Lowell Liebermann: Little Heaven (CD)

Kleiner Himmel über Germanika

von Michael Magercord

Eine Auswahl von Liedern zu Texten der deutsch-jüdischen Dichterin Nelly Sachs, dem Struwelpeter sowie einem Gedicht zu einer deutsch-amerikanischen Liebesbeziehung, und doch – der Hörer sei gewarnt oder besonders erfreut gestimmt: Die CD „Little Heaven“ ist es eine durch und durch amerikanische Platte. Gut, die Texte sind alle auf Deutsch gesungen, oder wenigstens in einer Art von Germanglisch, und ja, die Musik beruht auf der Liedertradition, die vor allem im deutschsprachigen Raum ihre Wurzeln hat – trotzdem: diese CD kann so nur aus den USA kommen.

Häufig gespielter zeitgenössischer Komponist

Little Heaven - Songs by Lowell Liebermann - Albany RecordsKomponist ist der 50-jährige US-Amerikaner Lowell Liebermann aus New York. Seine Werke gehören zu den meistgespielten zeitgenössischen Stücken. Die New York Times bezeichnete ihn als „ebenso Traditionalist wie Innovator“. Das allein macht die CD allerdings noch nicht zu einer amerikanischen, zumal Lowell Liebermann einen Teil seiner Lehrzeit in Bayreuth bei der einzigen Nazi-Gegnerin im Wagner-Clan, Friedelind Wagner, verbracht hatte. Und seinen New Yorker Dirigentenlehrer Laszlo Halasz zitiert Liebermann mit dem Ausspruch: Seit Strauss, Bartok und Strawinsky könne nichts mehr von Belang komponiert werden. Der gereifte Komponist Lowell Liebermann bestätigt diese Aussage, indem er sie widerlegt: Zwar scheinen sich seine Werke durchaus dem Erbe der genannten Vorgänger verpflichtet zu fühlen, doch weder fallen sie dahinter zurück, noch gleiten seine Werke auf der neuen Unterhaltungsschiene à la Hollywood hinab. Auch die Gesangskunst auf dieser CD ist vor allem in der Klarheit der Sprache hervorragend. Oft wirken fremdsprachige Sängerpartieen etwas gestelzt, doch die an der Oper Frankfurt singende Amerikanerin Brenda Rae hat damit kein Problem.

Von Nelly Sachs bis zum Struwwelpeter

Lowell Liebermann (*1961) - Glarean Magazin
Lowell Liebermann (*1961)

Was also macht diese CD denn nun so amerikanisch? Es ist einmal die Zusammenstellung der den Liedern zugrunde liegenden Texte: Zunächst sechs Gedichte der Nobelpreisträgerin Nelly Sachs. Sie wurde 1891 in Berlin geboren, machte sich zunächst einen Namen als romantisierende Dichterin, verliess Deutschland 1940 gerade noch rechtzeitig, verlor fast ihre ganze Familie im Holocaust. Diese Erfahrung unterlag seither ihrer Dichtung, auch jener, die Liebermann vertont hat. Gefolgt wird sie von drei Episoden aus dem Struwwelpeter, dem Kinderbuch der Brachialpädgogik aus dem Jahre 1845, und abgeschlossen schliesslich von einem deutsch-englischem Banal-Poem über eine Beziehungsstory um einen Volkswagen, six-pack-Bier und eine Frau Turbosupercharger unter dem Titel Appalachian Liebeslieder.

Zusammenstellung unterschiedlichster Gefühlswelten

Die Song-Sammlung „Little Heaven“ von Lowell Liebermann beinhaltet eine gewagte Auswahl von Texten in „klassisch-moderner“ Manier. Von Innovationen bzgl. Klangmuster bleibt der Hörer eher verschont, Liebhaber der gehobenen „deutschen Liedtradition“ finden hier vertraute Töne zu bislang unvertonten Texten.

Man mag die Zusammenstellung gewagt oder geschmacklos nennen – oder aber eben „amerikanisch“. Noch erstaunlicher ist, dass diese so unterschiedlichen Gefühlswelten der Texte in der fast immer gleichen Klangweise dargeboten werden, nämlich guter, klassischer gehobener Liedertradiition entsprechend: immer auf der Höhe des Empfindens. „Meine Liebe zur Musik enstand durch die Einwirkung der grossen westlichen klassischen Tradition auf mich. Das ist ein kontinuierlicher Zusammenhang, von dem ich ein Teil sein wollte. Es gab ein Klischee über moderne Musik, dass diese immer mit der Tradition zu brechen habe, was ich als eine Art marxistische Perspektive betrachte“, sagt Lowell Liebermann. Ist also diese CD mit ihrer riskanten Zusammenstellung von letztlich ziemlich risikolosen Stücken also nun im Umkehrschluss eine kapitalistische? Nein, eher wohl eben doch eine amerikanische… ♦

Lowell Liebermann: Little Heaven – Six songs on Poems of Nelly Sachs für Sopran und Klavier / „Struwwelpeterlieder“ für Sopran, Viola und Klavier / „Appalachian Liebeslieder“ für Sopran, Bariton und Klavier-Duett, Albany Records, Audio-CD, 53 Minuten

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musik für Sopran und Klavier auch über
Zoryana & Olena Kushpler: Slawische Seelen (CD)

… und zum Thema Neue CD-Aufnahmen auch über
Christopher Wood: Requiem

Interessante Buch-Neuheiten – kurz belichtet

Bemerkenswerte Musik- und Schach-Novitäten

Hanns Eisler: Keenen Sechser in der Tasche – Songs und Balladen

von Walter Eigenmann

Zur mittlerweile doch akzeptabel grossen Verbreitung der Musik von Hanns Eisler trug und trägt der Musikverlag Breitkopf&Härtel wesentlich bei. Innerhalb seiner laufenden „Hans Eisler Gesamtausgabe“ HEGA – herausgegeben von der Internationalen Hanns Eisler Gesellschaft – koppelt der Verlag immer wieder Spezial-Editionen aus – unlängst nun Eislers Songs und Balladen für Singstimme und Klavier unterm Titel „Keenen Sechser in der Tasche“.

Hanns Eisler - Keenen Sechser in der Tasche - Songs und Balladen für Singstimme und KlavierIn gewohnt sorgfältiger Noten-Typographie versammelt der neue, insgesamt 20 Lieder beinhaltende Auswahlband neben Eisler-Klassikern auch sieben Erstdrucke.
Alle Stücke entstammen den späteren 20er- und frühen 30er-Jahren vorigen Jahrhunderts und erweitern wertvoll das bislang verfügbare Lied-Notenmaterial dieses innovativen und politisch engagierten Schönberg-Schülers und Brecht-Gefährten. ♦

Hanns Eisler: Keenen Sechser in der Tasche – Songs und Balladen für Singstimme und Klavier, Breitkopf & Härtel Musikverlag, 64 Seiten, ISMN 979-0-2004-9116-6

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musik auch über
Anke Grutschus: Strategien der Musikbeschreibung


Frank Brady: Endspiel – Bobby Fischer

Frank Brady - Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby FischerFrank Brady begleitete das Jahrhundert-Schachgenie Bobby Fischer als engster Freund von Kindsbeinen an, und viele der in seiner eben erschienenen Fischer-Biographie „Endspiel“ geschilderten Ereignisse habe der Autor „mit eigenen Augen“ miterlebt. Brady sah bisher nicht ausgewertete Dokumente und Briefe durch, führte hunderte von Interviews mit Fischer-Bekannten, öffnete sein eigenes privates Familien- und Fotoarchiv, recherchierte gar in kürzlich freigegebenen FBI- und KGB-Akten.
Bradys eindrückliches Buch beleuchtet eine der facettenreichsten und widersprüchlichsten Persönlichkeiten der amerikanischen Kultur-Geschichte, und mit zahllosen Detailinformationen wird der Frage nachgegangen, warum aus diesem Genie mit einem geschätzten IQ von 180 zuerst der (im Westen) umjubelte Superstar wurde, aber dann, politisch in vielen Ländern gejagt, als paranoider Judenhasser endete und ganz zuletzt bitter vereinsamt und krank starb, um „fern seiner Heimat in der windgepeitschten Landschaft Islands beerdigt zu werden“. ♦

