Dem Phänomen des Swing widmeten Duke Ellington und Irving Mills bereits 1931 einen speziellen Song, dessen erste Liedzeile bezeichnenderweise lautete: „It Don’t Mean a Thing, If It Ain’t Got That Swing“. Doch bis heute ist die Frage, was genau eine Jazz-Performance zum Swingen bringt, nicht wirklich geklärt. Ein Team des Göttinger Max-Planck-Institutes hat nun mit einer empirischen Studie die Rolle des sog. Mikrotiming im „Swing-Feeling“ bei 160 Profi- und Amateurmusikern untersucht.
Das Thema Mikrotiming in Jazz-/Pop-/Rock-Rhythmen wurde bislang unter Musikwissenschaftlern kontrovers diskutiert. Als Mikrotiming-Abweichungen werden die winzigen Abweichungen von einem bestimmten Rhythmus bezeichnet. Zum Verständnis: Jazz-, Rock- und Popmusik können den Zuhörer buchstäblich mitreissen, indem sie ihn dazu bringen, unwillkürlich mit den Füssen zu klopfen oder den Kopf im Takt des Rhythmus zu bewegen. Zusätzlich zu diesem Phänomen, das als „Groove“ bekannt ist, verwenden Jazzmusiker den Begriff Swing seit den 1930er Jahren nicht nur als Musik-Stil, sondern auch als rhythmisches Phänomen.
Was ist Swing?
Der erste Swing-Ton wird etwas länger gehalten (Ternärer Rhythmus)
Bis heute fällt es den Musikern jedoch schwer zu verbalisieren, was Swing eigentlich ist. Bill Treadwell beispielsweise schrieb in der Einleitung zu seinem „What is Swing?“: „Man kann es fühlen, aber man kann es nicht erklären“. Musiker und viele Musikfans haben also durchaus ein intuitives Gespür dafür, was Swing bedeutet. Doch bisher haben Musikwissenschaftler vor allem nur eines seiner (ziemlich offensichtlichen) Merkmale eindeutig charakterisiert: Aufeinanderfolgende Achtelnoten werden nicht einfach gleich lange gespielt, sondern die erste Note (der sog. „Swing-Ton“) ist etwas länger gehalten als die zweite. Das „Swing-Verhältnis“, d.h. das Verhältnis der Dauer dieser beiden Töne liegt häufig nahe bei 2:1, und es hat sich herausgestellt, dass es bei höheren Tempi eher kürzer und bei niedrigeren Tempi eher länger wird.
Mal genau nach Takt, mal ganz „entspannt“
Dr. Theo Geisel bei einem musikwissenschaftlichen Referat über Rhythmus und Algorithmus in Göttingen
Musiker und Musikwissenschaftler diskutierten schon immer auch die rhythmische Schwankung als eines der besonderen Merkmale des Swing. So spielen Solisten beispielsweise gelegentlich für kurze Zeiträume deutlich nach dem Takt, oder sie spielen „entspannt“, um den Fachjargon zu verwenden. Aber ist dies für das Swing-Gefühl notwendig, und welche Rolle spielen viel kleinere Zeitschwankungen, die sich der bewussten Aufmerksamkeit selbst erfahrener Zuhörer entziehen?
Einige Musikwissenschaftler sind seit langem der Meinung, dass es nur solchen Mikrotiming-Abweichungen (zum Beispiel zwischen verschiedenen Instrumenten) zu verdanken ist, dass der Jazz „swingt“. Forscher des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation und der Universität Göttingen rund um Theo Geisel kamen kürzlich aufgrund ihrer empirischen Studie zu einem anderen Ergebnis. Sie vermuten, dass Jazzmusiker den Swing etwas mehr spüren, wenn das Swing-Verhältnis während einer Aufführung möglichst wenig schwankt.
Dem Swing-Geheimnis auf der Spur
Die Unzufriedenheit mit der Tatsache, dass das Wesen des Swing ein Geheimnis bleibt, war die Motivation der Forscher unter der Leitung von Theo Geisel, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation, die Studie durchzuführen: „Wenn Jazzmusiker es spüren, aber nicht genau erklären können“, sagt Geisel, der selber Jazz-Saxophonist ist, „dann sollten wir die Rolle der Mikro-Timing-Abweichungen operativ charakterisieren können, indem wir erfahrene Jazzmusiker Aufnahmen mit den originalen und systematisch manipulierten Timings auswerten lassen“.
Dementsprechend nahm das Team zwölf Stücke auf, die über vorgenerierte präzise Bass- und Trommelrhythmen von einem professionellen Jazz-Pianisten gespielt wurden, wobei das Timing auf drei verschiedene Arten manupuliert wurde. Zum Beispiel eliminierten sie alle Mikro-Timing-Abweichungen des Pianisten während des gesamten Stücks, d.h. sie „quantisierten“ seine Darbietung. Weiters wurde die Dauer der Mikrotiming-Abweichungen verdoppelt, und bei der dritten Manipulation kehrten sie diese um.
Wenn der Pianist also einen Swing-Ton 3 Millisekunden vor dem durchschnittlichen Swing-Ton für dieses Stück in der Originalversion spielte, verschoben die Forscher den Ton um den gleichen Betrag, d.h. 3 Millisekunden hinter dem durchschnittlichen Swing-Ton, in der umgekehrten Version.
Anschliessend bewerteten 160 Berufs- und Laienmusiker in einer Online-Umfrage, inwieweit die manipulierten Stücke natürlich oder fehlerhaft klangen, und insbesondere hatten sie den Grad des Swing in den verschiedenen Versionen einzustufen.
Swing-Coolness bei den Profis
„Wir waren überrascht“, sagt Theo Geisel über das Ergebnis dieser Untersuchung, „denn im Durchschnitt bewerteten die Teilnehmer an der Online-Umfrage die quantisierten Versionen, d.h. diejenigen ohne Mikrotiming-Abweichungen, als etwas schwungvoller als die Originale. Mikrotiming-Abweichungen sind also kein notwendiger Bestandteil des Swingings“, so Theo Geisel.
Der „King of Swing“: Benny Goodman (1909-1986)
Stücke mit verdoppelten Mikrotiming-Abweichungen wurden von den Befragungsteilnehmern als am wenigsten schwungvoll bewertet. „Entgegen unserer ursprünglichen Erwartung hatte die Umkehrung der zeitlichen Mikrotiming-Abweichungen nur bei zwei Stücken einen negativen Einfluss auf die Bewertungen“, sagt York Hagmayer, Psychologe an der Universität Göttingen. Die Wirkungsstärke des Swingens, die jeder Teilnehmer den Stücken zuschrieb, hing auch von dem individuellen musikalischen Hintergrund der Teilnehmer ab. Unabhängig von Stück und Version gaben professionelle Jazzmusiker im Allgemeinen etwas niedrigere Swing-Bewertungen ab als die Amateure.
Am Ende der Studie fragten die Forscher die Teilnehmer nach ihrer Meinung darüber, was ein Musikstück ausserdem zum Swingen bringt. Die Befragten nannten weitere Faktoren wie dynamische Interaktionen zwischen den Musikern, Akzentuierung und das Zusammenspiel von Rhythmus und Melodie. „Es wurde deutlich, dass zwar der Rhythmus eine grosse Rolle spielt, aber auch andere Faktoren, die in der weiteren Forschung untersucht werden sollten, wichtig sind“, sagt Annika Ziereis, die zusammen mit George Datseris Autorin der betreffenden Publikation der Studie ist. ♦
„Nach dem für die Zwischendominante beschriebenen Prinzip erklärt sich auch die für die Wissenschaft verwunderliche Tatsache, dass Durakkorde bisweilen ebenso traurig klingen können wie Mollakkorde, wenn sie als Dominante einer Molltonart erscheinen. Die sonst übliche emotionale Dur-Moll-Kontrastwirkung ist dann nämlich vollständig erloschen:
Die dominantischen Durakkorde im zweiten Takt des Vorspiels von „Die liebe Farbe“ aus dem Zyklus „Die schöne Müllerin“ (hier rot gekennzeichnet) klingen ebenso traurig wie die Mollharmonien des ersten Taktes, da sie deren emotionale Wirkung übernehmen.
Identifizieren wir uns bei einer Molltonika mit einem Gefühl des Nicht-Einverstanden-Seins und bei deren Durdominante […] mit einem Willen gegen den Wieder-Eintritt der Molltonika, dann ergibt sich für die Dominante eine Situation, die – konsequent formuliert – folgendermassen beschrieben werden kann:
Bei der Dominante einer Molltonika identifizieren wir uns mit einem Gefühl des Nicht-Einverstanden-Seins mit einem Gefühl des Nicht-Einverstanden-Seins. Die Anwendung unserer Theorie auf die Harmoniefolge Dominante-Molltonika führt also zu einer Art Pleonasmus.
