Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille – Beethovens Sinfonien

Beethovens überwältigender Klangrausch

von Heiner Brückner

Der österreichische Dichter Franz Grillparzer (1791 bis 1872) fragt in einem Gedicht über die Musik seines Freundes Ludwig van Beethoven (1770 bis 1827): „Ward’s Genuss schon? Ist’s noch Qual?“ Er fasste damit das Auffassungsempfinden seiner Zeitgenossen, die Beethovens Musik oft chaotisch empfanden, zusammen. Diese Rezeption ist auf dem Hintergrund des kleinwüchsigen Komponisten mit der Kraftnatur, die als ruppig, unwirsch, ungestüm erlebt wird, nachzuvollziehen. Nicht nur weil er im „Wirtshaus … zu hart gekochte Eier den Kellnern hinterher“ geschmissen habe.

Beginn einer neuen Musik

Karl-Heinz Ott Rausch und Stille - Beethovens Sinfonien - Rezensionen Glarean MagazinAllerdings gibt es damals auch Stimmen, die den Beginn einer neuen Musik erahnten, die in metaphysische Abgründe vorzudringen wage. Karl-Heinz Ott, Autor der Neuerscheinung „Rausch und Stille – Beethovens Sinfonien“ nennt unter anderem den Komponisten und Dramatiker Richard Wagner (1813-1883), der in seiner 1870 erschienenen Beethoven-Schrift angemerkt hat: „Überblicken wir den kunstgeschichtlichen Fortschritt, welchen die Musik durch Beethoven getan hat, so können wir ihn bündig als den Gewinn einer Fähigkeit bezeichnen“, die „weit über das Gebiet des ästhetisch Schönen in die Sphäre des durchaus Erhabenen getreten“ ist.

Tiefgründiger Beethoven-Biograph: Karl-Heinz Ott
Tiefgründiger Beethoven-Biograph: Karl-Heinz Ott

Gegenwärtige Hörer verstören Beethovens Sinfonien längst nicht mehr. Für den Philosophen der Frankfurter Schule und Komponisten Theodor W. Adorno (1903 bis 1969) beispielsweise beginnt die neuere Musikgeschichte mit Beethoven, der mit Tradiertem nicht breche, sondern es aufbreche. Somit kann der Schriftsteller, Essayist und literarische Übersetzer Karl-Heinz Ott (geboren 1957) über Beethovens Sinfonien ungleich feinfühlender, tiefgründiger und umfassend formulieren und komprimieren: „Rausch und Stille“. In den weitreichenden und weit greifenden Ausführungen erfährt der Leser selbstredend biografische Details aus dem Leben des am Ende tauben Musikers. Wie der ursprüngliche Klaviervirtuose frei improvisierte und fantasierte. Wie er mit Verschlechterung seines Gehörsinns sich auf das Komponieren konzentrierte, dabei um jede einzelne Note gerungen hat ‒ und wie er in eine tiefe Krise geschlittert ist. Weil er gegen Lebensende seine eigenen Werke nicht mehr hören konnte.

„Ein Kosmos ohne Worte“

Vor allem aber sind die Beschäftigung mit den neun Sinfonien im Einzelnen und das Eintauchen in die emotionale Ausdruckskraft der Musik sowie die Ausdrucksstärke des Komponisten beim Nachverfolgen eine im positiven Sinne berauschende Lektüre: Sie fördert die emotionale Wucht dieser Sinfonischen Dichtungen zutage und beschreibt sie mit poetischer Empathie.
Dem Titel gemäss arbeitet Ott die kompositorischen Mittel heraus, die aus Beethovens Notensetzungen einen Klangrausch schwellen lassen, der durch gehäuften Einsatz von Fermaten der Stille vor und nach dem Sturm intensiven Nachhall verleiht.

Totenmaske von Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Totenmaske von Ludwig van Beethoven (1770-1827)

Die sich widersprechenden Auffassungen über Musik im Allgemeinen erstrecken sich vom „Taumeln“ bis zum „Takte zählen“. Wie sollte auch ein Mensch allein diesen „Kosmos ohne Worte“ erfassen können. Die unterschiedlichen Herangehensweisen grosser Staatsmänner, Denker und Philosophen an diese urkräftige Klangwirkung hebt Ott immer wieder hervor, schält Motive an Notenbeispielen heraus und bezieht sie auf die Thematik.
Zudem arbeitet er jede der neun Sinfonien satzweise anhand von Notenbeispielen durch. Einprägsam gestaltet Ott zu jeder Sinfonie einen thematischen Exkurs. Darin werden die Titel gleichsam zu Charakterisierungen der einzelnen Werke. Ihre Überschriften lauten: Windinstrumente; Musikalische Scherze; Lust an Trauermusik; Von der Kirche in den Konzertsaal; Die verlorene Melodie; Orpheus gegen Prometheus; Musik als Wahrheit; Nach der Neunten kommt der Tod sowie Sturm und Stille.

Beschäftigung mit den geistesgeschichtlichen Grundlagen

Fazit: Karl-Heinz Ott eröffnet uns mit „Rausch und Stille – Beethovens Sinfonien“ die Welt, aus der Beethoven das Urkraft-Universum seiner Sinfonien schöpft, als einen fesselnden, leidensdruckstarken Musikgenuss. Oder frei nach Grillparzer: Qual ist’s, aber viel mehr noch Genuss. „Beethoven ist nicht wie Mozart oder Schubert für seine Melodien berühmt, sondern für Rhythmik und Wucht.“

Wer dieses Buch gelesen hat, wird den „Mann mit der wilden Mähne“ nicht mehr reduzieren auf die vier berühmten Schicksals-Taktschläge der fünften Sinfonie oder den humanistischen Welthit „Ode an die Freude“, die seit 1972 als offizielle Europahymne bei nahezu jedem europäischen Grossereignis intoniert wird.
Das ergibt schlussendlich eine hoch intensive Beschäftigung auf harmonietechnischen, aber auch geistesgeschichtlichen Grundlagen, die eine umfassende Bibliografie und ein Personenregister vervollständigen.
Karl-Heinz Ott eröffnet uns mit „Rausch und Stille – Beethovens Sinfonien“ die Welt, aus der Beethoven das Urkraft-Universum seiner Sinfonien schöpft, als einen fesselnden, leidensdruckstarken Musikgenuss. Oder frei nach Grillparzer: Qual ist’s, aber viel mehr noch Genuss. „Beethoven ist nicht wie Mozart oder Schubert für seine Melodien berühmt, sondern für Rhythmik und Wucht.“ ♦

Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille – Beethovens Sinfonien, 272 Seiten, Hoffmann und Campe Verlag, ISBN 978-3-455-00396-3

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Beethoven auch über Bernd Stremmel: Beethoven-Interpretationen auf Tonträgern

… sowie zum Thema Musiker-Biographien über Joachim Campe: Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre


Das Musik-Weihnachtsrätsel 2018

Weihnachtsbaum als Music Puzzle

von Walter Eigenmann

Musik-Weihnachtsrätsel - Music Crossword Puzzle - Glarean Magazin 2018

Waagrecht
1 Althebräische Hand-Pauke
3 Album von Vaughan: „Swinging ?…“
5 Oper von Jean-B. Lully
7 Frauen-Stimmlage
8 Song der Rock-Band Pink Floyd
9 Ort eines Schweizer Jazz-Festivals
10 LP-Album von „Carmel“: „?… me free“
13 Opernchor von Wagner: „Summ & ?…“
16 Weihnachtslied: „Gloria in Excelsis ?…“
17 Deutscher Orchester-Dirigent (1908-1998)
18 Schwed. Volkslied „?… haer vi sutto“
20 Griechische Schlager-Sängerin (*1936)
23 Bündner Volkslied: „?… ei tut vanitate“
24 Single des mazedon. Sängers Gaxha
26 Portug. Musiker-Initiative (Abk.)
27 Bedeutender deutscher Chor-Dirigent (1929-2000)
29 Bass-Rolle in einem Händel-Oratorium
31 Abkürzung für Compact Disc
32 Volkslied-Sammler aus Wetzlar/D (1807-1883)
Senkrecht
1 Deutscher Rapper aus Reutlingen
2 Filmsong: „Gonna ?… now“
3 Sänger der Vokalgruppe „Slixs“
4 Schlitztrommel (engl.)
6 A-cappella-Sextett aus Halle
9 Chorwerk von B. Britten: „?… comfort“
11 Rhapsodie von A.E. Chabrier
12 Operette von Robert Hornstein: „?… und Eva“
13 Chinesische Holztrommel
14 Messe von Ennio Morricone
15 Figur in De Fallas Oper „La vida breve“
19 Österr. Harfen-Fabrik
21 Bühnenmusik von B. Britten: „?… Spain“
22 Musikal. Abk. von „sforzato piano“
25 Deutscher Pop-Chor: „The Voice of Classic ?…“
26 Engl. Volkslied: „?… rest you“
28 Ballade von Carl Lwe: „Der ?…“
30 Liedtext-Dichter von R. Schumann

 

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Musik-Weihnachtsrätsel 2017

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Capella Antiqua Bambergensis: Heinrich (CD)

Kaiser, König, Spielmannsleut

von Wolfgang-Armin Rittmeier

Das Jahr 919 ist für die Geschichte jenes europäischen Landstriches, den wir heute (unter anderem) Deutschland nennen, in der Tat ein wichtiges. Der Liudolfingerfürst Heinrich, bekannt als der Vogler (wobei dieses Agnomen wohl weniger das ornithologische denn vielmehr das Interesse des Sachsenfürsten am anderen Geschlecht näher beschreibt), wird in der Königspfalz zu Fritzlar zum ersten deutschen König erhoben und begründet damit jenes Herrschergeschlecht, das nach der Krönung seines Sohnes Otto I. zum Kaiser als „Ottonen“ bekannt ist. Grund genug für die renommierte Capella Antiqua Bambergensis, gemeinsam mit Schauspieler Udo Schenk eine CD mit dem Titel „Heinrich: König und Kaiser – Herrscher und Heiliger“ herauszubringen. Mit einer Mischung aus Musik des Mittelalters und einem literarischen Anteil soll Heinrich – so legt es zumindest der Titel nahe – in seiner Welt sichtbar gemacht werden.