Frank Brady: Endspiel – Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer, Biographie, 400 Seiten, Riva Verlag, ISBN 978-3-86883-199-3

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach auch den Report:
Die grosse Umfrage zum modernen Computerschach


Satire und Komische Kunst im Bananenblatt 8

Bananenblatt - Satire und Komische Kunst - Euro 2012 - Österreich im HeimspielDas Wiener Sommer-„Bananenblatt“ 2012 erscheint als bisher achte Nummer dieser Humor-Illustrierten für „Satire und Komische Kunst“. Thematischer Schwerpunkt des Heftes ist (natürlich) die „Euro 2012“ und deren Helden wie Stätten. Daneben liest der/die Freund/in gepflegten Unsinns und geistreichen Nonsens‘ über mysteriöse „X-Factor-Drehbücher“, den „Apotheken-Gourmet“, „Köhlers Schwein“, über den „Herr des Tanzes“ oder über „Menschen wie Vogelkinder“ und sehr viel weiteren „Unfug“ und „Nonsens“.
Das Heft kommt graphisch-farbig aufgepeppt daher, garniert mit zahlreichen Cartoons und Karikaturen. Amüsant-witzige Sommerlektüre – auch für Regentage. ♦

Komische Künste Verlagsgesellschaft Wien: Bananenblatt – Satire und Komische Kunst, No. 8 / Sommer 2012, 32 Seiten, ISSN 2224-8749

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Österreichische Literatur auch:
Die Literaturzeitschrift Sterz ist 100 Nummern alt

Interessante Buch- und CD-Neuheiten – kurz belichtet

Drei bemerkenswerte Musik-Novitäten

von Walter Eigenmann

„Die Ärzte“: Die beste Band der Welt

Das 7. Sonderheft des „Rock Classics“ Magazins aus dem Wiener Media-Haus Slam widmet sich ausschliesslich und umfangreich der 30-jährigen deutschen Punk-Rock-Gruppe „Die Ärzte“. Das kommerziell nach wie vor erfolgreiche „Ärzte“-Trio Farin Urlaub, Bela B. und Rodrigo González gibt dabei in verschiedenen längeren Interviews Interna und Trivia preis zu seiner Gründungszeit vor 30 Jahren, zu seiner Besetzungsgeschichte, zum menschlichen und musikalischen Umfeld der Gruppe und zu geplanten Zukunftsprojekten.

"Die Ärzte" - Die beste Band der Welt - Sonderheft
„Die Ärzte“ – Die beste Band der Welt – Sonderheft

Das Heft, inhaltlich informativ und layouterisch gelungen, enthält nicht nur zahllose Infos und Foto-Reports, sondern wird garniert mit der CD „No Fun!“, die eine Fülle an klassischen Songs der deutschen Punk- und New-Wave-Szene bietet. Der Band gestattet einen attraktiven Überblick auf die Geschichte einer Band, die sich immerhin dank ständigen Wandels und Anpassens 30 Jahre lang in die Charts spielen konnte. „Die Ärzte“ gehören zweifellos zu den innovativeren Gruppen der jüngeren Popgeschichte. ♦

Slam Media: Magazin Rock Classics / Sonderheft Nr.7 – Die Ärzte, 132 Seiten, mit Audio-CD

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Popgeschichte auch über
Gebhardt & Stark: Wem gehört die Popgeschichte?


Franz Hummel: Sinfonien „Hatikva“ und „Fukushima“

Franz Hummel: Sinfonien „Hatikva“ und „Fukushima“

Das erklärte Anliegen des frisch gegründeten Audio-Labels TYXart ist es, „die emotionalen, geistigen und intellektuellen Anforderungen von Musikliebhabern mit hochwertigen künstlerischen Produkten zu bedienen“ – fürwahr keine bescheidene Vorgabe, zumal in heutigen Zeiten des kommerziell maximierenden Mainstream-Betriebes.
Doch die Konzeption scheint umgesetzt zu werden – zumindest nach den drei Start-Projekten des neuen CD-Labels zu urteilen. Neben einer bemerkenswerten Klassiker-Einspielung des 15-jährigen Klavier- und Kompositions-„Wunderkindes“ Yojo Christen sowie den „Kollektiven Kompositionen“ des Klavier-Trios „Zero“ sind die beiden Sinfonien „Hatikva“ (für Klarinette und Orchester) und „Fukushima“ (für Violine und Orchester) des deutschen Komponisten und Pianisten Franz Hummel hervorzuheben. Ersterer liegt thematisch die gleichnamige israelische Hymne zugrunde, wobei „die leidvollen Erfahrungen des israelischen Volkes“ durch die „Überhöhung von Freud und Leid, Aufschrei und Tragödie“ verarbeitet werden, während „Fukushima“ ursprünglich unter dem Eindruck der atomaren Zertörung von Hiroshima entstanden sei (so der Komponist im gut dokumentierenden Booklet), jetzt aber dem Gedenken der letztjährigen Atom-Opfer Japans verpflichtet ist. Der Komponist über seine „Katastrophen-Sinfonie“: „Es bleibt zu hoffen, dass die ungeheure Tragik von Fukushima ein weltweites Umdenken im Umgang mit den Naturgewalten bewirkt“. ♦

Franz Hummel: „Hatikva“ für Klarinette&Orchester (Giora Feidman) / „Fukushima“ für Violine&Orchester (Elena Denisova), Sinfonie-Orchester Moskau (Alexei Kornienko), Label TYXart, Audio-CD: 54 Minuten

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Klarinettenmusik auch über
Carl Philipp Stamitz: Klarinetten-Quartette


„stimmband“: Lieder und Songs

"Stimmband" - Lieder und Songs - Reclam & Carus Verlag
„Stimmband“ – Lieder und Songs – Reclam & Carus Verlag

Noch ein Büchlein mehr mit „Liedern und Songs“ zum „fröhlichen Singen und Beisammensein“ – nach so vielen Jahrzehnten der pausenlosen Produktion unzähliger derartiger „lustiger Liederbüchlein“?
Ja. Denn diese Zusammenstellung, knapp und knackig „stimmband“ genannt, ist von ganz anderer, ja besonderer Qualität. Denn von der landläufigen Dutzendware ähnlicher Text- und Melodien-„Reigen“ unterscheidet diese üppige Zusammenstellung aus den Häusern Reclam und Carus eine Menge. Beispielsweise die enorme stilistische und inhaltliche Spannbreite, oder die geschmacklich feine Selektion der Melodien und (Lied-)Texte, oder die Sorgfalt bei Layout und Notengrafik, oder die musikalisch sinnvollen Ergänzungen bezüglich Akkordangaben und Tonart-Wahl, oder die stabile buchtechnische Verarbeitung sowie die Handlichkeit des Formats.
Der Band versammelt, jeweils melodisch einstimmig notiert und mit allen Strophen versehen, das altehrwürdige Volkslied ebenso wie den Jürgens-Schlager, das fremdsprachige Abendlied wie die Brecht-Moritat, den Polit-Song wie den Musical-Hit. Die inhaltlichen Themenkreise sind dabei Liebe & Freundschaft, Reise & Natur, Sehnsucht & Freiheit, Glaube & Friede, Jahr & Tag, Spass & Tanz. Eine Gitarren-Grifftabelle sowie ein Titel-Register runden diese Komposition ab.
Die Herausgeber möchten „der Magie des Singens einen Raum geben“ – das ist vollumfänglich gelungen. ♦

K. Brecht & K. Weigele: stimmband – Lieder und Songs, 256 Seiten, Verlage Reclam und Carus, ISBN 978-3-15-018983-2

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Liederbuch auch über
Singet, klinget! – Geselliges Liederbuch für Gemischten Chor

Interessante Buch- und CD-Neuheiten – kurz belichtet

Buch- und CD-Neuheiten – kurz vorgestellt

von Walter Eigenmann

Pindakaas-Saxophon-Quartett: Voyage (CD)

Das Münsterer Saxophon-Quartett Pindakaas mit Marcin Langer (Sopransaxophon), Guido Grospietsch (Altsaxophon), Anja Heix (Tenorsaxophon) und Matthias Schröder (Baritonsaxophon) legt neu die – bereits 1996 in der Kirche Oberberg/D aufgenommene – CD „Voyage“ auf. Mit total 21 Titeln aus dem anonymen Spätmittelalter über Schönberg-Liedern bis hin zur Jazz-Moderne eines Chick Corea durchschreiten dabei die vier Bläser einen ebenso fulminanten wie interessanten Stile-Parcours.