Das erklärt nun, dass der Harmoniewechsel Molltonika-Dominante-Molltonika nur einen gemeinsamen emotionalen Gehalt vermitteln kann, nämlich den der Molltonika, also wie im obigen Schubert-Beispiel einen traurigen“. ♦
Mein erster Eindruck von „Evensong“, der neuen CD von Richard Harvey war dieser: Klingt irgendwie nach Gregorianik. Aber dann auch wieder nicht: zu gross sind die Sprünge innerhalb der Melodie. Mehrstimmigkeit und Harmonien passen auch nicht zu diesen alten Klängen. Also doch modern und neu? Ja – irgendwie kommt das Alte aber immer wieder durch. Manches klingt nach Madrigal und Motette, anderes nach Pärt oder Whitacree. In der Summe ist es aber kein Abklatsch, sondern ein eigenständiges Werk, das ich gerne in Folge gehört habe.
Intelligente Titelwahl
Den Titel kann man vielfältig interpretieren: Abendgesang (dazu passen Titel wie Night Song, The Call, Lullay, Et in Arcadia, Evensong), oder auch Abendandacht, Abendgebet (Dona Nobis Pacem, Sanctus, Credo). Das dritte Stück – The Call – kommt ganz ohne altes Pathos aus. Es klingt eher wie ein für Chor umgesetzter Popsong. Das ist nicht negativ gemeint, zumal die Sopranistin Amy Haworth, bekannt auch schon als Ensemblemitglied von The Tallis Scholars, beeindruckend aus dem Chor hervorsticht. Das wiederholt sie noch einmal beim Titelstück Evensong. Lullay klingt dann fast schon wieder wie ein altenglisches Lied, etwa von Dowland oder Purcell. Sanctus erinnert stellenweise an alte Madrigale, besonders die letzten von Gesualdo.
Der Chor steht unüberhörbar im Vordergrund. Instrumente, die eingesetzt werden – bei den Titeln 3 und 4 auch Streichorchester – unterstützen und ergänzen den Chor, ohne ihn zu verdrängen. Beim letzten Stück begleitet der Komponist selber dezent mit Panflöte und Psaltererium.
Der Estnische Philharmonische Chor unter der Leitung von Heli Jürgenson macht seine Sache gut. Aufgenommen wurde im St Nicholas Kirchen Museum in Tallinn, und zwar ausschliesslich nachts. Diese Atmosphäre kommt spürbar in der Aufnahme beim Hörer an. Natürlich kann man sagen, dass dies ein subjektives Empfinden ist, was auch stimmt, aber ich habe die CD nach dem ersten Hören in der Folge vor allem spätabends und nachts wiederholt gehört, weil mir einfach die Ruhe dieser Zeit zu dieser Musik am besten zu passen schien.
Wanderer zwischen Klassik und Pop
Richard Harvey
Richard Harvey ist kein Unbekannter. Der britische Komponist und Musiker hat eine unorthodoxe Karriere gemacht. Nach dem Studium schlug er ein Angebot des London Philharmonic Orchestra aus und spielte lieber in der Progressive Rock-Gruppe Gryphon mit, die stark von Folk- und Mittelalter-Einflüssen profitiert. Harvey brachte Krummhorn, Harmonium, Mandoline und andere Instrumente mit ein.
Er schrieb auch Filmmusik („Lady Chatterleys Liebhaber“, „Das dreckige Dutzend Teil 2“, „Luther“, „Eichmann“ u.a.). Er dirigierte das London Symphony Orchestra bei einigen Klassik-Rock-Alben und nahm mit dem Gitarristen John Williams das Afrika-orientierte Album „Magic Box“ auf.
Seit 2005 tourt Richard Harvey mit Williams unter „John Williams & Richard Harvey’s World Tour“ weltweit, wobei ihr Programm eine Mischung aus klassischer Musik und Weltmusik aus allen fünf Kontinenten umfasst.
Harvey schrieb auch Konzerte, die von anderen Musikern aufgeführt wurden (John Williams mit klassischer Gitarre, Michaela Petrie für Blockflöte u.a.). Der Komponist bewegt sich als Komponist und Musiker souverän zwischen den Polen anspruchsvoller klassischer Musik, Weltmusik und populärer Musik.
Fazit: „Evensong“ ist ein Album, das sich zu hören lohnt, das vor allem Lust macht, die Lieder einmal live zu geniessen. Und es motiviert dazu, sich auch mit den anderen Arbeiten des Komponisten zu beschäftigen. Ich kannte bis anhin nur die Zusammenarbeit mit John Williams („Magic Box“), werde aber in der nächsten Zeit auch in andere verfügbare Aufnahmen hineinhören. ♦
My first impression of the new CD by Richard Harvey: Evensong was: Sounds like Gregorianik somehow. But then again not: the leaps within the melody are too big. Polyphony and harmonies don’t fit to these old sounds either. So modern and new after all? Yes – But somehow the old comes through again and again. Some sounds like Madrigal and Motette, others like Pärt or Whitacree. In sum, however, it is not a copy, but an independent work that I liked to hear in a row.
The title can be interpreted in many ways: Evening singing (songs like Night Song, The Call, Lullay, Et in Arcadia, Evensong fit to it), or also evening prayer (Dona Nobis Pacem, Sanctus, Credo). The third piece – The Call – gets along without any old pathos. It sounds more like a pop song realized for choir. This is not meant negatively, especially since the soprano Amy Haworth, already known as a member of The Tallis Scholars, stands out impressively from the choir. She repeats this once again in the title track Evensong. Lullay almost sounds like an Old English song again, for example by Dowland or Purcell. Sanctus reminds in places of old madrigals, especially the last ones of Gesualdo.
The choir is unmistakably in the foreground. Instruments that are used – including string orchestras in Titles 3 and 4 – support and complement the choir without displacing it. In the last piece, the composer himself accompanies discreetly with pan flute and psaltererium.
The Estonian Philharmonic Choir under the direction of Heli Jürgenson is doing a good job. It was recorded in the St Nicholas Church Museum in Tallinn, exclusively at night. This atmosphere is noticeably reflected in the recording. Of course one can say that this is a subjective feeling, which is also true, but I listened to the CD repeatedly after the first listening in the episode, especially late in the evening and at night, because simply the tranquillity of this time seemed to me to fit this music best.
Richard Harvey is no stranger. The British composer and musician has had an unorthodox career. After his studies, he turned down an offer from the London Philharmonic Orchestra and preferred to play in a progressive rock group Gryphon, which profited greatly from folk and medieval influences. Harvey brought in Krummhorn, harmonium, mandolin and other instruments.
He also wrote film music („Lady Chatterley’s Lover“, „Das Dreckige Dutzend Part 2“, „Luther“, „Eichmann“ and others). He conducted the London Symphony Orchestra on several classical rock albums and recorded the Africa-oriented album „Magic Box“ with guitarist John Williams.
Since 2005 Richard Harvey has been touring the world with Williams under „John Williams & Richard Harvey’s World Tour“, where their program includes a mixture of classical music and world music from all five continents.
Harvey has also written concerts performed by other musicians (John Williams with classical guitar, Michaela Petrie for recorder and others). As a composer and musician, the composer moves confidently between the poles of sophisticated classical music, world music and popular music.
Conclusion: „Evensong“ is an album which is worth listening to and which above all makes you want to enjoy the songs live. And it also motivates you to take a closer look at the composer’s other works. Until now I only knew the collaboration with John Williams („Magic Box“), but in the near future I will also listen to other available recordings. ♦
„Musik ist die einzige Sprache, die jeder versteht“ – stimmt das wirklich, oder ist das einfach schöngeistiges Wunschdenken, übrigens seit Jahrhunderten postuliert, aber nie verifiziert? Was meint eigentlich die Wissenschaft zum vielfältig diskutierten Thema „Musik als Universalsprache“? (Über den Themen-Komplex „Musik als Sprache“ im engeren Sinne wurde und wird schon seit Jahrzehnten geschrieben und geforscht – ein besonders anregender Beitrag hierzu findet sich in dem Essay von Ernst Krenek: Musik und Sprache).
Zwei wissenschaftliche Forschungsbeiträge in der jüngsten Ausgabe des renommierten Science Magazine untermauern nun die Idee, dass Musik auf der ganzen Welt trotz vieler Unterschiede tragende Gemeinsamkeiten hat.