Mehr als Heinrich

Heinrich - König und Herrscher - Audio-CD-Capella Antiqua Bambergensis - Rezension Glarean MagazinTatsächlich handelt es sich bei dieser CD aber nicht um eine musikalisch-literarische Biographie Heinrichs, sondern um einen Parforceritt durch die Ära Ottonen. Der 919 gekrönte Heinrich spielt hier letztlich gar keine so entscheidende Rolle. Aber das macht in der Gesamtschau auch nichts, ist dies doch nicht das einzige Element, das bei dieser Produktion nicht so recht stimmig ist. Da wäre zum einen der literarische Anteil der Produktion. Weil sich im Jahre 2019 nicht nur Heinrichs Thronjubiläum jährt, sondern auch der 1000. Todestag des Merseburger Bischofs Thietmar, schlüpft Mime Schenk in die Rolle jenes Bischofs, der vor allem dadurch bekannt ist, dass er mit seiner acht Bände zählenden „Chronicon sive Gesta Saxonum“ (Chronik oder Geschichte der Sachsen) aus den Jahren 1012-1015 eine der wichtigsten Quellen zum ottonischen Zeitalter hinterlassen hat. Ob die Erzählerfiktion aber wirklich nötig gewesen wäre? Bisweilen – besonders zu Beginn der CD – irritiert sie eher, wenn Thietmar von „seiner“ Capella Antiqua spricht, in der Rückschau (quasi von einer Wolke aus) architektonische Vorteile der zu Lebzeiten von ihm nicht mehr erfahrenen Gotik reflektiert oder ganz im anglizismenreichen Duktus der Gegenwart in Punkto des Liebeslebens der Kaiserpaare raunend von seinen „Insiderquellen“ spricht. Mit der Zeit gewöhnt sich der Hörer jedoch daran. Leider – und das führt dazu, das die CD sich gegen Ende hin länger anfühlt, als sie mit einer Spielzeit von knapp 75 Minuten ist – neigt Udo Schenks Rezitation nicht selten zu einem zu andachtsvoll-huldigenden Ton, der den Hörer nach einiger Zeit nach etwas facettenreicherer Modulation, nach kerniger Akzentuierung, nach einem saftigeren Sprachfluss lechzen lässt.

Ottonische Frauen

Heinrich und Kunigunde - Tafelbild 17. Jahrhundert - Heiligenbild - Glarean Magazin
Heinrich II. und seine Kunigunde (Heiligen-Tafelbild aus dem 17. Jahrhundert)

Sieht man von dergleichen ab und konzentriert sich stattdessen auf den Inhalt des Vorgetragenen, so ist doch zu konstatieren, dass der Hörer dieser Produktion tatsächlich einen knappen, gleichwohl aber interessanten Einstieg in die Welt der Ottonen mitnehmen kann. Sicher, ob der vom Medium vorgegebenen Notwendigkeit zur Verkürzung der hochkomplexen Sachverhalte, erfährt im Grunde kaum etwas über die politischen Geschehnisse der Epoche. Und doch gibt es einen Umstand, der den Hörer dazu verführt, sich mit den Ottonen zu beschäftigen, einen Umstand, der in der deutschen und mittelalterlichen Geschichte überhaupt als geradezu einzigartig heraussticht: das eigentlich Interessante an den zwei Heinrichs und den drei Ottos sind ihre Frauen. Mit einer geradezu erfreulichen Beharrlichkeit kommt das von Thomas Spindler verfasste Skript immer wieder auf die beiden Mathilden, auf Adelheid, auf Theophanu und auf Kunigunde von Luxemburg zu sprechen und deutet nachdrücklich an, welchen ungeheuren Einfluss die Königinnen bzw. Kaiserinnen auf ihre Männer und damit auf die Geschicke des Reiches hatten. Exemplarisch hierfür steht gegen Ende der Produktion Thomas Spindlers Bewertung der Kaiserin Kunigunde, die mit ihrem Gemahl Heinrich II. kinderlos blieb und somit gemeinsam mit ihm die Dynastie der Ottonen beschloss: „Ohne Kunigunde wäre Heinrich II. nicht das geworden, wofür wir ihn heute bewundern.“

Schmückendes Beiwerk auf höchstem Niveau

Capella Antiqua Bambergensis (neu) - Glarean Magazin
Capella Antiqua Bambergensis

Die auf dieser CD versammelte Musik wird von der Capella Antiqua Bambergensis gestaltet. Hinzu treten singend und die verschiedensten Instrumente spielend Jule Bauer, David Mayoral, Murat Coşkun und Benjamin Dressler. Alle Musikerinnen und Musiker sind seit vielen Jahren Meister ihres jeweiligen Faches, nicht nur künstlerisch und technisch, sondern auch musikphilologisch. Insofern ist es nicht wirklich verwunderlich, dass man es hier mit musikalisch hochklassigen Nachempfindungen zu tun hat, die nur selten – beispielsweise im am Hof Alfons X. von Kastilien entstandenen „Cantigas ‚Par Deus‘“ – Gefahr laufen, aufgrund eines überdrehten Gestus in jenen Bereich abzurutschen, dem ein wenig ein Geschmäckle von Mittelalterpop anhaftet.

FAZIT: Nicht alle Ingredienzen des neuen CD-Projektes von Capella Antiqua Bambergensis werden dessen Motiv „Heinrich II.“ wirklich stimmig gerecht. Die Auswahl der Musik-Stücke hätte man sich stilistisch zeitnaher an der Ottonen-Ära orientiert vorstellen können, und der Rezitationsstil von Sprecher Udo Schenk – der Schauspieler schlüpft in die Rolle des Merseburger Bischofs Thietmar – neigt zuweilen zu einem nicht immer angebrachten andachts- und salbungsvollen Ton. Insgesamt aber eine interessante Produktion, die einen abwechslungsreichen Parforce-Ritt durch die ganze so historisch wichtige Ära der Ottonen darstellt. Erhellende Booklet-Texte runden die CD informativ ab.

Auf der anderen Seite: Wer will – zugegeben – auch sagen, wie von 1000 Jahren tatsächlich aufgespielt wurde? Das mag schon irgendwie so geklungen haben. Schön gelingen das Instrumentalstück „Parlamento“, das omnipräsente „Palästinalied“ Walthers, das „Je nuns hons pris“ aus der Feder von Richard Löwenherz und das „A Chantar“ der Trobairitz Beatriz de Dia. Schaut man sich nun aber Liste der genannten Stücke und darüber hinaus noch die restlichen dieser CD an, so offenbart sich unmittelbar die Schwäche dieser Auswahl, denn keine der vorgestellten Kompositionen stammt aus der Zeit der Ottonen. Der Fachfrau und dem Fachmann mag dies ganz natürlich erscheinen, gibt es – nimmt man den gregorianischen Choral einmal aus – doch kaum Quellen zur Musik des früheren Mittelalters, schon gar nicht zu Volkslied, Tanz und Spielmannsmusik.

Erhellende Booklet-Texte

Dem Laien, der mittels dieser CD die Welt des musikalischen Mittelalters betritt, dürfte dies allerdings nicht zwingend bekannt sein, sodass sich hier schnell voreilige Vorstellungen von dem, was dereinst bei Mummenschanz und Kurtzweyl von fahrendem Volk und Marketenderin über den Marktplatz schallte, einschleichen können. Letztlich – und das muss man bei aller Freude, die die Darbietungen letztlich machen, geradeheraus sagen – steuern die vorgestellten Werke nichts zum eigentlichen Gehalt der Produktion bei, sondern übernehmen die etwas schale Rolle des schmückenden Beiwerks.
Insgesamt erfreulich ist das Booklet, das einen knackigen Text zur Epoche der Ottonen und einen zur Geburt der Mehrstimmigkeit von Wolfgang Spindler, der 1983 die Capella Antiqua Bambergensis gegründet hat. Dass jedoch die Texte zu den einzelnen Musikstücken nicht den Weg ins Booklet gefunden haben, ist bedauerlich. ♦

Capella Antiqua Bambergensis: Heinrich -König und Kaiser, Herrscher und Heiliger; Faszinierende Herrschergeschichten des Mittelalters; Udo Schenk (Sprecher), Audio-CD, CAB Records

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Mittelalterliche Musik auch über
Heinrich Laufenberg: Kingdom of Heaven (CD)

Das neue Musik-Kreuzworträtsel im Oktober 2018

Buchstaben-Puzzle aus der ganzen Welt der Musik

von Walter Eigenmann

Das jüngste Beispiel aus der traditionsreichen Serie „Musik-Kreuzworträtsel“ im Glarean Magazin enthält wieder eine ganze Reihe von kniffligen Fragen aus dem gesamten Spektrum der Genres – vom Pop-Song bis zum Klassik-Chor, von der Instrumenten-Kunde bis zur Noten-Software. Die Redaktion wünscht viel Spass beim Knobeln und Erfolg beim Lösen.

Musik-Kreuzworträtsel - August 2018 - Aufgaben
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Dirk Maassen: Avalanche (Musik-CD)

Brücke zwischen den Welten

von Christian Busch

Schon der vor 100 Jahren geborene Leonard Bernstein trat für die Verwischung der Grenzen von Unterhaltungs- und Ernster Musik ein. In seinen Werken gingen Jazz und Klassik eine erstaunliche Symbiose ein, die ein breites Publikum für sich einnahm und die tiefen Gräben zwischen beiden scheinbar gegensätzlichen Musikkulturen vergessen liess. Aus „Romeo und Julia“ wurde die „Westside-Story“.

Dirk Maassen - Avalanche - Moderne Musik - Glarean MagazinAuf seinem neuen, bei Cargo Records erschienen Album „Avalanche“ wendet sich Ausnahmepianist Dirk Maassen, mittlerweile mit über einer Million monatlichen Hörern auf Spotify, iTunes und Co. einer der präsentesten deutschen Komponisten und Performers für postmoderne Klangmusik, nicht mehr nur an eine flüchtige Online-Gemeinde, sondern auch an ein dem festen Tonträger wie CD und Vinyl verbundenes Publikum. Dabei kombiniert er – wie Bernstein – gekonnt die unterschiedlichen Bereiche. Mal balladesk, mal impressionistisch, mal liedhaft geschlossen, mal atmosphärisch verdichtet und mit Freude am Experimentieren, wie zum Beispiel in dem fado-artigen Gitarrenstück „Allewind“, gibt Maassen, 1970 bei Aachen geboren und in Ulm lebend, ein vielfältiges und facettenreiches Spektrum seiner Kunst.

Cineastisch untermalender Impressionismus

Seine Titel, etwa „Eclipse“, „Nocturne“, „Falling stars“, „Muse“, „Liberty“ wurzeln in romantischen Klang- und Bilderwelten, sind aber eher impressionistisch cineastisch untermalend, jedoch keineswegs unmelodiös gestaltet. Vor allem in „Muse“ gelingt die völlig nach innen gekehrte Transponierung des romantischen Interieurs in neuzeitliche Klang- und Vorstellungswelten, bevor er sich in „Spirit“ wieder mehr den nach aussen gekehrten unverwüstlichen Jazz-Welten nähert, ohne indes ganz in ihr aufzugehen.

FAZIT: Maassens fast neo-romantische Musik in „Avalanche“ legt bei modernen Menschen verborgene Sehnsucht, Ängste und den Wunsch nach Freiheit offen. Sicher der Grund für seinen enormen Erfolg! Am Ende kann der Hörer darin sein Glück finden oder aber wieder in die eine oder andere Sphäre zurückkehren, sei es in die lautere, extrovertiertere und dem Leben zugewandte Jazz-Welt oder in die strenge Tiefe von Beethovens „Mondscheinsonate“ – oder gar in die existentielle Abgründigkeit einer Schubert-Sonate. Jedenfalls ist die Brücke zwischen U- und E-Musik mal wieder gekonnt geschlagen.