Pindakaas Saxophon Quartett - Voyage - Bach, Gabrieli, Albeniz, Satie, Kabalewsky, Schönberg, WeillWer nicht nur kammermusikalisch niveauvolles Zusammenspiel, sondern auch Ausdrucksvielfalt und Variabilität des relativ neuen Instrumentes Saxophon eindrücklich dokumentiert haben möchte, wird sich diese Jahrhunderte-Reise der vier „Pindakaas“-Künstler in den Platten-Schrank stellen. ♦

Pindakaas-Saxophon-Quartett: Voyage, Werke von Bach, Gabrieli, Albeniz, Satie, Schönberg u.a., Audio-CD, Spieldauer 56:37, CPO/ClassicClips

Lesen Sie im Glarean Magazin über das Pindakaas-Saxophon-Quartett auch:
Ballads of Good Life (CD)


Klaus Martens: Abwehrzauber – Gedichte

Klaus Martens (geb. 1944), emerierter Literatur-Professor und langjährig in der universitären Forschung als Übersetzer tätig, schreibt seit bereits Jahrzehnten und produktiv auch Lyrik. Nach seinen diesbezüglich beiden letzten Büchern „Das wunderbare Draussen“ und „Alte Knochen“ publiziert er nun seinen 160 Seiten starken Gedichte-Band „Abwehrzauber“.

Klaus Martens - Abwehrzauber - GedichteDie Sammlung vereinigt ausschliesslich jüngste Poesien des Autors aus den letzten drei Jahren. In der „Einführung und Danksagung“ des Dichters zu seinen Gedichten heisst es: „Sie greifen auf, entwickeln und reflektieren einige Gedanken und Emotionen, Erfahrungen und Erlebnisse, privat und öffentlich, zuhause und im Ausland aus mehr als vier Jahrzehnten“. – (Klaus Martens ist im Glarean Magazin auch als Autor in Erscheinung getreten). ♦

Klaus Martens: Abwehrzauber, Gedichte, 160 Seiten, Conte Verlag, ISBN 978-3-941657-71-7

Lesen Sie im Glarean Magazin auch von
Klaus Martens: Zwei Herbst-Gedichte


Christian Elin (Saxophon): Back to yourself (CD)

Mit Graham Fitkin, Minas Borbodakis, Marc Mellits, Stefan Nerf, Lepo Sumera, Peter Michael Hamel, Enott Schneider, Christian Elin und Manfred Stahnke vereint die neue CD „back to yourself“ des Augsburger Konzert-Saxophonisten Christian Elin (vormals Christian Dellinger) eine Reihe interessanter Komponisten der aktuellsten Jazz-Moderne.

Christian Elin - Anna D'Errico - Back to Yourself (Saxophon Music)
Anzeige AMAZON

Die stilistische Paletette der neuen Saxophon-CD Elins mit u.a. der Pianistin Anna D’Errico reicht von der Asiatischen Musik über den Jazz, die Film-Musik und die Minimal Music bis zurück ins Spätmittelalter. Herausgeber Elin: „Ein weiteres Charakteristikum dieser CD ist, dass mehrere Komponisten die Improvisation als wesentliches Moment in ihre Werke integrieren und damit Freiräume für die ausübenden Musiker schaffen.“ ♦

Christian Elin, Anna D’errico, Sebastian Hausl, Bastian Jütte, Wolfram Oettl: „back to yourself“, Saxophon-Audio-CD, Spieldauer 74:02, Label Raccanto

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Musik für Saxophon“ auch über
Sax Allemande: Ein Kagel-Schubert-Projekt (CD)

Franz Schreker: Das Weib des Intaphernes (CD)

„Ich bin (leider) Erotomane“

von Wolfgang-Armin Rittmeier.

Mit einem Augenzwinkern ist diese Selbsteinschätzung des Komponisten Franz Schreker zu verstehen. Schliesslich entstammt sie seiner satirischen Selbstcharakteristik, die im April 1921 in den Wiener „Musikblättern des Anbruch“ publiziert wurde. Schreker montierte sie aus Kritiken, die bis dato zu seinen Werken erschienen waren, und ihm als Komponisten und Menschen sowie seinem Werk quasi alle denkbaren und sich bisweilen völlig widersprechenden Eigenschaften zusprachen, so dass der kleine Text in der verzweifelten Frage gipfelt: „Wer aber – um Himmels Willen – bin ich nicht?“

Franz Schreker - Das Weib des Intaphernes - CapriccioWer Franz Schreker war, das ist auch heute noch fast ein Geheimnis, seine Musik bleibt ein Geheimtipp. Bereits 1947, also nur 13 Jahre nach Schrekers Tod, konnte Joachim Beck, der in den späten zwanziger Jahren mehrfach in Kurt Tucholskys „Weltbühne“ über den Komponisten geschrieben hatte, in der „Zeit“ einen Artikel veröffentlichen, der den bezeichnenden Titel trägt: „Franz Schreker, ein Vergessener“.

Vom „Messias des neuen Musikdramas“ zum verfemten „undeutschen“ Juden

Franz Schreker (1878-1934)
Franz Schreker (1878-1934)

Wie konnte es dazu kommen? Schliesslich war Schreker zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts als der führende deutsche Opernkomponist, ja als Messias des neuen Musikdramas gefeiert worden. Nun – Franz Schreker war Jude. Und als solcher gehörte er zu jenen Künstlern, die im nationalsozialistischen Deutschland zunächst beschimpft, verfemt und schliesslich von der gleichgeschalteten Musikwissenschaft als „undeutsch“ aus der Historie getilgt werden sollten. So liest man beispielsweise in der „Geschichte der Deutschen Musik“ des strammen Nationalsozialisten Otto Schumann (der nach Ende des Krieges einfach Fäden aufhob und munter weiter publizierte) zu Schreker: „Wie wahl- und sinnlos das Judentum in der Verhimmelung seiner Gesinnungsgenossen vorgegangen ist, zeigt das Beispiel von Franz Schreker. Obwohl in seinen orchestralen Farbmischungen, seiner verstiegenen Theatralik und schmeichelnden Gehaltlosigkeit der vollendete Gegensatz zu Schönberg, wurde er ‚in Fachkreisen‘ als ein Gott der Musik gepriesen. Dabei erklärt sich dieser jüdische Fachgeschmack ganz einfach daraus, dass Schreker in seinen Dirnen- und Zuhälteropern die Verzückungen käuflicher Sinnlichkeit mit allen Mitteln des modernen ‚Musikdramas‘ feierte.“ Fortan war Schreker aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, zumal er 1934 – wohl in Folge der nationalsozialistischen Hetze – einen Herzinfarkt und einen Schlaganfall erlitt und verstarb. Anders also als im Falle manch eines anderen Komponisten gab es keine Fortsetzung des kompositorischen Schaffens im Verlauf des Dritten Reiches und nach Ende des Weltkrieges, die ihn im Bewusstsein der Musikinteressierten hätte halten können.

Schreker-Renaissance nicht in Sicht

Schrekers Œuvre versank in einem Dornröschenschlaf, in dem es sich seither – man muss es trotz der zunehmenden Versuche, seine Opern auf deutsche Bühnen zu bringen (wie in jüngerer Zeit beispielsweise am Bonner Theater) und Einspielungen seiner Werke vorzunehmen, sagen – immer noch befindet.

