Laublose Pflanzen auf meinem Fensterbrett blüht weisse Orchidee
Sehr viele Krähen einsame Katze ruht Winterparadies
Eiszapfen am Dach ich schreibe mein Tanka von ersten Lenzspuren
Pawel Markiewicz
Geboren 1983 in Siemiatycze (Polen), Lyrik-Veröffentlichungen in div. Anthologien, schreibt vorwiegend Haiku und Tanka in polnischer, englischer und deutscher Sprache
Der Schweizer evangelisch-reformierte Theologe Karl Barth (1886 bis 1968) gilt für die evangelischen Kirchen europaweit aufgrund seines Gesamtwerks, Römerbriefkommentar und 13 Bände Kirchliche Dogmatik als „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“. Berühmt wurde er vor allem wegen seines vehementen Einsatzes gegen das Hitler-Regime. Sein Postulat: „Jesus Christus ist das eine Wort“ prägt das Barmer Bekenntnis von 1934 als theologisches Fundament der Bekennenden Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus. Vor 50 Jahren am 10. Dezember ist er gestorben. Reformierte und Lutheraner würdigen ihn 2019 mit einer Reihe von Veranstaltungen.
Der Würzburger systematische Theologe Klaas Huizing (geboren 1958) beleuchtet das geistige Wirken Karl Barths in seinem Werk „Gottes Genosse“. In einer Art Biografie des „Che Guevara der Protestanten“, wie der Kreuz-Verlag die Veröffentlichung ankündigt, verschafft er einen Zugang zu dessen bis heute prägender Theologie. So darf er nach intensiver Recherche als Kenner des Gesamtwerks gelten. Die Anhänge mit den Lebensdaten im Roman „Zu dritt“ sind ein Beleg dafür.
Wie stark oder schwach der Mensch im grossen theologischen Wissenschaftler gewesen ist, woher er seine Energie geschöpft hat, das gestaltet Huizing in seinem gleichzeitig erscheinenden neuen Roman „Zu dritt“. Mit diesem Kenntnispolster und mit seiner Erfahrung als Romanautor („Der Buchtrinker“; ein Jesus-Roman „Mein Süsskind“ u. a.) geht er das Dreiecksverhältnis in Barths Familie an und liefert eine authentisch wirkende Lebensgeschichte von den Leiden und Freuden/Wirren der aussergewöhnlichen Wohngemeinschaft.
Die Frauen hinter den Männern
Professor für Systematische Theologie und Roman-Autor: Klaas Huizing
Dass hinter jedem grossen Mann eine starke Kraft steht, die ihm Halt gibt, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Häufig ist die Kraft eine Frau. Frauenquoten in der Politik, Frauenanteil in der Wirtschaft, Frauen aufs Podium? Die Verlage stellen diesen Aspekt neuerdings in ihre Programme. Keine Frage, Richtigstellung dient der Wahrheitsfindung und führt zu Gerechtigkeit. Und die Historie weist eine Menge Gründe und Beispiele dafür aus. Einige davon führe ich hier an:
Im berühmtesten Briefwechsel des Mittelalters erfahren wir vom französischen Scholastiker Petrus Abaelard, der ab 1114 Hauslehrer der jungen Frau Heloise war. Als sie schwanger wurde, liess ihn Heloises Onkel und Vormund, der Subdiakon Fulbert von Notre-Dame von Paris, entmannen. Sie heirateten heimlich. Heloise zog sich in den Konvent Sainte-Marie von Argenteuil zurück, Abaelard ging als Mönch in die Abtei Saint-Denis. Die zwei sahen sich nie wieder, aber schrieben sich viele Briefe.
Frauenpower in Wissenschaft und Kultur
Der sogenannte Mönchsvater Benedikt und seine leibliche (Zwillings-)Schwester Scholastika (480 bis 542): Gregor der Grosse erwähnt in einer Vita, dass sie ihren Bruder bei einem ihrer jährlichen Dialoge durch inständiges Gebet aufhalten wollte. Es habe daraufhin ein so gewaltiges Unwetter eingesetzt, dass Benedikt die Nacht über bleiben musste. Gregors Kommentar zu dieser Episode: „Jene vermochte mehr, weil sie mehr liebte.“
Platonischer Art soll das Verhältnis zwischen dem grossen katholischen Jesuiten-Theologen und Konzilsberater Karl Rahner und der Dichterin Luise Rinser gewesen sein, wie sie in ihrem Buch „Gratwanderung“ (1994) aus den Liebesbriefen („Wuschel an Fisch“) ausplaudert. Daneben habe ihre Liebe aber auch einem Benediktinerabt gegolten.
Selbstverständlich gibt es ebenso Exempel ausserhalb des kirchlichen Bereichs. In der Lyrik beispielsweise: Die Muse Paul Celans, Brigitta Kreidestein, stellte sich in ihrem Bericht in Briefen und Dokumenten „Celans Kreidestein“ (2010) die Frage, wie der grosse Lyriker „die Gleichzeitigkeit seiner Bindungen an verschiedene Frauen oder sein Werben um sie in seiner Gefühlswelt unterbrachte …“ Man kann nicht von der Dichtung auf die Autorenvita schlussfolgern, nicht ausschliesslich. „Doch kann hieraus nicht gefolgert werden, dass zwischen dem Leben des Künstlers und der Kunst unbedingt ein Missverhältnis liegen müsse“, zitiert sie Roman Jakobson aus einem Aufsatz über russische Dichter.
Frauenpower in der Naturwissenschaft: In jüngster Zeit sind mehrfach Biografien und Romane über Mileva Einstein erschienen und somit auch über ihren Mann Albert Einstein, der die brillante Physikerin für seine wissenschaftliche Arbeit benutzt und dann fallengelassen habe.
Theologe mit zwei Frauen unter einem Dach
Bedeutendster reformierter Theologe des 20. Jahrhunderts und Bigamist: Karl Barth
Nun also auch Karl Barth. Bei ihm sind es zwei Frauen gewesen, die mit ihm Tür an Tür in einer Wohnung gelebt und gearbeitet haben. Vater, Sohn und Heiliger Geist gelten in der Theologie als göttliche Trinität. Im Hause Barth herrschte 35 Jahre lang eine Dreiheit, wenn auch keine Dreieinigkeit zwischen Karl, dem Mann, seiner Ehefrau Nelly und der früheren Rotkreuzschwester Charlotte von Kirschbaum (Lollo), die er zu seiner Sekretärin/Assistentin erwählt hat. Der Hintergrund, die Basis solcher Arbeitsatmosphären wird im Allgemeinen vom wissenschaftlichen Veröffentlichungs-Output verdrängt, obgleich sie höchstwahrscheinlich der Nährboden gewesen ist. Charlotte hatte in diesem Fall die stärkere Position („Ich will Dein Du sein.“).
Das Verhältnis war weder üblich noch gesetzlich korrekt, es war auch nicht frei von Spannungen (Lollo: „Ehefraktur“). Fruchtbar ist die Doppelliebe in vielerlei Hinsicht gewesen: fünf Kinder (Karls „gesammelte Werke“), menschliche (Doppel-)Liebe in grösstmöglicher Offenheit, intensive theologische Arbeit, Engagement in Gesellschaft und Politik. Ein bewegtes Leben ist es gewesen: häufige Umzüge, Auslandsreisen, Bekanntschaften, und ein bewegendes Leben: politische Wortmeldungen bis zur Ausweisung aus Deutschland, Lehre, Standardwerk der Kirchlichen Dogmatik; menschlich: zwei Frauen, ihre späteren Krankheiten.
Nicht immer sei er den „Ausbrüchen weiblicher Dialektik“ gewachsen gewesen. Aber er gestand sich ein, dass er das „Karnickel“ war. Wie viel Potenzial doch in den Frauenköpfen stecke, staunte Karl Barth über seine Sekretärin, Geliebte (Lollöchen“) und zweite Lebensgefährtin, als kenne er die Zehn Gebote nicht, wenn er nach Matthäus 5,28 wiederholt seine Ehe bricht. Er machte ihr ein „armdickes Kompliment“ und förderte ihr „gottgeschenktes“ Talent in jeder Hinsicht. Lollo war elektrifiziert von ihm, nuschelte ihm aber auch „Doppelherz“ zu. Und auch der eine oder andere Leser wird die Lektüre der Offenlegung einer familiären Passionstragödie in einem christlichen Haus pikanter betrachten als die Outings von Pfarrhaushälterinnen über das Verhältnis zu ihrem zölibatären katholischen Pfarrherrn.
Huizing bewertet die Dreier-Symbiose nicht, wertet also weder ab noch auf. Er polarisiert zwei unterschiedliche Frauen-Charaktere, wohl aus dramaturgischen Gründen. Hier die fordernde, selbstbewusste, treibende Starke und Intellektuelle mit dem Lollo-Tosen, die den Professor ganz haben will. Ihre Liebessehnsucht hat genauso starke körperliche Ziehkraft wie die sinnliche. Dort die zwar gebildete, aber lieber im Schwyzer Deutsch schwätzende Nelly, die Frau seiner Kinder, die Hausfrau und Mutter. Aus demselben Grund weicht der Autor auch gelegentlich von der strengen Chronologie ab. Er fühlt sich ein und drückt aus, als sei er ein wachsames Videoauge, das Authentisches festgehalten hat. Sein Stil ist feinfühlend, mitreissend, spart aber knisternde Erotik beim Schildern der sexuellen Begegnungen zwischen Lollo und Karl nicht aus.
Er zeigt die grossmütige Gedulds- und Toleranzschwelle von Nelly, der Frau, die Barth 1913 in Bern geheiratet hatte. Sie gipfelten in der Zustimmung, dass die Geliebte Lollo im Familiengrab auf dem Basler Friedhof beigesetzt werden kann. Sie selbst starb als Letzte der drei 1976. Er betont aber auch die wissenschaftliche Arbeitsleistung ihrer Gegenspielerin. Huizings Roman verschafft Durchblick, abwägende Ausgeglichenheit, würdigt nicht nur den lexikalischen Namen einer Berühmtheit, sondern auch die aufbauende Zu- und Mitarbeit der Frauen an der Seite des „Vaters“ der Bekennenden Kirche, der gerne für „14 Tage Papst sein“ wollte. Und er relativiert ein glorifizierendes Bild, das die menschliche Natur unterschlagen möchte.
Im Epilog lässt der Autor vier Barth-Kinder in heutigen Statements über das Dreiecksverhältnis ihres Vaters mit „Tante“ Lollo zu Wort kommen. Sie beantworten quasi aus interner Aussensicht einige offene Leserfragen.
Unverbrauchter Roman-Stil mit Spannung
Fazit: In seinem Roman „Zu dritt“ schildert Theologie Klaas Huizing der anhand einer Fülle von Briefwechseln dokumentierten Lebensdaten die biografische, allzu menschliche, von heftiger Libido gesteuerte Seite des Theologen Karl Barth. Überwiegend aus der Sicht der beiden Frauen und ihrer aufwühlenden Gefühlswallungen im Meer aus Freud und Leid, Liebe und Neid. Dieser Roman ist lesenswert wegen seiner historischen, soziokulturellen und psychosozialen Komponenten.
Die kurzen Perspektivenwechsel lockern auf. Sie erzeugen immense Spannung, auch mit konzentrierten mehrdeutigen Wörterauslegungen oder -anspielungen. Er erzählt als Romancier mit unverbrauchten Verben und poetischen Formulierungen („Sie spürte sofort die Muskeln des Textes, …“) ein wenig bekanntes familiäres Drama. Der Leser darf offen in alle Richtungen Schlüsse ziehen, Widersprüche erkennen und nach Erklärungen forschen. Bei genauem Hinsehen ist auch die Subtilität der literarischen Konstruktion Huizings auszumachen: Was Karl Barth in seinem Römerbrief Kommentar als Erkenntnis niedergeschrieben hat, ist aus seinem eigenen Erleben genommen. Liebe sei existentielles Vor-Gott-Stehen, das begründe die Individuation: „Wenn man Gott und Welt vertauscht, …, dann werde das ganze Leben Erotik ohne Grenze!“ Das Chaos zerfalle dann und es werde alles möglich, alles. 1956 erschien von Karl Barth „Die Menschlichkeit Gottes“. ♦
Klaas Huizing: Zu dritt – Karl Barth, Nelly Barth, Charlotte von Kirschbaum (Roman), 400 Seiten, Klöpfer & Meyer Verlag, ISBN 978-3-86351-475-4
Der grüne Pullunder oder Wie mir meine Hemmungen einmal das Leben retteten
Lothar Becker
Bis zu dem Tag, an dem ich herausgefunden habe, dass ich Hemmungen habe, dachte ich doch tatsächlich, ich hätte keine Hemmungen. So eigenartig es sich auch anhört, ich habe mein äusserst seltsames Verhalten über Jahre hinweg für völlig normal gehalten. Ich wunderte mich nur, dass ich, wenn ich als Junge sonnabends zum Bäcker geschickt wurde, es nie fertig brachte, der Verkäuferin in die Augen zu sehen und die mir aufgetragene Anzahl an Brötchen zu verlangen. Ich konnte mir nicht erklären, wieso, aber es war eine Tortur. Ich betrat das Geschäft, und wusste, dass es mir unter gar keinen Umständen möglich sein würde, in Gegenwart dieser jungen Dame so etwas Grobes und Gefühlloses wie „Brötchen“ zu sagen. Ich schwitzte, torkelte durch den Laden und hatte den Verdacht, mein Kopf würde jeden Moment platzen. Sobald ich an der Reihe war, starrte ich wie ein Geisteskranker an die Zimmerdecke, und kaufte irgendetwas anderes, Schmalzkringel oder Streuselschnecken, oder ich ging gleich in den Fahrradladen nebenan und holte eine Luftpumpe.