„Das Medley der menschlichen Musikalität vereint alle Kulturen auf dem Planeten“
Denn Wissenschaftler unter der Leitung des amerikanischen Kognitionsforschers Samuel Mehr (Harvard University) haben eine gross angelegte Analyse von Musik aus Kulturen auf der ganzen Welt durchgeführt, und die beiden Kognitionsbiologen Tecumseh Fitch und Tudor Popescu von der Universität Wien gehen davon aus, dass die menschliche Musikalität alle Kulturen auf der Welt vereint.
Gemeinsamkeiten heterogener Musikstile
Samuel Mehr, Kognitions-Forscher und Musik-Wissenschaftler an der Harvard University: „Es gibt eine Art grundlegende menschliche Musikalität“
Die vielen Musikstile der Welt sind so unterschiedlich – zumindest oberflächlich betrachtet -, dass Musikwissenschaftler oft skeptisch sind, ob sie tatsächlich wichtige gemeinsame Merkmale haben. „Universalität ist ein grosses Wort – und ein gefährliches“, sagte schon der grosse Leonard Bernstein. In der Tat, in der Ethnomusikologie wurde „Universalität“ zu einem Dirty Word – eine inhaltslose Worthülse. Aber Mehr’s neue Forschungen stellen in Aussicht, dass die Suche nach tieferen universellen Aspekten der menschlichen Musikalität neu entfacht wird.
Tonalität als „menschliche Prädisposition“?
So stellte Samuel Mehr fest, dass alle untersuchten Kulturen Musik machen und dabei sehr ähnliche Arten von Musik in ähnlichen Kontexten verwenden, mit jeweils einheitlichen Eigenschaften. Zum Beispiel ist Tanzmusik schnell und rhythmisch, und Schlaflieder weich und langsam – überall auf der Welt.
Darüber hinaus zeigten gemäss Mehr alle Kulturen Tonalität: Sie bauten aus einer Basisnote eine kleine Teilmenge von Noten auf, genau wie in der westlichen diatonischen Skala. Heilende Lieder neigen dazu, weniger Noten und dichtere Abstände zu verwenden als Liebeslieder.
Diese und weitere Ergebnisse deuten darauf hin, dass es tatsächlich universelle Eigenschaften der Musik gibt, die wahrscheinlich tiefere Gemeinsamkeiten der menschlichen Wahrnehmung widerspiegeln – quasi eine grundlegende „menschliche Musikalität“.
In einer wissenschaftlichen Perspektive in derselben Ausgabe kommentieren die Forscher an der Universität Wien Tecumseh Fitch und Tudor Popescu die Auswirkungen. „Die menschliche Musikalität ruht grundsätzlich auf einer kleinen Anzahl von festen Säulen: Fest kodierte Prädispositionen, die uns die früheste physiologische Infrastruktur unserer gemeinsamen Biologie bietet. Diese ‚musikalischen Säulen‘ werden dann mit den Besonderheiten jeder einzelnen Kultur ‚gewürzt‘, was zu dem schönen kaleidoskopischen Sortiment führt, das wir in der Weltmusik finden“, erklärt Tudor Popescu. Und Fitch fügt hinzu: „Diese neue Forschung belebt ein faszinierendes Studiengebiet wieder, das von Carl Stumpf zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin entwickelt wurde, das aber von den Nazis in den 1930er Jahren tragisch beendet wurde“.
Das Musik-Medley aller Kulturen des Planeten
„Grundlegende Prädisposition musikalischer Inhalte in den menschlichen Weltkulturen“
Mit der Annäherung der Menschheit wachse gemäss Popescu und Fitch auch unser Wunsch zu verstehen, was wir alle gemeinsam haben – in allen Aspekten des Verhaltens und der Kultur. Die neue Forschung aus Harvard deute darauf hin, dass die menschliche Musikalität einer dieser gemeinsamen Aspekte der menschlichen Kognition ist. „So wie europäische Länder als ‚United In Diversity‘ bezeichnet werden, so vereint auch das Medley der menschlichen Musikalität alle Kulturen auf dem Planeten“, so Tudor Popescu abschliessend. ♦
Im kommenden Jahr 2020 begeht die Musikwelt einmal mehr ein Jubiläum der Superlative, nämlich das 250. Geburtsjahr von Ludwig van Beethoven. Die Musikforscher werden sich überschlagen mit neuen Analysen der Werke des „Titanen“, die Labels werden ihre alt-verstaubten Gesamtaufnahmen seiner Sonaten und Sinfonien aus ihren Vinyl-Gräbern schaufeln, die Mono- und Biographen zum x-sten Male die Entstehungsgeschichte von „Für Elise“ aufkochen, die Merchandise-Industrie ihre T-Shirts mit „Ode an die Freude“ oder „Eroica“ drauf in die Kleiderläden bugsieren, und es wunderte nicht, wenn auch die Film-Regisseure den einen oder anderen neuen Beethoven-Streifen ins Kino hievten.
Kein Zweifel besteht jedenfalls darüber, dass die Konzertsäle bald weltweit überquellen werden vor lauter Beethoven. Denn für den Kult um solche ausholenden, extrem dominanten Jahrhundert-Genies wie Beethoven ist unsere 2.0-Welt wie geschaffen. Ob heutzutage derartige Jubiläen einer solch singulären Erscheinung wie Beethoven allerdings auch nur ansatzweise gerecht werden können, oder ob’s bei den üblichen pietätvollen Häppchen in den Social Medias bleibt, muss je am Einzelergebnis solcher „Erinnerungsarbeit“ festgemacht werden. Immerhin sind allenthalben regelrechte Monster-Zyklen angekündigt im Beethoven-Jahr 2020, wie beispielsweise bei der deutschen Beethoven-Jubiläums-GmbH (BTHVN 2020).
Zitaten-Schatz der Zeitgenossen
Eine Möglichkeit, zumindest skizzenhaft den Einfluss Beethovens seinerzeit und heute zu umreissen, ist jene, die der Verlag „Edition-Momente“ beschritt mit seinem neuen Musik-Kalender 2020 unter dem Titel „Beethoven und ich“, nämlich jene Leute zu Worte kommen zu lassen, die professionell und unvermittelt mit dem Menschen Beethoven und seinem Werk befasst waren oder sind: Seine (komponierenden oder interpretierenden) Zeitgenossen, seine heutigen Realisierenden in den Orchestern und Kammerensembles, kurzum jene Musik-Verständigen, die an ihm in den Konzertsälen, Plattenstudios und Bücherstuben unmöglich vorbeikamen und noch immer nicht vorbeikommen.
Hymnen und Erinnerungen im Wochentakt
Probeseite aus dem „Musik-Kalender 2020“ mit einem Statement von Luigi Nono
Beginnend mit dem ersten Januar-Blatt und dem legendären Beethoven-Konzert, das der Pianist Arturo Benedetti Michelangeli 1942 in Rom gab, bis hin zur letzten Dezember-Woche bzw. zum Zitat des Cellisten Pablo Casals, das Beethovens 9. Sinfonie als „Wunder“ verherrlicht, bindet der Kalender auf 53 Wochenblättern einen eindrucksvollen Strauss von Erinnerungen, Gesprächen, Bekenntnissen, Zitaten, Bildern, Fotos, Zeichnungen, Notizen und Anekdoten von Claudio Arrau und Leonard Bernstein oder Johannes Brahms über Sergiu Celibidache oder Clara Haskil bis hin zu Gustav Mahler, Gioacchino Rossini oder Günter Wand.
Ob Komponisten oder Dirigenten oder Instrumentalisten – sie alle zollen einem ganz grossen der menschlichen Kulturgeschichte ihren Respekt, und nicht immer ist endgültig klar, ob die Verehrung einem Künstler oder nicht doch eher einem Gott gilt… Womit wir wieder glücklich im Musik-Olymp und bei den Podesten gelandet sind, auf die solche Exemplarischen halt – erst recht aus so grosser Zeitdistanz – immer noch gerne gestellt werden.
Beeindruckendes Puzzle über einen Giganten
Ungeachtet aller Glorifizierung verdichtet diese facettenreiche Kalender-Sammlung aber durchaus zahlreiche Puzzle-Stücke zu einer eindrücklichen Gesamtschau, die sich dem Menschen Beethoven und seinem Werk unterhaltsam, reichhaltig, vielseitig, ja schillernd, und teilweise beeindruckend nähert.
Der Kalender kommt layouterisch sehr ästhetisch daher, mit intelligent ausgewählten Bezügen, seien diese direkt-musikalischer oder „nur“ biographischer Natur, und mit sehr ansprechendem, teils unbekanntem Bild-Material. ausserdem fällt verdienstvoll ins Auge: Die 60-blättrige Anthologie versammelt nicht nur männliche Beethoven-Adepten, sondern auch zahlreiche Frauen mit ihren bedeutungsvollsten Beiträgen, musikalischen Bezügen, und ja: menschlichen Beziehungen über und zu Beethoven. Namentlich seien nur Fanny Hensel (Komponistin), Jenny Lind (Sopranistin) oder Myra Hess (Pianistin) hervorgehoben.
