf den ersten Blick undurchsichtiger scheint und „lauter sprechen“ bzw. „den Mund aufmachen“ bedeutet.
Warum auf Englisch, wenn ein weniger Englischkundiger für die genaue Wortwahl im Wörterbuch nachschauen muss? Vielleicht, weil es dann eher auch die junge Leserschaft anzieht, und das ist gut so.
Jugendliche oder junge Leserinnen und Leser treffen hier eine unangepasste Achtzehnjährige an, die schon als kleines Kind ihre Eltern bei einem Autounfall verloren hat und seitdem bei ihrer grossmutter lebt. Izzy O’Neill ist rotzig unangepasst, aber intelligent, und sie möchte gerne Drehbuchautorin werden. Die Englischlehrerin entdeckt Izzys Talent und hilft ihr bei konkreten Schritten, um ihre Texte tatsächlich veröffentlichen zu können und durch einen Wettbewerb zu einem Studium zu kommen.
Selbstironie als Selbstschutz
Izzy schützt ihre Gefühlswelt mit selbstironischem Humor und ständigen Witzeleien, die tatsächlich humorvoll sind, in der täglichen Konzentration dann manchmal sowohl ihrer Umgebung wie auch mir als Leserin hie und da fast zu viel, also ‚too much’ waren. Aber Laura Steven, die Autorin aus der nördlichsten Stadt Englands, ist selber Jahrgang 1992 und kennt sich in der Szene noch sehr gut aus. Warum sie allerdings die Handlung in den USA und nicht in England spielen lässt, wurde mir nicht ganz klar. Aber das ist unwichtig, denn die Szenerie stimmt, die jungen Leute an der Schule sind noch mehr als mit dem Lehrstoff mit Sex, Partys und Beziehungsproblemen beschäftigt.
Das könnte in jedem Kioskroman vorkommen, wäre da nicht diese tatsächlich witzige, meist sogar geistreiche Sprache der Hauptprotagonistin, wie sie sich ihrem Tagebuch während einem Monat anvertraut. Und aus einer Beobachterperspektive lernen wir zuerst Izzys beste Freundin Ajita und den Freund schon aus dem Kindergarten Danny kennen, mit denen sie herumzieht, die Welt mit kritischem Blick betrachtet und in Gesprächen kommentiert. Ihre eigenen, verletzlichen Gefühle versteckt Izzy hinter schnödem Sarkasmus, der ihr einerseits hilft und sie innerlich stärkt, aber sie in Gesellschaft von anderen Jugendlichen in die Bitch-Ecke stellt.
Zwischen Sexualität und Cybermobbing
Neben der nach aussen derben Sprache und scheinbar abgebrühten Sexualität werden aber auch sehr zarte Liebesgefühle beschrieben, die anrühren und die Spannweite zwischen unserer vollkommen sexualisierten Welt und der Verletzlichkeit von echten Gefühlen, Erwartungen, Unsicherheiten und freundschaftlichen Banden aufzeigen. Und plötzlich kippt dieses Spiel in ein schlimmes Cybermobbing, indem gedankenlos Fotos manipuliert werden und zu einer vernichtenden Waffe mutieren. Dies gehört leider auch bei uns zur Realität an Schulen, wobei das grossartige Internet missbraucht wird zu bösartigen Vernichtungsattacken.
Das Buch hat mich angesprochen in seiner ungekünstelten, jugendlichen Frische, hat mich immer wieder amüsiert, wenn es auch stellenweise ein wenig zu lang geriet, aber es zeigt auf, dass Gerüchte im Internet die Zukunft verbauen und eine menschliche Psyche beschädigen können. Da schwingt kein erhobener Moralfinger mit, es entzaubert bloss den Wunsch, dass junge Menschen noch unverdorben, gut und nicht bösartig sind. Der Lebenskampf beginnt schon früh, auch innerhalb von Freundschaften.
Der englische Humor der jungen, gesellschaftlich sehr engagierten Autorin wurde von Henriette Zeltner hervorragend übersetzt. The Guardian schrieb über die Originalausgabe: „Witzig, geistreich, feministisch.“ Das lässt sich auch vom Transfer ins Deutsche behaupten. ♦
Laura Steven: Speak Up – Roman, 348 Seiten, Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-28233-5
Das japanische Kurzgedicht Tanka ist eine über 1’300 Jahre alte, reimlose Lyrik-Form mit 31 gewichteten Silben (Moren) im Rhythmus 5-7-5 (Oberstollen) und 7-7 (Unterstollen).
Unser Frühlings-Gedicht des Tages „Weil die Nachtigall“ stammt von der japanischen Lyrikerin und Nonne Nomuro Bôtô (Moton Nomura). Sie war eine Dichterin der späten königlichen Tokugawa-Ära und lebte von 1806 bis 1867, also gegen Ende der Edo-Periode. ♦
„Gedichte werden nie aussterben! Die jungen Leute heute glauben, das Digitale sei die Lösung. Aber jeder von diesen Schülern kann mindestens ein Dutzend Pop-Songs auswendig, auch den Text. Und was ist der Text eines Pop-Songs? Er ist, technisch gesprochen, ein Gedicht! Also, das wird nicht verschwinden.
Oder die alte Frau, die betet: „Vater unser…“. Was ist das anderes als ein Gedicht! Oder der Fussballer, der die Nationalhymne singt – was ist denn das? Das sind alles Gedichte!
Also, ich habe keine Angst, dass das Gedicht ausstirbt…“
Karikatur von Theo Zasche: „Schach! Schach!“ (Polit-Schlacht auf dem Brett…)
Die harte Schlacht wogt lang schon hin und her. Der Brite scheint die Oberhand zu haben, das schwarze Heer liegt still im Schützengraben – die Defensive hält, da geht nichts mehr.
Der König schläft gemütlich im Palast. Der Krieg, die Schlacht, das Sterben, sie sind weit. Was kümmert den Monarchen wohl das Leid? Es sind ja nur Soldaten, keine Hast.
Dann dringen doch die Rufe an sein Ohr: „Oh grosser König, rette uns, wir hungern, lass uns nicht länger in der Fremde lungern.“ Und er erwacht und schwingt sich schnell empor.
Er bricht auf! Zu Fuss! Ohne Pferde! Ohne Garde! Er marschiert! Und marschiert! Und marschiert! Und marschiert! Und kein Feind – nicht Streitross, nicht Wachturm, nicht Bauer – hält ihn auf.