Die Begleitung durch das Deutsche Filmorchester Babelsberg fungiert weitgehend als sphärischer Hintergrund. So assoziiert der Hörer bei manchen, mehr als kontemplativen Sequenzen wohl unfreiwillig schon eine potentielle Filmszene, etwa den Journalisten Sebastian Zöllner, der in Kaminskis Tiefenschichten stöbert – oder natürlich auch etwas ganz anderes. Hier hinterliess die Zusammenarbeit mit Lorenz Dangel, dem Träger des Deutschen Filmpreises (für die beste Filmmusik in „Ich und Kaminski“) unüberhörbar ihre Spuren. Auch die Nähe von „Helios“ zur Filmmusik von „Das Piano“ (1993) sowie die von „Nocturne“ zur berühmten „Love Story“ soll erwähnt werden.

Harmonisch geglättete Melodieführung

Die Melodieführung – keineswegs von epischer Länge – ist dabei noch gefälliger, harmonisch geglätteter als etwa bei den berühmten nächtlichen, elegisch-träumerischen Charakterstücken eines Frédéric Chopins oder Gabriel Faurés. So kommt „Gravity“ doch deutlich leichtfüssiger daher als etwa das berühmte „Regentropfen“-Prélude Chopins.

Dirk Maassen - Pianist - Rezension Glarean Magazin
Romantischer Neoklassiker oder Klassik-Popmusiker? Pianist jenseits der Etiketten: Dirk Maassen (Geb. 1970)

Zusammengefasst: Maassens fast neo-romantische Musik in „Avalanche“ legt bei modernen Menschen verborgene Sehnsucht, Ängste und den Wunsch nach Freiheit offen. Sicher der Grund für seinen enormen Erfolg! Am Ende kann der Hörer darin sein Glück finden oder aber wieder in die eine oder andere Sphäre zurückkehren, sei es in die lautere, extrovertiertere und dem Leben zugewandte Jazz-Welt oder in die strenge Tiefe von Beethovens „Mondscheinsonate“ – oder gar in die existentielle Abgründigkeit einer Schubert-Sonate. Jedenfalls ist die Brücke zwischen U- und E-Musik mal wieder gekonnt geschlagen – auf dass viele sie ergreifen, um „hinüberzugehen und wiederzukehren“. ♦

Dirk Maassen: Avalanche – Musik-CD, 45 min, Cargo Records

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Klaviermusik auch über
Ernest Bloch & Ferruccio Busoni: Klavier-Werke (CD)

… sowie über
Friedrich Gernsheim: Klavierquintette (CD)

Jakob Bangso: Connect – Electronic Works for Guitar (CD)

Von der Schwierigkeit, aufmerksam zu sein

von Horst-Dieter Radke

Der erste Höreindruck von „Jakob Bangso: Connect – Electronic Works for Guitar“ war für mich irritierend. Ich hatte Schwierigkeiten, mich durchgängig auf die Musik zu konzentrieren. Immer wieder schweifte die Aufmerksamkeit ab, verselbstständigten sich die Gedanken. Da dies nicht unbedingt an der Musik liegen musste, versuchte ich beim erneuten Hören besser dabei zu bleiben. Ich meine inzwischen, dass dieses „Aufmerksamkeitsdefizit“ der ungewohnten Kombination von akustischem und elektronischem Instrumentarium geschuldet ist. Das, was die Gitarre spielt, ist nicht spektakulär und isoliert betrachtet wenig abwechslungsreich. Der elektronische Anteil entspricht nicht dem, was wir allgemein als „Musik“ verstehen; kaum wahrnehmbare Melodien, insgesamt nahe an das Spektrum von „Geräuschen“ gerückt. Konzentriere ich mich auf das Zusammenspiel beider musikalischen Instrumente, fällt es mir leichter, die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten.

Mehr Klang als Sein

Jakob Bangso: Connect – Electronic Works for Guitar (CD) Rezension Glarean MagazinDas erste Stück „Periferi“ von Tine Surel Lange lebt von der Kommunikation der Gitarre mit der Elektronik. Natürlich aufgenommene und verfremdete Geräusche werden mit den von der Gitarre erzeugten musikalischen Einheiten live über ein Midi-Keyboard gemixt. So entsteht im Grunde jedes Mal ein anderes Werk. Ob sich diese von Aufführung zu Aufführung ähneln, kann ich auf Grund einer CD natürlich nicht beurteilen.
Der Gitarrenpart besteht aus Arpeggien und sehr einfachen Melodien, meist nur aus wenige Tönen gebildet, die kaum variiert werden. In der zweiten Hälfte wurde per Overdub eine zweite Gitarrenstimme hinzugefügt. Oder per Loop, was nahe liegt, wenn man an die Live-Performance denkt. Die elektronischen Klangspiele sind nicht unbedingt dem Gitarrenpart zuzuordnen. Für mich wirkt das deshalb beliebig. Ich habe den Eindruck, es wurde mehr Aufmerksamkeit auf den „Klang“ (Sound) gelegt als auf den Gehalt der Komposition.

Tanz mit dem Computer

Jakob Bangsø Die fünf auf der CD vertretenen elektroakkustischen Werke wurden extra für den jungen dänischen Gitarrenvirtuosen Jakob Bangsø komponiert. Der mehrfach preisgekrönte Musiker (geb. 1988) hat sich schnell als einer der aktivsten und vielseitigsten Instrumentalisten Dänemarks etabliert. Als Solist hat er sich besonders bei internationalen Gitarren-Wettbewerben hervorgetan. Vor drei Jahren erhielt er als erster Gitarrist überhaupt das zweijährige Karrierestipendium The Young Elite von der Danish Arts Foundation.

„Streams“ von Andreja Andric ist eine Suite für Gitarre und Computer. Elektronik steht bei dieser Suite in stärkerem Zusammenhang mit der Gitarrenstimme als bei der Komposition zuvor. Sie hat ausserdem mehr Substanz. Der Gitarrenklang wird vom Computer resampled. Die Software dafür hat der Komponist selber entwickelt. Jeder Satz der Suite ist anders, nicht nur im Klang, sondern auch im gesamten musikalischen Ausdruck. Die einzelnen, jeweils recht kurzen Sätze, sind kontrastierend angelegt. Die Abfolge ist logisch und eher aufmerksamkeitsfördernd. Die beiden Tänze könnten auch ohne Electronic funktionieren und beispielsweise im Unterricht der Mittelstufe eingesetzt werden. Diese Suite ist für mich die stärkste Komposition auf dieser CD.

Jakob Bangso - Gitarrist - Rezension Glarean Magazin
Mehrfacher Preisträger internationaler Gitarren-Wettbewerbe: Jakob Bangso

Das Stück „Feed“ von Klavs Kehleet Hansen lebt von Rückkopplungen. Der offene Ausgangsakkord der präparierten Gitarre ist Basis für die elektronischen Effekte. Die Gitarrenstimme ist relativ belanglos und dient lediglich als Grundlage für die elektronischen Effekte. Zusammen klingt es wie der Dialog zwischen Gitarre und Elektronik. Ein interessantes kleines Stück, das aber nach dem Hören kaum Erinnerung hinterlässt.

Auch nach wiederholtem Anhören für mich am schwersten zu folgen ist „Dive“ von Wayne Siegel. Das liegt aber weniger am musikalischen Gehalt, sondern daran, dass ständige Assoziationen gefördert werden. Die Elektronik hat auch bei diesem Stück eher ergänzenden Charakter, wirkt so als eine Art „Klangerweiterung“ der Gitarre. Der Komponist (Jahrgang 1953) ist der versierteste unter denen, die auf dieser CD vertreten sind. Er hat für viele Genres komponiert, nicht nur elektronische Musik sondern auch Orchesterwerke und Kammermusik. Trotz dieses „Aufmerksamkeitsdefizits“ beim Hören bleibt von dieser Komposition von allen Komposition dieser CD noch lange nach dem Hören am meisten im Ohr.


Exkurs: Komponieren für Gitarre & Computer

W.E. / Anhand der Suite „Streams“ von Andreja Andric lässt sich veranschaulichen, welche kompositorischen Basics vom Urheber eines modernen elektronischen Werkes erbracht werden, und wie hoch dann unter Umständen die musikalische Verantwortung des Interpreten gehen kann. In jedem Falle ist eine symbiotische Beziehung beider Künstler unabdingbar, wenn ein gültiges Resultat, sprich adäquate Umsetzung des kompositorischen Willens einerseits und der instrumentaltechnischen Realisierung andererseits generiert werden soll. Der Anteil des Improvisatorischen ist dabei ein sehr bedeutsamer, ja eigentlich essentieller:

Andreja Andric - Streams für Gitarre und Computer - Indroduction - Glarean Magazin
„Play everything arpeggio, molto rubato. Dwell on each chord as long as necessary. Change speed and dynamic according to the feel of the moment. Practice with the computer and listen closely to the combined sound that comes out of the loudspeakers, follow it and adapt your playing to it.“ (Spiel-Anweisung des Komponisten Andreja Andric für den Gitarristen im 1. Satz von „Streams“ – Kompletter Notenausschnitt siehe unten).

Komponist Andric selber über sein Werk „Streams“: „Die Partitur ist auf ihre wesentlichen Bestandteile reduziert, um die Improvisation zu fördern, und bietet so Platz für verschiedene  Interpretationen, erleichtert die rechtzeitige Entwicklung des Stückes. Der Computer ändert die Tonhöhe des Instruments in Echtzeit, nach vorbereiteten Schemata.
Auf diese Weise fügt es der auf dem Live-Instrument gespielten Musik Rhythmen und Melodien hinzu und „formt“ die Live-Performance auf diese Art. Der Prozess erinnert an die Wirkung, die heisse Luft auf unsere Wahrnehmung hat, wenn wir auf entfernte Objekte schauen, oder, wie es der Titel andeutet, dass das fliessende Wasser einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung des Bachbettes und der Kieselsteine unter dem Wasser hat“.
Der folgende Ausschnitt beinhaltet die musikalischen sowie die aufnahme- und computertechnischen Angaben des Komponisten für den 1. Satz seinen Suite „Introduction“. Besten Dank an Andreja Andric für die Zusendung seiner Notationen:

Andreja Andric - Streams - Score (Introduction) - Glarean Magazin

Ein versöhnlicher Ausklang

FAZIT: Die CD von Jakob Bangso: Connect ist eine gelungene Zusammenstellung von Gitarrenmusik, die mit und von elektronischen Elementen lebt. Insbesondere die Kompositionen von Andric, Siegel und David lohnen die Anschaffung. Es sind Stücke, die man gerne wiederholt hören mag. Die Kompositionen von Lange und Hansen brechen am stärksten mit den üblichen Hörgewohnheiten und können deshalb vielleicht erst nach vielfachem Hören entsprechend gewürdigt werden.