Darüber sind meine Eltern tief besorgt gewesen und haben immer wieder für mich extrem schmerzhafte Äusserungen wie „Mit dem Jungen ist doch was!“ oder „Von mir hat er das aber nicht“ gemacht. Natürlich habe auch ich geahnt, dass mit mir irgend etwas nicht stimmte, aber mir war nicht klar, dass es Hemmungen waren. Ich dachte eher an Blödheit oder so etwas.
Aber dann schickten mich meine Eltern zu einem Psychologen. Vermutlich, weil ich ihnen unheimlich wurde, oder weil sie es satt hatten, dass ich ihnen zum Frühstück eine Luftpumpe auf den Teller legte.
Der Psychologe war ein sehr einfühlsamer Mensch. Er sass auf einem Drehstuhl, hatte die Beine übereinander geschlagen und zupfte an der Bügelfalte seines linken Hosenbeines herum.
„Und?“, fragte er, „was fehlt dir denn?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Na, aber“, der Psychologe setzte ruckartig beide Füsse auf den Fussboden, damit er seine Hände auf seine Oberschenkel stützen und seinen Kopf weit vorstrecken konnte, „mir kannst du es doch sagen!“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nun komm schon! Wie soll ich dir denn helfen, wenn du nicht mit mir redest?“
Um meine Hilflosigkeit zu verdeutlichen, zuckte ich noch einmal mit den Schultern und verdrehte dabei die Augen. Der Psychologe kroch noch ein Stück näher an mich heran. So nah, dass er zu schielen begann, wenn er mich ansah.
„Was ist eigentlich dein Problem?“
„Ich weiss nicht. Dass ich so bin wie ich bin.“
Der Psychologe nickte verständnisvoll.
„Dass du so bist wie du bist. Soso, aber was stört dich denn an dir?“
Ich versuchte seinem Gesicht auszuweichen.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“
Das Gesicht des Psychologen folgte mir unerbittlich.
„Oh doch, das kannst du!“
„Nein!“
„Aber warum denn nicht?“
Ich hielt mir die Ohren zu, und schrie so laut ich konnte:
„Weil ich mir fast in die Hose mache, wenn ich daran denke, dass ich mit ihnen darüber sprechen soll!“
Diesmal wich der Psychologe ein wenig zurück:
„Na, jetzt kommen wir der Sache schon näher! Du möchtest darüber sprechen, aber du kannst es nicht, stimmt’s?“
Ich konnte nicht mehr an mich halten, und schlug mit beiden Fäusten auf die Tischplatte.
„Na, das sage ich doch die ganze Zeit!“
Der Psychologe lehnte sich zurück und beobachtete mich wie eine Laborratte.
„Aber warum kannst du denn nicht darüber sprechen?“, fragte er, und liess seine Brille ein paar Zentimeter auf seiner Nase herunter rutschen.
„Es geht nicht“, sagte ich, und sah an ihm vorbei aus dem Fenster. Draussen trainierte ein Vogel Kamikaze.
„Warum geht es nicht?“ Der Psychologe stand auf und stellte sich vor das Fenster, und ich musste den Kopf sehr schief halten, um den Vogel noch sehen zu können.
„Wenn ich das wüsste! Wissen sie was? Ich habe das Gefühl, mir platzt der Kopf.“
Der Psychologe nahm einen Apfel aus einer Schale und liess ihn von einer Hand in die andere rollen.
„Weisst du, was ich denke?“, fragte er.
„Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäss.
„Du hast Hemmungen“, sagte er.
„Hemmungen?“
„Ja“, sagte er.
Seit diesem Tag war mir der Name meines Leidens bekannt.
Dadurch, dass ich nun wusste, was es war, wurde es aber auch nicht besser.
Meine Hemmungen erstreckten sich auf alle erdenklichen Bereiche. In der Schule hinderten mich meine Hemmungen massiv am Weiterkommen. Weil ich Hemmungen hatte, die richtigen Ergebnisse aufzuschreiben, gab ich bei Klassenarbeiten ausschliesslich leere Blätter ab. Ganz schlimm war der Musikunterricht. Natürlich war ich viel zu gehemmt, um zu singen. Ich war der festen Ansicht, dass, sobald ich den Mund öffnen würde, das Weltgefüge zusammenbräche. Ich stand vor der Klasse, der Boden schwankte unter meinen Füssen, meine Hände tasteten in der Luft nach einem Halt, mein Mund öffnete und schloss sich völlig geräuschlos. Nach drei Minuten taumelte ich zurück in meinen Stuhl.
„Was war denn das?“, fragte meine Musiklehrerin.
„Ein Lied“, sagte ich.
„Nein, eine sechs“, sagte meine Musiklehrerin.
„Interessant“, sagte ich.
Meine durchwegs auf diese mich stark behindernden Hemmungen zurückzuführenden schlechten Leistungen sanken auf ein derartig niederes Niveau, dass mein Klassenlehrer, Herr Hartleibl, behauptete, ich hätte seinen Vorrat an schlechten Zensuren aufgebraucht. Etwas Dümmeres als mich müsste man mit der Lupe suchen. Weil ich zu gehemmt war, zu widersprechen, gab ich ihm recht.
Ich erinnere mich voller Ekel an die furchtbaren Zeiten der Tanzstunde. Viel zu gehemmt, um ein Mädchen anzusprechen, tanzte ich ausschliesslich mit Jungen. Sogar zum Abschlussball. Immer, wenn Heiner und ich über das Parkett rauschten, bildete sich ein Spalier und ohrenbetäubender Beifall brandete auf. Ich kann nicht behaupten, dass mein Ruf davon auf irgendeine Weise profitiert hätte. Man hat es wirklich nicht leicht auf dieser Welt, wenn man Hemmungen hat, wirklich nicht.
Einmal aber haben mir meine Hemmungen sogar das Leben gerettet. Man sollte es nicht glauben, doch es ist die Wahrheit, ohne meine Hemmungen stände ich jetzt vielleicht nicht hier. Es fing ja völlig harmlos an. Mit einem Pullunder. Mit einem neuen, extrem grobmaschig gestrickten, widerlich hässlichen, grünen Pullunder. Er lag auf meinem Bett und daneben stand meine Mutter.
„Ziehe ihn an!“, sagte meine Mutter.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte ich.
„Aber warum denn?“, fragte meine Mutter.
„Weil er hässlich ist“, sagte ich.
„Überhaupt nicht!“, meine Mutter strich mit ihrem Handrücken über das grüne, Fusselige Teil, „Pullunder sind jetzt der letzte Schrei!“
Ich sah sie vollkommen verständnislos an.
„Was? Das ist doch nicht dein Ernst! Mit dem Ding mache ich mich total lächerlich!“
„Unfug!“, sagte meine Mutter, “ na los, probiere ihn wenigstens mal an!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stülpte sie mir mit nicht zu überbietender Geschwindigkeit den Pullunder über den Kopf. Dann schubste sie mich vor den Spiegel.
„Na, was sagst du nun?“
Ich musste mehrmals schlucken, bevor ich antworten konnte.
„Ich sehe aus wie ein Frosch!“
„Na, jetzt übertreibst du aber!“
Meine Mutter begann, hinter mir am Saum des Pullunders herum zu zupfen.
„Ich gehe so nicht raus“, sagte ich.
„Das werden wir ja sehen!“, sagte meine Mutter um einiges lauter als nötig. Ihr Verhalten blieb nicht ohne Folgen. Noch während ich sie durch eine Vielzahl fantasievoller Gesten zu einer Dämpfung ihrer Stimme animieren wollte, kam plötzlich mein Vater herein. Sein Kopf war hochrot. Offensichtlich schienen wir ihn bei einer seiner Lieblingsbeschäftigungen wie auf dem Sofa liegen oder aus dem Fenster sehen gestört zu haben.
„Was ist denn hier schon wieder los?“
Meine Mutter eröffnete ihm, dass ich den neuen Pullunder nicht tragen wollte.
Meinem Vater war die Verständnislosigkeit ins Gesicht geschrieben.
„Was? Den neuen Pullunder! Das gibt´s doch gar nicht! Ich will dir mal was sagen, Junge. Wir arbeiten Tag und Nacht, um dir jeden erdenklichen Luxus zu bieten. Um dich zu ernähren, um dich zu kleiden, um dir alles kaufen zu können, was du brauchst. Damit du genau so chic wie die anderen aussiehst, und du? Wie dankst du es uns?“
Er sagte tatsächlich „chic“! Du lieber Himmel! Da hätte er ja gleich „dufte“ sagen können.
Mein Vater stützte seine Hände in die Hüften und betrachtete mich verständnislos.
„Was hast du denn an dem Pullunder auszusetzen?“
„Er entstellt mich“, sagte ich.
„Ich fasse es nicht!“, brüllte mein Vater.
„Vielleicht ist es wegen seiner Hemmungen“, sagte meine Mutter.
„Das ist mir egal!“, die Stimme meines Vaters überschlug sich, „der Pullunder wird nicht wieder ausgezogen!“
„Aber Günther!“, sagte meine Mutter. Mein Vater hiess Günther.
„Nichts da mit Günther!“, mein Vater genoss es, endlich wieder einmal autoritär sein zu dürfen, „wir nehmen schon genug Rücksicht! Aber alles hat seine Grenzen! Irgendwann reisst auch mir der Geduldsfaden! So, und jetzt höre mir mal genau zu: Wenn ich dich in den nächsten Tagen ohne Pullunder erwische, setzt es eine Tracht Prügel! Damit das klar ist! Und nun ab, Brötchen holen!“
Ich warf meiner Mutter einen flehentlichen Blick zu. Als Antwort verdrehte sie ihre Augen, was soviel bedeutete wie: Du weisst doch, wie dein Vater ist, wenn er sich aufregt.
Da nahm ich den Einkaufsbeutel und lief los. Kaum, dass ich das Haus verlassen hatte, überfielen mich die stärksten Hemmungen, meine durch den grünen Pullunder der Lächerlichkeit preisgegebene Gestalt den Blicken anderer Menschen auszusetzen. Am liebsten wäre ich die Treppe rückwärts wieder nach oben gegangen. Aber daran war natürlich nicht zu denken. Einfach weiter in Richtung Bäckerei zu laufen, erschien mir allerdings genau so unmöglich. Was um alles in der Welt sollte ich bloss tun? Ich konnte weder vor noch zurück. Während ich auf dem Bordstein von einem Bein auf das andere trat, begriff ich, dass ich mich in eine durch und durch ausweglose Situation hinein manövriert hatte. Ich war zu einem Gefangenen meiner Hemmungen geworden, zu einer Marionette meiner verkorksten Emotionen. Mein Gemüt begann sich zu verdunkeln. ´Ich halte das nicht mehr aus`, dachte ich, ´kein Mensch hält es aus, ein Freak wie ich zu sein, ein Freak in einem grünenPullunder !`
Und dann passierte es. Irgendetwas in meinem Gehirn schaltete sich um, ich verlor jedes Interesse an meiner Person und fasste den Entschluss, meinem Dasein mit einer Überdosis Schlaftabletten ein rasches Ende zu bereiten. Natürlich mit Schlaftabletten. Es mit Schlaftabletten zu tun hielt ich für die einzige mir zumutbare Methode, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Menschen mit Hemmungen nehmen für so etwas Schlaftabletten, dachte ich, und rannte, ohne nach links und rechts zu sehen, zur nächsten Apotheke, riss deren Tür auf und ging hinein. Das erste, was ich nach meinem Eintreten sah, war die Apothekerin. Eine Apothekerin mit den äusserlichen Attributen eines Filmstars. Manchmal schüttelte sie ihren Kopf. Dann wehte ihr Haar in einer Art Zeitlupe. Es war unglaublich. Natürlich begriff ich sofort, dass ich in ihrer Gegenwart keinesfalls so etwas Anzügliches, Zweideutiges, Missverständliches wie „Schlaftabletten“ sagen konnte. Es ging nicht. Ich schwitzte, vermochte mich kaum auf den Beinen zu halten, mein Kopf fühlte sich an wie ein aufgeblähter Heissluftballon. Als ich an der Reihe war, starrte ich wie ein Geisteskranker an die Decke und sagte:
„Schl…“
Weiter kam ich nicht.
„Schl..?“, fragte die Apothekerin.
Ich nickte.
„Was meinst du mit Schl…?“, fragte sie.
„Na eben Schl….“, sagte ich, stürmte zur Tür hinaus und ging in den Fahrradladen nebenan, um eine Luftpumpe zu kaufen.
Natürlich hat sich diese Anschaffung für mein Vorhaben in keiner Weise als nützlich erwiesen. Deswegen bin ich ja auch noch am Leben. Später habe ich oft über diesen denkwürdigen Tag nachgedacht und bin zu der bemerkenswerten Erkenntnis gelangt, dass Hemmungen vermutlich die einzigen Gefühlsregungen sind, die den Entschluss, freiwillig aus dem Leben zu gehen, zuerst veranlassen und dann doch wieder verhindern. Ist das nicht seltsam?
Mittlerweile besuche ich eine Selbsthilfegruppe, die anonymen Gehemmten. Ich kann nicht behaupten, dass es mir dort übermässig gefallen würde. Wir bekommen Lockerungsübungen gezeigt, und versuchen, mit Rollenspielen schwierige Situationen zu bewältigen. Manchmal werden wir auch zu extrem peinlichen Handlungen gezwungen. Wir müssen dann Strickmützen tragen oder wildfremde Personen nach dem Weg fragen, was häufig die Grenzen des Erträglichen sprengt.