Nach langem Marsch steht er vor seinem Ziel. Dem dunklen König sieht er in die Augen. „Du weisst, ein Fluchtversuch wird nichts mehr taugen, und zur Verteidigung hast Du nicht viel.“
Es dauert etwas, bis der Feind kapiert, und endlich aufgibt. Friede allen Ländern! Die Welt wird diese Wanderung verändern. Sie hat auch mich – wie viele – inspiriert.
Stefan Walter
Geb. 1978, Autor von Lyrik und Kurzprosa, passionierter Schachspieler, lebt mit seiner Familie als Rechtsanwalt in Neuburg/D
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Lesen Sie im Glarean Magazin ausserdem zum Thema Schach und Literatur über den Schach-Roman von Viola Sanden: Playground Chess
Sie war Karoline, Carola, Carlinchen, Barbara – Klabunds Frau, Brechts Muse und eine der berühmtesten deutschen Schauspielerinnen: Carola Neher, die 1900 als Karoline zur Welt kam und sich nach nichts mehr sehnte als nach den Brettern, die die Welt bedeuten. Charlotte Roth (Pseudonym von Charlotte Lyne) hat ihrem aufregenden Leben nun den Roman „Die Königin von Berlin“ gewidmet, der uns in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts entführt.
Nach ihrer Ausbildung in einer Bank verlässt Karoline Neher Hals über Kopf ihre Mutter und ihren geliebten Bruder und reist von München nach Baden-Baden – eigentlich will sie nach Berlin, aber dafür reicht ihr Geld nicht. Ohne richtige Schauspielausbildung kommt sie nur in Pagenrollen zum Einsatz. Bald erweist sich das Theater in der Kurstadt als Sackgasse, und Karoline, die sich mittlerweile Carola genannt hat, landet wieder in München, wo der ersehnte Erfolg auch ausbleibt. In der bayerischen Landeshauptstadt trifft sie allerdings einen Mann, der zu einer Schlüsselfigur in ihrem Leben werden sollte: Bertolt Brecht. Ihm folgt sie bald auch nach Berlin, denn er sieht in der jungen Schauspielerin mehr als andere Regisseure, die ihr immer nur kleine Rollen geben.
Lebenslange Liebe zu Klabund
Carola Neher und Klabund (Alfred Henschke) in Berlin Ende der 1920er Jahre
In Berlin geniesst sie das freie Leben. Sie will sich nicht binden, bis sie eines Tages in der Strassenbahn einem hageren Mann mit Brille begegnet, der etwas in ihr zum Schwingen bringt. Alfred Henschke, genannt Klabund, ist zehn Jahre älter als Carola Neher und schwer an Tuberkulose erkrankt. Doch die Liebe zwischen den beiden reicht bis zu seinem Tod in Davos. An seinem Sterbebett gesteht ihm Carola: „Ich kann ein Biest sein, eine Plage, weil ich im Grunde nicht weiss, wie ein Mensch mit einem Menschen umgeht, aber ich bin verloren ohne dich. Du weisst, dass ich ohne dich keinen Fuss vor den anderen setzen kann, dass ich unentwegt stolpere.“
Seine Krankheit überschattet die ganze Beziehung. Klabund vergöttert Carola und lässt ihr alle Freiheiten: „Ich war einmal gar nicht so viel anders als du, dachte er. Ich bin es noch immer, ich möchte genau wie du eine Kerze sein, die an beiden Enden brennt und mir das Leben zum Feuerwerk macht. Meine Kerze ist nur schon ein bisschen zu kurz dafür, doch der Teufel soll mich frikassieren, wenn ich dir deswegen deinen Spass verderbe.“
Er war Carola Nehers grosse Liebe. Doch ein weiterer Mann spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle im Leben der Schauspielerin. Bertolt Brecht schrieb ihr die Rolle der Polly Peachum aus der Dreigroschenoper auf den Leib. Das Stück und die Verfilmung Anfang der 30er Jahre, sollten ihre grössten Triumphe werden, der Barbara-Song ihr Lied.
Rahmenhandlung in die 1970er Jahre verlegt
Charlotte Roth lässt eine spannende Zeit lebendig werden. Die Geschichte um die kurzen Leben von Klabund – er wurde nur 38 – und Carola Neher, die mit gerade mal 41 Jahren in einem sowjetischen Zwangsarbeiterlager starb, ist in eine Rahmenhandlung gebettet, die sich Ende der 70er Jahre in Edenkoben zuträgt, einem Ort, mit dem Neher verbunden war. Ein Fremder kommt in die Gemeinde, um etwas über die Vergangenheit von Carola zu erfahren. Wer der Mann ist, wird erst ganz zum Schluss klar.
Roths Roman basiert auf zahlreichen Tatsachen und enthält natürlich auch Ausschmückungen. Besonders zu Beginn hatte ich das Gefühl, dass die Geschichte einige Längen aufweise. Doch die Beziehung zwischen dem sympathischen Klabund und der Schauspielerin, die verletzlicher ist, als sie vorgibt zu sein, wird von der Autorin ganz wunderbar literarisch aufgearbeitet.
Charlotte Roth ist ein berührender und interessanter Roman über eine Schauspielerin gelungen, die mittlerweile etwas in Vergessenheit geraten ist. In „Die Königin von Berlin“ werden eine Zeit und ein Lebensgefühl lebendig, die uns seit einem Jahrhundert faszinieren: „Die goldenen Zwanziger“. Eine schöne Lektüre, die ich allen ans Herz legen kann. ♦
Nach dem Lesen des Romans „Superbusen“ von Paula Irmschler hat man das Gefühl, das sich zur Not auch in Chemnitz leben liesse, und dass eine Zeit jenseits von brauner Hetze auch für diese Stadt zumindest vorstellbar ist…
Die Handlung von „Superbusen“ ist schnell erzählt: Junge Frau zieht nach Chemnitz um zu studieren, genauer: um Distanz zwischen sich und der Familie zu bringen. Das war früher, im Buch jedoch später. Es beginnt nämlich damit, dass die Protagonistin zurück nach Chemnitz will. Um ihr Studium endlich abzuschliessen. Oder was anderes, was sie noch nicht so genau weiss. Immerhin klappt der Anschluss an die alte Clique wieder, und plötzlich gründet man eine Band und geht auf Tour. Nicht auf die grosse, sondern eher eine kleine spontane, bei der die Gage auch schon mal aus dem besteht, was die Leute in den Hut werfen. Der grosse Durchbruch bleibt aus, man geht wieder auseinander, will später weitermachen, doch davon erfährt man nichts genaues, denn vorher ist das Buch aus.