„Verschollene Übungssinfonie des jungen Brahms?“: Beginn der Kammersinfonie

Bei genauem Hinsehen sind aber auch die Einspielungen seines Werkes – mit einigen Ausnahmen – nicht wirklich aktuell, sodass sich auch hier nicht die  Tendenz zu einer angemessenen Schreker-Renaissance zeigt. Man muss dankbar für das sein, was überhaupt vorliegt. Auch die von Cappriccio jüngst herausgegebene 3 CD-Box bringt nicht wirklich etwas Neues, sondern fasst Aufnahmen des Labels zusammen, die alle schon vor geraumer Zeit in Einzelaufnahmen erschienen sind. Interessanterweise steht im Zentrum dieser Aufnahmen der „unbekannte Schreker“, was der Box wiederum einen speziell exotischen Charakter verleiht. Unbekannte Werke eines mehr oder minder unbekannten Komponisten vorzulegen scheint auf den ersten Blick so mutig, dass man wohl gewiss sein darf, dass es sich um ein Panoptikum kompositorischer Gemmen handeln muss. Das ist streckenweise tatsächlich auch der Fall. Ausgesprochen faszinierend ist beispielsweise die Einspielung des Melodrams „Das Weib des Intaphernes“. Sicher, die Textvorlage des Vielschreibers Eduard Stucken (der – welch eine Ironie des Schicksals! – im übrigen ein regimetreuer Nationalsozialist und Unterzeichner des „Gelöbnisses treuester Gefolgschaft“ war), ist literarisch mässig. Dafür ist sie ausserordentlich farbig und gibt dem bestens aufgelegten Sprecher Gert Westphal reichlich Gelegenheit zu glänzen.

Ein Mann der Oper

Schreker-Grab im Berliner Waldfriedhof Dahlem
Schreker-Grab im Berliner Waldfriedhof Dahlem

Die den Text psychologisch auslotende Musik Schrekers weist diesen als das aus, was er im Grunde ist: ein Mann der Oper. Das 20 Minuten währende Werk, das eine Geschichte von Bosheit, verderbter Lust, Verzweiflung und Rache erzählt, erinnert in seiner dunklen musikalischen Schwüle nicht selten an Richard Strauss‘ „Salomé“, und das WDR-Rundfunkorchester unter der Leitung von Peter Gülke schafft es ohne entscheidende Abstriche, die irisierende Klangwelt Schrekers sinnlich zum Leben zu erwecken.
Gleiches gilt für Schrekers schon fast monumentale Vertonung des 116. Psalms, der durch Gülke, das WDR-Orchester sowie den WDR-Rundfunkchor Köln mustergültig dargestellt wird. Wenig reizvoll ist Schrekers op. 1 – nicht so sehr aufgrund der Aufnahme, sondern als Werk. Hier hört man noch sehr viel Epigonales, bisweilen hat man das Gefühl, eine verschollene Übungssymphonie des jungen Brahms zu hören.

Franz Schreker als Textdichter

Die zweite CD, die ebenfalls WDR-Aufnahmen Gülkes umfasst, widmet sich dem Liedkomponisten, Dichter und Arrangeur Schreker. Hier nun kann man bei allem Wohlwollen gegenüber Schreker nicht umhin, mehr Schwächen als Stärken erkennen zu müssen. Der Textdichter Schreker ist wenig innovativ und gänzlich in seiner Zeit verhaftet. Texte wie „Immer hatt‘ ich noch Glück im Leben“ oder „Wollte ich hadern mit Glück und Schicksal“ sind nachgerade peinlich. Da ändert auch die Rezitation der Texte durch Westphal nichts. Die vorgestellten Orchesterlieder teilen diese Schwäche. Auch dass Mechthild Georgs schwerer Mezzo klanglich nicht überzeugen will und ihre Diktion oft mehr als mässig ist, hilft nicht weiter.

Bild: Fazit der Rezension
Die vom CD-Label Capriccio herausgegebene Box mit Werken Schrekers verdeutlicht sowohl die Stärken des absolut zu unrecht vergessenen Komponisten als auch seine Schwächen. Insgesamt eine verdienstvolle, auch qualitätsvoll eingespielte Zusammenfassung, die Lust auf das weitere Œuvre Schrekers macht.

Die dritte CD bringt schliesslich Schreker-Bearbeitungen für Klavier, die sein Schüler Ignaz Stasvogel vorgenommen hat. Pianist Kolja Lessing interpretiert die ausgesprochen gut bearbeiteten Stücke klangschön, durchsichtig und ohne jegliche Sentimentalität, die sich in der kleinen Suite „Der Geburtstag der Infantin“ schnell einschleichen und den reizvollen Miniaturen den Charakter von „Salonmusik“ verleihen könnte. Dabei ist Lessings Spiel keinesfalls nüchtern, sondern durchwegs engagiert. Höhepunkt dieser CD ist Stasvogels Bearbeitung von Schrekers „Kammersymphonie“, die nicht nur Lessings stilsichere Herangehensweise unterstreicht, sondern auch Stasvogels Fähigkeit, die klangliche Vielfalt der Schrekerschen Orchestrationskunst kongenial auf das Klavier zu übertragen. ♦

Franz Schreker: Das Weib des Intaphernes – Psalm 116 – Kammersinfonie – Lieder, Mechthild Georg, Gerd Westphal, WDR-Rundfunkchor und -orchester, Peter Gülke, Kolja Lessing, Capriccio, 3 Audio CD

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Modernes deutsches Musik-Theater“ auch über
Bernd Zimmermann: Die Soldaten

… und zum Thema Neue Musik auch über die CD von
Lowell Liebermann: Little Heaven

ausserdem in der Rubrik „Heute vor … Jahren“ über die Oper von
Daniel Auber: Die Stumme von Portici

Interessante Buch-Neuheiten – kurz belichtet

Zwei bemerkenswerte Novitäten

von Walter Eigenmann

Über Geld schreibt man doch!

In einem Projekt des Deutschschweizer PEN-Zentrums sind 25 Schweizerinnen und Schweizer eingeladen worden, sich Gedanken über etwas zu machen, worüber man (auch und gerade in der Schweiz) ungern spricht: das Geld. Aus dieser Einladung ist die Anthologie „Über Geld schreibt man doch!“ hervorgegangen, in der die beiden Herausgeber Thomas Brändle und Dominik Riedo sehr heterogene Ein- und Aussichten, Analysen, Humoresken, Visionen und Perspektiven von Franz Hohler, Isolde Schaad, Gisela Widmer, Silvano Cerutti, Linus Reichlin, Andreas Thiel u.v.a. versammeln.

Dominik Riedo & Thomas Brändle: Über Geld schreibt man doch! - Anthologie, Zytglogge VerlagDie Texte beleuchten die Frage, was es mit dem Geld „eigentlich“ auf sich hat, und spüren nach, welche Wirkungen es entfaltet: „Wieso kann der menschliche Geist es nicht zähmen?“
Fazit: Eine Textsammlung voller Tabu-Brüche und Provokationen, aber auch eine des geistreichen Lesevergnügens und der „geldpsychologischen“ Horizonterweiterung.  ♦

Thomas Brändle/Dominik Riedo (Hg.): Über Geld schreibt man doch, Anthologie, mit Fotos von Werner Morelli, 272 Seiten, Zytglogge Verlag, ISBN 978-3-7296-0832-0

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über den Schweizer Krimi von
Thomas Brändle: Das Geheimnis von Montreux

… sowie zum Thema Buch & Geld auch den Offenen Brief des
Projekte Verlag Cornelius: „Schluss mit der Intoleranz!“