„451“ von Kaj Duncan David ist die abschliessende Suite dieser CD. Sie scheint vom Interpreten etwas mehr zu fordern, als die Kompositionen zuvor. Den Titel hat der Komponist in Anlehnung an Bradbury’s Roman „Fahrenheit 451“ gewählt. Die einzelnen Sätze sind lediglich mit A, B und C überschrieben und unterscheiden sich stark voneinander. Der erste Satz lebt von grossen dynamischen Unterschieden, der zweite kommt sehr perkussiv und im dritten Satz steht die Gitarre so stark im Vordergrund, dass die Elektronik kaum zu spüren ist. Sie ist aber vorhanden. Unklar ist mir, ob die zweite Gitarrenstimme per Overdub oder per Loop eingespielt wurde. Ein sehr schöner Ausklang dieser Suite und damit auch dieser CD. ♦

Div. Komponisten: Connect – Electronic Works for GuitarJakob Bangso Gitarre, Audio-CD (48 min), DaCapo Classical (Naxos)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Elektronische Musik auch über
Electronic Chamber Music (CD & Vinyl)

… sowie zum Thema Neue Musik das
Interview mit dem Schweizer Komponisten Fabian Müller

Bernd Stremmel: Beethoven-Interpretationen auf Tonträgern

Schall-Aufzeichnungen eines Titanen-Werks

von Christian Busch

Als Ludwig van Beethoven am 26. März 1827 in Wien im Alter von nicht einmal 57 Jahren starb, hinterliess er ein umfangreiches kompositorisches Werk von gewaltiger Sprengkraft und berückender Schönheit – und daher eine grosse trauernde Fan-Gemeinde – mehr als 20’000 Menschen sollen den Trauerzug bei seiner Bestattung gebildet haben.
Seine Symphonien, Konzerte und Sonaten, seine Kammermusik, sein „Fidelio“ und seine Missa solemnis sichern ihm bis heute den Ruf des unumstrittenen Vollenders der Wiener Klassik und einen unantastbaren Platz an der Spitze des unvergänglichen Erbes der Musikgeschichte. Wahrheit und Schönheit, Revolution und Harmonie waren die Elemente, die er kongenial in Töne goss, die „von Herzen“ kommend auch heute immer noch „zu Herzen“ gehen und in der Vertonung von Schillers Ode „An die Freude“ („Alle Menschen werden Brüder“) kulminieren.

Bernd Stremmel - Beethoven-Interpretationen auf Tonträgern (Band 1) - Klassik Prisma - Glarean MagazinVon keinem geringeren als Wilhelm Furtwängler stammt das folgende Zitat: „Beethoven begreift in sich die ganze, runde, komplexe Menschennatur. […] Niemals hat ein Musiker von der Harmonie der Sphären, dem Zusammenklang der Gottesnatur mehr gewusst und mehr erlebt als Beethoven.“ Dass der Schöpfer der „Mondscheinsonate“ und der Europa-Hymne Zeit seines Lebens ein in sich und in seine Arbeit vergrabener, einsamer, im Umgang mit Menschen äusserst schwieriger Einzelgänger und gegen Ende auch noch völlig taub war, hat die Faszination Beethoven eher gesteigert denn geschmälert.

Die „Berliner“ am Beginn der Schallaufzeichnungen

Arthur Nikisch und den Berliner Philharmonikern war es 1913 – also fast 90 Jahre nach dem Tod des Meisters – vorbehalten, die erste Schallaufzeichnung (damals noch im Trichterverfahren) eines Werkes des grossen Bonner Komponisten zu realisieren: die Symphonie Nr. 5 in c-moll. Damit beginnt die Geschichte der Schallaufzeichnungen, die über das alte Grammophon zur Schallplatte (heute Vinyl genannt) bis zur digitalen Compact Disc und der virtuellen Download-Gemeinde des heutigen Internets führt.
Fast zu spät, aber längst Zeit also für eine kritische, allumfassende Sichtung und Bestandsaufnahme der Interpretationsgeschichte der Schöpfungen Beethovens, könnte man meinen, denn in über 100 Jahren Rundfunk- und Schallplattengeschichte figurieren unzählige Aufführungen und Einspielungen, im Konzertsaal, im Studio oder sogar in Kirchen mit mitunter gänzlich verschiedenen Ansichten und Auffassungen. Ein allerdings unmögliches Unterfangen, so könnte man meinen.

Nahezu komplette Auflistung aller Beethoven-Einspielungen

Doch das Wunder ist geschehen. Was findige (oder eingeweihte) User in den letzten Jahren auf der Internetseite Klassik-Prisma schon im Entstehungsprozess entdecken, bestaunen und nutzen konnten, ist jetzt in Buchform im Dohr-Verlag erschienen – eine nahezu komplette Auflistung, Sichtung, Besprechung und Einordnung der im Verlauf von über 80 Jahren Aufführungsgeschichte entstandenen Interpretationen der Beethoven’schen Werke. Das ist schon an sich eine Sensation.
In diesen zwei Bänden, von denen der erste sich der Orchester- und Vokalmusik, der zweite dem Klavierwerk und der Kammermusik Beethovens widmet, stellt Bernd Stremmel (Jahrgang 1949) die Werke zunächst einleitend vor, wobei er auf ihre besondere Gestaltung eingeht und die nicht zuletzt am Notentext festzumachenden Vergleichsaspekte (Werktreue als oberstes Kriterium) herausstellt, bevor er zu den hierarchisch nach Qualität geordneten, verschiedenen Aufnahmen, die ebenfalls mit kommentierenden Notizen versehen sind, kommt. Abschliessend kommentiert er – niemals plakativ provozierend, sondern immer zielführend, sachlich-beschreibend die unterschiedlichen Einspielungen der Dirigenten, von denen häufig mehrere Einspielungen aus unterschiedlichen Zeiten und mit wechselnden Orchestern vorliegen.

Ein Meilenstein in der Musikgeschichte

Spielte als erster Beethovens Fünfte auf Tonträger ein: Dirigent Arthur Nikisch mit den Berliner Philharmonikern 1913
Spielte als erster Beethovens Fünfte auf Tonträger ein: Dirigent Arthur Nikisch mit den Berliner Philharmonikern 1913

Ein Meilenstein in der Musikgeschichte – gleichermassen für Musikwissenschaftler, Musiker, Laien und Liebhaber, bieten Stremmels Ausführungen, die äusserst objektivierte Subjektivität auszeichnet, doch die grundlegende Basis für den kontroversen Meinungsaustausch bei der Suche nach der „besten“, „gelungensten“, „interessantesten“ oder einfach „wahrhaftigsten“ Interpretation. Vor allem aber macht der Klassik-Liebhaber unglaubliche Entdeckungen. Wer wäre heute beispielsweise – ohne Stremmels Hinweise – bei der Suche nach der besten „Eroica“ auf die Idee gekommen, sich Carl Schurichts bei EMI veröffentlichte Aufnahme von 1957 mit dem Pariser Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire anzuhören? Vielleicht hätte da jemand sein Leben lang vergeblich darauf gewartet, dass ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – „die Ohren abfallen“.

Entdeckung verschollener Aufnahmen aus den 1940er Jahren

Seit Nikisch, Toscanini und Furtwängler hat die Beethoven-Rezeption eine lange Geschichte durchgemacht, die bis zu den historisch-informierten Interpreten, die seinen Metronom-Angaben folgen und auf Instrumenten seiner Zeit spielen lassen um einen möglichst authentisch-originalen Klang zu erreichen, reicht. Waren die Alten besser? Entfernt sich die jüngere Generation im modern-parfümierten Jet-Set- und Selbstdarstellungsbetrieb von den Ursprüngen, dem wahren, unveränderlichen Kern des Beethoven’schen Kosmos? Ist Christian Thielemanns Beethoven-Zyklus mit den Wiener Philharmonikern wirklich „neu“ und ein bahn- und wegweisender Zyklus für das 21. Jahrhundert? Welche von den vier (!) Gesamteinspielungen Karajans, drei davon mit den Berliner Philharmonikern, ist die beste – klangtechnisch, aber auch interpretatorisch? Welche „Neunte“ ist denn nun der Weisheit letzter Schluss? Sind es tatsächlich die grossen Pianisten im Rampenlicht, denen Beethovens Klaviersonaten am besten gelungen sind, die das Wesen Beethovens am genauesten ergründet und wiedergegeben haben? Und so ganz nebenbei: Was ist eigentlich das Wesen der „Appassionata“? Finden sich auch bei weniger bekannten Plattenfirmen oder in den Archiven der Rundfunkanstalten interessante, bisher übersehene Kostbarkeiten? Oder einfach: Ist die neueste Aufnahme eines Werkes auch die beste? Und nicht zuletzt bietet Stremmels Nachschlagewerk der jungen Generation eine faszinierende Anleitung für die Entdeckung der fast unbekannten und verschollenen Aufnahmen aus den 40er und 50-er Jahren!

Tonträger-Analysen mit differenzierendem Sachverstand

FAZIT: Bernd Stremmel klassifiziert in seinem Kompendium „Beethoven-Interpretationen auf Tonträgern im Vergleich“ in verdienstvoller, sorgfältiger und kompetenter Weise Beethovens Oeuvre, seine Interpreten und Interpretationen. Die Veröffentlichung in zwei Bänden stellt eine unglaublich akribische Leistung und einen unerschöpflichen Fundus zur Orientierung und zu vielen Anregungen für Vergleiche für den Klassik-Liebhaber dar. „Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis; Das Unbeschreibliche, hier ist’s getan.“ Bleibt zu hoffen, dass noch weitere Bände diesem Meilenstein folgen werden.

Wer zwischen ideologisch verhärteten Fronten oder zwischen von Vorurteilen und persönlichen Affinitäten geprägten Lagern gespalten ist (so manche Diskussion in den virtuellen Klassikforen, aber auch in den noblen Foyers der Konzertsälen endete mit Verstimmung), findet Orientierung und Klarheit hier, denn Stremmel analysiert mit grossem, immer differenzierendem Sachverstand und respektvoller Distanz. Seine Ergebnisse fussen auf Jahrzehnte langer, akribischer Recherche und Sammlertätigkeit, hörender und vergleichender Analyse, hinter der eines nie verloren geht: die Liebe zur Beethoven’schen Musik. Dass Geschmäcker verschieden sind, weiss natürlich auch Stremmel und bleibt davon gänzlich unberührt. Insofern ist die Lektüre niemals einengend dogmatisch, sondern immer informativ-erhellend, bietet weniger endgültige Wahrheiten als immer neue Herausforderungen, Sichtweisen und Material für die eigene Meinungsbildung. Da würde sich wohl selbst Beethoven zufrieden schmunzelnd in nebulöses, andeutungsvolles Schweigen zurücklehnen… ♦

Bernd Stremmel (Klassik-Prisma): Beethoven-Interpretationen auf Tonträgern im Vergleich (Band 1), 536 Seiten, Dohr Verlag, ISBN 978-3868461374

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Kent Nagano: Erwarten Sie Wunder!

…sowie zum Thema Klassische Komponisten über
Michael Hofmeister: Alexander Ritter (Musiker-Biographie)

50-Euro-Musik-Kreuzworträtsel (September 2018)

Der neue Schwedenrätsel-Spass

Auch der jüngste Buchstaben-Puzzle-Spass in der „Glarean“-Reihe 50-Euro-Kreuzworträtsel bietet Musikamateuren wie -kennern eine Herausforderung in Sachen Rätselbegriffen aus der gesamten Welt der Musik, vom Madrigal bis zum Rock, von Orlando di Lasso bis zu Boris Blacher, vom Schlager bis zum Jazz.