Bedauerlicherweise haben sich trotz meiner regelmässigen Teilnahme bis zum heutigen Tag noch keine Anzeichen einer raschen Genesung eingestellt. Das mag zu einem nicht zu unterschätzenden Teil daran liegen, dass sämtliche der Gruppe zugehörigen Betroffenen grosse Hemmungen haben, über ihre Hemmungen zu sprechen. Aber einige kleine Erfolge zeigen sich allmählich doch. So habe ich zum Beispiel keine Hemmungen mehr, Geld zu nehmen, und einmal abgesehen von diesen subtilen Lichtblicken, konnte ich etwas sehr Wichtiges lernen, denn, wie Frau Kleinhempel, unsere Therapeutin ganz richtig bemerkt hat, kann es ohne Hemmungen keine funktionierende Gemeinschaft geben. Ausgelebte Hemmungslosigkeit würde unsere Gesellschaft in kürzester Zeit zerstören. Nur durch Hemmungen kann das Chaos, die blanke Anarchie verhindert werden. Da kann man einmal sehen! Ich würde ihr zu gern einmal sagen, dass sie damit vollkommen recht hat. Aber dafür bin ich bedauerlicherweise noch viel zu gehemmt. ♦
Geb 1959, Studium der Sozialpädagogik, schreibt hauptsächlich Belletristik, letzte Roman-Veröffentlichung „Bubble Gum 69“ im Berliner Eulenspiegel Verlag, Texte und Vertonung für/von Musicals, lebt in Limbach-Oberfrohna/D
Johann Wolfgang von Goethe formulierte 1827 in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann als wesentliches Merkmal der Novelle „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“. Novellen gestalten allgemein gesehen von einem wahren Kern ausgehend eine Neuigkeit mit erzählerisch mehr oder minder spannenden Ausschmückungen. Etwas hätte so sein können oder wäre sicherlich perfekter geworden, als es in Wirklichkeit gewesen ist. Die Kunst des Autors liegt darin, das Ereignis derart plastisch zu erzählen, dass es nahezu authentisch erscheint. Bei seinem Debüt über den Maler Ernst Ludwig Kirchner ist es Ralf Günther hervorragend gelungen, die Kriterien einer Novelle umzusetzen.
Im Fall der ausgedachten Dresden-Episode von Johann Sebastian Bach kann man ihm die meisterliche Formbeherrschung ebenso wenig absprechen. Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass seine Novelle „Als Bach nach Dresden kam“ um eine fiktive Novität aufgebaut ist. Der Bach-Experte Jan Katzschke hat das in seinem Nachwort „Dichtung und Wahrheit des Dresdner Tastenduells“ erläutert und einen echten Dresdner Orgelwettstreit von 1650 sowie in Rom das Duell im Jahr 1709 zwischen Georg Friedrich Händel an der Orgel und Domenico Scarlatti auf dem Cembalo angeführt.
„Anfang und Ende aller Musik“: Johann Sebastian Bach
Für den Nekrolog auf Johann Sebastian Bach, der „Anfang und Ende aller Musik“ sei, wie es Max Reger (1873 bis 1916) formuliert hat, wurde 1754 zu seiner Glorifizierung eine Anekdote über einen angeblichen Wettstreit zwischen ihm als gediegenem, frommem Provinzmusiker am deutschen Fürstenhof und dem skandalumwitterten, überheblichen Hoforganisten Louis Marchand (1669 bis 1732) des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. in Dresden kreiert. Dieses Tastenduell hat 1717 nicht stattgefunden, denn zu jener Zeit war Bach Konzertmeister im Fürstentum Weimar und war soeben zum Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt in Köthen ernannt worden. Man kann die Mär folglich getrost begraben und vergessen. Fakt ist vielmehr, dass Johann Sebastian Bach zum Dank für den verliehenen Titel „Hofkompositeur“ in einem zweistündigen Konzert am 1. Dezember 1736 die Silbermann-Orgel in der Dresdner Frauenkirche bespielt hat.
Spannend-amüsantes Orgel-Duell
Fiktives Duell von zwei der besten Organisten ihrer Zeit: Johann Sebastian Bach gegen Louis Marchand
Aus einer Randnotiz der Musikgeschichte gestaltete Ralf Günther somit ein spannendes Orgel-Duell zwischen zwei musikalischen Grössen des 18. Jahrhunderts zu einer höchst amüsant erzählten Begebenheit.
Kurfürst August der Starke habe den Direktor seiner Dresdner Hofkapelle, den flämischen Geiger Jan-Baptist Woulmeyer alias Jean-Baptiste Volumier, beauftragt, den Hoforganisten Louis Marchand des Sonnenkönigs Ludwig XIV. zu einem Konzert in Dresden zu überreden. Der habe Konkurrenz gewittert und sich den gefakten Wettstreit ausgedacht. Den Einfädler Volumier hatte seine eigene Täuschung, den grossen Bach zu hören, obwohl es der … Schulz gewesen ist, auf die die Finte gebracht. Er hiess ihn eine Bach-Perücke aufzusetzen, als der Franzose, seinerseits in Frauenkleider verhüllt, die Probe aushorchen wollte. Was er zu hören bekam, schreckte ihn derart ab, dass er wieder abreiste und den Wettstreit der Orgelgiganten nicht antritt. Schliesslich habe auch Volumiers Befürchtung, der Kurfürst habe den Franzosen an seinen Hof engagieren wollen, sich als überängstlicher Eifer herausgestellt.
Einfühlsame und ausdrucksstarke Novelle
FAZIT: „Als Bach nach Dresden kam“ von Ralf Günther ist amüsante Novelle mit reichlich Zeitkolorit des 18. Jahrhunderts über den Musikerwettstreit zwischen dem Pariser Orgelgiganten Louis Marchand und Johann Sebastian Bach, der womöglich in Dresden stattgefunden haben könnte, wenn der Vermittler des Kurfürsten nicht aus Konkurrenzangst gefakt, sondern mit offenen Tasten gespielt hätte…
Die Schilderungen Ralf Günthers sind bildhaft in den beschriebenen Gesten, einfühlsam in den Dialogen und daher ausdrucksstark. Noch die nebensächlichste Anmerkung bezieht er auf das Kerngeschehen. Die Sprache ist gelegentlich historisierend, deswegen für heutige Ohren etwas langatmig, aber sie bringt die Zeitgeschichte anschaulich und im Detail ins Bild. Manchmal hat man allerdings auch den Eindruck, ein Passus wiederhole sich. Die Darstellung der Unannehmlichkeiten einer Reise in der Postkutsche desillusionieren jeden Romantiker. Interessant ist der Einblick in das Innenleben einer Orgel, das anhand einer Orgelabnahme Bachs ausführlich geschildert wird. Auch die Liebe wird nicht vergessen, sowohl in Paris als in Dresden: Während seiner Täuschungsmanöver verliebte sich Volumier in Bachs Cousine Friedelena, wurde aber auf später vertröstet. Am Ende des spannenden wie unterhaltsamen historisch-musikalischen Rätselstücks durfte der nicht in das Täuschungsmanöver involvierte Dritte lachen: der Dresdner Hoforganist, dessen bestehende Position von August dem Starken nie infrage gestellt worden war. ♦
Oktoberlicht fliesst weich wie Milch in Güssen
aus bernsteingelbem Himmelsdunst geschöpft.
Es rinnt, als hätte man den Mohn geköpft,
der Wünsche schwellen lässt zu Zungenküssen.
So tanzt, ihr Mücken, tanzt in leichten Schwärmen
und füllt die Luft mit eurem Menuett –
ich schwanke heute herbstberauscht zu Bett
und höre draussen Bacchus fröhlich lärmen.
Stille
Sanfter Abschied liegt in diesem Leuchten. Tröstend greift die Wärme mir ins Haar. Herbstlich perlt der Tau, das Gras zu feuchten, himmelweit glänzt Bläue sonnenklar.
Wieder einmal sickert alles Werden hin zum Ursprung der schon immer war. Dichter drängen sich am Hang die Herden und es singt die Stille wunderbar.
Alpha und Omega
Mit der Sense mähte ich das Gras, das junge.
Frühlings Atem, der aus gelben Säften quoll,
sog als süssen Rauschduft ich in meine Lunge,
dehnte weit die Brust, des Dranges übervoll.
Mit der Sichel mähte ich das Kraut, das herbe.
Sommers Sterben lag schon lange in der Luft.
Unter meinen Füssen splitterte die Scherbe,
lautlos schwebte Nebel aus der Ahnengruft.
Jahrgang 1963; geboren, aufgewachsen und wohnhaft in Burgdorf/Emmental; verheiratet, Vater zweier Söhne; 1982 bis 1988 Theologiestudium in Bern, dann Wechsel in den Journalismus; von 1996 bis 2012 Redaktor bei der „Berner Zeitung“; heute Redaktionsleiter Bern der Monatszeitung „reformiert“; Autor von Romanen, Erzählungen, Lyrik und Theaterstücken.
„Die Rückkehr der Apfelfrauen“ ist die Fortsetzung des Bestsellers „Eva und die Apfelfrauen“ von Tania Krätschmar. Bei diesen Büchern handelt es sich um unterhaltsame Frauenromane, deren Protagonistinnen nicht etwa 30, sondern um die 50 sind.
Nun sind „Frauenromane“ nicht so mein Genre, populäre Literatur interessiert mich hingegen sehr, weil es etwas über kulturelle Wertigkeiten aussagt. (Die Zeitschrift „Landlust“ erfreut sich immer noch grosser Beliebtheit, mit einer Auflage von knapp 900.000 verkauften Exemplaren überholte sie vor einigen Jahren sogar den „Stern“). Themen wie Landleben oder ländliches Wohnen sind sehr beliebt und zeugen vom Wunsch, aus der Komplexität des Alltags auszusteigen und ein einfacheres, naturverbundenes Leben zu führen.
Genau diese Sehnsucht befriedigt auch Tania Krätschmar mit ihrem Roman um fünf Freundinnen um die 50, die mit vereinten Kräften ein Problem lösen – und selbstverständlich geht es auch um die Liebe.
Kinder-Stil bei Erwachsenen-Büchern
Die Einfachheit ist bei diesem Roman Programm. Sprache und Stil erinnern eher an populäre Kinder- und Jugendbücher, wie die „Fünf Freunde“-Reihe von Enid Blyton. Ich mag diesen Stil bei „Erwachsenenbüchern“ nicht, weshalb ich vor allem den Beginn der Geschichte als nervtötend empfand.
Die Freundinnen sind zunächst in Venedig unterwegs, bis Eva, die seit vier Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Loh in Brandenburg einen Hof bewirtschaftet, einen Anruf aus der Heimat bekommt. Die Apfelernte muss dringend erledigt werden, weil ein wichtiger Termin im Apfelgarten ansteht, bei dem darüber entschieden wird, ob in der verschlafenen Ortschaft Wannsee (nicht zu verwechseln mit dem Berliner Bezirk) ein Baumhaushotel entstehen darf…
Klischee-Probleme Familie und Übergewicht
Tania Krätschmar
Evas vier Freundinnen – Nele, Marion, Dorothee und Julika – entschliessen sich getreu dem Motto „Einer für alle und alle für einen“, Eva zu helfen. Und so reisen die fünf zurück ins herbstliche Deutschland, wo sich auch noch die Schulschildkröte Alexis zu ihnen gesellt. Vor Ort zeigt sich schnell, dass die Apfelernte nicht das einzige Problem ist: Neben dem paradiesischen Apfelgarten hat der fiese Unternehmer Borg Seidel einen hässlichen Bau hochgezogen, der einmal eine private Spielbank werden soll. Und schon ist er da: Der Kampf Gut gegen Böse. Dazwischen taucht noch ein geheimnisvoller Fremder mit ganz schön viel Naturwissen auf, den Nele attraktiver findet, als sie möchte. Und jede einzelne Frau bringt noch ihre kleinen und grossen Alltagssorgen und –probleme mit. Das sind bei Frauen natürlich Freiberuflichkeit, Familie und Übergewicht! Es sind Klischees, die bedient werden, weil Klischees genauso simpel funktionieren wie eine relativ vorhersehbare Handlung und die einfache Sprache.
Spannender Roman in heiler Welt
FAZIT: Wer Frauenromane mag, die einem den Ausstieg aus dem Alltag ermöglichen, moderne Märchen, die auf alle Fälle gut ausgehen, und bei denen man keine Sekunde über irgend etwas nachdenken muss, wer also Seelentröster sucht, die einen von den Problemen der Welt ablenken, wird mit der „Rückkehr der Apfelfrauen“ von Tania Krätschmar ein paar schöne und auch spannende Stunden verbringen. Wer andere Ansprüche an Literatur hat, wird vermutlich ohnehin zu einem anderen Buch greifen…
Es ist ein modernes Märchen vor einer Sehnsuchtskulisse: Die heile Welt im brandenburgischen Bullerbü muss vor dem üblen Plan des Bösewichts bewahrt werden – und ich glaube, ich verrate auch nicht zu viel, wenn ich sage, dass am Ende alles gut wird. Niemand liest so einen Roman, um sich zum Schluss darüber zu ärgern, dass der böse Bauunternehmer erfolgreich alles versaut hat, den Traum vom Apfelblütenhotel, von unberührter Natur und natürlich von der grossen Liebe!