Strategien der Musikbeschreibung

Strategien der Musikbeschreibung - Eine diachrone Analyse französischer Toneigenschaftsbezeichnungen - Anke GrutschusDie deutsche Sprachforscherin Anke Grutschus legt in ihrem Band „Strategien der Musikbeschreibung“ eine Reihe von Analysen französischer Toneigenschaftsbezeichnungen vor und bearbeitet damit einen Themenkomplex, der sich seit langem besonderer Beliebtheit erfreut, nämlich „Musik und Sprache“. Deutlich wird dabei, dass Wendepunkte in der Diskussion um den Sprachcharakter von Musik „immer auch entscheidende Wegmarken in der Musikästhetik der vergangenen Jahrhunderte“ bildeten. Ausgehend von der Schwierigkeit des sprachlichen Beschreibens musikalischer Höreindrücke bzw. kompositorischer Zusammenhänge untersucht die Autorin konzeptuelle und sprachliche Strategien, dieser Schwierigkeit zu begegnen. Ziel ihrer Analysen ist nicht zuletzt die Offenlegung der semantischen Übertragungsprozesse, die der Verwendung bestimmter Begriffe bzw. Adjektive zur Beschreibung von Musik zugrunde liegen.
Fazit: Der Erkenntnis, dass die Beschreibung von Musik mit den zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln problematisch ist, begegnet die Autorin mit einem eindrücklich dokumentierten, musiktheoretisch differenziert recherchierten Begriffsapparat und einer historisch weit ausgreifenden Tour d’horizont durch Jahrhunderte des musikanalytischen bzw. -terminologischen Schrifttums. ♦

Anke Grutschus: Strategien der Musikbeschreibung, Eine diachrone Analyse französischer Toneigenschaftsbezeichnungen, 392 Seiten, Frank&Timme Verlag, ISBN 978-86596-241-6

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Musik und Sprache“ auch das Zitat der Woche von
Kurt Blaukopf: Über das Niederschreiben von Musik
… sowie zum Thema Musikanalyse auch über
Christoph Wünsch: Satztechniken im 20. Jahrhundert

Steve Reich: WTC 9/11 – Kronos Quartett (CD)

„One of the towers just in flames“

von Wolfgang-Armin Rittmeier

Das Attentat auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 war die Initialkatastrophe des neuen Jahrtausends. Es ist kaum möglich, die Bilder der beiden brennenden und zerstörten Türme aus dem Gedächtnis zu verbannen, die Bilder der Männer und Frauen, die Hand in Hand aus den brennenden Gebäuden sprangen, der Feuerwehrleute, die staubbedeckt bis zur Erschöpfung nach Überlebenden suchten. Kann man dem mit einem Kunstwerk, einem Stück Musik begegnen?

Steve Reich - WTC 9/11 - Kronos QuartettDer amerikanische Komponist Steve Reich hat es versucht – und es ist ein kurzes, aber höchst intensives Werk dabei herausgekommen, das „WTC 9/11“ heisst und nun beim Label Nonesuch auf CD erschienen ist. Bei dem Werk handelt es sich um eine Auftragsarbeit für das Kronos-Quartet, das auch die Einspielung übernommen hat. „WTC 9/11“ ist ein Opus für drei Streichquartette, von denen zwei im Vorfeld aufgezeichnet wurden und eines live spielt. Hinzu treten im Vorfeld aufgezeichnete Stimmen. Das Werk ist kurz, knapp 16 Minuten dauernd.

Tonaufzeichnungen aus Gesprächen mit Augenzeugen

Die Sätze haben unterschiedliche Bezüge zum Anschlag. So bringt der erste Satz („9/11“) Tonaufzeichnungen des NORAD (North American Aerospace Defense Command) und des FDNY (New York Fire Department), die während des Attentats mitgeschnitten wurden. Der zweite Satz („2010“) bringt Tonaufzeichnungen aus Gesprächen mit Augenzeugen, die sich im Jahre 2010 an die Katastrophe erinnern. Der dritte („WTC“) kombiniert Erinnerungen von jüdischen Frauen, die monatelang im Medical Examiner’s Office in New York sassen, um dort – der jüdischen Tradition folgend – während der Shmira Psalmen und Passagen aus der Bibel zu sprechen, mit Gesängen eines Kantors aus einer der grossen Synagogen New Yorks.

Komponist Steve Reich - Glarean Magazin
Komponist Steve Reich

Die Musik selbst nutzt durchweg erkennbare Stilmittel. So verlängert Reich die Vokale des gesprochenen Textes, was einen gewissen Verfremdungseffekt hat, eines der Quartette spielt ununterbrochen Tonwiederholungen, die wie ein ständiges Warnsignal die ersten beiden Sätze durchziehen. Eines der anderen Quartette orientiert sich an der Sprachmelodie der aufgezeichneten Stimmen, stützt diese und zieht Material daraus. Das ist sehr intensive Musik, die die Anspannung und die Angst derjenigen Menschen, deren Stimmen der Hörer begegnet, eindringlich transportiert.

Das Geschehen musikalisch aktualisiert

Der zweite Satz beginnt zunächst mit Stimmen vor einem rauschend-brummenden Cluster, bevor die Tonwiederholungen wieder einsetzen, und zwar gerade in jenem Moment, da bei den sprechenden Personen die übermächtige Erinnerung an die Ereignisse wieder einsetzt („the first plane went straight into the building“). Das ist schon eindruckvoll, wie Reich durch die stilistischen Verbindungen des ersten und zweiten Satzes zeigt, wie der Moment des Erinnerns das Geschehen in seiner gänzlichen Gefühlsintensität augenblicklich aktualisiert. Bei Reich – das wird ganz deutlich – ist auch im Jahre 2010 immer noch 9/11.
Erst im letzten Satz wandelt sich das musikalische Geschehen. Die nervösen Tonwiederholungen enden und das Werk nimmt den Charakter eines altertümlichen Klageliedes an, in das sich die biblischen Gesänge des Kantors wie von selbst hineinfinden: „Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!“, und: „Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und bringe dich an den Ort, den ich bereitet habe.“

WTC = World To Come

WTC – das bedeutet für Reich auch „World To Come“, und so scheint der Satz und mit ihm das Werk zunächst noch einen tröstlichen Ausgang zu finden. Und doch: die letzten Minuten gehören einem Sprecher, der auf etwas anders hinweist: „The world to come, I don’t really know what that means, and there’s the world right here.“ In dieser Montage zeigt sich nicht nur die Unbegreiflichkeit der „world to come“, deren Tröstlichkeit nicht mehr unbedingt für jeden valide ist, sondern auch die Tatsache, dass wir täglich mit den Geschehnissen der „world right here“, mit Ereignissen wie dem Anschlag vom 11. September konfrontiert werden und in dieser gegenwärtigen Welt mit der Gefahr solcher Katastrophen weiterleben müssen. Konsequenterweise kehrt Reich dann auch musikalisch zum Anfang des Werkes zurück und lässt in den letzten Sekunden erneut den Warnton erklingen – leiser ist er wohl, aber er ist immer noch da.

Steve Reichs kompositorische Auseinandersetzung mit den New Yorker Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist durchweg gelungen: „WTC 9/11“ ist ein höchst intensives Musikstück, das gedanklich wie musikalisch dicht ist und die Intensität der Ereignisse für die Augenzeugen ausgesprochen plastisch präsentiert. Lediglich die Kopplung mit den „Dance Patterns“ und dem „Mallett Quartet“ wirkt unangemessen.