Mitmachen ist ganz einfach:

  1. Nachstehende PDF-Datei ausdrucken (oder PDF hier downloaden)
  2. Ausfüllen & scannen oder photographieren
  3. Grafik im jpg- oder png-Format einsenden an:
    glarean.magazin[ät]gmail.com

 

Musik-Kreuzworträtsel-September-2018 - Aufgaben

Der(Die) erste Einsender(in) aller richtigen Lösungen erhält 50 Euro überwiesen (bitte keinen Nicknamen, sondern realen Vor-/Nachnamen angeben).  – Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Einsende-Schluss ist am 4. Oktober 2018 (13 Uhr). ♦

Knobeln Sie im Glarean Magazin auch das
Musik-Kreuzworträtsel vom April 2018

Michael Hofmeister: Alexander Ritter (Musiker-Biographie)

Wundervolle Geschichte zwischen uns allen

von Günter Nawe

Kennen Sie den Komponisten Alexander Ritter? Wenn nein, dann können Sie diesen nicht unbedeutenden Komponisten jetzt kennen lernen. Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst von Michael Hofmeister, der sein Dissertationsthema diesem Musiker zwischen Richard Wagner und Richard Strauss gewidmet hat.

Michael Hofmeister Alexander Ritter – Leben und Werk eines Komponisten zwischen Wagner und Strauss - Rezension Glarean MagazinAlexander Ritter, 1833 in Narva geboren, 1896 in München gestorben, hat in Dresden schon sehr früh Richard Wagner kennen gelernt, stand später mit ihm im regen Briefkontakt. Er studierte in Leipzig Violine bei Ferdinand David, lernte bereits 1844 Franz Liszt kennen. Ritter gehörte zum Kreis von Peter Cornelius und Joachim Raff; er war Violinist in der Weimarer Hofkapelle. 1854 heiratete er Franziska Wagner, eine Nichte von Richard Wagner. Nach Engagements als Geiger und Dirigent in Stettin, Würzburg und Chemnitz wurde er 1882 unter Hans von Bülow Konzertmeister an der Meininger Hofkapelle. In Meiningen lernte er auch Richard Strauss kennen, der später in seinen Erinnerungen schreiben sollte, dass Ritter „entscheidenden Ausschlag für meine zukünftige Entwicklung“ haben sollte. 1886 finden wir Alexander Ritter in München, wie er sich um die Förderung junger Komponisten kümmerte.

Illustrer Komponisten-Freundeskreis

Michael Hofmeister widmet sich in seiner Dissertation, die nun als Buch unter dem Titel „Alexander Ritter – Leben und Werk eines Komponisten zwischen Wagner und Strauss“ (erschienen als „Wagner Kontexte“ Band 1 im Tectum Verlag) nicht nur ausführlich der Biographie des Komponisten. Er geht auch ebenso ausführlich auf die Beziehungen Ritters u. a. zu Richard Wagner ein.

Alexander Ritter (4. von rechts) im Freundeskreis seines Vorbildes Richard Wagner: u.a. Hans von Bülow, Friedrich Uhl, Richard Pohl, H. v. Rosti, A. de Gasperini, Adolf Jensen, Felix Draeseke, Leopold Damrosch, Heinrich Porges, Michael Moszonyi
Alexander Ritter (4. von rechts) im Freundeskreis seines Vorbildes Richard Wagner: u.a. Hans von Bülow, Friedrich Uhl, Richard Pohl, H. v. Rosti, A. de Gasperini, Adolf Jensen, Felix Draeseke, Leopold Damrosch, Heinrich Porges, Michael Moszonyi

In einem kleinen Exkurs „Eine wundervolle Geschichte zwischen uns allen“ beschreibt Hofmeister zum Beispiel die Beziehungen zwischen dem Exilanten Wagner und der Familie Ritter. Später wird er auch auf die engen Beziehungen zu Richard Strauss eingehen. Beziehungen, die nicht immer von Dauer sind. So wird sich Richard Strauss später von Ritter abwenden. Es wird „alte und neu Freunde“ im Leben des Alexander Ritter geben: Hans von Bülow und Peter Cornelius, Hermann Levi, Clara und Robert Schumann.

Ein Leben zwischen Erfolg und Resignation

Es war ein Leben zwischen Erfolg, Scheitern und Resignation, das uns Michael Hofmeister in seiner grossartigen Studie nahe bringt. Er schliesst eine Lücke in der Wagner- und Strauss-Forschung, indem er sich diesem Komponisten widmet, der als sich als Verfechter einer neudeutschen Musikrichtung zeigte. Womit wir beim Werk wären, das Hofmeister ausführlich beschreibt und deutet. Interessant ist dies um so mehr – und damit ein besonderes Verdienst dieser Dissertation – als wir sein Werk leider nicht hören können. Zitat Herbert Rosendorfer: „Die Qualität Ritterscher Werke kann heute nicht beurteilt werden, weil sie nie zu hören sind“. Es gibt keine Tonträger mit Kompositionen von Ritter. In Parenthese: Vielleicht findet sich aber jetzt ein Label, das sich des Werks dieses interessanten Komponisten annimmt.

Ritters musikgeschichtliche Stellung ergibt sich durch die Einflüsse von Wagner und Liszt auf seine Werke. Dazu Hofmeister: „Aus seinen Werken sprechen eine Ernsthaftigkeit und ein Gestaltungsdrang, mit denen er um eigenständige Lösungen ringt – und seien es eigenständige Formen der Adaption […] Klug suchte und schuf er sich daher bewältigbare Formen und fand etwa im Lied eine angemessene Ausdrucksmöglichkeit.“

FAZIT: Der Komponist Alexander Ritter – eine Entdeckung. Nicht nur gehört er als Person und Musiker in die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Er ist auch als Komponist zwischen Richard Wagner und Richard Strauss wahrzunehmen. Michael Hofmeisters opulentes Werk, seine Auswertung aller verfügbaren Quellen ermöglicht interessante Einblicke in ein völlig vergessenes Werk.

Entdeckungswürdiger Komponist

Es sind weitestgehend Klavierlieder, die Alexander Ritter komponierte – auf Texte von Heinrich Heine, Nikolaus Lenau, Joseph von Eichendorff und andere. Es gibt zwei Opern-Einakter von ihm: „Der faule Hanns“ (1878 nach einer Erzählung von Felix Dahn) und „Wem die Krone (1889). Und es gibt eine Reihe von Chorwerken und solistischen Vokalwerken. Michael Hofmeister liefert dazu ausreichend Material und Notenbeispiele. Auch zu den Orchesterwerken wie „Erotische Legende“ für grosses Orchester oder „Charfreitag und Frohnleichnam“ (Zwei Orchesterstücke für grosses Orchester). Werke, die noch ganz in der Tradition verwurzelt sind und sich doch nach und nach zur modernen sinfonischen Dichtung entwickelten.
So ist diese Dissertation, diese dickleibige Monographie des Michael Hofmeister ein durchwegs interessantes, zudem gut lesbares Buch. Und die Hauptfigur Alexander Ritter in der Tat eine Entdeckung. ♦

Michael Hofmeister: Alexander Ritter – Leben und Werk eines Komponisten zwischen Wagner und Strauss, 806 Seiten, Tectum Verlag, ISBN 978-3-82884138-3

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Arno Stocker: Der Klavierflüsterer

Weitere Internet-Artikel zum Thema Alexander Ritter:

Musik-Zitat der Woche von Alexander Köhler

Stirbt die klassische Musik aus?

Alexander Köhler

So zumindest könnte eine Vermutung lauten, wenn man sich in der Landschaft der sogenannten klassischen Musik umschaut. Mit „klassischer Musik“ ist hier nicht der musikwissenschaftliche Epochenbegriff der Klassik, sondern vielmehr eine Zusammenfassung der sogenannten E-Musik gemeint. Darunter gefasst werden sowohl Instrumental- als auch Vokalmusik der verschiedensten Epochen.
In den meisten Konzert- oder Opernaufführungen sind junge Menschen eine Ausnahme. Das Hören von klassischer Musik scheint im Alltag der Kinder und Jugendlichen keine wesentliche Rolle mehr zu spielen. So zumindest könnte man die verschiedenen Meinungen der meisten Schiller zum Thema klassische Musik interpretieren. Schüler hören in ihrer Freizeit heutzutage scheinbar keine klassische Musik. Auch die Elterngeneration der heutigen Schüler scheint sich klassische Musik kaum noch anzuhören. Der bewusste Kontakt mit klassischer Musik beschrankt sich daher mehr oder weniger auf die Vermittlung klassischer Musik im Rahmen des schulischen Musikunterrichts. Hier beschäftigen sich die Kinder und Jugendlichen dann allerdings auch eher gezwungenermassen mit den verschiedenen Werken der klassischen Musik. Aus diesem Grund ist klassische Musik meist zusätzlich zum augenscheinlichen Desinteresse auch noch mit allerlei Vorurteilen, die Schule und den Musikunterricht betreffend, belastet. Klassische Musik gilt bei den Schülern als langweilige, veraltete Musik, die nur von Erwachsenen gehört wird und ausserdem als Schulstoff im Musikunterricht in der Schule dient.

Alexander Köhler - Musikpädagoge - Glarean Magazin
Alexander Köhler

Die Kombination aus Desinteresse und Vorurteilen führt dann oft zu einer vollständigen Ablehnung dieser Musikrichtung bei den Kindern und Jugendlichen. Dass klassische Musik einen schweren Stand bei den Jugendlichen haben muss, lässt sich dabei an verschiedenen Beispielen und in verschiedenen Aussagen von Kindern und Jugendlichen zum Umgang und Kontakt mit klassischer Musik wiederfinden.

Als Beispiel soll hier eine Diskussion zur Präferenz von „klassischer Musik“ bei Jugendlichen im Internetforum „Yahoo-Clever“ angeführt werden. In diesem Chatgespräch werden verschiedene Positionen zur klassischen Musik im Leben der Jugendlichen deutlich. Unter anderem sind folgende Aussagen zu lesen:

  • Klassik, das ist Musik von vor hundert Jahren und für die heutige Zeit gibt es eben Musik von heute.
  • Weil da weder Schlagzeug noch ne E-Gitarre vorkommt (spiele selbst E-Gitarre), ich kann klassische Musik nicht ab.
  • Das hat unter anderem damit zu tun, dass man darauf keinen schnellen guten Discotanz hinlegen kann. Ich finde klassische Musik ganz ok, es gibt auch wirklich supertolle Sachen wie „Morgendämmerung“ oder „für Elise“, aber man kann nicht gut drauf tanzen.
  • Weil es einfach bessere Musik gibt heutzutage!
  • Schon mal auf die ldee gekommen, dass Jugendlichen die Musik vielleicht einfach nicht gefällt und sie auch nicht damit aufgewachsen sind?! Meine Eltern hören auch keine klassische Musik und darüber bin ich auch froh! Weil das in der Schule so schlecht rübergebracht wird. Dann verlieren alle Schüler das Interesse an klassischer Musik.
  • Bei klassischer Musik begeistert häufig die Perfektion der Melodie, der Symphonie oder der Töne als solches. Viele Menschen gehen aber nicht so analytisch auf Musik zu, sie lassen sich lieber umfluten ohne sie zu analysieren.
  • Mit klassischer Musik muss man sich beschäftigen, d.h. zuhören, sie auf sich einwirken lassen, sich Zeit für sie nehmen. Die konsumiert man nicht einfach so wie Popmusik.
  • In dem Klassischem ist alles so daher geleiert, alles so langsam. Man tanzt dann irgendwie so einen Walzer. Heutzutage regt die Musik zum Tanzen und zum Singen an. So ein Beat… sag ich mal… wechselt oft zwischen schnell, langsam… und laut… und leise… Bei der klassischen Musik da hört sich alles gleich an.