Ein jeder der Kalender-Tage 2020 ist über den je ganzseitigen Fokus hinaus mit den entspr. Geburts- bzw. Todeszahlen von hunderten weiterer Musik-Berühmtheiten aus vergangener und jüngster Zeit garniert.
Alles in allem ein Musik-Kalender, der weniger als hübscher Memory-Wandschmuck taugen will denn als ästhetischer und informativer Tour d’Horizon über einen Komponisten, der Musikgeschichte geschrieben hat wie kein zweiter – und seit 250 Jahren ausstrahlt bis in unsere Tage hinein. ♦
Das Musik-Kreuzworträtsel im Oktober 2019 aus dem Hause GLAREAN bietet den Crossword-Fans wieder eine breite Palette von Begriffen aus der Welt der Musik.
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Vom Volkslied und Schlager über das Rock- und Pop-Album bis zur Opernbühne ist alles dabei…
Übrigens, in den letzten Jahren hat das Glarean Magazin zahlreiche Musikkreuzworträtsel publiziert – hier geht’s zu der ganzen Rätsel-Sammlung.
Er muss nichts mehr beweisen, denn in seiner nunmehr fast vierzigjährigen Karriere hat der belgische Gitarrist Jacques Stotzem ausreichend gezeigt, dass er nicht nur ein versierter Steelstring-Gitarrist ist, sondern auch ein ganz passabler Komponist und Arrangeur. Stotzem gehört nicht zu denen, die Pattern aneinanderreihen, sondern baut seine Kompositionen logisch und harmonisch auf. Melodien werden nicht in ein Akkordgerüst geklemmt, sondern entfalten sich frei und nicht selten von kontrapunktischen Basslinien untermalt. Seine harmonischen Strukturen sind dem Jazz näher als einfachen Folk- und Blues-Songs. Nun legt er mit „Places we have been“ ein weiteres Zeugnis seiner Schaffenskraft auf.
Neben seinen eigenen Kompositionen arrangiert Stotzem Songs aus Rock und Pop für die Akustikgitarre, von Jimi Hendrix und Rory Gallagher beispielsweise. Letzterem hat er sogar eine eigene CD gewidmet: To Rory (2015).
Ruhige musikalische Reise
Die aktuelle CD „Places we have been“ – die 18. in seinem Oeuvre – enthält neun grösstenteils ruhige Kompositionen, die schon beim ersten Hören für sich einnehmen. Doch erst beim wiederholten Auflegen entfalten sie ihre ganze Schönheit. Stotzem will mit diesem Album an die Stationen seiner musikalischen Reisen erinnern, denn er ist Gast auf den Konzertbühnen der ganzen Welt. Wo die einzelnen Stationen liegen, erfährt der Hörer nicht, denn die Titel sind recht allgemein gehalten und Reminiszenzen an bestimmte Regionen sind kaum zu erkennen.
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Er spielt von Plätzen, an denen „wir“ waren (Places we have been), beschreibt musikalisch erlebte Momente, die ewig andauern könnten (It could last forever), erzählt von Aufbruch (Morgen geht’s weiter) und Ankommen im Nirgendwo (Middle of nowhere), von ruhigen Momenten (La tranquillté des jours simples) und nostalgischen Erinnerungen an einen Abend (Nostalgie d’un soir). Das ist so unbestimmt benannt, dass sich der Hörer nicht von fremden Erinnerungen gefangen nehmen lassen muss, sondern eigene daran knüpfen kann. Stotzems musikalische Reise wird so auch zu einer eigenen, selbst erlebten.
Nahtlos-kunstvolle Übergänge
Jacques Stotzem (*1959)
Die Werbung spricht von der „Leichtigkeit der Melodielinien“. Für mich hört sich das immer an wie die Werbung für Schokolade, die „so leicht schmeckt“. Worte, die tatsächlich keinen Sinn ergeben und nur einen subjektiven Eindruck beim Leser oder Hörer erzeugen sollen. Was aber klar wird beim Hören, dass es eben tatsächlich Melodien sind, die Stotzem als Grundlage seiner Kompositionen nimmt und auch deutlich ausarbeitet, keine leeren Harmonien, keine Akkordcluster oder einfach nur kurze Riffs. Man kann mitsummen, wenn man will. Man könnte mitsingen, wenn man sich einen Text dazu einfallen lässt. Die Melodien sind nicht einfach gebaut, aber durchaus eingängig. Man hört diese Melodien auch dann noch, wenn der Gitarrist das Zupfen/Picking verlässt und perkussive Schlagtechniken anwendet. Er beherrscht dies so kunstvoll, dass es fast nicht bemerkt wird, wenn er von der einen zur anderen Technik wechselt. Das geht so nahtlos ineinander über, dass die Übergänge als solche nicht auffallen.
Anfangstakte des Titelstücks der CD „Places we have been“ des Gitarristen, Arrangeurs und Komponisten Jacques Stotzem
Fazit: „Places we have been“ von Jacques Stotzem ist nicht nur den Afficionados der Steelstring-Gitarre zu empfehlen, sondern allen, die gern ruhige, anspruchsvolle Musik hören. Man hört sie sich nicht so schnell leid – wenn überhaupt -, und findet immer wieder etwas in diesen kleinen „Miniaturen“ zu entdecken. Dieser ruhige Musiker gibt etwas von seiner Unaufgeregtheit auch an seine Hörer weiter – selbst dann, wenn die Momente der Spannung und Entspannung häufig wechseln. Kaufempfehlung. ♦
He doesn’t have to prove anything anymore, because in his almost forty-year career the Belgian guitarist Jacques Stotzem has sufficiently shown that he is not only an experienced steelstring guitarist, but also a quite passable composer and arranger. Stotzem does not belong to those who string patterns together, but builds his compositions logically and harmoniously. Melodies are not clamped into a chord structure, but unfold freely and often accompanied by contrapuntal bass lines. His harmonic structures are closer to jazz than simple folk and blues songs.
Besides his own compositions Stotzem arranges songs from rock and pop for the acoustic guitar, by Jimi Hendrix and Rory Gallagher for example. He even dedicated a CD to the latter: To Rory (2015).
Quiet musical journey
The current CD „Places we have been“ – the 18th in his oeuvre – contains nine mostly quiet compositions, which already capture the listener’s attention on first hearing. But only when they are repeated do they unfold their full beauty. With this album Stotzem wants to recall the stages of his musical journeys, because he is a guest on concert stages all over the world. The listener doesn’t know where the individual stations are, because the titles are quite general and reminiscences of certain regions are hardly recognizable.
He plays from places where „we“ were (Places we have been), describes musically experienced moments that could last forever (It could last forever), tells of departure (Morgen geht’s weiter) and arrival in nowhere (Middle of nowhere), of quiet moments (La tranquillté des jours simples) and nostalgic memories of an evening (Nostalgie d’un soir). This is so vaguely named that the listener does not have to let himself be captivated by foreign memories, but can tie his own to them. Stotzem’s musical journey thus also becomes his own, self-experienced one.
Seamless, artistic transitions
The advertising speaks of the „lightness of the melody lines“. For me, it always sounds like advertising chocolate that „tastes so light“. Words that really don’t make sense and are only meant to make a subjective impression on the reader or listener. But what becomes clear when listening to them is that they are actually melodies that Stotzem takes as the basis of his compositions and also clearly elaborates, no empty harmonies, no chord clusters or just short riffs. You can hum along if you want. You could sing along if you come up with a text. The melodies are not simple, but catchy. You can still hear these melodies even when the guitarist leaves plucking/picking and uses percussive percussion techniques. He masters this so artfully that it is almost unnoticed when he changes from one technique to the other. This merges so seamlessly that the transitions as such are not noticeable.
Conclusion: „Places we have been“ by Jacques Stotzem is not only to be recommended to the Afficionados of the Steelstring guitar, but also to everyone who likes to listen to quiet, sophisticated music. You don’t get tired of them so quickly – if at all – and you always find something to discover in these little „miniatures“. This quiet musician also passes on some of his unexcitement to his listeners – even when the moments of tension and relaxation change frequently. Buy recommendation. ♦
Jacques Stotzem, Guitar: Places we have been (Audio-CD), Acoustic Music Records
Filmmusik hat sich längst von der ausschliesslichen Funktion, die Handlung eines Films angemessen zu untermalen, befreit. Sie ist schon bei Hitchcock manchmal Teil der Handlung, zum Beispiel in „The Man Who Knew Too Much“, das er zweimal verfilmte (1934 & 1956). Seit den 1960er Jahren wurde manche Filmmusik auch abseits der Kinosäle zu einem Verkaufsschlager, etwa die Musik zu den Karl May Filmen von Martin Böttcher. Und seit der Jahrtausendwende gehen ganze Orchester mit Filmmusik auf Tournee, mal um einen Film live zu begleiten, meist aber im Konzertsaal ohne flimmernde Bilder an der Leinwand, etwa mit der Musik zur „Herr-der-Ringe“-Trilogie.