Wenig passend hingegen scheint mit die Kombination dieses durchweg aussergewöhnlichen Werkes mit dem „Mallet Quartet“ (2009) für Vibraphone und Marimbas, glänzend gespielt vom Ensemble Sō Percussion, und dem kurzen Stück „Dance Patterns“ aus dem Jahre 2002. Nichts gegen die Stücke an sich: das ist sehr rhythmusbetonte, gut klingende, schnelle, spielerische, nicht selten jazzige Musik, die fraglos ins Ohr geht. Was sie hier aber soll, wird nicht deutlich. Nach der Intensität von „WTC 9/11“ ist diese Musik an dieser Stelle überflüssig; man hat den Eindruck, die CD sei einfach noch auf eine Gesamtspielzeit von ohnehin schmalen 36 Minuten gestreckt worden. Dabei hätten die rund 16 Minuten Spielzeit des „WTC 9/11“ vollkommen gereicht… ♦

Steve Reich, WTC 9/11 – Kronos Quartet, Audio CD, Nonesuch 2011

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Musik und Gesellschaft“ auch über das
Musik-Symposium in Oldenburg 2008: Böse.Macht.Musik“

… sowie zum Thema Quartett-Musik über das
Corazón-Quartett: Wasser, Licht & Zeit (CD)

Alan Hovhaness: Exile-Symphony (CD)

„Ich komponiere, weil ich komponieren muss“

von Wolfgang-Armin Rittmeier

„Ich kann diese billige Ghetto-Musik nicht hören“. Das ist starker Tobak und nichts Geringeres als eine wahrlich vernichtende Kritik, zumal sie nicht von irgend jemandem stammt, sondern von Leonard Bernstein. Ziel des Spottes war die erste Symphonie des Tanglewood-Stipendiaten Alan Hovhaness, der 1911 als Alan Vaness Chakmakjian geboren wurde. Doch Bernstein war nicht der einzige Komponist in Tanglewood, der nichts mit der Musik des jungen Amerikaners armenisch-schottischer Herkunft anfangen konnte. Auch Aaron Copland lehnte seine Musik strikt ab. Gleiches gilt für Vigil Thomson.

Ablehnung durch die arrivierte amerikanische Musikwelt

Alan Hovhaness, Exile-Symphony - Boston Modern Orchestra ProjectDie Ablehnung dreier einflussreicher Männer der amerikanischen Musikwelt mag ein Grund dafür sein, dass Hovhaness‘ Musik auch in Europa so gut wie unbekannt geblieben und so gut wie nie im Konzertsaal zu erleben ist. Ein anderes Moment, das dazu geführt hat, in den Kreisen der europäischen E-Musik peinlich berührt und mit einem Anflug an Schamesröte standhaft an Hovhaness vorbeizublicken, ist die schlecht zu leugnende Tatsache, dass seine musikalische Sprache schnell so klingen kann wie esoterisch angehauchte, an asiatischen Klängen orientierte Entspannungsmusik. Räucherstäbchen, Mantras, „Om“ und Hovhaness als stimmungsvoller Soundtrack. Derlei kann man sich, beschäftigt man sich nicht weiter mit Philosophie und Œuvre des Komponisten, schon schnell als Meinung und endgültiges Urteil zurechtlegen. Spätestens jedoch, wenn der Hörer dann noch über eines der populärsten Werke des Komponisten stolpert, das pünktlich zu Beginn der Heydays der New-Age-Bewegung in den USA im Jahre 1970 erschien und den verdächtigen Titel „And God Created Great Whales“ trägt, ist das letzte Quentchen Offenheit gegenüber Hovhaness dahin. Denn wenn einer hingeht und auf Tonband gebannte Walgesänge in einer klasssichen Komposition unterbringt, so kann man doch wohl kaum noch von einer ernstzunehmenden Komposition eines ernstzunehmenden Komponisten reden, oder?

Spirituelle Erneuerung durch die Kunst

Doch, man kann. Denn wendet man sich weg vom allzu einfachen Esoterik-Vorwurf, so kann man in Hovhaness Kompositionen, die in ihrer Art vollkommen individuell sind, einen Kontrapunkt zu der akademisch arrivierten Musik seiner Zeit (Copland, Bernstein) erkennen. Denn brachte Amerika auf der einen Seite den Intellekt fokussierende seriell orientierte Komponisten hervor, so gab es mit Hovhaness auf der anderen Seite einen naturverbunden Mystizismus, der aus der Überzeugung des Komponisten hervorging, dass die technisierte Gegenwart die Seele des Menschen zerstört habe und der Künstler dabei helfen müsse, die Menschheit spirituell zu erneuern.

Komponist Alan Hovhaness (Glarean Magazin)
Komponist Alan Hovhaness

Das erkannten dann schliesslich auch eine Reihe anderer Künstler wie beispielsweise John Cage, Martha Graham, Leopold Stokowski und Fritz Reiner, die Hovhaness unterstützten. Dieses Jahr wäre er, der schliesslich doch zu einem der grossen alten Männer der ameriakanischen Musikszene aufstieg, einhundert Jahre alt geworden. Europa hat davon kaum Notiz genommen und auch der CD-Markt hat nicht allzuviel zu diesem Ereignis produziert.
Eine löbliche Ausnahme ist eine Produktion des Labels BMOP Sound, dem Hauslabel des „Boston Modern Orchestra Project“, einem der führenden amerikanischen Orchester im Sektor der neuen Musik. Gründer und Dirigent Gil Rose hat sich zum Hovhaness-Jahr nicht lumpen lassen und eine Reihe von Werken des Komponisten auf einer CD neu eingespielt, die vorwiegend aus dessen früher Phase stammen. Das früheste ist der 1933 entstandene „Song of the Sea“, und man darf glücklich darüber sein, dass dieses zweiteilige Stück für Klavier und Streichorchester nicht jener grossen Vernichtung von Frühwerken anheim gefallen ist, die Hovhaness zwischen 1930 und 1940 durchgeführt hat. Es präsentiert einen Komponisten mit Sinn für grosse, unmittelbar verständliche melodische Bögen und sinnliche Klangfarben, einen Nachfolger Sibelius‘ und Verwandten Vaughan Williams – einen späten Spätestromatiker also.

Die „Exile“-Symphonie

Dieser kaum sechs Minuten währenden Miniatur mit dem herrlich aufspielenden BMPO unter Rose und einem höchst delikat gestaltenden John McDonald am Klavier folgt die 1936 entstandene erste Symphonie, die den Beinamen „Exile“ führt. Das 1939 in England vom BBC Orchestra unter der Leitung von Leslie Heward uraufgeführte Werk gedenkt des Völkermorders an den Armeniern im Umkreis der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Höchst eindrucksvoll erhebt sich im ersten Satz (Andante espressivo – Allegro) über einer Ostinato-Figur eine orientalisch angehauchte klagende Klarinettenmeldie, die weiter durch die einzelnen Holzbläsergruppen wandert, wobei sie immer wieder einmal durch „heroische“ Fanfaren unterbrochen wird. Plötzlich brechen nervöse Streicher in die feierliche Klage herein, die Stimmung ändert sich: kriegerische Nervosität kommt auf. Das ist wahrlich nicht schlecht gemacht, weder was Meldodieführung, Instrumentation noch was die Dramaturgie des Satzes angeht. Ganz besonders begeistert die Spielkultur des BMPO, das minutiös jenen Wunsch umsetzt, den Hohvaness einmal in einem Interview gegenüber Bruce Diffie geäussert hat: Er wolle keinen Klangbrei, sondern dass man jeden Ton der Komposition höre. Besser als hier geschehen ist, kann man das kaum realisieren.. Herrlich auch der an mittelalterliche Tanzweisen erinnernde Ton des zweiten Satzes (Grazioso), der die ruhige Stimmung des vorangegangenen Andante espressivo wieder aufgreift.
Im dritten Satz, der bisweilen als „Triumph“ bezeichnet wird, kehren die kriegerischen Fanfaren des ersten Satzes ebenso wieder, wie die nervöse Ostinato-Figur der Streicher, jetzt jedoch eingebettet in eine wiederum altertümlich anmutende Choralmelodie, die das Werk zu einem hymnischen Abschluss bringt. In einer seiner Bewerbungen für ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung schreibt Hovhaness 1941: „Ich schlage vor, einen heroischen und monumentalen Kompositionsstil zu schaffen, der einfach genug ist, um jeden Menschen zu inspirieren, frei von Modeerscheinungen, Manierismus und falscher Bildung, dafür direkt, ehrlich und immer ursprünglich, aber nie unnatürlich.“ Die „Exile Symphony“ hat dieses Programm bereits fünf Jahre zuvor umgesetzt.