Ein Grossteil der Aussagen lässt auf ein vorgefertigtes Bild hinsichtlich klassischer Musik und deren Wirkung schliessen. Die Gründe für solche Vorurteile sind laut der Aussagen der Teilnehmer in diesem Chat-Forum verschieden. Zum einen werden Hörerfahrungen, Hörgewohnheiten und vorgefertigte Klangvorstellungen angeführt, die im Alltag der Kinder und Jugendlichen von heute typisch fur klassische Musik zu sein scheinen, und die grösstenteils zu deren Ablehnung in der jungen Bevölkerung führen. Zum anderen wird hier auch die fehlende Hörerfahrung im Elternhaus erwähnt. Da die Eltern keine klassische Musik hören, fehlen hier mögliche Kontakte oder positiv besetzte Eindrücke. Als ein dritter Punkt wird zudem die schlechte Vermittlung in der Schule angeführt, es findet ein Musikunterricht statt, in welchem die Schüler das Interesse an klassischer Musik verlieren.
Aus den Aussagen lässt sich neben möglichen Gründen für die Ablehnung aber auch heraushören, dass es gewisse Erfahrungen gibt, die Jugendliche […] mit klassischer Musik gemacht haben und die eine derartige Sichtweise geprägt haben. Es könnte also möglich sein, dass man mit neuen Präsentationsformen klassischer Musik und damit verbundenen positiven Erfahrungen Interesse erzeugt und Vorurteile ausräumt. ♦

Aus Alexander Köhler: Null Bock auf Klassik? – Eine empirische Studie zur Steigerung des Interesses von Schülern an klassischer Musik, Band 123 Hallesche Schriften zur Musikpädagogik, 156 Seiten, Wissner Verlag, ISBN 978-3-89639-928-1 – Inhaltsverzeichnis

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musikunterricht auch über Gerd Arendt: Instrumentalunterricht für alle?

… sowie über Ulrich Kaiser: Gehörbildung

Electronic Chamber Music (CD & Vinyl)

Symbiose der Genres und Stile

von Horst-Dieter Radke

1969 erschien die LP „Ceremony“, die die englische Rockgruppe Spooky Tooth zusammen mit dem französischen Elektronikpionier Pierre Henry (1927-2017) aufgenommen hatte. Es war allerdings kein echtes Gemeinschaftswerk. Spooky Tooth spielte ihre Songs ein, Pierre Henry bearbeitete diese anschliessend mit seinen elektronischen Effekten. Man hört dies deutlich, hat das Gefühl, das einer gegen den anderen ankämpft. Von einer Synthese elektronischer Musik mit analoger Musik (in diesem Fall Rock) kann nicht gesprochen werden. Ganz anders ist dies bei Electronic Chamber Music.

Electronic Chamber Music - CD - Vinyl - Rezension im Glarean Magazin

Dieses vierköpfige Ensemble spielt traditionelle Instrumente wie Gitarre, Violine, Kontrabass und erweitertet diese um einen modularen – also analogen –Synthesizer und weitere elektronische Klangerzeuger. Laut Presseinformation spielen die Musiker „massgeschneiderte, erweiterte Instrumente, bei denen elektronische und akustische Klänge nahtlos ineinander übergehen“. Das ist schwer zu überprüfen durch reines Hören. Auch auf den im Netz zu findenden Videos (hier oder auch hier) ist das an den Instrumenten nicht erkennbar.

Keine Konfrontation, sondern grösstmögliche Annäherung

Mir liegt die Vinyl-Langspielplatte vor, die sich in schönem Türkis auf dem Plattenteller dreht. Sie enthält acht Stücke, durchnummeriert von 01 bis 08. Die Nummern 01 bis 04 sind überschrieben mit ADC, die Nummer 05 bis 08 mit DAC. Es ist unschwer zu erraten, was damit gemeint ist: Analog-Digital-Umsetzer und Digital-Analog-Umsetzer. Durchgängig ist, dass elektronisch Elemente mit denen der traditionellen Instrumente ein Miteinander eingehen. Es ist kein Kampf gegeneinander, sondern der Versuch, eine grösstmögliche Symbiose zu schaffen. Beteiligt waren an der Produktion die vier Künstler Otso Lähdeoja (Gitarre & Elektronik), Aino Eerola (Violine & Elektronik), Alejandro Montes de Oca (Modular Syntheziser), Nathan Riki Thomson (Kontrabass & Elektronik).

Vom Free Jazz über die Tradition bis zur Stille

FAZIT: Dass elektronische Musik in Kombination mit traditionellen Instrumenten eine sinnvolle und gut hörbare Einheit eingehen kann, zeigt das Ensemble der vier Musiker aus Helsinki eindrucksvoll. Electronic Chamber Music schafft eine symbiotische Klangwelt, die auch beim wiederholten Hören immer neue Facetten zeigt.

Die Themenvielfalt ist gross. Manches erinnert an intensive Momente des Free Jazz, hier und da tauchen fast traditionelle Motive auf, die zu einer grossen Eindringlichkeit gesteigert werden, und dann wieder scheint es, als wolle man in Richtung absoluter Stille gehen, ohne diese jemals erreichen zu können. Auch nach mehrmaligem Hören wurde mir die Musik des Ensembles nicht langweilig, wobei ich die Annehmlichkeit der Langspielplatte, das nach der Hälfte die Musik endet und die Platte umgedreht werden muss, genoss. So war ein Moment des Innehaltens gegeben, der bei der CD erst durch einen willkürlichen Akt – das Anhalten des Players – erreicht werden kann. Das Ensemble hat die Aufnahmen live eingespielt. Es gibt also kein Overdub, kein nachträgliches Einfügen von Effekten. Auch dies trägt sicher dazu bei, dass die Aufnahmen wie aus einem Guss erscheinen. Ich hoffe, dass dies Ensemble noch weitere Aufnahmen folgen lässt und vielleicht auch einmal live zu erleben ist. ♦

Electronic Chamber Music (Audio-CD & -Vinyl), 51 Minuten, Naxos Direct

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neue Elektronische Musik auch das Interview mit dem Schweizer Komponisten Fabian Müller

… sowie zum Thema Gitarre: Zum Tode des Gitarristen Julian Bream

Mathias Löffler: Rock & Jazz Harmony

Ultimatives Harmonik-Kompendium

von Walter Eigenmann

Die sog. Harmonielehre, darüber herrscht kein Zweifel, gilt sowohl manchen Klassik- als auch vielen Rock/Pop- oder Jazz-Musikern als trockene Materie. Verstaubte Theorie halt, die man allenfalls im Musik-Hochschulstudium als „Nebenfach“ durchstehen muss oder als Improvisierender gleich ganz ignoriert.
Doch ebenso zweifellos behält in dem neuen 800-Seiten-Wälzer von Mathias Löffler: Rock & Jazz Harmony der Autor im Vorwort absolut spartenübergreifend recht: „Talent mag vom Himmel in die Wiege fallen, Wissen jedoch nicht. Jeder Musiker, Maler oder Bildhauer informiert sich und steht im Austausch mit Kollegen, um zu lernen.“

Drei unterschiedliche Lernebenen

Mathias Löffler - Rock & Jazz Harmony - Die Klangwelt der Rock- und Jazzmusik verstehen - Ama VerlagDieses Lernen bzw. Lehren kommt in Löfflers breit und stringent aufgebauter „Harmonielehre“ in vielfältiger Manier daher. Theoretische Ausführungen (von den Basics wie das Notenlesen bis zum komplexen Modal Interchange) stehen neben graphisch illustrierten Harmonik-Analysen; Zusammenfassende Kapitel-Aufgaben zum Selber-Lösen wechseln sich ab mit konkreten Anweisungen für das improvisatorische Instrumentalspiel; Regelmässig eingestreute „Definitionskästchen“ als unverzichtbare Lerninhalte kontrastieren (später) mit frei anwendbaren „Strategien“ für das selbstständige Analysieren. Und es fehlen weder die Download-Hinweise zu online verfügbaren MP3-Dateien noch eine grosse Fülle an Notenbeispielen aus der ganzen jüngeren Rock- und Jazz-Szene.

Rock & Jazz Harmony - 3 Vierklänge - Mathias Löffler
Die drei wichtigsten Vierklänge der Rock- und Jazzmusik, wo ein Ton die gleichmässige Terzschichtung durchbricht

Grundsätzlich schreitet dabei das Lehr- und Übungsbuch vom Einfachen zum Schwierigen fort; gleichwohl hat der Musikpädagoge Löffler die grossen Bereiche seines fast 800-seitiges Kompendiums geschickt in drei „Lernebenen“ strukturiert: In eine Art „Quick Set Up Guides“ mit zahlreichen inhaltlich zusammenfassenden „Konzentraten“; in den ausführlich erläuternden Fliesstext mit zahlreichen Songbeispielen; und in eine dritte Ebene, die für Fortgeschrittene das punktuelle Lernen gestattet. Diese dreiteilige „Binnenform“ der Stoffbehandlung ermöglicht ganz unterschiedlichen Leserschichten ein modales Buchstudium und trägt wesentlich dazu bei, die Lektüre individuell und abwechslungsreich anzugehen.

Ein Fahrplan für das Crossover-Studium

Dem Band vorangestellt ist dabei ein sog. Fahrplan als Orientierungshilfe. Dessen Wegweiser leiten den Leser nicht aufsteigend von Kapitel zu Kapitel, sondern offerieren die Möglichkeit einer Crossover-Lektüre:

Mathias Löffler - Rock & Jazz Harmony - Der Fahrplan - Ama Verlag

Den „Grundlagen“ gestattet Löffler 150 Seiten, danach ist das „Basislager“ erreicht, und das Interesse des Lesenden kann sich zu splitten beginnen. Die ersten drei Kapitel enthalten dabei die intensivsten Trainingseinheiten mit zahlreichen Aufgaben-Seiten, die das Gelernte abrufen und vertiefen sollen.

Themenfelder lückenlos erfasst

Häufig eingestreute Aufgaben erlauben dem Leser eine Standort-Bestimmung des Gelernten (Rock & Jazz Harmony - Aufgaben-Beispiele)
Häufig eingestreute Aufgaben erlauben dem Leser eine Standortbestimmung seines Gelernten

Meines Wissens war auf dem Buchmarkt bislang keine thematisch verwandte Publikation verfügbar, die den rein musiktheoretischen Aspekt der sog. U-Musik – Löffler definiert „Rock & Jazz“ breit, subsumiert darunter auch Blues, Soul, Latin, Schlager, Metal oder Country u.a. – derart tiefgreifend und differenziert behandelt. Themenfelder und Begrifflichkeit sind dabei anfänglich bzw. als Grundlage durchaus der Klassischen Harmonielehre entnommen. Ungefähr ein Drittel des Buches dürfte dezidiert dieser „traditionellen“ Lehre des 17. bis 19. Jahrhunderts zuzuordnen sein, wobei auch Anfänger wie Wieder-Einsteiger aller Stufen ihren Nutzen daraus ziehen können. Der Link zum historisch angehäuften Wissensfundus ist also gegeben. Darüber hinaus aber bereitet der Band das gesamte theoretische Material der neueren U-Musik-Geschichte auf, soweit es harmonietechnisch überhaupt analysier- bzw. vermittelbar ist.