Wie Saufen mit der besten Freundin
Ein unangenehm oranger Aufkleber vorne auf dem Buch erklärt, dass das Buch wie Saufen mit der besten Freundin ist. Hinten gibt es ein kaum lesbares Zitat, dass von einem Pop-Roman spricht, den der Zitatgeber kaum noch für möglich gehalten hat. Irgendwo dazwischen liegt wohl die Wahrheit.
Chemnitz ist vermutlich der letzte Ort, den sich eine Autorin oder ein Autor für einen Roman aussuchen sollte. Aber wie Paula Irmschler zeigt: Es funktioniert trotzdem. Insbesondere lockert es das Vorurteil, dass in Chemnitz nur braune Socken leben. Offensichtlich doch nicht, auch wenn sie manchmal in der Überzahl zu sein scheinen, zumindest bei Aufmärschen. Die Protagonistin ist gerne bei Gegendemos dabei und fühlt sich in der linken Szene verortet, was aber auch kein Zuckerschlecken ist. Die Mädelsband scheint die richtige Sache zu sein, um heil aus allem rauszukommen. Jedenfalls hat sie eine therapeutische Wirkung, denn auch die Traumatisierung, immer als „Dicke Randfigur“ zu gelten wird am Ende aufgelöst.
Dass das alles nicht zu einer superkitschigen Matsche gerät, ist der Ironie zu verdanken, mit der die Autorin ihre Protagonistin und das Begleitpersonal liebevoll ausgestattet hat, und die die kleinen Macken – zum Beispiel den Hang zum Ladendiebstahl oder die frühe Vorliebe für Britney Spears – nicht allzustark in den Mittelpunkt rücken lässt. Nach dem Lesen hat man das Gefühl, das sich zur Not auch in Chemnitz leben liesse, und dass eine Zeit jenseits von brauner Hetze auch für diese Stadt zumindest vorstellbar ist.
„Superbusen“ von Paula Irmschler ist ein subjektives und manchmal etwas langsames Buch, das sich trotzdem gut lesen lässt. Ich weiss nicht, ob man es vielleicht noch in zehn Jahren lesen möchte, ich empfehle deshalb, es jetzt zu lesen. Es motiviert, Vorurteile auf ihren Sinngehalt zu prüfen, und es erinnert daran, wie wichtig Freundschaften sind. ♦
Paula Irmschler: Superbusen – Roman, 312 Seiten, Claassen, ISBN 978-3-546-10001-4
Wenn man die neuen (eher kurzen) Gedichte in „Flügel zum Nichtfliegen“ des Basler Schriftstellers Roger Monnerat nacheinander liest – sagen wir jeden Abend ein paar, was durchaus möglich ist -, dann stellt sich nach und nach der Eindruck ein, hier beschreibe einer ein Leben. Vermutlich sein eigenes, denn er scheint ziemlich vertraut damit zu sein.
Zumeist sind es alltägliche Situationen, die Monnerat beschreibt. Das erste Gedicht beginnt tatsächlich mit dem Aufwachen am Morgen, und das einzig Unerwartete ist, dass die Erde stehen bleibt, während der Protagonist aufsteht, obwohl er ihr doch befohlen hat, sich weiterzudrehen – aber daraus folgt nichts.
Und so geht es weiter. Manchmal stutzt man, so beim Gedicht Nr. 3, wo Monnerat seinen Garten beschreibt und plötzlich fragt: „Wie sähe unser Brunnen / für die toten Kinder aus?“
Aber das gehört natürlich dazu, denn eine Lyrik, die man immer weiterlesen kann, ohne auch nur einmal den Kopf zu heben und zu blinzeln, ist zumindest in der Moderne nicht vorgesehen.
Mit der Kawasaki nach Italien
Abgehoben sind die Gedichte jedenfalls nicht. Tankstellen kommen vor, eine Kawasaki 550, mit der der Protagonist nach Italien fährt, auch von Sexualität ist die Rede. Zitat:
66
Monotone Stunden auf der Autobahn. Zigaretten angebrannt und hinübergereicht, im Radio Musik, die wegrauscht und wiederkehrt.
Später kleine Städte, die Namen gleich wieder vergessen, aber vom letzten Mal erinnert, ein Bistro, mit Spiegeln an den Wänden. Gegenüber ein Tabac und unter Platanen alte Männer auf Stühlen im langen steinernen Brunnentrog plantschen Kinder.
Petra Krause hat das gemocht. Werner Sauber, auf dem Weg hinunter ans Meer.
Eigentlich bräuchte es keine Zeilenbrüche. Es könnte auch der Anfang einer Reisebeschreibung sein. Nur die letzten beiden Zeilen irritieren, weil man nicht weiss, ob das eine Erinnerung an Menschen ist, die man nicht kennt, oder eine Metapher, die man nicht versteht.
Manchmal setzt Monnerat sich auch mit der Lyrik anderer Dichter auseinander. So zum Beispiel in Gedicht Nr. 75 mit William Carlos Williams berühmtem Poem So much depends on a red wheel barrow:
75
Ob viel von der mit Regenwasser gefüllten roten Stosskarette unter weissen Hühnern abhängt, ist Ansichtssache
Gut gemacht scheint mir Cyrano de Bergeracs Nachtigall die, auf einem hohen Ast sitzend, sich tief unten im hellen Bach zwischen den Steinen gespiegelt sieht und glaubt, sie sei ertrunken.
Gewiss kann man über Williams‘ Gedicht diskutieren, weil es so kurz und scheinbar banal ist, aber ob man darüber wiederum ein Gedicht schreiben sollte, erscheint mir doch fragwürdig.
Andere Gedichte erzählen in kurzen Skizzen von Erfahrungen, die fast jeder kennt:
81
Wo ein Haus zwischen Birken steht Und Wäsche aufgespannt an der Leine hängt Werfe ich die Last ab und will bleiben.
Du stehst am Fenster und siehst mich mit Erstaunen.
Kennst du mich noch?
Gibt es einen anderen?
Hast du Kinder? Und wie viele?
Vor der Garage steht ein Motorrad. Fahrräder liegen im Gras.
Ich schultere meine Last und gehe.
Das Wiedersehen mit Menschen, die man einmal geliebt hat, ist ein bekanntes Thema in der Literatur. Monnerat hätte zweifellos mehr daraus machen können; Wenn man das Bild von der „Last“ abzieht, könnte das auch „nur“ eine Kurz- bzw. Kürzestgeschichte sein.