Doch bereits seit den frühen 1930er Jahren, fast also vom Beginn des Tonfilms an, konnten für die Aufgabe der musikalischen Untermalung eines Films bedeutende Komponisten gewonnen werden, etwa Erich Wolfgang Korngold, Michael Nyman, Philipp Glass, um nur wenige Namen einmal willkürlich herauszugreifen. Andere Komponisten wurden überhaupt durch ihre Filmmusik so bekannt wie die Filmschaffenden selbst: Ennio Morricone, John Williams und Hans Zimmer, um drei Ikonen zu nennen. Wie angekommen die Filmmusik im klassischen Konzertbetrieb ist, zeigt Stargeigerin Anne-Sophie Mutter, die neuerdings mit Musik des Komponisten John Williams auftritt und Musik aus Star Wars, Harry Potter und anderen Filmen spielt, dazu auch ein Album aufnahm.
Score from the podium: Only the stars!
Giya Kancheli
John Williams ist ebenfalls eine sichere Sache. Seinen Namen kennen auch Leute, die sonst ausserhalb des aktuellen Pop-Programms keine Namen kennen. Von Gija Kancheli haben aber auch viele Klassikhörer noch nichts gehört, zumindest diejenigen, die auf die üblichen Klassiker setzen. Bei einer persönlichen kleinen Umfrage konnte ich das feststellen, aber auch, dass er für einige schon so als eine Art „Geheimtipp“ gilt. Für mich ist er das, seit ich die CD „Letters To Friends“ kenne, auch.
From stage and film to the friends
Soeben erreichte uns die Nachricht, dass Giya Kancheli gestern (2. Oktober 2019) mit 84 Jahren in seiner Geburtsstadt Tiflis gestorben ist. 1935 geboren, besuchte er ab 1959 das Staatliche Konservatorium in Tiflis, wo er Komposition studierte. Als freischaffender Komponist schuf er Symphonien und andere Orchesterwerke, Kammermusik und vor allem Musik zu zahlreichen Filmen und Theaterwerken. Ab 1991 lebte er überwiegend in Westeuropa, unter anderem in Berlin und Antwerpen. (HD-R)
Die „Letters to Friends for Violin and String Orchestra“ ist nun nicht einfach die Musik, die den Filmen unterlegt war. Kancheli hat die Themen einiger Orchester- und Bühnenmusiken genommen und zunächst für Klavier, später für Klavier und Violine bearbeitet, oder besser gesagt: umgearbeitet. Als der italienische Geiger Andrea Cortesi ihn um ein Violinkonzert bat, nahm er sich das Material noch einmal vor. Uraufgeführt wurde es im Juli 2017 mit den Georgian Strings in Tiflis, mit denen auch die Einspielung dieser CD stattfand.
Notenbeispiel: Beginn von „She Is Here“ (Musik zum Film „Sherekilebi“, Georgien 1974) von Giya Kancheli
Die einzelnen kurzen Sätze – insgesamt 25, manche kaum eineinhalb Minuten, das längste viereinhalb Minuten –, sind jeweils einer bestimmten Person gewidmet, etwa das letzte „Letter to director Robert Sturua (1938)“, mit dem er am Rustaweli-Theater in den 1960er und 1970er Jahren zusammengearbeitet hatte. Die Musik stammt aus den Bühnenmusiken zu „Richard III“ von William Shakespeare. Von den Filmemachern und ihren Filmen – etwa Liana Eliava, Levan Chelidze und Zaira Arsenishvili – hat man hierzulande eher noch nichts gehört. Andere wie Lana Gogoberidze haben es aber auch schon auf die internationalen Filmfestspiele von Cannes gebracht (1984). Das ist beim Hören aber durchaus von Vorteil. Keine Bilder aus dem Film oder von der Bühne lenken unnötig von der Musik ab.
Tagträumend durch die Themen hören
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Die Vielfalt der Themen und Melodien machen das Hören der CD zu einer kurzweiligen Angelegenheit. Bei dem einem Stück wähnt man sich in die Zeiten der 1940er Jahre zurück versetzt, anderes klingt überraschend modern – niemals aber atonal. Der Interpret Andrea Cortesi schreibt dazu im Booklet: „These pieces are daydreams. And not the renderings of fantasy an dunconscious, but states of limpid sensitivity and consiscouness. It is precisely when the breaths of our feelings and thoughts touch the profile of the sound that there are not many differences between what is physical and what ist beeyond it.“ Besser lässt sich das nicht formulieren.
Cortesi macht seine Sache bei dieser Musik gut. Er ist immer präsent und nicht zu überhören. Und doch ist er oft so verwoben mit dem Kammerorchester, dass er niemals wie ein Fremdkörper wirkt, sondern wie „einer der ihren“. Und obwohl das Orchester gut besetzt ist – sechs mal Violine 1, fünf mal Violine 2, fünf mal Viola, drei Celli und einen Kontrabass – klingt alles eher wie Kammermusik denn wie ein Orchester – sehr intim.
FAZIT: „Letters To Friends“ von Giya Kancheli sind 65 Minuten unterhaltende (Film-)Musik. Aber diese kleinen Miniaturen sind mehr als nur Unterhaltung, auch wenn das sich als erster Eindruck einstellt. Die vielen kurzen, teils filigranen Themen fordern zum intensiven Mithören heraus. Und alles interpretiert von hervorragenden Musikern – Kaufempfehlung!
Zusammengefasst: „Letters To Friends“ von Giya Kancheli sind 65 Minuten unterhaltende Musik. Aber diese kleinen Miniaturen sind mehr als nur Unterhaltung, auch wenn das sich als erster Eindruck einstellt. Die vielen kleinen, teils filigranen Themen fordern zum intensiven Mithören heraus, und wenn man dann entdeckt, das sich in einem solchen Stück nicht nur ein, sondern auch zwei Themen verstecken, erlebt man sogar so etwas wie ein Glücksgefühl. Dabei alles interpretiert von hervoragenden Musikern, Solist wie Orchester – etwas Besseres konnte dem Komponisten nicht passieren, was Kancheli selbst auch so sieht und persönlich im Vorwort des Booklets zum Ausdruck bringt. ♦
Film music has long since freed itself from its exclusive function of providing an appropriate background to the plot of a film. In Hitchcock’s film „The Man Who Knew Too Much“, for example, which he filmed twice (1934 & 1956), it is sometimes part of the plot. Since the 1960s some film music became a bestseller even outside the cinemas, for example the music for the Karl May films by Martin Böttcher. And since the turn of the millennium entire orchestras have been touring with film music, sometimes to accompany a film live, but mostly in concert halls without flickering pictures on the screen, for example with the music for the „Herr-der-Ringe“ trilogy.
But as early as the early 1930s, almost from the beginning of the sound film, important composers such as Erich Wolfgang Korngold, Michael Nyman and Philipp Glass have been won over to the task of providing a musical background for a film, to pick out just a few names at random. Other composers became as famous for their film music as the filmmakers themselves: Ennio Morricone, John Williams and Hans Zimmer, to name three icons. Star violinist Anne-Sophie Mutter, who recently appeared with music by composer John Williams and plays music from Star Wars, Harry Potter and other films, also recorded an album to show how well film music has arrived in the classical concert business.
Score from the podium: Only the stars!
Picture: Giya Kancheli
John Williams is also a sure thing. Even people who don’t know any names outside the current pop program know his name. But many classic listeners haven’t heard of Gija Kancheli, at least those who rely on the usual classics. In a small personal survey I was able to find out that, but also that he is a kind of „insider tip“ for some. For me it is the same since I’ve known the CD „Letters To Friends“.
From stage and film to the friends
Box: We have just received the news that Giya Kancheli died yesterday (October 2, 2019) at the age of 84 in his native Tbilisi. Born in 1935, he attended the State Conservatory in Tbilisi from 1959, where he studied composition. As a freelance composer he created symphonies and other orchestral works, chamber music and above all music for numerous films and theatre works. From 1991 he lived mainly in Western Europe, including Berlin and Antwerp. (HD-R)
The „Letters to Friends for Violin and String Orchestra“ is not just the music that was underlaid by the films. Kancheli took the themes of some orchestral and stage music and first arranged them for piano, later for piano and violin, or rather: reworked them. When the Italian violinist Andrea Cortesi asked him for a violin concerto, he took up the material again. It was premiered in July 2017 with the Georgian Strings in Tbilisi, with which the recording of this CD also took place.