Lehr- und Wörterbuch zugleich

Dass sich in Theorie und Praxis ohnehin die Schwerpunkte, Methoden und Historien der beiden Sparten U- und E-Musik teils synonym überschneiden, ist klar. Dass aber die „Populäre Musik“ der letzten ca. 80-100 Jahre vom frühen Afro-Blues bis in unsere Tage des Aleatorischen FreeStyle-Jazz sich inzwischen ebenfalls einen musikhistorisch katalogisier- und didaktisch aufbereitbaren Begriffsapparat generiert hat, wird eben an solchen Arbeiten wie Löfflers „Harmony“ ersichtlich, die kaum einen Aspekt ausser Acht lässt, der klanglich irgendwie Eingang ins heutige – ansonsten ja stilistisch völlig unübersehbare – Konzertleben gefunden hat. (Über die ganze Fülle des behandelten Materials orientiert hier das Inhaltsverzeichnis von Rock & Jazz Harmony).

Auch komplexere Harmonik-Strukturen werden in "Rock & Jazz Harmony" von Mathias Löffer anschaulich erläutert
Auch komplexere Harmonik-Strukturen werden in „Rock & Jazz Harmony“ von Mathias Löffer anschaulich erläutert

In seinem ganzen didaktischen Aufbau ist der Band als Lehrbuch also sehr gut verwendbar. Gleichzeitig ist er mit seinem begriffsorientierten, teils auch modalen Konzept und der übersichtlichten Gliederung der Themenfelder (bis hin zum mehrseitigen Registerverzeichnis) auch ein Nachschlagewerk. Wohltuend dabei nicht nur für das Heer der „Garagen-Musik“-Amateure: Löfflers Buch versteht sich nicht als wissenschaftliche Abhandlung, sondern stellt den theoretischen Bezug zur Rock- und Jazz-Musik in einer ungezwungenen Sprache her. Nicht Dozieren, sondern Vermitteln war offensichtlich angesagt.

Harmonische Analyse direkt an den Songs

Stufen- und Skalen-Analyse von "Blue In Green" (Miles Davis)
Stufen- und Skalen-Analyse von „Blue In Green“ (Miles Davis)

Am konkretesten wird dieser Ansatz im letzten, dem „Analysen“-Kapitel. Auf fast 100 Seiten behandelt Löffler hier beinahe Takt für Takt das harmonische Gerüst von „Klassikern“ wie „Hey Joe“ (Jimi Hendrix) oder „Every Breath You Take“ (The Police) über Pop-Hits wie „I Turn To You“ (Christina Aguilera) oder Film-Titel wie „A Foggy Day“ (George Gerschwin) bis hin zu legendären Jazz-Titeln wie „500 Miles High“ (Chick Corea) und „Keep Me In Mind“ (John Scofield) oder auch Bepop-Evergreens wie „Donna Lee“ (Charlie Parker). Auch hier wieder illustrieren teils umfangreiche Notenbeispiele und unterstützen die Analyse der harmonischen Binnenstrukturen.

Die Referenz in Sachen Rock-Jazz-Harmonik

Gitarrist, Band-Gründer, Dozent: Autor Mathias Löffler (geb. 1965)
Gitarrist, Band-Gründer, Dozent: Autor Mathias Löffler (geb. 1965)

Im Unterschied zu vielen vergleichbaren „Schulbüchern“ zum Thema gelingt es dieser „Harmonielehre“ des 53-jährigen Band-Gründers, Profi-Gitarristen und Dozenten Mathias Löffler, seinen weitläufigen und komplexen Gegenstand in besonders transparenter Manier aufzubereiten. Dazu trägt nicht nur die raffinierte didaktische Bändigung der Theorie bei, sondern auch der ständige Bezug zum „musikalischen Alltag“ mit Song-, Noten- und Hörbeispielen direkt „aus der Praxis“. Bei zukünftigen Auflagen ist zu wünschen, dass die Online-Anbindung des Buches noch ausgebaut bzw. aktualisiert wird, um so das moderne Lernverhalten weiter Jugend-Kreise zu unterstützen. Aber auch schon jetzt flankieren diverse Audio-Download-Optionen  das Buch und verstärken so die Stoffvermittlung.

FAZIT: „Rock & Jazz Harmony“ von Mathias Löffler macht deutlich, dass Konzerterfolge auch in der U-Musik-Welt tatsächlich nicht „vom Himmel fallen“, sondern ursächlich mit der „Harmonik“ zu tun haben, die alles „im Innersten zusammenhält“. Die genaue Kenntnis der „Harmonielehre“ ist also nicht der Widerpart des spontanen Musizierens, sondern deren Voraussetzung… Kurzum: Löfflers höchst umfangreiches, aber seinen Gegenstand sehr abwechslungsreich verkaufendes Kompendium ist meines Erachtens die neue Referenz zur Thematik und gehört als Lehr- wie als Wörterbuch in jede Musik-Unterrichtsstube an Hoch- wie an Volks- und Musikschulen.
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„Rock & Jazz Harmony“ von Mathias Löffler macht deutlich, dass Konzerterfolge auch in der U-Musik-Welt tatsächlich nicht „vom Himmel fallen“, sondern ursächlich mit der „Harmonik“ zu tun haben, die alles „im Innersten zusammenhält“. Die genaue Kenntnis der „Harmonielehre“ ist also nicht der Widerpart des spontanen Musizierens, sondern dessen Voraussetzung…

Kurzum: Löfflers höchst umfangreiches, aber seinen Gegenstand sehr abwechslungsreich verkaufendes Kompendium ist meines Erachtens die neue Referenz zur Thematik und gehört als Lehr- wie als Wörterbuch in jede Musik-Unterrichtsstube an Hoch- wie an Volksschulen. Doch auch jeder Musiktheorie-Anfänger – und der Instrumentalist im „klassisschen“ Sektor sowieso… – wird die „Rock & Jazz Harmony“ als willkommene Ergänzung, ja als notwendige Horizonterweiterung seiner Musik erfahren. Der professionelle Songwriter oder Arrangeur schliesslich erhält zahlreiche weiterführende Anregungen, die seine Arbeit intensivieren werden. ♦

Mathias Löffler: Rock & Jazz Harmony – Die Klangwelt der Rock- und Jazzmusik verstehen, 784 Seiten, AMA Verlag, ISBN 978-3899222395

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musiktheorie auch über Christoph Wünsch: Satztechniken im 20. Jahrhundert

Musik-Zitat der Woche von Urs Frauchiger

Über das Konzert-Publikum

Urs Frauchiger

[…] Als der Teufel sah, dass einzelne Geschöpfe sich immer herrlicher entfalteten und – zumal auf dem Gebiet der Kunst – immer überwältigender für Gottes Güte und Grösse zeugten, erfand er das Publikum. Ein genialer Wurf, das muss man ihm lassen, denn wie anders hätte man z.B. Mozarts unfassbaren Geistesflug auf einen Schlag in die Niederungen der Banalität und des Miefs zurückholen können, als indem man seine grossen Interpreten in einen lächerlichen schwarzen Anzug mit zwei Flügeln zwängt, sie wie dressierte Pinguine im verdunkelten Saal auf ein beleuchtetes erhöhtes Holzgestell watscheln lässt, sie zwingt, sich steif zu verbeugen und dann gemäss vorgedrucktem Programm pünktlich zur festgesetzten Stunde ihr Verslein aufzusagen, sich wieder steif zu verbeugen und zum Schluss zum Händchenpatschen des Publikums noch ein paarmal vom Holzgestell hinunter und wieder hinauf zu watscheln?

"Wie ein dressierter Pinguin im verdunkelten Saal auf ein beleuchtetes Holzgestell watschelnd": Zeitgenössische Karikatur "Der Dirigent" von Franco Faccio (1882)
„Wie ein dressierter Pinguin im verdunkelten Saal auf ein beleuchtetes Holzgestell watschelnd“: Zeitgenössische Karikatur „Der Dirigent“ von Franco Faccio (1882)

Die Tierdressur hat in den letzten Jahrzehnten imponierende Fortschritte erzielt: wenn die Erzfeinde Löwen und Tiger friedlich vereint durch glühende Reifen springen, wenn Affen miteinander telefonieren und Eisbären den „Schwanensee“ tanzen, erregt das kaum mehr Aufsehen. Aber kein noch so sensationelles Ereignis kommt dem Dressur- und Domestizierungsakt gleich, den das Publikum mit den Künstlern vollbracht hat. Da machen Jahrhundertgenies das Männchen, ganz genau dann und so lange, wann und wie das Publikum es will, da grinsen Leute mit schwindelerregenden Intelligenzquotienten seligdümmlich ins händchenpatschende Publikum, wie das Kleinkind, das für den ersten geglückten Strahl ins Töpfchen belobigt wird. Und alle zittern sie, bevor sie vor das Ungeheuer treten. Manche wagen es nur nach einer Morphiumspritze, manche nicht ohne einen Liter Wodka im Bauch; viele haben einen Hofpsychiater, einige stehen vor dem Auftritt nach fernöstlicher Manier Kopf, und vom Pillenverbrauch allein der Künstler können ein paar Apotheker schon ganz gut leben. Denn das Publikum ist nicht nur ahnungslos und leicht verführbar, es kann auch unberechenbar und brutal sein. Bald leckt es einer Niete den Fuss, und gleich darauf holt es zum ungezielten Rundschlag aus. Wen es trifft, und sei er der Grösste und Stärkste, geht zu Boden, manchmal für immer.

Urs Frauchiger (geb. 1936)
Urs Frauchiger (geb. 1936)

Dabei ist das Publikum nicht eigentlich böse. Seine Brutalität ist die Brutalität eines Ungetüms, das den zertrampelt, dessen es habhaft wird, und nicht den, der es reizte. Mit gutem Grund spürt es Missachtung, zurecht wittert es Betrug und Verrat. Die Selbstsicherheit eines Künstlers hält es in Schach, ganz gleich, ob sie der Unverfrorenheit, dem Nerokomplex, der Ahnungslosigkeit oder wirklichem Können entspringt. So stürzt es sich halt in dumpfem Zorn auf die Unsicheren, ohne zu fragen, ob sich die Unsicherheit nicht vielleicht aus übergrossem Respekt und Verantwortungsbewusstsein herleitet oder aus der Vision des Ideals, das auch grosse Künstler nur selten erreichen. Mit Vorliebe fällt es alternde Idole an, denen es einst besinnungslos zugejubelt hatte. Sobald das Alter die schon früher vorhandenen Schwächen der Stars blosslegt, wittert das Publikum Morgenluft, riecht das Ungeheuer Blut. Was das Publikum der Callas auf ihrer letzten Tournee antat, könnte nur durch ewige Verdammnis zu den schrecklichsten Höllenqualen gebüsst werden. Aber da ist kein Tierschutzverein, kein Lobby der Grünen, die der blindwütigen Grausamkeit Einhalt geböten.