Wahrscheinlich ist es dies, das mich stört: Monnerats Gedichte scheinen mir zu wenig verdichtet, zu nah an der Prosa zu sein. Mehr oder weniger sind es plane Alltäglichkeiten, ausgehend von einer Beobachtung oder einem Gedanken – und oft steht am Ende die Moral von der Geschicht‘.
Man kann sich damit zufriedengeben. Für mein Empfinden ist es ein bisschen zu wenig. ♦
Der neue Roman von Gerwin van der Werf „Der Anhalter“ nimmt ein beliebtes und unerschöpfliches Motiv der Literatur auf: Das Wandern und Reisen. Allerdings entkleidet der Autor seine Protagonisten allen romantisierend-verklärten „Fernwehs“, das Buch hält teils psychologisch schwer verdauliche Kost parat.
Schon in der Antike brach Homers Odysseus voller Tatendrank von Ithaka zu seinen Irrfahrten auf, um vieler Menschen Städte zu sehen, von deren Sitten zu lernen, seine Seele zu retten und dabei auch viele Leiden zu erdulden. Im Mittelalter wurde in entfernte Wallfahrtsorte gepilgert, um Seelenheil und Weltkenntnis zu erlangen. Der kleine Landadelige Alonso Quijano beschloss als fahrender Ritter Ruhm zu erwerben und in die Welt hinaus zu ziehen, um als „Ritter von der traurigen Gestalt“ zurückzukehren. Die Romantiker zog es – von Goethes „italienischer Reise“, der glücklichsten Zeit seines Lebens, inspiriert – in den Süden, um dort über die Befreiung ihrer Seele die Vervollkommnung ihrer Kunst zu erlangen, wogegen Thomas Manns Gustav von Aschenbach in Venedig den Tod fand. Kurzum: Das Motiv des Wanderns und Reisens gehört zu den beliebten und unerschöpflichen der Literatur, denn wie Matthias Claudius schon vielsagend besang: „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“.
Selbstzweifel und Ohnmacht
Psychologisch qualitätsvoll erzählend: Der niederländische Autor Gerwin van der Werf (*1969)
Auf solchen Spuren wandelt auch der neue Roman „Der Anhalter“ des niederländischen Autors Gerwin van der Werf, indem dieser seinen Protagonisten Tiddo in den höchsten Norden – die graue, karge, von Vulkankratern und Gletscherzungen durchzogene Mondlandschaft Islands – schickt. So wie seine namhaften Vorbilder verspricht sich auch Tiddo, der mit seiner Frau Isa und seinem Sohn Jonathan in einem Wohnmobil auf Tour geht, von der Reise viel; es soll schliesslich die Reise ihres Lebens werden. Es gilt seine in einer Krise befindliche Ehe zu retten und wieder einen Zugang zu seinem Sohn Jonathan zu finden, einem zeichnenden, zum Sonderling heranwachsenden Dreizehnjährigen. Isa, die hübsche, attraktive und erfolgreiche Wissenschaftlerin und Tiddo, nur einer anspruchslosen Bürotätigkeit frönend, haben eine Fehlgeburt ihres zweiten Kindes nicht verarbeiten können und sich auseinandergelebt. Tiddo, der Isa nach wie vor begehrt, quälen Selbstzweifel und Ohnmacht, während ihm seine Familie entgleitet.
Inmitten von Geysiren und Schotterwüsten
Ob die beiden allerdings in der eisigen, unwirtlichen Wildnis des mystischen Island auftauen, erscheint schon zu Beginn fraglich. Zur Beunruhigung trägt auch bei, dass Tiddos Mutter vor und während der Reise telefonisch nicht erreichbar ist. In der aus der Ich-Perspektive Tiddos erzählten Geschichte taucht dann ein junger Anhalter auf. Er heisst Svein, ein nordischer Riese, den, wenn er sich die Strähne aus den blonden Haaren wischt, eine lässige und faszinierende Schönheit auszeichnet, findet Tiddo – und später auch Isa.
Mystische Küstenlandschaft mit Vulkangestein und Gletscherzungen: Island
Obwohl Svein es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und der Kleinfamilie hie und da lästig wird, gelingt es nicht ihn abzuschütteln, verkörpert er doch in seinem ganzen Wesen das Element des Wegweisers, Initiators und Verführers, das der fast kommunikationslosen Kleinfamilie zu fehlen scheint, sie aber auch in ihren Grundfesten erschüttert. Soweit der vielversprechende, tragfähige und erzählerisch gekonnt in die mystische und rätselhafte Küsten- und Berglandschaft von Geysiren, Seen, Trollen und Stein- und Schotterwüsten eingebettete Plot.
Ohne das Ende verraten zu wollen – im Einband findet sich bereits der Hinweis auf Tiddos halsbrecherische Fahrt zum Kratersee Öskjuvatn – muss man festhalten, dass Werfs Roman nicht leicht verdaulich ist und dem Leser so manches Rätsel aufgibt. Hat der Autor seinen Plot bewältigt? Oder hat er – ebenso wie seine Erzählerfigur Tiddo – bereits vor der Reise die Flucht nach vorne angetreten und den Karren – im Stile eines an Egoshooter-Spiele erinnernden Amoklaufes – sprichwörtlich an die Wand gefahren und seine Geschichte wie ein Kartenhaus, quasi als Apotheose des Irrationalen, zusammenfallen lassen? Laufen die Erzählstränge um die Titelfigur Svein, aber auch um die unnahbare, mal alles beherrschende, dann zurückhaltende Isa und den ewig zeichnenden Jonathan – wie die Strassen Islands – ins Leere?
Dies ist für den Leser, der sich an gängigen Reise-Erzählungen orientiert, nicht erbaulich, aber künstlerisch – zwischen Folgerichtigkeit und Willkür pendelnd – durchaus stimmig. Spiegelt sich in Tiddos Griff zur Brechstange die bedingungslose Kapitulation, die gleiche Lust am Untergang wider, die schon dem dekadenten Gustav von Aschenbach in Venedig zum Verhängnis wird?