Drei „Armenian Rhapsodies“

Im Hovhaness-Jahr präsentiert das Boston Modern Orchestra Project unter der Leitung von Gil Rose einen interessanten Einblick in das Frühwerk des hierzulande zu wenig bekannten Komponisten Alan Hovhaness. Neben einer eindringlichen Wiedergabe der „Exile Symphony“ und der drei „Armenian Rhapsodies“ präsentiert diese CD erstmals das hörenswerte „Concerto for Soprano Saxophone and Strings“. Ein gelungenes Plädoyer für einen nicht selten missverstandenen Komponisten.

An die armenische Thematik schliessen die 1944 entstandenen drei „Armenian Rhapsodies“ an. Das musikalische Material zu diesen kurzen Orchesterstücken stammt aus Hovhaness‘ Zeit als Organist der St. James Armenian Apostolic Church in Watertown. Tatsächlich sind die drei Rhapsodien zusammen genommen ein Panoptikum armenischer Folklore und Sakralmusik. Da hört man lebhafte Tänze, ernsten Hymnen und untröstliche Weisen, allesamt für Streicher gesetzt, wobei an Intensität besonders die tief empfundene, klagende dritte Rhapsodie hervorsticht.
Schliesslich wird die CD abgerundet durch das späte Konzert für Sopransaxophon und Streichorchester aus dem Jahre 1988, das – obgleich es ausgesprochen schön musiziert wird (hervorragend: Kenneth Radnowsky am Saxophon) – in dieser Zusammenstellung ein wenig fehl am Platze wirkt. Denn obwohl Hovhaness einmal sagte, man könne seine späten von seinen frühen Kompositionen im Grunde nicht unterscheiden, so ist das doch nicht ganz richtig, und das Konzert für Sopransaxophon ist dafür ein gutes Beispiel: Obschon Hovhaness auch hier die kompositorischen Elemente seiner Frühzeit nutzt, so tritt in der Melodik der armenische Tonfall zurück und ein sphärenhaftes Idiom, das seit der zweiten Symphony (Mysterious Mountain, 1955) Hovhaness‘ Markenzeichen geworden war, dominiert. Zudem begegnet man traditionalistischen musikalischen Konventionen. Im ersten und letzten Satz begegnen wir gar der Fuge (Hovhaness war lebenslang ein grosser Bewunderer der Bach’schen „Kunst der Fuge“), im zweiten einem entzückenden langsamen Walzer und schliesslich einem Abschnitt, der wie eine Hommage an die Wiener Klassik anmutet. Und doch: Schön ist es in jedem Fall, das Werk nun überhaupt in einer Einspielung vorliegen zu haben. ♦

Alan Hovhaness, Exile-Symphony – Boston Modern Orchestra Project, Audio-CD, BMOP/sound 2011


Wolfgang-Armin Rittmeier (Musik)

Geb. 1974 in Hildesheim/D, Studium der Germanistik und Anglistik, bis 2007 Lehrauftrag an der TU Braunschweig, langjährige Erfahrung als freier Rezensent verschiedener niedersächsischer Tageszeitungen sowie als Solist und Chorist, derzeit Angestellter in der Erwachsenenbildung – Wolfgang-Armin Rittmeier im Glarean Magazin

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Orchestermusik auch über
Léo Weiner & Franz Liszt: Orchesterwerke

Michael Dartsch: Der Cellokasten (Musikunterricht)

Wertvolle Ergänzung des Cello-Anfängerunterrichts

von Walter Eigenmann

In Sachen Streicherschulung leistet die moderne „Pädagogik“-Heftreihe des Wiesbadener Musikverlages Breitkopf schon seit längerem eine vielbeachtete Arbeit. Nach innovativen Material-Veröffentlichungen für die Violine widmet sich die neueste Streicher-Publikation dieser Verlags-Serie nun dem Violoncello. Unter dem Titel „Der Cellokasten“ versammelt das renommierte Autorenduo Michael Dartsch und Susanne Richter dabei auf 124 Seiten Lied- und Übungsmaterial für die Unterstufe des Cello-Unterrichts.

Schwerpunkt auf das praktische Musizieren gelegt

Michael Dartsch & Susanne Richter: Der Cellokasten - Materialien für die Unterstufe

Konzeptionell ebenso wie layouterisch schliesst sich „Der Cellokasten“ nahtlos den Pendants der Reihe „Breitkopf Pädagogik“ an: In seiner steten, wenngleich betont ruhigen didaktischen Progression, in seinem Schwerpunkt auf das praktische Musizieren, und in seiner lockeren, gestalterisch sehr ästhetischen Aufbereitung offeriert man der (jungen und jüngsten) Schülerschaft auch hier eine vielfältig-farbige Palette von ein- bis max. zweistimmigen Melodien, Stücken und Übungen, deren technische Ansprüche vom allerersten Leersaiten-Zupfen bis zum kurzen imitatorischen Duett mit Sechzehntel und max. drei Kreuzen/B’s reichen. Dem Prinzip Learning-by-Doing wurde innerhalb der didaktischen Zielsetzungen breitester Raum gegeben, und jeder Cello-spezifische Inhalt wird ausführlich mit Spielmaterial aus Vergangenheit und Moderne gestützt.

Das Autorenduo Susanne Richter und Michael Dartsch
Das Autorenduo Susanne Richter und Michael Dartsch

Der promovierte Musikpädagoge Michael Dartsch und die Freiburger Solo-Cellistin Susanne Richter legen mit ihrem neuen „Cellokasten“ eine sehr durchdacht aufbereitete, in der Progression plausible Materialiensammlung für den modernen Violoncello-Unterricht vor. Möglicherweise wird der/die eine oder andere Cello-Lehrer/in die von anderer Unterrichtsliteratur her gewohnte CD-Mitlieferung vermissen. Doch auch in reiner „Printform“ ist das jüngste Streicherheft aus dem Hause Breitkopf eine sehr willkommene, weil sehr sorgfältig komponierte Edition, die ihren Weg durch die neuzeitlichen Cello-Anfänger-Schulstuben machen dürfte.

Häufiges Spiel zu zweit

Gleichwohl garniert das Heft seinen ebenso umfang- wie abwechslungsreichen Stücke-Fundus immer wieder mit „theoretischen“ Einschüben entweder in Form von verspielten Quiz-Fragen oder mit Hilfe leicht nachvollziehbarer improvisatorischer Anleitungen. Das Gemeinschaftserlebnis Musik wird dabei durch betont häufiges Spiel mit der Lehrperson im Duett (bzw. mit einer technisch schwierigeren Zweitstimme) hergestellt.
Sehr zur Auflockerung des – im übrigen grosszügig konzipierten, auch grossnotigen – Schriftbildes tragen die unzähligen Farbillustrationen von Juliane Gottwald bei; sie sind nicht einfach Blattlückenbüsser, sondern stimulieren visuell die kindliche Spielfreude in thematischem Bezug zum jeweilige Stück.
Der promovierte Musikpädagoge Michael Dartsch – Autor bereits eines „Geigenkastens“ – und die Freiburger Solo-Cellistin Susanne Richter legen mit ihrem neuen „Cellokasten“ eine sehr durchdacht aufbereitete, in der Progression plausible Materialiensammlung für den modernen Violoncello-Unterricht vor. Möglicherweise wird der/die eine oder andere Cello-Lehrer/in die von anderer Unterrichtsliteratur her gewohnte CD-Mitlieferung vermissen. Doch auch in reiner „Printform“ ist das jüngste Streicherheft aus dem Hause Breitkopf eine sehr willkommene, weil sehr sorgfältig komponierte Edition, die ihren Weg durch die neuzeitlichen Cello-Anfänger-Schulstuben machen dürfte. ♦

Michael Dartsch / Susanne Richter: Der Cellokasten – Materialien für die Unterstufe, 124 Seiten, Verlag Breitkopf & Härtel, ISMN 979-0-004-18383-0

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Streicherunterricht“ auch über Eva-Maria Neumann: Geigenschule für Kinder

… sowie zum Thema Musik für Cello über Rostropowitsch: Cello-Suiten von J. S. Bach

Rostropowitsch: Cello-Suiten von J. S. Bach (CD)

Verliebt in Musik

von Michael Magercord

„Prager Frühling“ ist alle Jahre, und verliebt sind im Mai an der Moldau so manche, aber nicht in jedem Jahr hinterlässt das grösste mitteleuropäische Festival der klassischen Musik derart schöne musikalische Spuren des Frühlingsgefühls wie diese Einspielung aller sechs Cello-Suiten von Bach durch den damals frisch verliebten Musiker Mstislaw L. Rostropowitsch.