Trotz der vorhersehbaren Handlung muss man aber doch zugeben, dass die Autorin einen spannenden Roman geschrieben hat, so wie die „Fünf Freunde“-Bände auch spannend sind. Man liest weiter und weiss, dass es mit dem Bösen unmöglich ein gutes Ende nehmen wird. Und das ist vielleicht mal ganz nett, in eine heile Traumwelt abzutauchen, in der auf jeden Fall das Gute gewinnt. Mein bevorzugtes Genre ist es nicht, aber interessant war die Lektüre allemal. ♦
Im Frühling 2017 hat „Die Geschichte der Bienen“, der dystopische Roman der norwegischen Schriftstellerin Maja Lunde, die Bestenlisten gestürmt. Bienen und Bienensterben sind Themen, die auf dem Buchmarkt eine immer grössere Rolle spielen, da es ja tatsächlich ein bedrohliches Insektensterben gibt. Die Gründe sind vielfältig: Vom übermässigen Einsatz von Insektiziden in der Landwirtschaft und in Gärten über Bienenkrankheiten bis hin zum Schrumpfen der Lebensräume gibt es viele Gefahren, die der Honigbiene Apis mellifera drohen.
Die gebürtige Salzburgerin Claudia Praxmayer hat Biologie studiert und kennt sich mit Bienen aus. Sie hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht und legt mit „Bienenkönigin“ ihr Debüt im Bereich Jugendbuch vor. Damit schliesst sie eine Lücke, denn über das Bienensterben gibt es bisher kaum Literatur für Jugendliche.
Für Jugendliche und Erwachsene konzipiert
Mein Sohn ist 13 Jahre alt, liest aber auch gerne schon Bücher für Erwachsene. Wir haben das Buch beide gelesen und kamen unabhängig voneinander zu einem sehr ähnlichen Urteil.
Worum geht es? Mel ist 19 und weiss nicht so recht, welche Richtung ihr Leben nehmen soll. Die Mutter, eine Professorin, möchte dass aus ihrer Tochter eine erfolgreiche Akademikerin wird, der Vater, ein Restaurantbesitzer, spricht sich dafür aus, dass Mel ihre Leidenschaft fürs Kochen zum Beruf macht. Die Eltern sind getrennt, und es kommt immer wieder zu Konflikten wegen Mels Zukunft.
Die junge Frau lebt in einer WG namens „Beehive“ (Bienenstock) in San Francisco. Im Garten des Hauses, in dem sie mit drei Mitbewohnern lebt, gibt es einen Bienenschwarm in einem hohlen Apfelbaumstamm. Mel hatte schon ihr ganzes Leben lang ein besonderes Verhältnis zu Bienen. In ihrem Nacken wächst ihr ein Bienenpelz, und sie kann mit den Tieren kommunizieren. Diese Fähigkeit hat sie von ihrer Grossmutter geerbt, die bereits verstorben ist.
Von High-Tech-Roboter-Bienen
Biologin & Thriller-Debütantin aus Salzburg: Claudia Praxmayer
Mels Welt gerät aus den Fugen, als sie eines Tages am Bienenstock im Apfelbaum eine schockierende Entdeckung macht… Ein Eindringling ist vom Bienenvolk im Garten getötet worden. Doch die schwarze Drohne entpuppt sich nicht nur als Drohne im Sinne einer männlichen Biene, sondern als High-Tech-Roboter-Biene. Wer steckt hinter dieser Erfindung und was hat das zu bedeuten? Diesen Fragen gehen Mel und ihre Mitbewohner nach – und stossen dabei auf eine Sache, die nicht nur angsteinflössend ist…
Claudia Praxmayer hat eine Sprache und einen Stil, die im Jugendbuch absolut überzeugen können. In diesen Punkten kann sie sich durchaus mit Isabel Abedi messen. Zudem können junge Leserinnen und Leser einiges über die Honigbiene und ihre Gefährdung lernen.
FAZIT: Zwar hat der Thriller „Bienenkönigin“ der österreichischen Biologin und Roman-Debütantin Claudia Praxmayer ein paar dramaturgische Längen, was die Spannung zuweilen drosselt. Andererseits pflegt die Autorin aber eine Sprache und einen Stil, die nicht nur Erwachsene, sondern auch Jugendliche absolut überzeugen vermögen. Zudem können junge Leserinnen und Leser einiges über die Honigbiene und deren Gefährdung durch die Umweltverschmutzung lernen.
Leider hat das Buch einige dramaturgische Schwächen und weist Längen auf. Anfangs klingt das Ganze ziemlich vielversprechend, doch die Geschichte versandet dann zu oft in alltäglichen Belanglosigkeiten. Auch die Lovestory hätte spannender inszeniert werden können. Sowohl mein Sohn als auch ich haben relativ lange gebraucht, bis wir durch waren, weil wir uns teilweise zum Weiterlesen überwinden mussten. Wir wollten beide wissen, wie die Geschichte endet, aber der Weg dorthin war manchmal etwas steinig…
Zusammengefasst: Wenngleich „Bienenkönigin“ von Claudia Praxmayer sprachlich-stilistisch durchaus überzeugen konnte, waren es doch gar viele Längen, die gerade bei einem Thriller die Spannung zu sehr rausnehmen. Das Thema ist wichtig und für Jugendliche gut aufbereitet. Aber die Geschichte tritt leider zu oft auf der Stelle. Gerade Jugendliche kann das schnell frustrieren. ♦
Claudia Praxmayer: Bienenkönigin, Roman-Thriller (ab 14 J.), 352 Seiten, cbj Jugendverlag Randomhouse, ISBN 978-3-570-16533-1
Geschichte ist narrativ zu berichten, sagt der gesunde Menschenverstand spätestens seit der Bibel. Aber auch von dem, was tatsächlich geschehen ist und wobei man nicht selbst gewesen ist, kann nicht objektiv berichtet werden. Und wenn, dann ist es ebenfalls durch die subjektiven Augen eines einzigen Zeitzeugen betrachtet und registriert worden. Dem Verhältnis von Literatur und Geschichte hat die „Neue Rundschau“ nun unter dem Titel „Jenseits der Erzählung“ eine essayistische Anthologie gewidmet.
Anschaulich in stilistischer Eleganz erzählte Geschichtsschreibung ist ein grosses Leseerlebnis. Das belegen die Bestseller historischer Romane in jüngster Zeit erneut. Oder wie es Theodor Mommsen formulierte, es gehe um „Vergegenwärtigung“. Wegen der gelungenen „Mischung aus bildhafter Erzählkunst und klugen Schlussfolgerungen“ war er für seine „Römische Geschichte“ 1902 als erster Deutscher und zweiter Autor überhaupt mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden. Eben diese Erkenntnisse sind einmal mehr zu verdeutlichen und zu versachlichen, um die Geschichtsschreibung einzuordnen in ein machbares und dennoch hilfreiches und wichtiges Instrumentarium menschlicher Erkennungsmöglichkeiten und möglichen Erkenntnisgewinns.
Wie aber belegen es akademische Historiker oder historisierende Literaten? Den Fragen, die hinter diesem Interesse stehen, hatten sich beim 51. Historikertag 2016 in Hamburg die Historiker Dirk van Laak aus Leipzig, der Berliner Michael Wildt, die Augsburger Silvia Serena Tschopp, die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch, der Literat Per Leo sowie der Historiker und Publizist Gustav Seibt gewidmet. Die „Neue Rundschau“ hat in ihrer neuesten Ausgabe (129. Jahrgang 2018, Heft 3) jenes Thema „Jenseits der Erzählung“ zum Schwerpunkt gewählt und die (vorläufigen) Ergebnisse gesammelt.
Recherchierte Befunde mit literarischer Finesse präsentiert
Dirk van Laak beginnt mit der titelgebenden Frage nach der Form in Literatur und Geschichte. Er weist darauf hin, dass die beiden Begriffe „Geschichten und Geschichte“ nicht nur sprachlich nahe beisammen seien, sondern auch in ihrer Absicht auf Erkenntnis. Die Grenze liege dort, wo das Faktische zu blosser Narration oder zu Fake News wird. Ansonsten werde der Historiker keineswegs daran gehindert seine gut recherchierten Befunde mit „literarischer Finesse“ zu präsentieren.
Dass aktuell keine „mittelalterliche Finsternis“ bei den Funktionen anschaulicher Details im historischen Erzählen vorherrsche, schildert Gustav Seibt in seinem Beitrag.
Literarischer Historiker und historisierender Literat: Per Leo (Geb. 1972)
Der „literarisierende Historiker und historisierende Literat“ (laut Eigencharakteristik) Per Leo überschreibt seinen Kommentar „Leos Kreuzgang“ und untertitelt „Die Schlacht zwischen literarisierender Historie und historisierender Literatur“. Er legt darin als Paradigmen für die Schnittstelle zwischen Literatur und Geschichte die „Kämpfe um Troja für die Epik Homers“ wie die „Perserkriege und der Peloponnesische Krieg für die Geschichtsschreibung von Herodot und Thukydides“ vor. Sowohl der archaische Mythos wie die klassisches Chronik hätten somit zu neuen Formen sprachlichen Ausdrucks gefunden. Sein Beitrag ist ein lebhaftes sprachliches Dokument für die erörterten Thesen.
Geschichte als Referenz
Die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch betont im Interview mit Michael Wildt, ihren Unterschied zu den akademischen Historikern. Für sie sei die „Geschichte als Referenz wichtig“, weil sie interessiere, „wie sich die Dinge entwickelt“ hätten. Und das nicht lediglich aus „Loyalität gegenüber den Fakten“, sondern weil ihre Denkweise mit „rationaler Auseinandersetzung“ zu tun habe.
Im Abschnitt „Lyrikradar“ zeigen die Lyriker Durs Grünbein, Brenda Hillman und W. S. Merwin in komplexen und formal individuell gestalteten Gedichten ihre Art Ereignisse der zeitlichen Gegenwart zu poetisieren. Das ist teils sehr gegenständlich gestaltet und teils auch sehr sachlich ausgedrückt wie bei Merwin in „Der Fluss der Bienen“: „Aber wir sind nicht hier um zu überleben / Zu leben genügt“.
Demonstrationen experimenteller Lesart
FAZIT: Die Aufforderung Friedrich Nietzsches in „Unzeitgemässe Betrachtungen“, dass die „Geschichte zu bewachen“ sei, „dass nichts aus ihr herauskomme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen!“, haben sich alle Autoren, die in der „Neuen Rundschau“ Diskussionsbeiträge und teils Ergebnisse des 51. Historikertags von 2016 in Hamburg unter dem Titel „Jenseits der Erzählung“ (Heft 2018-3) veröffentlicht haben, hinter die Gedanken geschrieben und in jeweils fachspezifischem Blickwinkel entfaltet. Sie waren bemüht wahrhaftig gegen sich und andere und zu den Fakten zu sein.
Über die Fachwissenschaft hinaus an alle Leser richten sich die von einer Kulturwissenschaftlergruppe „historisch-spekulativ“ kommentierten drei behandelten Kapitel 19, 46 und 50 des Melville-Romans „Moby Dick“. Ihnen geht es um „Präsentation einer wichtigen Quelle zum Verständnis“ ebenso wie darum, eine „experimentelle Lesart“ zu demonstrieren.
Der Romanautor Thomas von Steinaecker exemplifiziert im Abschnitt „Unvollendetes“ Arbeitsweise und Wesen eines Künstlers am „unabsichtlich unvollendeten Kunstwerk“ in der Musik, indem er die Frage zu beantworten versucht: Die Neunte (Sinfonie) ein Fluch? Wie in einem Szenario eines „Mystery-Krimis“ kommt er zu erstaunlich mysteriös klingenden Erkenntnissen, wenn er das Schönberg-Diktum „Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe“ auf seine Faktizität hin untersucht. Als Filmbeispiel hat er Stanley Kubricks „Napoleon“ ausgewählt.
„Carte Blanche“ mit literarischen Überraschungen
Die „leeren Seiten“ (Carte Blanche) füllen unterschiedliche literarische Überraschungen: Texte von Silvia Bovenschen „1968“, Katharina Sophie Brauer mit „Fliehkraft“, Rüdiger Görner „Als K. Hamlet sah und hörte“ sowie der Maler Michael Triegel mit seinem „beglückten“ Versuch „Der göttliche Blick“ bei seiner Leipziger Poetikvorlesung nebst Josef Haslingers dazugehöriger Einleitung.
P.S: Der beiliegende Folder ist textlich gesehen genial und auch optisch optimal umgesetzt. In 13 Zeilen nennt María Cecilia Barbetta die Technik des Schriftstellers und stellt sie auf dem gefalteten Papier vor Augen. Nur wer von hinten und von vorne –– liest, versteht das Ganze, das Gesamte. In einer Richtung betrachtet ergäbe sich das Gegenteil… ♦
29 Texte von Frauen aus vier Kontinenten haben die Herausgeber Anita Djafari und Juergen Boos in ihrer Anthologie „Vollmond hinter fahlgelben Wolken“ zusammengetragen. Zahlreiche Texte finden sich hier erstmals in deutscher Übersetzung. Es kommen Erzählerinnen und Lyrikerinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt zu Wort. Manche von ihnen sind bekannt, wie die Südkoreanerin Han Kang (u.a. „Die Vegetarierin“) oder Assia Djebar aus Algerien.