Picture: Beginning of „She Is Here“ (music for the film „Sherekilebi“, Georgia 1974) by Giya Kancheli
The individual short movements – a total of 25, some barely one and a half minutes, the longest four and a half minutes – are each dedicated to a specific person, such as the last „Letter to director Robert Sturua (1938)“, with whom he worked at the Rustaweli Theater in the 1960s and 1970s. The music comes from the stage music for „Richard III“ by William Shakespeare. The filmmakers and their films – such as Liana Eliava, Levan Chelidze and Zaira Arsenishvili – have not yet been heard of in Germany. But others like Lana Gogoberidze have already made it to the Cannes International Film Festival (1984). But that’s an advantage when it comes to listening. No pictures from the film or from the stage unnecessarily distract from the music.
Daydreaming listening through the themes
The variety of themes and melodies make listening to the CD an entertaining experience. One piece seems to take you back in time to the 1940s, the other sounds surprisingly modern – but never atonal. The interpreter Andrea Cortesi writes in the booklet: „These pieces are daydreams. And not the renderings of fantasy an dunconscious, but states of limpid sensitivity and consiscouness. It is precisely when the breaths of our feelings and thoughts touch the profile of the sound that there are not many differences between what is physical and what ist beeyond it.“ There is no better way to formulate this.
Cortesi’s doing well with this music. He is always present and not to be overheard. And yet he is often so interwoven with the chamber orchestra that he never seems like a foreign body, but like „one of theirs“. And although the orchestra is well staffed – six times violin 1, five times violin 2, five times viola, three cellos and a double bass – everything sounds more like chamber music than like an orchestra – very intimate.
Box: CONCLUSION: „Letters To Friends“ by Giya Kancheli are 65 minutes of entertaining (film) music. But these little miniatures are more than just entertainment, even if it turns out to be a first impression. The many short, partly filigree themes challenge you to listen to them intensively. And all interpreted by outstanding musicians – buy recommendation!
In summary: „Letters To Friends“ by Giya Kancheli are 65 minutes of entertaining music. But these little miniatures are more than just entertainment, even if it turns out to be a first impression. The many small, sometimes filigree themes challenge you to listen to them intensively, and when you discover that not only one but also two themes are hidden in such a piece, you even experience something like a feeling of happiness. Everything interpreted by outstanding musicians, soloists and orchestras – something better could not happen to the composer, which Kancheli himself sees and personally expresses in the preface of the booklet. ♦ (All links above)
Jeder kennt das Info-Band im Autoradio, wenn Musik gespielt wird; es enthält div. Angaben zum Titel oder Interpreten des betr. Songs. Zwei Forscher an der ETH Zürich, nämlich die Doktoranden Manuel Eichelberger und Simon Tanner gingen nun noch einen Schritt weiter: In Experimenten gelang es ihnen, Daten direkt in der Musik selber zu speichern: Verborgene Audio-Kommunikation. Ein praktisches Beispiel für die Anwendung: Hintergrundmusik könnte z.B. die Zugangsdaten für das lokale Wi-Fi-Netzwerk enthalten, die das eingebaute Mikrofon eines Mobiltelefons empfangen kann. „Das wäre in einem Hotelzimmer praktisch“, sagt Tanner, „da die Gäste Zugang zum Hotel-Wi-Fi erhalten würden, ohne ein Passwort auf ihrem Gerät eingeben zu müssen.“
Um solche Daten zu speichern, nehmen die beiden Wissenschaftler und ihr Kollege, der Master-Student Gabriel Voirol, minimale Änderungen an der Musik vor. Im Gegensatz zu den Versuchen anderer Wissenschaftler in den letzten Jahren behaupten die drei Forscher, dass ihr neuer Ansatz höhere Datenübertragungsraten ohne hörbare Auswirkungen auf die Musik ermöglicht. „Unser Ziel war es, den Hörgenuss nicht zu beeinträchtigen“, sagt Eichelberger.
Tests, die die Forscher durchgeführt haben, zeigen dass ihre Technik unter idealen Bedingungen bis zu 400 Bit pro Sekunde übertragen kann, ohne dass der durchschnittliche Hörer den Unterschied zwischen der Quellmusik und der modifizierten Version bemerkt. Da unter realistischen Bedingungen eine gewisse Redundanz erforderlich ist, um die Übertragungsqualität zu gewährleisten, wird die Übertragungsrate eher etwa 200 Bit – oder etwa 25 Buchstaben – pro Sekunde betragen. „Theoretisch wäre es möglich, Daten viel schneller zu übertragen. Aber je höher die Übertragungsrate, desto eher werden die Daten als störender Ton wahrnehmbar oder die Datenqualität leidet“, ergänzt Tanner.
Verborgene Informationen in Pop-Songs
Die drei Forscher in den Labors für Computertechnik und Netzwerke der ETH Zürich verwenden solche informativen „dominanten“ Noten in einem Musikstück und überlagern sie mit jeweils zwei leicht tieferen und zwei leicht höheren Noten, die leiser sind als die dominante Note. Sie nutzen auch die Obertöne (eine oder mehrere Oktaven höher) der stärksten Note, wobei sie hier ebenfalls etwas tiefere und höhere Töne einsetzen – zusätzliche Hinweise, die Daten tragen können.
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Während nun ein Smartphone diese Daten über sein eingebautes Mikrofon empfangen und analysieren kann, nimmt das menschliche Ohr diese zusätzlichen Hinweise nicht wahr: „Wenn wir einen lauten Ton hören, bemerken wir keine leiseren Töne mit einer etwas höheren oder niedrigeren Frequenz“, sagt Eichelberger. „Das bedeutet, dass wir die dominanten, lauten Töne in einem Musikstück benutzen können, um den akustischen Datentransfer zu verbergen.“ Daraus folgt, dass die beste Musik für diese Art der Datenübertragung viele dominante Noten hat – zum Beispiel Popsongs. Leise Musik ist weniger geeignet.
Vom Lautsprecher zum Mikrofon
Das Übertragungsprinzip dieser Technik unterscheidet sich grundlegend vom bekannten RDS-System beim Autoradio, das zur Übertragung des Namens des Radiosenders und der Details der abspielenden Musik verwendet wird. „Mit RDS werden die Daten über UKW-Radiowellen übertragen. Mit anderen Worten, die Daten werden vom FM-Sender an das Radiogerät gesendet“, erklärt Tanner. Demgegenüber sei das neue Verfahren eine massive Weiterentwicklung: „Was wir tun, ist, die Daten in die Musik selbst einzubetten – Daten vom Lautsprecher zum Mikrofon zu übertragen.“
Für den Hörer unbemerkbare Informationen, versteckt in den Musikstücken selber? Im Falle des W-Fi-Passwortes des Hotels vielleicht ganz nützlich – aber die Technik liesse sich weiter denken, bis hin zu geheimdienstlichen Anwendungen. Dann könnten die Konsenquenzen solcher Forschung plötzlich eine ganz andere Seite der Kunstform Musik offenbaren… ♦
(Quelle: Internationale Konferenz für Akustik, Sprache und Signalverarbeitung – Brighton/England, Mai 2019)
Das Geheimnis der Stille – oder das Ende der goldenen Zeit
von Christian Busch
Jeder kennt das, wenn der letzte Akkord und sein Nachhall verklungen ist, das Orchester schweigt, der Dirigent, den Blick nach innen gerichtet, die Arme sinken lässt und ein magischer Moment der geheimnisvollen, unfassbaren Stille den Saal erfüllt. Spätestens hier hält es jeder mit Felix Mendelssohn Bartholdy, dem die Worte so „vieldeutig, so unbestimmt, so missverständlich im Vergleich zu einer rechten Musik, die einem die Seele erfüllt mit tausend besseren Dingen als Worten“, erschienen. Der italienische Komponist Luigi Nono sah das Wesentliche in der Musik darin, ein Höchstmass an nach aussen gerichteter Innerlichkeit zu erzeugen. Um exakt diesen Moment der Stille und um die Fähigkeit, die „Anderen in der Stille [zu] hören“, ging es auch Claudio Abbado ein Leben lang.