Gegenentwurf zur romantischen Reiseliteratur
Gerwin van der Werfs Roman „Der Anhalter“ kann auf Grund seiner erzählerischen Qualitäten und seines soliden Plots künstlerisch überzeugen. Die Frage, ob er seine Identifikationsfigur Tiddo nicht psychologisch stimmig, sondern marionettenhaft demontiert, darf gestellt werden. In jedem Fall stellt van der Werfs unbedingt lesenswerter Roman einen konsequenten Gegenentwurf zu der Reiseliteratur der romantisch verklärten Italiensehnsucht dar. Tiddo ist ein an Max Frischs Helden (Stiller, homo faber) erinnernder Antiheld, ein männlicher Versager, der, unfähig seine eigene Gefühlswand zu durchbrechen, durch die äusseren Wände geht – und womöglich doch besser nach Italien gefahren wäre. ♦
Gerwin van der Werf: Der Anhalter – Roman, 286 Seiten, S. Fischer Verlag, ISBN 9783103974669
Vielfalt statt Tanz auf dem Vulkan, das ist der Anspruch, dem sich die Autorin Susanne Goga in ihrem neuen Krimi „Der Ballhausmörder“ gemäss Klappentext stellt. Und doch scheitert sie an einer spannenden, sich entwickelnden und runden Darstellung in diesem siebten „Fall für Leo Wechsler“.
Die Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sind spätestens seit Kutschers Verfilmung des „Nassen Fisches“ unter dem TV-Serientitel „Babylon Berlin“ in aller Munde. Exzesse, Superlative, Pomp. Laster und schnelle Schnitte, so ist’s dem Mainstream wohl am liebsten – aber weniger ist mehr. Insofern hebt sich Goga mit ihrem Anliegen und ihrer Serie, die immerhin 2005 mit „Leo Wechsler“ premierte, also zwei Jahre vor Kurschers Erstling um Gereon Rath, wohltuend ab.
Es fängt gelungen an. Ein stimmungsvoller Abend in Clärchens Ballhaus mit all den Nöten und Freuden der Besucher und Bediensteten mündet in einen tragischen Mord, Folge einer Verwechslung, wie recht schnell klar wird. Doch die stimmige Exposition, die mit Lunapark, Ballhäusern, Saalschwestern, Ringvereinen und einer spannenden Eingangslage starten kann, wird schnell obsolet, verliert sich im langatmigen und ereignislosen Spurensuchen, das mehr oder weniger zufällig zum Ergebnis führen. Ein Bonbonpapier als ausschlaggebendens Indiz, dazu eine recht offensichtlich konstruierte Fährte in Verbindung mit Wechslers Tochter – das ist zu schwach für einen guten Krimi.
Susanne Goga
Und Susanne Goga kann es fraglos besser: In „Nachts am Askanischen Platz“ gelang es ihr, das „cozy“ Erscheinungsbild ihrer ersten Romane, die definitiv eher an die weibliche Leserschaft gerichtet sind, aufzubrechen. Tiefer die Abgründe und Gefühle dort, spannender die Krimihandlung und die Nebenschauplätze sowieso.
Ohne Flair für falsche Fährten
Wo bleibt hier das Flair des Ballhauses, wo bleiben die falschen Fährten und Verwicklungen, die andere so gelungen aufgreifen und vertiefen?
Ich denke an Angelika Felendas Kommissär Reitmeyer, der bislang in drei Fällen in München in den Zehner Jahren des 20. Jahrhunderts ermittelt, aber mit wesentlich mehr Alltagswissen und menschlicher Tiefe. Oder Robert Baurs mit „Mord in Metropolis“ beginnende, bislang dreiteilige Serie um einen Berliner Exkommissar und Privatdetektiv, der Wechslers Kollege hätte sein können, der brillant die Zeit und Umstände schildert. Ebenso wie Harald Gilbers, der selbiges zu Ende des Zweiten Weltkrieges ansiedelt (bislang vier Bände).
Leider gelingt es Susanne Goga für meinen Geschmack nicht, diesen Fall glaubhaft und vor allem empathisch und spannend dem Leser nahezubringen. Auch wenn der Fall in sich logisch und stringent ist, mäandern wir bzw. Wechsler vor uns hin, ringen mit Beziehungsproblemen des vorübergehend strafversetzen und dadurch vollkommen aus der Spur geratenen Kollegen Walther, der den Tritt nicht mehr zu finden scheint.
Nur auf dem Papier, nicht im Kopf
Im zu erwartenden Band 8 wird er so wohl für noch mehr NS-Probleme stehen, die derzeit ja durch die Ex-HJ-Mitgliedschaft des Wechsler’schen Nachwuchses Georg stattfinden. Dies erinnert wiederum stark an die Probleme, die Gereon und Charlotte Rath mit ihrem Adoptivsohn haben.
Kurz: Die Figuren sind zu schematisch und dienen durchweg einem bestimmten Zweck, statt einfach für sich selbst zu stehen und sich sinnigerweise weiterzuentwickeln. Sie bleiben durchgängig dem Papier verhaftet, statt sich im Kopf des Lesers zu entwickeln. Clara, Magda und Wechslers Tochter bleiben schmückendes Beiwerk, ohne Substanz. Ebenso wie viele der zu Beginn Eingeführten um Clairchens Ballhaus. Auch der Mörder bleibt – trotz der psychologischen Unterfütterung und dem kurzen Blick ins Innere sowie einer sechs Jahre zurückliegenden Tat – eine Papierleiche, die alles zwar plausibel erscheinen lässt, aber emotional eindimensional und merkwürdig belanglos bleibt.
Kurz: 320 Seiten, die durchaus nett zu lesen sind, aber bei einem gewissen Anspruch und bei Vertrautheit mit der damaligen Zeit, den Lebensumständen und historischen Ereignissen nicht zu überzeugen vermögen. ♦
Susanne Goga: Der Ballhausmörder (Kriminalroman), 320 Seiten, dtv-Verlag, ISBN 978-3-423-21808-5
Lesen Sie im Glarean Magazin auch über den Krimi von Jo Nesbø: Messer (Komissar Harry Hole Band 12)
Ich lasse mich nicht von massenhysterischen Phänomenen anstecken. Weder von der Überfremdung durch isländische Klimaflüchtlinge noch vom Weltuntergang aufgrund des Maya-Kalenders. Ok, ein Mangel an Lutschbonbons könnte mich zeitweilig aus der Bahn werfen. Das wäre eine wirklich ernste Sache. Aber wie gesagt, meistens bin ich immun gegenüber Modeerscheinungen, selbst wenn diese mein Überleben bis zum nächsten kirchlichen Feiertag sichern würden. Mit meiner antizyklischen Lebensweise bin ich bis jetzt gut durchgekommen, ausser vielleicht beim Linksabbiegen in den Kreisverkehr. Dort musste ich stets klein beigeben und mich in den allgemeinen Strom der Fahrzeuge einordnen. Aber sonst nichts dergleichen. Im Prinzip bin ich also kein Opportunist. Aber dieses eine Mal machte ich eine Ausnahme, und zwar wegen diesem verfluchten Coronavirus. Und scheiterte damit kläglich.