Die in der Anthologie abgedruckte Erzählung „Die Früchte meiner Frau“ ist ein Vorläufer des internationalen Bestsellers „Die Vegetarierin“. Die Themen sind vielfältig. Es geht um das Altern, auch um Demenz, um Kinder und natürlich um die Liebe in all ihren Facetten. Manche Geschichten sind komisch, etwa Ana María Shua’s „Wie eine gute Mutter“. Darin geht es um die Überforderung einer Mutter, die allen Ansprüchen gerecht werden will und schliesslich von ihren Kindern komplett „zerlegt“ wird. Andere Erzählungen sind zutiefst traurig, z.B. „Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter“ von der gebürtigen Haitianerin Edwidge Danticat. Die Autorin verhandelt in der Geschichte einfühlsam das Thema Demenz.
Auch die lyrischen Beiträge sind ausgesprochen starke Texte. Im Band sind zwei Gedichte der Angolanerin Ana Paula Tavares, drei Gedichte der Inderin Meena Kandasamy und ein Text der äyptischen Lyrikerin Nora Amin enthalten.
Unterschiedliche Wirklichkeiten von Frauen
Frauen-Lyrik und -Prosa aus vier Kontinenten zusammengetragen: Die Herausgeber Anita Djafari (Literaturvermittlerin) und Juergen Boos (Buchmesse-CEO Frankfurt)
Auf einen oder mehrere Lieblingstexte könnte ich mich gar nicht festlegen, denn den besonderen Reiz der Anthologie macht die Vielfalt aus. Es ist ausgesprochen interessant, zu erfahren, wie unterschiedlich die Lebenswirklichkeit von Frauen in unterschiedlichen Erdteilen doch aussieht, etwa wenn es um die Vorbereitungen für eine Hochzeit geht. Andererseits kommt einem auch vieles bekannt vor – überforderte Mütter leiden in allen Erdteilen an überhöhten Ansprüchen.
FAZIT: „Vollmond hinter fahlgelben Wolken“ der beiden Herausgeber Anita Jafari und Juergen Boos ist eine sehr gelungene Anthologie, da sie kontrastreiche Texte verschiedener Autorinnen enthält. Der vollkommen unterschiedliche Sound der einzelnen Verfasserinnen macht den besonderen Reiz aus. Die Themen- und die Stilvielfalt entführen den Leser in vier Erdteile. Wer sich für den weiblichen Blick in verschiedenen Ländern interessiert, wird hier viele wunderbare Texte finden.
Verlust der Bindungen zwischen Alt und Jung
Besonders berührt hat mich die Geschichte „Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter“. Carole ist dement und hat immer mehr aussetzer. Am Tag der Taufe ihres Enkels ist es besonders schlimm und sie erlebt einen Zusammenbruch, der alles ändert. Ihre Tochter Jeanne ist seit der Geburt ihres ersten Kindes in eine Depression verfallen, die auch Carole sehr mitnimmt und verärgert, denn für sie gibt es nichts wichtigeres, als sich gut um die eigenen Kinder zu kümmern. Edwidge Danticat erzählt einfühlsam und lebendig vom Verlust der Kontrolle über das eigene Leben und von der Bindung zwischen Alt und Jung.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Autoreninformationen oder zumindest die Herkunftsländer der Autorinnen unmittelbar bei den Texten gestanden hätten. So muss man jedes Mal zum Anhang blättern, um nachzulesen, wer die in unserem Kulturkreis überwiegend eher unbekannten Autorinnen sind. Ein Hinweis auf das Herkunftsland würde mir persönlich bereits reichen, etwa ‚Edwidge Danticat (Haiti)‘. Vielleicht in einer 2. Buchauflage oder bereits jetzt im E-Book? ♦
Anita Djafari & Juergen Boos: Vollmond hinter fahlgelben Wolken – Autorinnen aus vier Kontinenten (Anthologie), 320 Seiten, Unionsverlag, ISBN 978-3-293-20800-1
Romane, die im Schach-Milieu handeln, gibt es zwar viele – aber die wirklich guten Romane in diesem Umfeld sind so häufig nicht. Wenn dann ein etablierter und anerkannter Schriftsteller als Autor fungiert, kann man nur von einem absoluten Glücksfall sprechen. Dieser Glücksfall ist mit „Die Schachspieler von Buenos Aires“ des deutschstämmigen Argentiniers Ariel Magnus eingetreten.
Der Roman hat in den Kulturredaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland flächendeckend Aufmerksamkeit gefunden und wohlwollende bis euphorische Kritiken erhalten. Damit haben berufene Literaturkritiker ihr Urteil gefällt, und wir wollen uns hier auf den Schachspieler bzw. –interessenten als Zielgruppe beschränken.
Who is Who des Schachs vor dem 2. Weltkrieg
Bei den Stichworten „Buenos Aires“ und „Schach“ denkt auch der in Sachen Schachgeschichte Bewanderte merkwürdigerweise nicht an die zeitlich viel näherliegende Schacholympiade von 1978, sondern sicher an die Ereignisse von 1939. Erinnern wir uns: In der argentinischen Hauptstadt fand die bis dato grösste Schacholympiade statt. Die Teilnehmer lesen sich – trotz Abwesenheit der Sowjetunion und der USA – wie ein „Who is Who“ jener Zeit: Aljechin, Capablanca, Keres, Najdorf, Stahlberg, Tartakower…
Doch das sportliche Geschehen geriet in den Hintergrund, als in Europa der zweite Weltkrieg ausbrach. Er hatte unmittelbare Folgen für das Geschehen in Argentinien. So reisten viele Spieler – darunter die gesamte deutsche Mannschaft – nicht in ihre Heimat zurück, sondern bauten sich in Südamerika eine neue Existenz auf. Während die Engländer das Turnier sofort verliessen, wurde in einigen Wettkämpfen ein kampfloses 2:2 vereinbart, da sich die beteiligten Länder nunmehr feindselig gegenüberstanden.
Brisante Begegnung Deutschland vs Palästina
Besonders brisant war die Situation zwischen Deutschland und dem Mandatsgebiet Palästina, dem Vorläufer des Staates Israel. Palästina verweigerte aus nachvollziehbaren Gründen das Spiel, und so ergab sich die Situation, dass Deutschland bei einem kampflosen Sieg durch ein „Geschenk der Juden“ hätte Olympiasieger werden können. Die Auflösung dieses Konflikts wird im Roman vielschichtig beleuchtet.
Parallel zur Schacholympiade fand das Turnier um die Weltmeisterschaft der Frauen statt. In Magnus‘ Roman nimmt diese Meisterschaft grossen Raum ein, gesehen aus der Perspektive der Vizeweltmeisterin Sonja Graf. Die Münchnerin trat hier als Staatenlose unter einer Phantasieflagge an.
Geflecht aus Realem und Fiktivem
Ariel Magnus (Geb. 1975)
Das alles sind nüchterne Fakten, doch Ariel Magnus webt ein unvergleichliches Geflecht aus Realem und Fiktivem. Handlungsebenen verknüpfen sich in meisterhafter Weise. Dabei lässt er den Leser immer – manchmal eine Spur zu deutlich – erkennen, ob er gerade an historischen Tatsachen oder erdachten Geschichten partizipiert. Den Einstieg liefert Magnus‘ realer Grossvater, dessen Bezüge zu den (realen) Turnieren und ihren Protagonisten – allen voran Sonja Graf – natürlich fiktiv sind. Gänzlich fiktiv sind auch die Versuche von verschiedener Seite, in den Turnierverlauf einzugreifen, sogar einen Sieg der deutschen Mannschaft zu verhindern. Dann taucht auch noch Mirko Czentovic auf, der (fiktive) Held aus Stefan Zweigs Schachnovelle. Diese aber ist – soweit der Höhepunkt des Verwirrspiels – 1939 noch gar nicht erschienen, Czentovic kommt also quasi aus der Zukunft.
Die Frauen-WM 1939 im Fokus
Was den rein schachlichen Gehalt betrifft, liegt der Schwerpunkt auf dem Frauenturnier. Hier werden sogar die entscheidenden Partien (ausschweifend verbal) geschildert. Neugierig geworden, enthüllte sich mir erst beim Nachspielen in der Datenbank, wie nahe Sonja Graf in der Partie gegen die scheinbar unschlagbare Vera Menchik eigentlich dem Siege und wohl auch dem WM-Titel war.
Argentinien 1939: Nicht nur bei den Männern, sondern auch einige Teilnehmerinnen der Frauen-WM reisten vor dem Hintergrund des 2. Weltkrieges nicht mehr in ihre Heimatländer zurück. Die zuerst für Deutschland startende, dann staatenlose Sonja Graf wurde Vizeweltmeisterin. (Quelle: Wikipedia)
Die Männer-Olympiade selbst hingegen wird mehr durch Milieu-Schilderungen und Porträtstudien einzelner Spieler lebendig – und vor allem durch die Vorgänge um das Spiel zwischen Deutschland und Palästina. Im weitaus überwiegenden Teil des Textes erleben wir also Schach aus der Sicht des Aussenstehenden, der mehr zufällig mit den Turnieren und den Spielern bzw. Spielerinnen in Berührung kommt – eben Grossvater Magnus.
Meisterhafte Nebenstränge der Handlung
Neben den bekannteren Akteuren werden dabei einige Teilnehmer zumindest zeitweise in den Blickpunkt der Handlung geholt, die auch dem schachgeschichtlich Interessierten nur wenig sagen, etwa die Amerikanerin Mona Karff (Fünfte der WM) oder Olympiade-Spieler wie der Este Ilmar Raud und der für Palästina spielende Victor Winz.
FAZIT: „Die Schachspieler von Buenos Aires“ ist kein Schachbuch, sondern ein Roman im Umfeld der Schacholympiade und der Frauen-WM 1939 in Buenos Aires. Vor dem Hintergrund des ausbrechenden Zweiten Weltkriegs nehmen Lebenswege eine ungeplante Wendung. Autor Ariel Magnus verwebt in einzigartiger Weise reale und fiktive Personen und Ereignisse zu einem lesenswerten Gesamtkunstwerk.
Schliesslich gibt es – wir haben einen veritablen Roman vor uns, kein Schachbuch – Nebenstränge der Handlung, die meisterhaft angelegt und ausmodelliert sind. Als Beispiel und Appetithappen seien nur die Diskussionen und Intrigen in einer Zeitungsredaktion genannt. Hier geht es u.a. um die existenzielle Frage, ob denn Schach nun Sport, Wissenschaft oder Kunst (oder was sonst) sei.
Diese Frage stellt sich für den ganzen Roman natürlich nicht. Er ist ein Kunstwerk, er ist gehobene Literatur. Damit fordert er den Leser auf jeder Seite. Man muss sich zwischen den verschiedenen Handlungslinien, dem Realen und Fiktiven zurechtfinden. Handlungstext wechselt mit Tagebuch-Zitaten und Presseausschnitten. Selbst an Fussnoten wird nicht gespart. Schachliches Wissen – insbesondere um die Hintergründe der Olympiade von 1939 – ist dabei durchaus hilfreich. Dennoch sei gewarnt, wer seinen geistigen Konsum sonst nur aus trivialerer Literatur befriedigt. Das Lesen eines Romans von über 300 Seiten kann auch anstrengende Arbeit sein. Wenn man aber die Neugier auf das behandelte Sujet mitbringt, ist diese Arbeit höchst vergnüglich. ♦
Ariel Magnus: Die Schachspieler von Buenos Aires – Roman, aus dem argentinischen Spanisch von Silke Kleemann, 336 Seiten, Kiepenheuer & Witsch Verlag, ISBN 978-3462050059
Nachdem ich „Baustellen des Himmels“, den aktuellen Gedichtband von Harald Grill, entdeckt hatte, war mir die Assoziation zu Jan Wagners „Probebohrung“ sofort präsent. Zwei unterschiedliche Lyriker, was Alter, Sprache und Themen betrifft, zeichnen ein offensichtlich motivähnliches Bild. Der eine 2001 als Debütant, der andere 2017 nach über 60 Jahren, in denen er „einfach“ (in des Wortes doppelter Bedeutung) gelebt hat, indem er mit dem Rucksack ohne Hotelbuchungen auf beiden Beinen auf Landerkundung gegangen ist und in Rundfunkreportagen und Einzelveröffentlichungen seine Wegpoesie zum Ausdruck brachte: „einfach gehen“, „auf freier strecke“ und so weiter waren seine Titel. Ich wollte dahintersteigen, wie poetisch fühlende Autoren das Thema bearbeitet haben.
Ich denke bei Himmel an: Glauben, Gottes Ort, Horizont, Erde und Himmel, Religion, Kirche. Bei Religion an Erklärungsexperimente für die Bindung des Menschen zu seinem Urheber, seinem Ursprung, seiner Herkunft, zu der er naturgemäss in einer Art genetischem Bezug stehen wird. An die Beziehung und das Verhältnis der Spannung zwischen dem Allmächtigen und den Sterblichen.
Baustellen sind für mich vorrangig etwas Vorhandenes, das repariert oder korrigiert wird. (Selbstverständlich sind Baustellen auch dort, wo ganz neu gebaut wird. Aber das geschieht in der Regel auf vorhandenem Grund.) Die Pläne werden von Individualisten gefertigt, die daran Anstoss nehmen, nicht vom ursprünglichen Verursacher oder Schöpfer. Lücken sind zu schliessen, Löcher zu füllen, abzudichten, Mauern, Halterungen neu zu errichten.
Unter Dichtung verstehe ich vorrangig eine Beschreibung des Umfassenden im Alltäglichen, Kleinteiligen, das mich umgibt. So gesehen sind beide menschlichen Urbedürfnisse verschwistert.