Ungeschoren kommen lediglich die wahren Schuldigen davon: die Agenten, die Veranstalter, die Produzenten. Sie hocken in sicherem Abstand im Gebüsch und jagen dem Ungeheuer die Hasen vor die Lefzen, ungerührt ihre Prozente einstreichend. Sie hetzen die Alten um des Mammons willen noch und noch über die Bühnen, sie verheizen die Jungen, statt sie aufzubauen, sie verkaufen Mittelmass als Weltereignis, und sie unterdrücken das Weltereignis, weil es – wie fast alle wirklichen Ereignisse – wenig einbringt. Und in ihrem Dunstkreis tummeln sich die Publikumsforscher, die wie alle Wissenschaftler bei ihrem Eintritt in die Alma mater einst geschworen hatten, „der Wahrheit, der Wahrheit und nichts als der Wahrheit zu dienen“. […]

Aus Urs Frauchiger: Was zum Teufel ist mit der Musik los – Eine Art Musiksoziologie für Kenner und Liebhaber, Zytglogge Verlag 1982

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Publikum & Dirigent auch von
Nils Günther: Der Gemeine Orchesterdirigent (Satire)

Das neue Musik-Kreuzworträtsel im Juni 2018

Der Schwedenpuzzle-Spass aus der Welt der Musik

Das neue Musik-Kreuzworträtsel im Juni 2018 hält Begriffe aus der gesamten Welt der Musik parat. Wir wünschen viel Spass beim Knobeln und schnellen Erfolg 🙂

Musik-Kreuzworträtsel im Glarean Magazin (Juni 2018)
Musik-Kreuzworträtsel im Glarean Magazin (Juni 2018)

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J. Campe: Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre

Besichtigung eines Lebens

von Wolfgang-Armin Rittmeier

Mit Gioachino Rossini verbindet sicher jeder Freund klassischer Musik etwas – sei es nun die berühmte Ouvertüre zu seiner Oper „Wilhelm Tell“, die Arie des Figaro aus dem „Barbier von Sevilla“ oder irgendeine andere jener sanglichen Melodien, die dem 1792 geborenen Komponisten so intensiv aus der Feder flossen, dass sie problemlos für das Oeuvre einer ganzen Schar von Tonsetzern gereicht hätten.
Ebenso wahrscheinlich ist es, dass fast ein jeder, der den Namen Rossini hört, auch ein bestimmtes Gesicht mit diesem Namen verbindet, sei es nun das berühmte Portrait aus den 1820er Jahren, das der Scuola pittorica italiana entstammt, die Fotografie von Étienne Carjat oder jene augenzwinkernde Karikatur, die den „Schwan von Pesaro“ bei der Zubereitung eines grossen Topfes Pasta am heimischen Herd zeigt

Komponist zwischen Opern und Nudeln?

Joachim Campe: Rossini - Die hellen und die dunklen Jahre, Biographie, Theiss Verlag
Joachim Campe: Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre, Biographie, Theiss Verlag

Beides – Musik und Optik – haben sich nun im kollektiven Unbewussten zu einem ganz bestimmten Rossini-Bild amalgamiert, das auch immer wieder gerne bedient wird: Rossini – als Mensch ein freundlicher, den leiblichen Genüssen zugewandter und darum leicht adipöser Typ, als Komponist ein Meister der Melodie, der Heiterkeit, der Buffa. Und so kann man auch, ohne dass es in irgendeiner Form geschmacklos schiene, CDs wie „Pasta classics – Kochen mit Rossini“; „Rossini – Eine kulinarisch-musikalische Biographie“; oder auch „Rossini – Bonvivant und Gourmet – mit 45 Rezepten“ kaufen. Mit Bach wäre in dieser Sache kein Staat zu machen. Aber Rossini, der Italiener, das Kind der Sonne, der zwischen Nudeln und Chianti eben flott schmissige Opern auf das belsamicobefleckte Notenpapier bringen konnte, der eignet sich…

Schlimm ist, dass man eigentlich wenig Gelegenheit hat, dieses Bild zu überprüfen, zu differenzieren, ja: zu relativieren. Klar, auf dem Markt gibt es Volker Schierless’ kleine Rowohlt-Monographie von 1991. Richard Osbornes „Rossini – Leben und Werk“ ist schon seit längerem vergriffen. Arnold Jacobshagens verdienstvolles Buch „Gioachino Rossini und seine Zeit“ aus der Laaber-Reihe „Grosse Komponisten und ihre Zeit“, 2015 erschienen, ist für den ersten Zugriff vielleicht etwas zu wuchtig. Da kommt Joachim Campes gut 200 Seiten starke, beim Konrad Theiss Verlag erschienene Biographie „Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre“ dem Leser, der einigermassen zügig sein Rossini-Bild zurechtrücken möchte, gerade recht.

Zeitgenosse einer bewegten Epoche

Rossinis Ehefrau und Muse: Die spanische Opernsängerin und Komponistin Isabella Colbran (1785-1845)
Rossinis Ehefrau und Muse: Die spanische Opernsängerin und Komponistin Isabella Colbran (1785-1845)

Schon der Titel suggeriert, dass Rossinis Leben ganz offensichtlich nicht ununterbrochen von italienischem Sonnenschein durchflutet war. Tatsächlich gab es da – das sei gar nicht abgestritten – eine Menge Licht. In flüssig erzählendem Stil berichtet Campe von der Kindheit als Wunderkind, von den Erfolgen, aber auch den zahlreichen Misserfolgen, die Rossini – so wollen es dem Leser die entsprechend vorgebrachten Quellen zumindest nahelegen – mit einer gewissen positiven Grundstimmung, mit Humor und einem guten Schuss Selbstironie hinnahm. Man erfährt von der besonderen Beziehung Rossinis zu seinen Eltern, die stets positiv war, bis es zu seiner Hochzeit mit der Sängerin Isabella Colbran kam, die einen Schatten auf das an sich gute Verhältnis warf. Daneben ordnet Campe die historische Figur Rossini, den Zeitgenossen einer der bewegtesten Epochen der europäischen Geschichte trefflich in die Historie ein, was wiederum eine ganz besonders treffliche Leistung darstellt, ist Rossini doch selbst kaum je einmal als „Homo politicus“ aufgetreten. Tatsächlich äusserte er sich in Briefen und aufgezeichneten Gesprächen nur selten politisch, lediglich manch eine seiner Opern kann sich einer politischen Deutung nicht vollständig verschliessen.

Unruhige Persönlichkeit voller Widersprüche

...und der junge Rossini, 1822 gemalt von Friedrich Lieder
Der junge Rossini, 1822 gemalt von Friedrich Lieder

Als Folge seines Ansinnens, ein möglichst differenziertes, aber nicht ausuferndes Bild des Komponisten zu entwerfen, nimmt Campe den Leser seiner kleinen, aber doch substanziellen Biographie an die Hand und besichtigt mit ihm schlaglichtartig viele Orte in Rossinis Leben. Und viele Orte zu vielen Zeiten waren wie gesagt glanzvoll: Neapel, Paris, London und Wien begrüssten, beherbergten und feierten den grossen Komponisten – man möchte sagen: gebührend. Sicher gab es da Alltagskonflikte, eine kriselnde Ehe, Probleme mit Profilneurotikern, (opern-)politisches Ränkespiel. Aber es gab eben auch Glanz, Ruhm und sehr viel Geld, besonders in Paris.

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Doch da finden sich auch besonders dunkle Orte in der Biographie Rossinis, Orte von denen man vielleicht nicht so gerne spricht, die Campe dem Leser aber nicht vorenthält. Einer dieser Orte ist der offenkundig sehr starke Sexus Rossinis, den er mit grosser Begeisterung in Bordellen auslebte, wo er sich in Folge einer Gonorrhoe eine Urethritis, also eine üble Harnröhrenentzündung zuzog, die ihm das Leben schwer machte, und die in Paris – nicht ohne Risiko – operiert werden musste. Ein anderer der dunklen Orte, an dem sich Rossini im Laufe seines Lebens immer wieder und mit zunehmender Intensität aufhalten sollte, war die schwarze Welt der Depression. Mit nüchternem Blick zeigt Campe, wie Rossini nach 1823 immer wieder in höchst niedergeschlagene Stimmungen verfiel, schliesslich wohl auch aufgrund dieser Erkrankung aufhörte, Opern zu komponieren und sich phasenweise komplett isolierte. Gerade in den letzten Jahren scheint – so zeigt es Campe – Rossini eine eher unruhige Persönlichkeit gewesen zu sein, von Schlaflosigkeit und Schmerzen geplagt, überhaupt anfällig für alle möglichen Erkrankungen, bisweilen auch für Kränkungen, immer wieder den Wohnsitz wechselnd, sich mit Todesängsten herumquälend.

Differenzierte Beschreibung jenseits aller Hagiographie

Das Bild vom heiteren Rossini ist, das macht die Lektüre von Campes Buch sehr differenziert deutlich, also ein höchst eindimensionales. Das Schöne ist letztlich, dass der Autor keine Hagiographie schrieb, sondern Rossini als Menschen aus Fleisch und Blut präsentiert, mit allen Stärken und Schwächen, die damit einhergehen.

Fazit: Die neue Biographie von J. Campe: Rossini zeigt differenziert auf, dass das Bild vom heiteren Rossini ein höchst eindimensionales ist. Hier wird vielmehr Rossini als Mensch aus Fleisch und Blut präsentiert – also keine Hagiographie, sondern die Darstellung eines Musik-Genies mit allen Stärken und Schwächen. Ein Buch, dessen Lektüre Freude macht.

Es spricht eine Menge Zuneigung zu seinem Gegenstand aus Campes Zeilen, die man aufgrund des höchst angenehmen Konversationstones ausgesprochen gerne liest. Einziges Manko des Buches mögen des Autors streckenweise zu intensiv aneinandergereihten Nacherzählungen der Opernhandlungen im Verbund mit angerissenen Deutungshinweisen zu den Werken sein. Nicht nur, dass das so wirkt, als wolle der Autor hier ein wenig zu deutlich auf seine Gelehrsamkeit hinweisen. Es fehlt manch einem Deutungsansatz auch an Stimmigkeit, weil das Format des kleinen Werkes den Raum für tiefschürfende Werkbetrachtungen und ausgefeilte Argumentationen letztlich nicht hergibt. Nicht selten langen die interpretatorischen Fingerzeige Campes ins Leere oder setzten beim Leser einer solchen knappen Schrift zu viele Kenntnisse der Materie selbst voraus. Hier wäre eine klarere Abgrenzung wünschenswert gewesen.
Insgesamt jedoch ein Buch, dessen Lektüre Freude macht. ♦

Joachim Campe: Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre, Biographie, 222 Seiten, Konrad Theiss Verlag (WBG), ISBN 978-3-8062-3671-2

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musiker-Biographien auch die neuen
Musiker-Anekdoten (2)

… sowie aus der Reihe „Musik-Zitat der Woche“ von
Urs Frauchiger: Über das Konzert-Publikum