Primus inter pares
Als der italienische Dirigent am 20. Januar 2014 in Bologna in Alter von 80 Jahren verstarb, war sich die musikalische Welt einig darüber, dass sie mit ihm eine aussergewöhnliche, einzigartige Persönlichkeit verlor, vielleicht mehr als jemas zuvor bei dem Tod eines grossen Dirigenten. Denn zweifellos haben viele grosse Dirigenten ihr internationales Publikum, ihre Orchester in aller Welt und nicht zuletzt ihr gesamtes kulturelles Umfeld geprägt, die Persönlichkeit Claudio Abbados konnte und kann jedoch unter allen mal mehr, mal weniger selbstverliebten, oft tyrannisch und selbstherrlich agierenden Dirigenten eine Ausnahmestellung für sich beanspruchen, war er doch entschiedener und kompromissloser Antipode zu seinen illustren Vorgängern in den grossen musikalischen Zentren London, Wien und Berlin.
Fünf Jahre nach Abbados Ableben erscheint nun mit Wolfgang Schreibers Biographie „Der stille Revolutionär“ die erste umfassende Würdigung des am 26. Juni 1933 in eine Mailänder Musikerfamilie hineingeborenen Künstlers. In 17 sorgfältig recherchierten und aufschlussreichen Kapiteln zeichnet er nicht ohne Bewunderung, doch aus respektvoller Distanz den Lebensweg des faszinierenden, von seinem Publikum hochverehrten Musikers. Parallel dazu entsteht ein präzises Charakterbild der introvertierten, aber grosse Beharrlichkeit und Durchsetzungsvermögen entwickelnden Persönlichkeit Abbados, das von einem Überblick über dessen umfangreiche Schallplattenproduktion abgerundet wird.
Auf Furtwänglers Spuren
Abbado nach der Aufführung von Brahms‘ Requiem im Saal des Wiener Musikvereins am 3. April 1997
Trotz der vielen Facetten des intellektuellen Kosmos‘ Abbados findet sich die Liebe zur Musik, mit der der junge Mailänder schon früh als Kind in Berührung kam, als roter Leitfaden in all seinem Denken, Fühlen und Handeln. So wird sich der später mächtige, die kulturellen Zentren Mailand, London, Chicago, Wien und Berlin beherrschende Maestro immer als Diener der Musik verstehen, auch weil er es stets ebenso versteht sich zurückzuziehen, sich die Ruhe und Stille künstlerischer Inspiration (Sardinien, Engadin) und damit die Neugier auf immer wieder Neues zu bewahren.
Damit einher geht die Liebe zur Weltliteratur, die ihn zeitlebens zu einem umfassend gebildeten und künstlerisch interdisziplinär denkenden Menschen macht, dem es niemals um Machtwillen, persönliche Eitelkeit oder Geltungsbewusstsein geht, sondern nur um die Musik und die (vor allem jungen) Menschen, mit denen er sie in einem gemeinschaftlichen Akt zum Leben erweckt. So kann es nicht verwundern, dass nicht sein berühmter Landsmann Arturo Toscanini, sondern der grosse Wilhelm Furtwängler zu Abbados Vorbild erwuchs. Man erinnert sich vielleicht daran, wie Abbado im Umfeld der Aufnahmen seines ersten Beethoven-Zyklus‘ in Wien mit den Philharmonikern strahlend bekannte, dass sie die Aufnahmen Furtwänglers im Musikvereinssaal gehört hätten, die nun wirklich „sehr, sehr schön“ gewesen seien.
Der Gipfel: Berlin (1989 – 2002)
FAZIT: Die Abbado-Biographie „Der stille Revolutionär“ von Wolfgang Schreiber ist, auch wenn sie vielleicht nicht viel Neues oder gar Sensationelles bietet, in höchstem Masse verdienstvoll und unentbehrlich, daher unbedingt lesenswert für alle, welche die klassische Musik lieben. Wenn Schreibers Projekt, den beeindruckenden Lebensweg des Ausnahmekünstlers und -menschen zu beschreiben, als rundum gelungen zu bezeichnen ist, dann nicht zuletzt auch deshalb, weil es – darin ganz dem Vorbild Abbados folgend – sich darauf beschränkt, eine Annäherung an den Kosmos und die Vielseitigkeit einer grossen Persönlichkeit zu leisten.
Mit diesem Hintergrund verfolgt Wolfgang Schreiber, von 1978 bis 2002 Musikredakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, die verschiedenen Stationen Abbados von dessen italienischen Wurzeln über die Metropolen Mailand, London und Chicago über Wien nach Berlin. Das Berliner Kapitel, das mit der Zeit des Mauerfalls beginnt, ist sicherlich das aufregendste, auch kontroverseste Kapitel in Abbados Karriere, weil es neben der spannenden politischen Situation sicher auch den Scheitelpunkt darstellt, nicht zuletzt wegen Abbados beginnender schwerer Erkrankung, auf Grund derer er es von da an vorzieht, mit ausgewählten, befreundeten Musikern seines Vertrauens und selbst gegründeten Orchestern (Luzerner Festivalorchester, Orchestra Mozart) eigene Projekte zu verfolgen.
Wolfgang Schreibers Abbado-Biographie ist, auch wenn sie vielleicht nicht viel Neues oder gar Sensationelles bietet, in höchstem Masse verdienstvoll und unentbehrlich, daher unbedingt lesenswert für alle, welche die klassische Musik lieben.
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Wenn Schreibers Projekt, den beeindruckenden Lebensweg des Ausnahmekünstlers und -menschen zu beschreiben, als rundum gelungen zu bezeichnen ist, dann nicht zuletzt auch deshalb, weil es, darin ganz dem Vorbild Abbados folgend, sich darauf beschränkt, eine Annäherung an den Kosmos und die Vielseitigkeit einer grossen Persönlichkeit zu leisten; das letzte Geheimnis bleibt – wie das Ende eines grossartigen Konzertes – in der dem grossen Dirigenten angemessen multiperspektivischen Offenheit. Denn der Biograph schlägt das Kapitel Abbado am Ende nicht zu, sondern auf, als wolle er das Ende der goldenen Zeit nicht wahrhaben… ♦
Giuseppe Tartini (1692-1770), ein italienischer Komponist und Violinist, der noch ein junger Mann war, als Corelli starb, und der Vivaldi immerhin noch um dreissig Jahre überlebte, ist vor allem wegen seiner sog. Teufelstriller-Sonate – hier eine Video-Aufnahme mit Anne-Sophie Mutter – in Erinnerung. Doch weniger dieser Sonate als der Geschichte wegen, die sich darum rankt. Denn er selbst soll erzählt haben, dass ihm der Teufel im Traum erschienen und ihm wunderbar auf der Violine vorgespielt habe, so dass er nach dem Erwachen – unfähig dies zu reproduzieren – zumindest mit jener Sonate eine Ahnung von dieser teuflisch schönen Musik zustande gebracht haben will.
Die „Teufelstriller“ wird heute noch von vielen Künstlern gespielt, leider aber oft ausschliesslich – und damit die Vielzahl an Kompositionen des Meisters, der damals einen grossen Einfluss auf die europäische Musik hatte (etwa bei dem Dresdner Kapellmeister Naumann oder des preussischen Königs Friedrichs Haus- und Hofkomponisten Johann Gottlieb Graun) in den Hintergrund rücken. Allein deshalb ist jede andere Einspielung Tartinischer Musik grundsätzlich zu begrüssen.
Streichquartett oder reduziertes Orchester?
Nun aber ausgerechnet vierstimmige Streichersonaten und Sinfonias aus dem Spätbarock? Tatsächlich auch mit der üblichen Quartettbesetzung – zwei Violinen, Viola und Cello interpretiert? Womöglich Streichquartette aus einer Zeit, in der es diese doch noch gar nicht gegeben haben kann? Hat denn nicht erst Josef Haydn die Vorlage für diese „Form“ entwickelt, die dankbar von Mozart aufgegriffen, von Beethoven, Schubert und anderen aus- und weiterentwickelt wurde? So ganz übergangslos ist das natürlich nicht passiert, denn in kleinen Besetzungen hat man auch schon früher musiziert. Die barocke Triosonate ist ein gutes Beispiel dafür, doch unterscheidet sich diese noch durch den Generalbass deutlich von der späteren Quartettbesetzung, in der jedes Instrument eine gleichberechtigte Stimme hat. Der sehr informative Text im Booklet zur CD gibt dazu ausführlich Antwort auf diese Fragen und beschreibt, wie diese Kompositionen Tartinis aus der Musizierpraxis des Meisters und seiner Schüler entstanden sein könnten.