Ich hoffe bei meinem Vergleich eine Erkenntnis über die Versuche zu finden, wie man sprachlich der transzendenten Dimension menschlichen Seins näher kommen könnte. Wie ist es bei den beiden genannten Schriftstellern der Fall?
Bei Harald Grill scheint der religiöse Hintergrund ohne Umschweife offen sichtlich in Wort und Bild durch.
Beim Lyrikdebüt Jan Wagners ging es dagegen in erster Linie um sprachliche Bilder als Impulsmetaphern zum Weiterdenken. Offenbar spricht er von sich selbst, doch seine Bilder des „Lyrischen Stilllebens“ (siehe „nature morte“: ein Fisch auf Zeitungspapier) zeigen auch für uns Wiedererkennbares. Das weckt Lust zum Vergleichen, regt an zum Mitdenken.
Ich beschränke mich bei dieser Betrachtung auf sein titelgebendes, drittes Kapitel des Bandes „Probebohrung im Himmel“.
100 Gedichte über den Himmel
Zwischenzeitlich bin ich auf eine aktuelle Publikation mit dem Titel „Der Himmel von morgen“ gestossen. Sie ist in gewisser Weise die Summe zu meinem Motto. In der von Anton G. Leitner herausgegebenen Anthologie wird das Thema in circa 100 Gedichten behandelt. Sie gewährt einen Blick in die diesbezügliche zeitgemässe Lyrik.
Darin überwiegt profanes, laienhaftes, literarisches Sprechen. Der Mensch wird als wertoffenes, anthropologisch schöpferisches Wesen aufgefasst, das sowohl sein inneres wie sein äusseres Erleben und Erleiden darstellen und mitteilen möchte. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass auch das Wort „Schöpfung“ eher vermieden wird, um sich nicht womöglich als Kreationist abstempeln oder festlegen zu lassen.
Im christlichen Verständnis wäre Reden von und mit Gott ein Schritt mehr, nämlich die in Gedanken und Worten geäusserte Bejahung mit allen Fasern des personalen Existierens dem Transzendentalen anvertrauen zu können, weil es ihm zugewandt erfahren wird. Verstärkt würde dieses bekennende Gefühl durch die Teilhabe an der Gemeinschaft der Gläubigen und die Anerkennung der verheissenen Zuwendung des Schöpfers.
Ich stelle die drei Bücher einzeln vor und fasse dann zusammen.
II. Harald Grill: „baustellen des himmels“
Harald Grill
Der Titel „Baustellen des Himmels“ verheisst ein selten bedichtetes Thema. Die Gedichte selbst beinhalten diesen Titel kein einziges Mal expressis verbis, wie das ansonsten gegenwärtig gängige Praxis der Verlage zu sein scheint. Aber der Himmel wölbt sich über jedes Gedicht und spricht den Leser aus nahezu jedem an. Das nenne ich eine gekonnte Themengestaltung. Jedes einzelne beschränkt sich mehr oder weniger auf ein reales Bild, das Harald Grill gelungen metaphorisch nach vielen Seiten durchleuchtet und feinsinnig formuliert. Und zwar in einer prägnanten und präzisen Sprache, direkt und gefühlt immer aus dem Herzen des Menschen gesehen. Gedichte sind nach seiner Anschauung angelehnt an Träume. Das kennen wir von seinen Dialektgedichten, aber auch hier in der Hochsprache führt seine spartanische Knappheit, lenkt sein dezentes Andeuten, das sanfte Antippen zu neuen, tieferen Denktipps und Gefühlsschichten.
Aussagen, die thematisch nach meinem Verständnis am deutlichsten themenrelevant sind:
Bereits das erste „Besuch im Kloster“: Dreieinigkeit vermenschlicht: Die Göttlichkeit muss vor den Fussgängern am Zebrastreifen, den das Licht in den Kreuzgang des Klosters wirft, anhalten. Neben dieser frappierenden Metapher fällt die sinnige Folgerung auf: Gott Vater, Sohn und Geist sind offenbar in einer Limousine unterwegs, also auf den Strassen dieser Erde. Aber eben auch nicht barfuss in Sandalen.In „Schick mir ein Foto“ wird der Himmel als eine „andere Art von Hölle“ bezeichnet.
Respektvoll strahlender Glanz
Harald Grill wurde 1951 geboren, wuchs in Regensburg auf und lebt seit 1978 in Wald im Landkreis Cham in der Oberpfalz. Er war Pädagogischer Assistent und ist seit 1988 freier Schriftsteller und Mitglied des deutschen PEN-Zentrums. 2000/ 2001 unternahm er zwei Spaziergänge, einmal vom Nordkap her und danach von Syrakus zu Fuss nach Regensburg, für das Projekt „Zweimal heimgehen“. Von Juli bis November 2015 reiste er durch Rumänien und Bulgarien bis Odessa. Grill hat Prosa, Gedichte, Kinderbücher und Nachdichtungen publiziert und arbeitet fürs Theater, Radio und Fernsehen. Mit verschiedenen Kulturpreisen und Stipendien wurde er ausgezeichnet. Eine ausführliche Bibliographie ist u. a. auf Harald Grills Homepage zu finden.
Eine Botschaft ohne Biss vermittelten „Barockkirche(n)“, weil sie in Goldpapier eingewickelte Pralinen bleiben. Auch das lese ich als amüsante kritische Anmerkung zum halbherzigen Verhalten kirchlicher Gepflogenheiten und gleichzeitig als nostalgische Erinnerung süsserer Zeiten.
Schliesslich noch „Vor dem Einschlafen“: Es gibt am „Rand der Steilküste meiner Welt“ ein Spanntuch zwischen Himmel und Erde. Die Ähnlichkeit zum Springtuch, das Retter in höchster Not ausbreiten, ist vorhanden. Jedoch das Tuch bei Grill ist bereits gespannt, aufgehalten von unsichtbaren Händen.
Harald Grill verleiht seinen lyrischen Bildern einen respektvoll strahlenden Glanz, indem er Gott in die Welt der Menschen integriert und ihm dadurch Menschlichkeit attestiert. Das gibt den Gedichten langen Nachhall und intensive Nachhaltigkeit.
III. Jan Wagner: „Probebohrung im Himmel“
Jan Wagner
Wagners Gedichte formulieren knapp, aber poetisch flüchtige Augenblicke in einer Melange aus wohlüberlegter Sachlichkeit und Erkenntnisfunken einer im Alltäglichen transzendent aufblitzenden emotionalen Magie. In dem betreffenden mit der ungenauen Ortsangabe titulierten Gedicht „Hamburg – Berlin“ kommt für mich dieses Dahinter-Sehen und darin Erkennen-Können am deutlichsten zutage. Er sieht zwei Windräder und sieht auch, dass sie „eine probebohrung im himmel vor“(-nehmen). Und: „gott hielt den atem an“ – und ich hielt ebenso inne, um zu staunen und nachzudenken. Probebohrungen werden gewöhnlich in den Boden gerichtet, um nach Wasser für Brunnen oder Öl- und Gasquellen zu erforschen. Auch Bohrungen zum Erdkern hin werden unternommen. Jedenfalls kann nur dort ein Loch erstellt werden, wo eine feste Grundlage zum Durchbohren vorhanden ist. (Das „tiefste (zugängliche) Loch“ auf der Erde wurde bei einem kontinentalen Tiefbohrprojekt [KTB] in Bayern bei Windischeschenbach nördlich von Weiden in der Oberpfalz als Kontaktzone zweier grosser Kontinentalschollen erbohrt).
Das nach oben, in die Luft, in unfesten Stoff gerichtete Bohren im Gedicht von Jan Wagner ist für den ersten Eindruck ein Stochern im Nebel – oder menschliches Bemühen, in die Nähe des „Himmels“ zu gelangen. Dabei ist es nicht entscheidend, ob das zu ökologischen Zwecken oder aus sonstigen Gründen geschieht. Beim zweiten Gedanken erschliesst sich eine völlig neue Dimension, die unsichtbare Bohrkerne zutage fördern könnte – wenn man sich auf sie einlässt.
Während einer Zugfahrt an der Strecke zwischen Hamburg und Berlin hat der Autor diese Beobachtung gemacht. Windräder als Zeichen für Besinnung auf natürliche Energiegewinnung, Reduktion der Ausbeutung, negativ: zu überdimensioniert, nicht landschaftsgemäss etc. Es muss gearbeitet werden, ökologisch. Das ist eine doppelte Baustelle.
Firmament und Himmel gehören zur Erde
Jan Wagner wurde geboren 1971 in Hamburg und lebt seit 1995 in Berlin. Er ist Lyriker, Übersetzer englischsprachiger Lyrik sowie Essayist. Mit dem Gedichtband „Probebohrung im Himmel“ debütierte er 2001. Für seine Gedichte, die für Auswahlbände, Zeitschriften und Anthologien in über dreissig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse (2015) und den Georg-Büchner-Preis (2017). Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, der Freien Akademie der Künste in Hamburg sowie des P.E.N.-Zentrums Deutschland.
Hier ist eine der beiden Stellen auf circa 70 Seiten, an der Jan Wagner das Wort „Gott“ gebraucht. Man kann die Windräder also durchaus religiös deuten. Weswegen auch immer der Schöpfer die Luft anhalten mag. Aus Furcht vor dem Eingreifen der Menschen ins All? Aus Staunen über den Einfallsreichtum menschlichen Geistes?
Spätestens beim darauf folgenden Gedicht „Quedlinburger Capriccios“ wird die Denkweise logisch legitimiert. Bei Starkregen in der Quedlinburger Gegend sieht er Tauben auf dem First des Quedlinburger Doms, eine Verknüpfung zum Himmel erscheint im doppelten Grau. Firmament und Himmel gehören zur Erde und zum Menschen, sie bewegen einander und sollten zusammengehalten werden als „Nieten“ für „… schieferdach und himmel …“
Das gelingt meines Erachtens nur einem, der das Staunen über die allumfassende Dimension des Überirdischen im Weltlichen nicht verlernt, sondern neu beziehungsweise anders entdeckt hat. Indirekt, durch die Wörter, ist Wagners Dichtung eine Verneigung vor den Naturgewalten, die wissen, dass Menschen sie nie fassen werden. Diese Macht bleibt indifferent, sie wird keiner Ursache und keinem Verursacher zugeordnet. Doch jene scheint stärker als die der Kreatur.
Eine sanfte Kritik am Bestehenden kommt im Gedicht „Im Norden“ auf: Die Kirchen blicken dort „… trotzig in den himmel,/wartend darauf, dass gott als erster blinzelt“.
IV. Anton G. Leitner: „Der Himmel von morgen“
Anton G. Leitner
Die Auswahl der 100 Gedichte in „Der Himmel von morgen“ und das Thema tragen unzweifelhaft die Handschrift des Herausgebers Anton. G. Leitner, der auch die Lyrikzeitschrift „Das Gedicht“ initiiert hat. Daraus hat er (vorwiegend aus dem Band 25 „Religion im Gedicht“) thematisch passende Gedichte gesammelt und gibt mit seinem eigenen Beitrag „Der Tod“ die Richtung vor. In seinen Lyriktexten schreibt er im Allgemeinen so, als seien Wörter Assoziationswogen und Denkwellen, die er in einem bewegenden Rhythmus schaukeln und überschwappen lässt. Formal finden sich nur drei gereimte und metrische Gedichte. Ansonsten herrschen lockerer Rhythmus und freie denkerische wie gestalterische Vielfalt vor.
Die Anthologie ist als Querschnitt zeitgemässer Lyrik zum Thema „Gott und die Welt“ anzusehen. Darin zeigt sich ein Aquarellbild hinter entfernendem Schleier, eine Generation des Übergangs in hoffender teils enttäuschter Erwartungshaltung. Sowohl die Hoffenden als auch der Erhoffte seien erschöpft. Immerhin sind das Aussagen und nicht allein Vermutungen oder Revolte gegen Bestehendes. Eine theologische Sammlung oder solche Ambitionen hegt die Sammlung nicht. Es geht um Bekenntnisse von 90 zeitgenössischen Lyriker/innen.
Auszug: Gerald Jetzek: ironisiert im „Ökonomischen Konzil“, dass er zu wissen glaube, warum „Glauben wichtiger ist als Denken“. Judith-Katja Raab ist mit dem „Ketzerischen Credo“ vertreten, Georg Langenhorst mit „Thomaszweifel“. Lutz Rathenow will mit dem „Schöpfer“ reden. Tanja Dückers wird sinnlich beim „Kuscheln mit Gott“.
Wenn so der „Himmel von morgen“ aussehen soll, dann ist nur ein Nebelvorhang zu sehen, wohingegen der barocke Himmel auf Erden fröhlich und strahlend gestaltet worden ist. Der Anthologie-Titel ist dem zweiten Vers des Gedichtes „Bauplan, blassorange“ von Sabine Minkwitz entlehnt. Auch hier taucht die „Baustelle Himmel“ auf.
Ich will aber nicht spekulieren, wie das gedeutet werden könnte. Einige Kernaussagen aus der Anthologie sollen für sich selbst sprechen.