Nach gründlichen Überlegungen kam ich zum Schluss, dass eine Coronavirus-Infektion schon mal gar nicht eine erstrebenswerte Sache ist. Heutzutage haben wir viel schönere Krankheiten und elegantere Todesarten als schniefend und hustend einzugehen. Wenn man des Covid-19 wegen abserbelt, gibt man damit ein armseliges Bild ab. Man sondert jede Menge unappetitlichen Schleim aus allen Körperöffnungen ab. Einfach widerlich! Wenn mir schon mein letztes Stündlein schlagen soll, dann muss es bitte sauber, feierlich und erhaben zugehen. Ich möchte von ergriffenen Angehörigen beweint werden, die sorgsam gewählte Lobesworte über mich murmeln und meinen verfrühten Abgang aufrichtig bedauern. Aber zum Glück ist es noch nicht soweit. Ich habe gerade meine Temperatur gemessen: schallend triumphierende 36,5°C!
Trotz meiner erwähnten Abneigung gegen vorherrschende Modetrends blieb ich von der aktuellen Entwicklung nicht unbeeinflusst. Als immer mehr Zeitgenossen mit Gesichtsmasken herumliefen, begann ich mir auch eine überzuziehen. Um es sogar besser zu machen, trug ich zusätzlich noch eine am Hinterkopf. Dann hiess es, dass man in der Öffentlichkeit keine engeren körperlichen Kontakte mehr eingehen dürfe. Daraufhin hörte ich mit meiner liebgewordenen Gepflogenheit auf, unbekannte junge Damen auf der Strasse zu umarmen und herzhaft abzuknutschen. Zudem besuchte ich keine grossveranstaltung mehr, ausser Saunaklubs. Diese sind die wohl letzten virusfreien Oasen, in denen man sich ungezwungen in angenehmer Damengesellschaft frei bewegen kann.
Es heisst ja, dass Coronaviren nicht hitzeresistent sind. Ich schüttle keine Hände, auch nicht den Kopf, und auch nicht meinen stets einsatzbereiten Würfelbecher, den ich als Entscheidungshilfe für lebenswichtige Angelegenheiten stets bei mir trage. Stattdessen befolge ich die wohlwollenden Anweisungen der Behörden ebenso gehorsam wie die uneigennützigen Ratschläge kompetenter Homöopathen.
Neulich jedoch erlebte ich einen ersten Rückschlag beim empfehlungskonformen Verhalten. Und das kam so: In den Nachrichten wurde erwähnt, dass vereinzelte Bürger Hamsterkäufe tätigten, was sich dann zunehmend häufte und zur Massenbewegung wurde. Ich konnte mir zunächst keinen Reim darauf machen, auf welche mysteriöse Weise der Hamsterkauf einen vor der Infektion schützen sollte. Aber man muss nicht alles verstehen, was die Obrigkeit verlangt. Wichtig ist es ihren Anweisungen zu folgen. Also beschloss ich daraufhin ebenfalls mit Hamsterkäufen zu beginnen.
Als ich dann allerdings zu meinem ersten Versuch ausrückte, waren die letzten verfügbaren Exemplare schon restlos ausverkauft. Ich fand nur noch Restbestände an Meerschweinchen, Schildkröten und hilflos zwitscherndes Federvieh. Damit war natürlich kein Staat zu machen, schon gar nicht in diesen gefährlichen Zeiten.
Doch ich gab nicht so schnell die Hoffnung auf, meine nun mal beschlossene Hamsterbeschaffung erfolgreich zu Ende zu bringen. Ich klapperte zunächst alle Zoogeschäfte der Stadt ab, dann diejenigen des Umlands und sogar der ganzen Region. Aber keine der von mir aufgesuchten Tierhandlungen hatten genügend Hamster vorrätig, um mir einen anständigen Schutz zuzulegen. Dabei schraubte ich meine Erwartungen schrittweise zurück: statt der geplanten drei Dutzend Goldhamster hätte ich auch einen Satz Silberhamster akzeptiert. Von mir aus hätten sogar einige bronzene Exemplare darunter sein dürfen. Aber weit gefehlt! Nicht nur dass die beste Ware bereits weg war, selbst die artverwandten Wüstenspringmäuse waren alle.
Von zunehmender Verzweiflung getrieben, erwog ich einen nächtlichen Einbruch in den eher nachlässig geschützten Tierpark. Ich bin ja ein grundehrlicher Mensch, aber hier ging es ja schliesslich um meine Gesundheit. Ich weiss nicht, wie man die tierische Entsprechung für den moralisch eher akzeptablen Mundraub des Verhungernden nennt. Wenn beispielsweise das erheischte Deliktgut ein Mops wäre, würde man das „Hundraub“ nennen? Ich weiss es nicht. Wäre für kleine, handzahme Nager die analoge sprachliche Entsprechung vielleicht „Hamstermopsen“? Was auch immer, ich war bereit zu allem, selbst zu einem nächtlichen Einbruch in das Gehege der „Cricetinae“ genannten Steppenwühler. Aber ich hatte weder die geeigneten Einbruchswerkzeuge noch den erforderlichen Mut für eine solche Aktion. Damit war das keine gangbare Lösung und schon gar kein Ersatz für einen seriösen Hamsterkauf.
So gesehen wollte ich meinen Frust bei einem entspannenden Saunaklubbesuch abbauen, aber als ich vor der zugesperrten Tür des abgedunkelten Etablissements stand, konnte ich nur noch den nachlässig aufgeklebten Hinweis zur Kenntnis nehmen: „Aufgrund der lagebedingten ausbleibenden Kundschaft bleibt unser Saunaklub ‚Nymphen-Dampf‘ bis auf weiteres geschlossen. Besuchen Sie unsere Webseite, um den Zeitpunkt der erneuten Betriebsaufnahme zu erfahren“. Hol’s der Hamster! ♦
Individuelle und gesellschaftliche Differenzerfahrung zeigt sich insbesondere im Umgang mit dem Fremden schlechthin als wertende Andersartigkeit. Ein neuer Symposiums-Band „Formen der Aneignung des Fremden“ der beiden Herausgeber Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring thematisiert die Aneignungsmöglichkeit der den Kulturen gemeinsamen Universalien.