Vision einer Ausführung vor 250 Jahren
Louis-Léopold Boilly: Der Teufel gibt Tartini im Traum die „Triller-Sonate“ ein (Radierung 1824)
Das Ensemble Il Demetrio wird der noch unentschlossenen Ausführung der vierstimmigen Stücke dadurch gerecht, dass sie diese teilweise nur mit Streichern und bei einigen Sonaten(sätzen) mit zusätzlichem Basso continuo – auf einem Cembalo ausgeführt – eingespielt hat. Und sie spielen die Kompositionen der Zeit, der sie entstammt, angemessen und nicht so, wie man es bei manchen Interpreten der Teufelstrillersonate hört, als wäre ein klassischer Komponist der Urheber gewesen.
FAZIT: Bei der neuen CD von Il Demetrio mit 4-parts Sonatas and Sinfonias von Giuseppe Tartini handelt es sich um eine beachtenswerte Einspielung von Musik des Spätbarocks und der Vorklassik jenseits der gängigen Muster – und vor allem mit einem Repertoire, das man nicht schon zur Genüge von -zig anderen Einspielungen kenn. Zudem ausgeführt von Musikern, denen man nicht nur die Freude am Musizieren anhört, sondern auch die Kompetenz, mit der sie diese Kompositionen meistern.
Der erste Eindruck, dass es sich um barocke Concertos mit reduziertem Personal handelt, verfliegt schon nach wenigen Takten. Man hat den Eindruck, dass man eine Sinfonia noch nie so transparent gehört hat wie in dieser Einspielung. Und fast wie von selbst entsteht beim Hören das Bild, wie der Meister einigen Schülern seine Noten aufs Pult legt und sie auffordert, zu spielen; wie er herumgeht, zufrieden nickend, über die Leistungen seiner Adepten, sich dann und wann ans Cembalo setzt um die Musik zu unterstützen, und dann doch wieder die vier Musiker allein spielen lässt. Viel zu schnell ist die Stunde um, die diese CD vorhält.
Kurzum: Es handelt sich um eine beachtenswerte Einspielung von Musik des Spätbarocks und der Vorklassik jenseits der gängigen Muster – und vor allem mit einem Repertoire, das man nicht schon zur Genüge von -zig anderen Einspielungen kennt, und ausgeführt von Musikern, denen man nicht nur die Freude am Musizieren anhört, sondern auch die Kompetenz, mit der sie diese Kompositionen ausführen. ♦
Beim ersten unvoreingenommenen Hören von „Bright is the Ring of Words“ mit Liedern für Bariton & Klavier klingt der Gesang von Chris Booth-Jones erfrischend „jung“. Um so überraschender ist es dann festzustellen, dass Booth-Jones eine bereits fast fünfzigjährige Karriere hinter sich hat. Nun, wie ein gerade von der Akademie entlassener Jüngling klingt er zwar nicht, aber ein so hohes Alter entnimmt man seiner Interpretation nicht gleich.
Der zweite Eindruck des unbefangenen Hörens ist die Homogenität von Gesang und Klavierstimme. Begleitung mag ich in diesem Fall gar nicht schreiben, denn in fast sämtlichen Liedern aller vier auf der CD vertretenen Komponisten erreicht die Klavierstimme einen hohen Grad an Eigenständigkeit. Man könnte sie sich mit Genuss auch ohne die Gesangsstimme anhören. Igor Kennaway, der den Part am Klavier übernommen hat, spielt angemessen unaufdringlich, sensibel, ohne sich jedoch zurückzunehmen.
Aufgenommen wurden von Booth-Jones und Kennaway vier Liederzyklen englischer Komponisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die meisten aus der Zeit vor oder kurz nach dem 1. Weltkrieg. Wer aus diesen Informationen avantgardistische Klänge folgert, wird enttäuscht – vielleicht aber auch positiv überrascht.
Lieder eines Wanderers
Robert Louis Stevenson (1850-1894) ist als Autor der „Schatzinsel“ und Erzählungen wie „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ kein Unbekannter. Sein lyrisches Schaffen liegt jedoch meinen Recherchen zufolge noch in keiner Übersetzung vor. Die Lieder auf der CD sind dank der hervorragenden Artikulation des Sängers gut zu verfolgen. Wer darüber hinaus den Anspruch hat, mitlesen zu wollen, kann die Texte hier aufspüren.
Die ersten neun Lieder auf dieser CD komponierte Ralph Vaughan Williams (1872-1958), der dabei Texte von Robert Louis Stevenson benutzte, die dieser unter dem Titel „Songs of Travel“ veröffentlicht hatte. Darunter ist auch das Gedicht, dessen Titel der CD den Namen gab. Ein einsamer Reisender beschreibt in diesen Liedern seine Naturerlebnisse, und im Hintergrund vermutet man, sicher nicht zu Unrecht, eine verlorene Liebe.
Die Lieder klingen nicht fröhlich, keineswegs jedoch sentimental, sondern eher erhaben. Ein gut gewählter Anfang für diese Zusammenstellung.
Songs aus kurzen Leben
Tragischer kommen die sechs Lieder („A Shropshire Lad“) von George Butterworth (1885-1916) daher. Die Texte stammen von A. E. Housman (1859-1936) und beschreiben eine verlorene Jugend in den ländlichen Gebieten Mittelenglands (Shropshire). Angesichts des frühen Todes des Komponisten – er starb bei der Schlacht an der Somme – ist diese Auswahl fast schon prophetisch zu nennen. Die Stücke dämpfen den positiven Eindruck, den die Stevenson-Lieder zuvor aufgebaut haben, fast ein wenig herab. Aber sie sind zu gut, um die Stimmung wirklich zu gefährden.
Dichter mit volksliedhaftem Unterton: A. E. Housman
Ebenfalls bei Houseman bediente sich Ernest John Moeran (1894-1950), allerdings erst nach dem ersten Weltkrieg. Auch seine vier Lieder aus dem Zyklus „Ludlow Town“ entstammen der Sammlung „A Shropshire Lad“.
Während man bei Butterworth eine „Vorausahnung“ annehmen könnte, spricht hier aus der musikalischen Sprache möglicherweise das eigene Erleben im Krieg. Das vierte – „The lads in their hundreds“ – klingt fast wie ein Volkslied. Bei diesem hat mich anfangs die Klavierbegleitung sogar irritiert, weil sie diesen volksliedhaften Charakter vermeintlich zerstört. Beim wiederholten Hören ging mir dann auf, dass dies gerade in der Absicht des Komponisten gelegen haben mag – und inzwischen ist es, genau in dieser Kombination, eines meiner Lieblingslieder auf dieser CD.
Rückgriff auf den grossen Meister
Gerald Finzi (1901-1956), der letzte Komponist dieser CD, war ein Schüler des ersten (Williams). Seinen fünf Liedern liegen Texte von Shakespeare zu Grunde. Dabei versucht Finzi auf keine Weise, in seiner Musik an Shakespears Zeitalter anzuknüpfen. Vielleicht erinnert das erste – „Come away, come away, death“ – mit seiner Traurigkeit ein wenig an Dowland. Die Melodie ist aber ganz zeitgemäss und könnte durchaus auch ein halbes Jahrhundert später von Philipp Glass komponiert worden sein:
Die Anfangstakte von „Come away, come away, death“ von Gerald Finzi
Bevor man depressive Anwandlungen bekommt, holt das nächste Lied „Who is Sylvia?“ wieder auf den Boden zurück. Es ist nicht gerade fröhlich, aber klingt in Melodik und Tonsprache „zupackend“.
Das nächste – „Fear No More the Heat o’ the Sun“ – ist berührend und beinahe ein wenig sentimental, was schliesslich der letzte Titel – „O Mistress Mine“ – dann wieder zurücknimmt.
Fazit: Die interessante CD „Bright is the Ring of Words“ vereint vier Liederzyklen von englischen Komponisten, die bis auf R. Vaughan Williams eher unbekannt sind. Interpretiert werden die Lieder von zwei Künstlern, die ihre Sache professionell angingen und die richtige Balance von Stimme und Instrument fanden. Auch die Auswahl und die Zusammenstellung der Songs ist gut und passend. So ist ein Album entstanden, das man nicht nur einmal, sondern immer wieder gerne auflegt und anhört.
Diese interessante CD vereint vier Liederzyklen von englischen Komponisten, die bis auf R. Vaughan Williams eher unbekannt sind. Interpretiert werden die Lieder von zwei Künstlern, die ihre Sache professionell angingen und die richtige Balance von Stimme und Instrument fanden. Auch die Auswahl und die Zusammenstellung der Songs ist gut und passend. So ist ein Album entstanden, das man nicht nur einmal, sondern immer wieder gerne auflegt und anhört. ♦
Bright Is The Ring Of Words – Englische Lieder von Vaughan, Butterworth, Moeran, Finzi; Chris Booth-Jones (Bariton) & Igor Kennaway (Klavier), Magpie Records (Naxos)