Moderne Lyrik des Unbeschreiblichen
Anton G. Leitner wurde 1961 in München geboren. Der examinierte Jurist ediert seit 1993 die Jahresschrift „Das Gedicht“. Seit 1984 ausserdem mehr als 40 Anthologien vor allem für die Verlage dtv, Hanser, Goldmann, Reclam, Sankt Michaelsbund. Neben herausgeberischen Tätigkeiten veröffentlichte Anton G. Leitner bislang elf eigene Gedichtbände, drei Hörbücher, zahlreiche Essays, Kritiken, Kurzgeschichten, eine Erzählung und ein Kinderbuch. Er ist Mitglied der Münchner Turmschreiber und der Valentin-Karlstadt-Gesellschaft. Vielfach wurde er ausgezeichnet, neben anderen 2016 mit dem „Tassilo-Kulturpreis“ der Süddeutschen Zeitung.
„Der Himmel von morgen“ ist in vier Abschnitte untergliedert.
I. Über Gott schweigen eingedenk der Leiden und des Unlogischen:
logisch; Kopfgespinst; erschöpft vom Hoffen; Gott sei nicht zu ändern, also schweigen. Kutsch hegt „Einsicht“; ökonomisches Konzil; ketzerisches, kapitalistisches Credo; Thomas-Zweifel; Der Alpha-bete.
II. Die erinnerte Oma-Frömmigkeit mit den einzigen drei gereimten Gedichten entsprechend der vergehenden Generation:
ein Tauflied etwa (gereimt) und tierische Gebete, ebenso das Lob der Beichte (gereimt), Wasserläufer, tierisches Arche-Gebet, Karpfen-Weihnachtsgebet (gereimt) sowie Kommunionerinnerungen.
III. Glaubenseintopf mit Religions-Allerlei (allerdings ohne Rezept):
Als Gebet sei das Wort Gott allen gegönnt. Die Götter sind darauf bedacht, sich nicht zu nahe zu kommen. „Ein Fünfter“ [= theologische Botschaft:] Gott will Neues erfahren – „in mir“ (Grengel). Suche nach der Perle des Himmelreiches. Bekreuzigung der Fussballgötter. Erschöpft vom Erschaffen (teils gereimter Rap) und „Der Erlöser schweigt“.
IV. Am Ende wird alles gut:
Sinnieren; saumselig meditieren. „Wer Sterne zählt, verzweifelt“. „Selig, denn sie glauben nicht.“ Jonas Walfischbauch als Heimat (Jan Wagner). Finnisches Nordlicht scheint ins Gesicht. Nachklang des Kreuzes; Papiergeläut; Psalm über „luft gott luft“; die Gnade des Loslassens. Der Tod: sich mit dem „Nichts in blinder Erwartung“ anfreunden (A. G. Leitner). „Bauplan, blassorange“. Nach der Erschöpfung sei dem Herrn eine Pause gegönnt, um neu zupacken zu können.
Zusammengefasst: Die Mehrzahl dieser ausgewählten modernen Lyriker windet sich um das Unbeschreibliche, indem sie ihre religiöse Anamnese sprechen lassen. Eine direkte Ansprache Gottes, wie in der Form des Gebets, ist nicht zu finden, es sei denn in retrospektivem Blickwinkel. Man erwartet Gottes Handeln ohne eigenes Zutun. Das mag der gängigen Denkweise der gegenwärtigen Generation entsprechen.
V. Zusammenschau
Um dem Grundtenor auf die Schliche zu kommen, habe ich unter anderem zwei themenrelevante Begriffe konkordanzmässig in Augenschein genommen. Die ausgewählten Termini „Schöpfung, Schöpfer, Himmel“ sind keinesfalls repräsentativ zu verstehen und sie eignen sich nicht zuallererst als poetische Wortwahl. Ich benutze sie lediglich als Zufallsproben, als Testkriterien, zumal ohnehin keiner der betrachteten oder zitierten Lyriker den Anspruch der Christlichkeit reklamiert oder unter dem Aspekt veröffentlicht hat. Meine Recherchen erheben ebenso wenig wissenschaftlichen Anspruch. Sie sind die Sichtweisen durch die Linsen eines der Lyrik zugeneigten Lesers. Was findet sich bei der Suche nach relevanten Aussagen? Es sind drei Nennungen von „Schöpfung“ in der Anthologie von Leitner, bei Grill keine einzige, bei Wagner eine. Der Begriff „Schöpfer“ ist in der Anthologie zweimal erwähnt. Weiterhin ist folgende Häufigkeit festzustellen: In den etwa 40 Seiten von Harald Grills „baustellen des himmels“ kommt der Himmel sechs- und Gott viermal vor. Bei Jan Wagners „Probebohrung im Himmel“ taucht auf den circa 70 Seiten Gott dreimal auf, der Himmel 18-mal. In Leitners circa 110-seitiger Anthologie „Der Himmel von morgen“ ist der Himmel etwa 16-mal und Gott gut 30-mal zu zählen. Dabei ist zu beachten, dass in den wenigsten Fällen Himmel als das paradiesische Jenseits gemeint ist, sondern meistens als Firmament oder als Ausruf gebraucht wird. Im Ergebnis ist das ein eher sparsamer Umgang mit den Zielbegriffen.
Vererdlichung des Jenseits
Die Autoren verwenden die gängigen Wörter als geläufige Bilder und sind im Übrigen bemüht das Jenseits zu vererdlichen, wobei sie es nicht nach den Massstäben des Menschenauges ausmalen wollen, um es göttlich sein oder werden zu lassen, wie etwa die barocken Baumeister in ihren ausgeschmückten Gotteshäusern. Jene holten den Himmel wesentlich bildkräftiger in die Welt der Menschen hinein. Dadurch wird eine Vielfalt individueller Vorstellungen erreicht, die Toleranz und Demokratie suggerieren. Die einheitliche Linie zur orientierenden Auseinandersetzung fehlt. Allenfalls ein Trend zu lockeren Denkweisen und Gottes Einbeziehung als „Macher“ ist zu erkennen.
Gelegentlich ringen einige Autoren nach zeitgemässen Synonymen. Ihre Baustellen sind aber offensichtlich noch lange nicht so weit fortgeschritten, geschweige denn fertiggestellt, dass die Einweihung eines neuen verbindlichen Sprachgebäudes von Gott im Himmel verkündet werden könnte.
Lyrisches Reden von Gott und Himmel in den genannten zeitgemässen Gedichten ist mit der Metapher „Baustellenmodus“ lyrisch treffend beschrieben. (Die Bereiche Esoterik und Meditation etc. wurden hier bewusst nicht berücksichtigt). Der Tenor in den berücksichtigten Gedichten sind irdische Poems, nicht himmlische oder religiöse Psalmodien. ♦
Deutschland am 13. August 1961: Mauerbau und Schliessung der Grenze. Die Ereignisse überschlagen sich: Die NVA steht in Ostberlin, das Potsdamer Abkommen ist gebrochen, die Sowjetzone mutiert zum KZ. Janus Emmeran, Medizinstudent aus Tübingen und Protagonist des Romanes „Frei“ von Roswitha Quadflieg und Burkhart Veigel, hört diese Nachrichten fassungslos während seiner Semesterferien in Westberlin. Er geht neugierig, ob dies möglich wäre, ungehindert in den Osten und wieder zurück. Es reift ein Plan in dem jungen ambitionierten Mann: Menschen aus dem Osten, wie beispielsweise seinem Studienkollegen Pospiech, zur Freiheit zu verhelfen.
Zu Beginn seiner Fluchthelferkarriere ist alles ganz easy. Man verwendet Pässe von Westdeutschen, schmuggelt sie über die Grenze – problemlos ist man aus Ostberlin in die Freiheit gelangt. Die Pass-Tour wurde geboren, Janus in seinem Höhenflug beflügelt. Ein studentisches Netzwerk zur Fluchthilfe entsteht, und Janus wird zu einem ihrer genialsten Köpfe, der zwischen 1961 bis 1968 über 600 Menschen zur Flucht verhilft. Effektiver Kopf und Staatsfeind Nummer Eins der Bauernrepublik, der raffiniert weitere Wege in die Freiheit ersinnt, in Form der ausgeklügelten Cadillac- und Franzosen-Tour. Gerade letztere bereitet für zahllose DDR-Bürger den Weg in den Westen.
Extrem spannender Beziehungsreigen
Zeitsprung: Berlin 2016. Nach einem geruhsamen Leben, das nicht mehr viel mit der aufregenden studentischen Fluchthelferzeit gemein hat – orthopädische Praxis im beschaulichen Schwabenländle, zuvor Intermezzo in den USA, Kind, Kegel und Familie (immerhin vier Töchter) – möchte es der junggebliebene 68er, immerhin seinen 80 nahe, noch mal wissen. Geschieden, alleinstehend, mit einem recht bewegten Beziehungsreigen in der kurzen Zeit nach der Trennung, antwortet er auf die Annonce einer wesentlich jüngeren Frau, die – jetzt kommt es zu einem sehr geschickten Kunstgriff des Autorenpaares Quadflieg/Veigel) – aus dem Osten der Republik stammt…
Und so wird der Leser mitten in einen extraordinären, extrem spannend zu lesenden Beziehungsreigen hineingezogen, der die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt, und in dem eines ganz schnell klar wird: Janus (der Name ist Programm, denn der eine Abschnitt seines Lebens scheint zum anderen nicht zu passen, sowohl in Vergangenheit als auch der Gegenwart) hat auch nach vielen geruhsamen Jahren sein Freiheits-Gen nicht abgelegt. Er brennt noch immer für die Freiheit, während die rund 30 Jahre jüngere Colette, die einen Verlag leitet und zwei Kinder in den 20ern hat, sich ganz auf die Paarbeziehung beschränken will.
Kampf gegen das Mittelmass
Taghell beleuchtet, es wird scharf geschossen: Teil des berüchtigten „Todesstreifens“ an der Berliner Mauer 1961
Wer Freiheit nicht kennt, vermisst sie auch nicht, so in etwa Colettes Einstellung zum Thema Meinungsfreiheit und Freiheit der Person. So kann sie in den heissen August-Sommertagen nicht nachvollziehen, dass Janus, von seinem alten Fluchthelferkumpel Harry um Hilfe gebeten, einer jungen Frau mit Migrationshintergrund eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben ohne Angst und Repressalien ermöglichen will. Und dafür eben die traute, leidenschaftliche Zweisamkeit von Berlin in das Schweizer Bergpanorama verlegen will.
Janus, aktuell mit der Aufarbeitung seiner Stasi-Akten beschäftigt, sucht immer noch nach Möglichkeiten, anderen die Freiheit zu ermöglichen, ist allerdings inzwischen zu alt für aktive Flüchtlingshilfe. Anisa und das beschauliche, vermeintlich romantische Alpenidyll werden zur Bewährungsprobe für die junge, bis dato problemlos zu stemmende Liebesbeziehung dieser beiden so unterschiedlichen Menschen, die eines verbindet: „Den Kampf gegen das Mittelmass“ (Seite 147) und die Suche nach erfüllter Liebe.
Einer der findigsten DDR-Fluchthelfer: Burkhart Veigel (Geb. 1938 in Eisfeld/D)
Jedoch: Frei nach „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ stellt gerade diese Aktion die aufkeimende grosse Liebe vor eine grosse Frage: Kann die Sozialisation in zwei konträren politischen Systemen, zu völlig unterschiedlichen Zeiten und Ausgangsbedingungen gelingen? Wachsen sich zunächst nette Kabbeleien und spitze Sticheleien zur ausgewachsenen Systemkritik aus – z.B durch Colettes kritische Äusserungen über die USA und den Kapitalismus zu Ende des Buches – und wird die Freiheit zum handfesten Hindernis, das einer gemeinsamen Zukunft entgegensteht?
Unterschiedliche Bedeutung von Freiheit
Die Schriftstellerin Roswitha Quadflieg (Geb. 1949 in Zürich/CH)
Äusserst geschickt erzählen Quadflieg und Veigel diese Geschichte, die lapidar, doch ebenso gewichtig „Frei“ heisst. Sie schlagen wie im lockeren und leichten Flug Brücken zwischen hier und jetzt, zwischen Vergangenheit und verheissungsvoller Zukunft, die wiederum zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings mit dem Wind verwehen mag. Burkhart Veigel erfindet eine Liebesgeschichte, verwebt mit Roswitha Quadflieg äusserst raffiniert Fakten aus seiner Vergangenheit mit Fiktion. So sind Janus und Veigel in vielem eines und doch ganz anders. Veigel erschafft mit Janus Emmeran eine lebendige, virile und sehr vielschichtige Persönlichkeit, die eben nicht einfach einzuordnen ist, zwei Gesichter hat und ein eigenes Alter Ego. Mit der grossen Liebesgeschichte am Lebensabend gelingt es ihnen mühelos und höchst effektiv, die unterschiedliche Bedeutung der Freiheit im Leben zwischen Ost und West zu thematisieren und spannungsgeladen das Glück – man fiebert wirklich mit – seinen Lauf nehmen zu lassen.
Ein Buch mit Mehrwert
FAZIT: Der Roman „Frei“ von Roswitha Quadflieg & Burkhart Veigel ist ein wunderbares Buch, dem es mühelos gelingt, den Leser in seinen Bann zu ziehen. Einen Bann um Janus Emmeran und dessen Freiheitskampf, sowohl im heissen Sommer 2016 und natürlich im Berlin der 1960er Jahre. Ein Buch mit Mehrwert, aus dem der Leser je nach Jahrgang ganz Unterschiedliches schöpfen mag.