Erwartungsvoll begann ich mir die Diskursergüsse der theoretischen Auseinandersetzungen sowie durch empirische Fallbeispiele vereinten Erarbeitung über die Aneignung des Fremden ausserhalb der eigenen Person anzueignen, erwartungsvoll schliesse ich den Band. Möglicherweise taugen die beabsichtigten weiterführenden Aspekte des Fremdverstehens für eine gewisse Öffnung innerhalb von Fakultätsgrenzen zu einer akademischen interkulturellen Öffnung dem Fremden gegenüber. Als Resümee ergeben sich die Struktureigenschaften der Position des Fremden: Er erlebt eine Krise und Distanz zur neuen Gruppe, hat mehr Freiheiten, allerdings auch mehr Risiken und erschliesst sich die Umwelt konstruierend durch eigene Sinngebung.
Bekannte Kernaussagen in neuen Wörterhülsen
Im Detail betrachtet, werden in diesem Symposiums-Band des „Zentrums für Interkulturelle Studien zur Erforschung globaler Kulturphänomene“ bekannte Kernaussagen mit neu geschliffenen Wörterhülsen bestückt. Das Erkenntnispulver ist nicht ausreichend, um eine Lunte zu befeuern, die einen nachhaltigen Wirkungstreffer auf der Veränderungszielscheibe explodieren lassen könnte. Das Fremde wird fremd bleiben, solange es Menschen gibt, die es als solches belassen oder als Gefährdung empfinden, denn akzeptieren und respektieren der Würde jeden Subjektes verlangt eigene Standhaftigkeit und angemessenes Zurücknehmen seiner selbst.
Der 10. Band der Schriftenreihe Intercultural Studies nimmt flüchtig als lyrisches Exempel das Gedicht „Der Fischer“ von Johann Wolfgang Goethe unter die Lupe, das Wasser nicht als Chemikalie beschreibt, sondern als mit Lebensbezug Erfahrenes gestaltet. Darin scheint nicht das Fremde so fremd, sondern vielmehr ist die Person mit dem Fremden des ihr Vertrauten beschäftigt.
Wurzelnd auf dem Kolonialherren-Denken wird – historisch fokussiert – Ethnologie zum Schlagwort. Es entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts aus der inneren Befremdung durch die kulturelle Stufenentwicklung zum Händler, der beweglicher ist, weil er nicht an Traditionen gebunden zu sein scheint. Im Mittelalter seien die intellektuellen Fähigkeiten zur Völkerverständigung geschaffen worden (Todorov). Doch subjektive Aneignung ist mehr, als ein Studienaufenthalt in einem fremden Land vermitteln kann.
Im 20. Jahrhundert begünstigt der Beginn expliziter theoretischer Auseinandersetzung mit dem Fremden das Verständnis vom Grenzgänger oder Immigranten bis hin zur Destruktion „sozialer Exterritorialität“, nämlich einer „Soziologie der Vernichtungslager“ in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.
Überanpassung ohne versöhnende Verschmelzung
Als Formen der Verkörperung, um das Fremde als an sich kulturelles und erlerntes Konstrukt in Alltagssituationen zu überwinden, werden Elemente der „Martial Arts“ angeführt und methodologisch eine Lücke im deutschen Forschungsdiskurs zur Kulturabhängigkeit in den Grenzen der Biographieforschung aufgedeckt. Der Beitrag über die „Marokko-Reise Eugène Delacroix’“ versteht darüber hinaus künstlerisches Handeln als eine gesteigerte Form der Aneignung.
„Neues Fremdsein aufgrund von Überanpassung ohne versöhnende Verschmelzung“
Die sozialwissenschaftliche Perspektive unterscheidet zwischen drastischer Inhumanität innerhalb der Menschheitsgeschichte und empathischer Offenheit und erwähnt die moralische Seite der Begegnung mit dem Fremden vom Einfluss frühkindlicher Fremd-Erfahrungen.
Das 21. Jahrhundert wird mittels Feldforschung exemplifiziert, einmal anhand der subkulturellen indischen HipHop-Szene. Und auch am Beispiel koreanischer Remigranten von Krankenschwestern und Bergarbeitern, die in den 60er und 70er Jahren von der BRD angeworben worden waren, wird deutlich, dass nach einer Überanpassung ein neues Fremdsein geänderter Werte zu keiner versöhnenden Verschmelzung führt.
Partielle Assimilation unabdingbar
In einer subjekttheoretischen Analyse gelangt der Autor zu der Einsicht, dass eine partielle Assimilation unabdingbar ist, um in einem fremden Milieu zu bestehen. Die Merkmale Objektivität und (zweifelhafte) Loyalität als Grenzgänger oder Immigrant, können durch Assimilation dazu führen den eigenen Status zu verlieren oder innerhalb der Ursprungsgruppen ewige Randexistenz zu bleiben.
Für die akute aktuelle gesellschaftliche Lage in der Migrations-Debatte reissen die vorliegenden internationalen Beiträge aus sozial- und erziehungswissenschaftlicher, psychologischer, linguistischer und historischer Perspektive wichtige Aspekte an. Sie verdeutlichen darüber hinaus die Komplexität, die der gesellschaftliche Aneignungsprozess erfordert. Mehr aber nicht. ♦
Boris Zizek, Hanna N. Piepenbring (Hrsg): Formen der Aneignung des Fremden, 180 Seiten, Universitätsverlag Winter Heidelberg, ISBN 978-3-8253-4687-4
Dass Jean-Christophe Grangé ein Meister der Extreme ist, ist nichts Neues. Mord, Perversion, das Hinabtauchen in die Welt des Bösen, Lasterhaften, der Monstrositäten – das ist sein Metier, perfektioniert über viele Jahre und Bücher hinweg. Und doch hat er seinen Zenit längst überschritten, wie sein jüngster Roman „Die Fesseln des Bösen“ beweist. Weit entfernt von „Flug der Störche“ oder „Schwarzes Herz der Hölle“ ist der neue Grangé ein Grenzgänger, auf vielfältige Art und Weise…
Paris und der Mord an zwei Stripperinnen der Edelkaschemme „Le Squonk“ bilden das Szenario der Widerwärtigkeiten besonderen Ausmasses. Ein Mix verschiedenster Abartigkeiten führt unseren Antihelden Stéphane Corso, selbst im Zweifel über seine Daseinsberechtigung, zu Abgründen, die sogar für den erfahrenen Pariser Ermittler zu nah am Wahnsinn verortet scheinen.