Der Roman „Frei“ von Roswitha Quadflieg & Burkhart Veigel ist ein wunderbares Buch, dem es mühelos gelingt, den Leser in seinen Bann zu ziehen. Einen Bann um Janus Emmeran und dessen Freiheitskampf, sowohl im heissen Sommer 2016 und natürlich im Berlin der 1960er Jahre. Ein Buch mit Mehrwert, aus dem der Leser je nach Jahrgang ganz Unterschiedliches schöpfen mag. So kann es (wie für Burkhart Veigel) zugleich Aufarbeitung und Bewältigung sein, für mich (Jahrgang 75) ist es die erstmalige intensive Auseinandersetzung und hautnahe Begegnung mit der Geschichte der deutsch-deutschen Fluchthilfe. „Frei“ ist zugleich aber auch ein Denkanstoss, dass es mehr solcher aussergewöhnlichen Menschen und solcher Engagements wie Veigels bedarf, um Freiheit auch für jene verwirklichen zu können, die sie im Jahre 2018 nicht als selbstverständlich zu erfahren vermögen. ♦
Roswitha Quadflieg, Burkhart Veigel: Frei – Roman, Europa Verlag, 338 Seiten, ISBN 98739589018
Simona, Titelheldin des gleichnamigen Debütromans von Alan Schweingruber, flieht aus ihrer Schweizer Ehe in die Arme des Barmanns Antoine an der Côte d’Azur. Beide Protagonisten tragen eine gehöriges Päckchen von Verletzlichkeit mit sich: Ehekrisen, wechselnde Männerbekanntschaften, der Tod der geliebten Frau Claire. Zwei „Unbehauste“. Simona ist der Enge ihrer Familie und dem Alltag entflohen, Antoine versucht sich in Trauerarbeit. Der Weg zueinander in der flirrenden Sommerhitze Südfrankreichs jedoch führt erst über eine Reihe von Umwegen. Und Glück und Unglück liegen nahe beieinander.
Beide sind auf ihre Art Teil einer Gesellschaft von Mittdreissigern, die sich selbst ein Rätsel bleiben – auch wenn sie versuchen, dieses Rätsel durch Alkohol, Sex und Drogen – jeder für sich – zu lösen. Es sind die fatalen Abgründe unserer Zeit, die sich hier manifestieren bis hin zum Terroranschlag in Nizza im Juli 2016, der im Hintergrund dieses kleinen Liebesromans eine Rolle spielt. So hat dieser Roman Simona auch eine gesellschaftskritische Dimension.
Hinter dieser Geschichte verbirgt sich die Intension des Alan Schweingruber, der zeigen will, dass es ein Glück ist zu lieben – selbst wenn alles schiefläuft. Wie im Leben von Simona. Und dass dieses Glück nicht geplant, nicht vorhersehbar ist, sondern ein Produkt des Zufalls.
Unterschiedlich gelungene Buchkapitel
FAZIT: Alan Schweingruber, Schweizer Journalist und jetzt auch Autor eines literarischen Werks, lädt mit „Simona“ den Leser ein, eine Sommerliebe in Südfrankreich mitzuerleben. „Simona“ ist sein erster Roman, in dem er von Glück und Unglück erzählt und von der Liebe und ihren Unwägbarkeiten in einem gesellschaftskritischen Kontext. Eine spannende Sommergeschichte mit kleinen Mängeln, was die literarische Umsetzung betrifft, aber spannend und von gewisser Nachhaltigkeit.
Alan Schweingruber, Jahrgang 1972, lebt in Kilchberg bei Zürich. Er arbeitet als Journalist für verschiedene Medien. Mit seinem Romandebüt stellt er schon einmal hohe Anforderungen an sich selbst. „Es war mir von Anfang an wichtig, dass jedes Kapitel in meinem Buch spannend und unterhaltsam ist“, so die Selbstauskunft des Autors. Das allerdings ist ihm nicht immer gelungen. Manchmal erschliessen sich die Zusammenhänge nicht, wenn einzelne Episoden mehr oder wenig zufällig aufeinanderfolgen, wenn Traum und Realität, wenn Ort und Zeit oft nicht voneinander zu unterscheiden sind.
Dennoch eine spannende Sommergeschichte – unterhaltsam und von gewisser Nachhaltigkeit. Wie gesagt: ein Romandebüt. Und es dürfte deshalb interessant sein, was wir von Alan Schweingruber künftig an Literatur erwarten können. ♦
Alan Schweingruber: Simona – Roman, 218 Seiten, Verlag weissbooks, ISBN 978-3-86337-170-8
Die Ideen des schriftstellerisch sehr agilen Turiners Alessandro Baricco in seinem neuen Sachbuch „Die Barbaren“ spielen Pingpong. Ist es richtig oder nicht oder ist doch etwas dran, an dem, was aus dem Blätterwald und der globalen Medienmaschinerie zwitschert? Die Barbaren seien da, überall. Ein Genozid stehe uns bevor. Wir würden unterwandert.
Der Autor wollte die Invasoren sehen, ihre Taten erkennen. Täglich schrieb er eine Kolumne darüber oder dazu und brachte sie in der Zeitung „La Repubblica“ heraus. Das Phänomen beschäftigte ihn dermassen, dass er 30 solcher Glossen zu einem Essay gebündelt hat und in ein Buch pressen liess, von dem er schreibt, dass es „vor nichts zurückschreckt“ und ein „Essay über die Ankunft der Barbaren“ sei. Das könnte man irgendwie gesellschaftspolitisch auffassen. Aber die Kunst des Kolumnisten besteht darin, anhand der Infizierung des Kulturlebens das Politische einzubeziehen, ohne es explizit zu benennen. Somit enthält er sich der Meinungsmache.
Was so alles geschieht auf dem Globus
Was so alles geschieht auf diesem Globus, den einige derer, die ihn bewohnen, Erde nennen, und den jene, die darauf hausen, zum Spielball ihrer Überlebensstrategien oder ihres exaltierten Machtstrebens gestalten – das will der italienische, musisch angehauchte Philosoph Alessandro Baricco durchschauen. Er macht sich in diesem Sachbuch an ein Mammutunterfangen, denn gesellschaftliche Veränderungen innerhalb einer Kulturgeneration auch nur im Ansatz erfassen zu wollen, ist nahezu niemandem gelungen. Wie will ein Journalist aus Lust an der täglichen Denkvermittlung für den Leser von La Repubblica das schaffen? Das allein dürfte ebenso ein barbarischer Akt sein. Hat er womöglich mit seinen Folgen einer Durchdringung kultureller Erscheinungsformen unserer globalen Welt jemanden beeinflusst oder etwas bewirkt?
Diese Fortsetzungsgeschichten wollen kein Roman sein. Sie beschreiben lediglich nach Autoransage die unausweichlichen Veränderungsfolgen: Die Barbaren sind im Anmarsch und mit ihnen – gefühlt – die Apokalypse. Im Plauderton baut er Lesererwartungen auf, die er nach und nach in zwei, drei Sätzen zur Entspannung führt. Für ein Sachbuch wird meines Erachtens sehr viel um die Sache herum erzählt und lenken direkte (virtuelle) Leseranreden scheinbar vom Thema ab.
Revolution oder Invasion?
Geb. 1958 in Turin, Studium der Philosophie und Musikwissenschaft, anschliessend in der Werbebranche sowie als Journalist, Schriftsteller und Herausgeber tätig, mehrfach mit Preisen ausgezeichnet: Alessandro Baricco
Wie das aussieht, wie sich das auswirkt? Ich lese mit Luchsaugen weiter. Das neue Duell scheint nicht um strategische Positionen zu streiten, sondern will „die ganze Landkarte verändern“. Es scheint eine einfache Schlussfolgerung zu sein, doch das Wie ist der interessante Hauptteil dieser barbarischen Sachgeschichten.
„Die Genialität der Barbaren“ sei eine absonderliche Qualitätsvorstellung. Qualität – auf dem Buchmarkt etwa – verlagerte sich vom Wert des Autors auf die Wertigkeit beim Leser. Klingt das nach Revolution oder Invasion? Märkte befriedigten Bedürfnisse, sie schaffen sie nicht, behauptet Baricco. (Das lässt mich aufmerken: Denn, wenn ich einen Gedanken weiter denke und mich auf die Ursachen besinne, dann tun sie es doch. Oder „promoten“ sie die Bedürfnisse nicht, bevor sie sie mit den beworbenen Produkten befriedigen?)
Die Veränderung als Energiestrom
Um die Barbaren verstehen zu können, nimmt er sie ernst und fragt zunächst nach: Wer sind die Eindringlinge? Wir sehen Plünderungen, aber nicht die Invasion. Den Sinnverlust belegt er am Beispiel der (unscheinbaren) Phänomene Wein, Fussball und Bücher.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Europäer Kaugummi zu kauen und die Amerikaner „Hollywood-Wein“ zu trinken. Die verändernde Folge des Weinpanschens nach Einschätzung des Italieners: „Wein ohne Seele“. Soll ich daraus folgern: Welt ohne …? Der Autor hat mich dazu animiert, aber überreden will er mich nicht zu seiner gedankenspielerischen Sichtwiese. Ermuntern will er zu einem erweiterten Blickradius, weil wir im Allgemeinen keine Lust hätten, „etwas besser zu machen“. Wie wäre es die Veränderung als Energiestrom zu begreifen?
Im zweiten Komplex untersucht er in einem aktuellen Google-Porträt das „barbarische Tier“ und schlussfolgert, dass es gegen jede Tradition anläuft. So viele Umrisse hat er durch das Skizzieren „technologischer Neuerungen, kommerzieller Raserei, Spektakularität, moderner Sprache und Oberflächlichkeit“ und nicht sehr viel mehr Konturen zeichnen können. Die Skizze „überschreitet“ vorhandene Qualität mit Neuerungen. Das sei eine Anmassung, denn es „atmet mit Google-Kiemen“. Aber historisch gesehen wird es ein „Durchgangssystem“ bleiben. Für Spektakularität führt er das Kino als Paradebeispiel an.
FAZIT: Alessandro Baricco hält in seinem neuen Buch „Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur“ die Balance zwischen lockerer Besorgnis und gelassener Sachlichkeit. In freundlichem Plauderstil informiert er über eine Sicht auf die kulturellen Veränderungen aller Zeiten. Wer diese Seiten gelesen hat, wird einen Deut realistischer einschätzen können, was die weltweiten Änderungsströmungen verursachen könnten, aber vielleicht doch nicht auslösen müssen. Denn seit Menschheitsbestehen seien es Mutationen gewesen, die den Fortschritt brachten. Lesenswert.
Der fremde Mutant fasziniert durch Verlieren seiner Seele – er verzichtet auf Unterordnung unter das „Wohlwollen einer göttlichen Autorität“. Deswegen könnten Barbaren mit der Seele überhaupt nichts anfangen. Er exemplifiziert das Seelenleben als Spiritualitätserfindung des 19. Jahrhunderts an der klassischen Musik. Sie gelte als „präziseste Form“ des „Zwischenreichs“ zwischen dem „Menschentier und der Gottheit“. Er pointiert es auf die Frage: „Was kannst du mit Schubert anfangen, wenn du versuchst [wie die Barbaren es tun], ohne Seele zu leben?“ Das ist der Stil, in dem Baricco zusammenfasst und munter philosophisch-witzig in nonkonformen Denkwendungen mit dem Leser über unterschwellige Vereinnahmung unserer Kultur durch die fremdartigen Veränderungen plaudert. Barbaren seien keine „krankhafte Degeneration“, auch sie hätten eine Logik, nämlich die, zu überleben im bestmöglichen Lebensraum. So simpel sei dieses An-Sinnen. Immer wieder blitzt die Methode des Autors durch: das total unkonventionelle Denken und das pfiffige Formulieren seiner Gedanken.
Mutation gleich Fortschritt
Den Epilog verfasst er von der Chinesischen Mauer herab. Will er mit dieser Location einen künftigen Kulturhoheitsraum andeuten? Er redet nicht ein nur ein bisschen schön, um zu relativieren oder zu nivellieren oder gar zu verharmlosen. Er bietet kein veralberndes Kabarett, Slapstick oder Klatsch-Comedy. Er wandert sicher auf dem schmalen Grat geistreich-humoristischer Ironie.
Sehr gerne habe ich mich in dieses Buch auf „die Reise für geduldige Wanderer“ vertieft. Vor allem wegen der lebendigen Sätze, die keinen langen Lektorierungsschliff ausgesetzt worden sind. Positiv schimmert die gelungene Übersetzung ins Deutsche durch alle Zeilen, weil sie ohne unnötige Anglizismen auskommt und „neudeutsche“ Adaptionen vermeidet.
Balance zwischen Besorgnis und Sachlichkeit
In meiner Nutzanwendung gelange ich zu der Schlussfolgerung: Ein bedrohlicher Barbar kann das nicht geschrieben haben. Es muss ein abendländisch aufgeklärter Geist gewesen sein. In diesem Sinne habe ich mich auch nicht durch Lektüre seiner zuvor veröffentlichten Schriften in eine Vereinnahmungsprägung verführen lassen, sondern werde sie sozusagen im Nachgang „bewandern“. Zerstörung ist „geistiger Umbau“, der überrascht, wenn wir die Lasten unserer Erinnerungen noch mit uns herumtragen.
Alessandro Baricco hält in seinem neuen Buch „Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur“ die Balance zwischen lockerer Besorgnis und gelassener Sachlichkeit. In freundlichem Plauderstil informiert er über eine Sicht auf die kulturellen Veränderungen aller Zeiten. Wer diese Seiten gelesen hat, wird einen Deut realistischer einschätzen können, was die weltweiten Änderungsströmungen verursachen könnten, aber vielleicht doch nicht auslösen müssen. Denn seit Menschheitsbestehen seien es Mutationen gewesen, die den Fortschritt brachten. Lesenswert. ♦