Dabei fängt alles so Grangé-typisch schauderhaft schön an. Wir müssen diesmal nicht in das finstere Herz durch verschiedene Länder reisen, sondern befinden uns mitten in Paris, dem Pfuhl der Lasterhaftigkeit. Eine junge Stripperin, brutal ermordet, der Leichnam mit der Unterwäsche gefesselt, achtlos entsorgt. Die Art der Entstellung (vom Mund bis zu den Ohren aufgeschlitzte Wangen, ein postmortales Grinsen erweckt durch einen in die Kehle gestopften Stein) lässt denken an Munchs „Der Schrei“ oder an den Noir-Roman „Die schwarze Dahlie“ von James Ellroy bzw. an dessen Verfilmung durch Brian de Palmas.
Triebtäter mit extremer SM-Gangart
Ein Triebtäter? Als eine zweite, gleichermassen entstellte Leiche aufgefunden wird, ebenfalls eine Angestellte des „Le Squonk“, ermittelt Corso mit seinem Team aus Freaks und Genies unter Hochdruck.
Über japanische Fesselkunst – „Die Wahrheit des Blutes“ inkl. Reminiszenzen an Japan lassen grüssen – und spanische Malerei des 18. Jahrhunderts (Goyas „Pinturas rojas„) bis hin zu sexuellen Devianzen und extremen SM-Gangarten lässt Grangé diesmal nichts aus.
Warum, stellt sich die Frage? Um den Mainstream zu bedienen und den übersättigten und gelangweilten Leser mit exorbitanten Widerlichkeiten hinter dem Thriller-Einheitsbrei hervorzulocken? Mehr ist mehr? Für mein Gusto überhaupt nicht, eher verschreckt das.
Keine regelkonforme Polizeiarbeit
Es fängt düster an im ersten Teil, man ermittelt in verschiedene Richtungen. Unser Antiheld ist von der Vergangenheit zerfressen; von Dämonen heimgesucht, übertreibt er es mit der Gewalt. Regelkonforme Polizeiarbeit ist inexistent. Leider verliert Corso wie auch das ganze Geschehen bald jede Glaubwürdigkeit.
Ein Verdächtiger ist schnell gefunden, im zweiten Teil entpuppt sich ein stringentes Katz- und Mausspiel, das wie überhaupt die ganze Handlung in sich logisch erscheint.
Das grosse Manko liegt – neben einer gewissen Verliebtheit ins Widerliche – v.a. in der absoluten Überfrachtung, die spätestens in dritten Teil mehr als deutlich wird. Muss eine Erkenntnis und ein Turn gleich den nächsten Twist stehenden Fusses jagen? Muss man Charaktere so konzipieren, dass sie nur plakative Widerlinge und Monster sind? Kann man das Publikum nur noch durch zu viele Cliffhanger wirklich fesseln? Willkommen, Generation Netflix. Als Miniserie würde sich die durchwegs dichotome Welt des Ermittlers Corso nebst seinem Antagonisten Philippe Sobieski – dieser ist das monströs widerliche Enfant terrible des Buches, Genie und Mörder, oder vielleicht doch nicht?) – wunderbar eignen.
Charaktere ohne Graustufen
Mit einem Hang zur exzessiven Gewalt-Darstellung: Bestseller-Lieferant Jean-Christophe Grangé („Die purpurnen Flüsse“)
Graustufen scheinen inexistent, entweder nonstop böse, verkommen, dabei aber charismatisch verführerisch, wie der eben erwähnte „Sob le Tob“, bei dessen Charakterisierung Jean-Christoph Grangé aber viel zu sehr übertreibt. Frauen und Männer um ihn herum verkommen automatisch zu willigen Triebfolgenden. Grenzfälle des Erträglichen werden uns beispielsweise durch die Therapeutin eines der Opfer als übergestülpte Moral verkauft. Soll heissen: Es gibt per se nichts Böses (wie hier Nekrophilie); erst die Moral erschafft das Böse.
Gedankengänge mit Potential, wie z.B. die genetische Vererbung des geschilderten Wahnes, werden unglaubhaft „vor den Latz geknallt“ und wirken pathetisch. Generell wird der Überspitzung Tür und Tor geöffnet. Zeit für tiefergehende Betrachtung wesentlicher Elemente bleibt nicht. Ganz in Gegenteil: Unwichtiges Beiwerk wie die Ehe und die SM-Neigungen Corsos Ex Emiliya nimmt über Gebühr Platz ein. All das gipfelt in unübersehbaren Höchstformen im dritten Teil, der durchwegs nur noch zu Kopfschütteln führt.
Spannung mittels exzessivster Gewalt
Diese Rezension verwirrt Sie, weil sie recht assoziativ und wenig greifbar ist? Genau das ist der Eindruck, den dieses – keineswegs schlechte! – Buch in mir ausgelöst hat. Weiter ins Detail zu gehen, um das Unbehagen zu verdeutlichen, würde zu viel aufdecken und des Lesers Spannung schmälern, die vom Roman immerhin recht konstant aufrecht erhalten wird.
Fazit: Die Macht des Blutes trifft auf monströse Taten, die, weit zurückliegend, geplagte Seelen von Anfang an in den Abgrund treiben. Der neue Grangé unterhält streckenweise gut und knüpft an alte Zeiten an, verliert sich aber schnell in der exzessiven Betrachtung extremster Widerlichkeiten. Nichts für schwache Nerven. ♦
Jean-Christophe Grangé: Fesseln des Bösen, Roman-Thriller, 604 Seiten, Lübbe Verlag, ISBN 9783431041293
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Thriller-Roman auch über Jo Nesbø: Messer (Harry-Hole-Krimi Band 12)
Poetry Spam ist eine Facebook-Gruppe, die „modernen Poeten eine digitale Bühne“ bieten will: „Ob geschriebenes Wort oder Poetry Clip, bebilderte Poesie oder Mini-Drama; FB bietet spannende multimediale Verknüpfungen!“, schreiben die Initianten. Erklärtes Ziel ist es dabei, „digitale Formen zu suchen, um User/innen ein neues, sinnliches Erfahren von Texte zu ermöglichen“ und so eine „Poetisierung des Netzes“ zu erreichen.
Dementsprechend lädt die Gruppe alle Autorinnen und Autoren laufend ein, ihre neuen Texte, Bilder, Videos und Links an Poetry Spam bzw. direkt als Nachricht zu senden. Dabei schliesst Poetry Spam weitergehende Publikationsmöglichkeiten dieses „einzigartigen Netz-Projektes“ nicht aus: Anthologie, Happenings oder Lesungen sind angedacht. Hier finden sich die weiteren Einzelheiten des Projektes. ♦