Mstislaw L. Rostropowitsch - Johann Sebastian Bach - Cello-Suiten - Supraphon ArchivTief ins Archiv des Tschechischen Rundfunks musste gegriffen werden, um die Aufnahmen der beiden Aufführungen vom 26. und 27. Mai des Jahres 1955 herauszufischen, die sich nun auf dieser Doppel-CD befinden. Der damals 24-jährige russische Cellist hatte sich zuvor bereits auf dem Konservatorium in Moskau nicht zuletzt durch seine Interpretation dieser Cello-Suiten einen Namen gemacht. Viele Cellisten trauen sich eigentlich erst auf der Höhe ihrer Spielkunst an Bachs Meisterwerke. Lange Zeit galten sie gar als unspielbar, erst als Robert Schumann eine Klavierbegleitung hinzufügte und die Cellosätze dafür etwas vereinfachte, wurden sie wieder öfter gespielt. Der Cellist Pablo Casal war es, der sie schliesslich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts als erster komplett und solo aufführte.

Jugendliches Herangehen an Bach

Einst als unspielbar eingestuft: Bach-Autograph der 6. Cello-Suite
Einst als unspielbar eingestuft: Bach-Autograph der 6. Cello-Suite

Heute wiederum hat eigentlich jeder Cellist von Rang die Suiten aufgeführt oder gar eingespielt, Mstislaw Rostropowitsch sogar mehrfach. Legendär ist sein spontanes Konzert im November 1989 vor der politisch zwar schon gefallenen, aber noch bestehenden Berliner Mauer nahe des Checkpoint Charlie, und ebenso jene als DVD erhältliche Einspielung in der Basilika Sankt Madeleine der burgundischen Abtei Vézelay 1991. Und immer wieder hat der 2007 verstorbene Musiker dabei seine zuvor gemachte Einspielung als fehlerhaft kritisiert.
Davon wird auch diese nun vorliegende Aufnahme aus den jungen Jahren wohl nicht ausgespart geblieben sein, wenngleich nicht überliefert ist, was genau ihm daran nicht gefallen hat. Da lässt sich also wunderbar spekulieren, denn vielleicht könnte es die jugendliche Art des Herangehens an die Stücke gewesen sein, die sein Missfallen in den reifen Jahren gefunden haben mag. Und vielleicht war ja die etwas ungestüme Ausführung eben seiner Verliebtheit geschuldet, die ihn in den Tagen in Prag überkam. Dort hatte er nämlich die russische Sängerin Galina Wischnewskaja, die ebenfalls auf dem „Prager Frühling“ konzertierte, kennengelernt. Es muss heftig gefunkt haben, denn nur vier Tage nach der Rückkehr nach Moskau verehelichten sich beide miteinander. Es heisst, Rostropowitsch hätte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, seine zukünftige Frau vor der Ehe singen gehört zu haben.

Die schnellsten Einspielungen

Diese bereits über 55 Jahre zurückliegende Aufführung der Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach durch Mstislaw Rostropowitsch taugen ihrer ungewöhnlich gestümen, aber nie ungestümen Ausführung wegen sowohl als Referenzaufnahme als auch zum Hörgenuss für den Liebhaber einzigartiger Musik.
Diese bereits über 55 Jahre zurückliegende Aufführung der Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach durch Mstislaw Rostropowitsch taugen ihrer ungewöhnlich gestümen, aber nie ungestümen Ausführung wegen sowohl als Referenzaufnahme als auch zum Hörgenuss für den Liebhaber einzigartiger Musik.

Soll man also sagen, in dieser Ausführung der Bachschen Meisterwerke steckt noch nicht die tiefe reife Liebe, dafür aber eine umso stürmische Verliebtheit? Es handelt sich jedenfalls um eine der kürzesten also auch schnellsten Einspielungen der Cello-Suiten, die dabei trotzdem nichts an Präzision zu wünschen übrig lassen. Einzig der schwersten, nämlich der fünften Suite meint man anzumerken, dass der später so souveräne Cellist noch nicht ganz auf der Höhe seines Könnens angelangt war. Diese Suite erfordert eine besondere Spieltechnik auf den heutigen 4-saitigen Instrumenten, waren doch zu Bachs Zeiten Cellos noch meist 5-saitig. Es mag die Hemmnis vor den technischen Schwierigkeiten sein, die dazu führt, dass diese Suite in dieser Aufnahme um etliches länger dauert, als in den Aufnahmen des reiferen Instrumentalisten oder auch jenen anderer Cellisten. Doch schon in der anschliessenden, lange Zeit als völlig unspielbar geltenden sechsten Suite kann man wieder dieselbe Spielfreude der vier vorherigen vernehmen.

Referenzaufnahmen der Bach’schen Cello-Suiten

Diese Aufnahmen können wohl getrost in die Reihe der Referenzaufnahmen der Cello-Suiten von Bach aufgenommen werden, und zugleich sind sie ein Hörgenuss für Liebhaber grossartiger Musik. Und dass hier alles noch Mono abgespielt wird, dürfte bei einem Einzelinstrument wahrlich kein sonderlichen Nachteil darstellen. Nicht einmal der miteingespielte Applaus am Ende der jeweiligen Suiten stört das Hören, denn er zeigt noch eine weitere angenehme Seite jener Zeit: Damals schien das Publikum erwachsen und von reifer Liebe zur Musik beseelt, jedenfalls applaudiert es reichlich, aber nicht mit dem unreifen Überschwang, wie man ihn in den Konzertsälen heutzutage allzu oft ertragen muss, und der am Schluss eines Werkes kaum mehr Raum lässt für eine kurze nachdrückliche innere Rückschau auf das zuvor Gehörte und die würde vielleicht eine wirklich gereifte Liebe zur Musik erst ermöglichen… ♦

Johann Sebastian Bach: Cello Suites BWV 1007-1012, Mstislaw Rostropowitsch (Live-Aufnahme 1955, Rudolfinum Prag), Doppel-CD, Supraphon 2011

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Cello-Musik auch über Sol Gabetta (Cello): Elgar, Dvorák, Respighi, Vasks

… sowie zum Thema Cellisten über die CD von Sandra Lied Haga mit Werken von Tschaikowsky und Dvorak

Wer bin ich? (Woman Power 13 – Musik)

Ohne Augenlicht, doch voller Kreativität

von Walter Eigenmann

Wer bin ich? (Woman Power 13 - Musik)

Ohne gleich einen „Wunderkind“-Status unter den Komponistinnen für mich reklamieren zu wollen, kann ich doch musikalische „Frühreife“ in Anspruch nehmen, denn schon als Siebenjährige erhielt ich intensiven Klavier- und Orgelunterricht, u.a. beim tschechischen Virtuosen Leopold Kozeluch. Dabei standen die Sterne für eine Pianisten- (und später Komponisten-)Karriere alles andere als gut: Schon in meinem vierten Lebensjahr erblindete ich, und in der Folge kamen schwerste familiäre und gesundheitliche Probleme hinzu. Trotzdem gelangte ich in späteren Reisejahren zu internationalem Ruhm als Konzertpianistin.

Alle Gattungen der weltlichen Kunstmusik

Banner-Grafik für "Wer bin ich?" (Glarean Magazin)
Die Lösung dieses Personen-Rätsels kann via Kommentar- Funktion „eingesandt“ werden. Die Kommentare werden einige Tage später freigeschaltet.

1786 gab ich das öffentliche Konzertieren auf und widmete mich fast ausschliesslich dem Komponieren. Dieses fiel enorm umfangreich aus, obwohl nur ein kleiner Teil davon in Autographen oder Druckausgaben erhalten geblieben ist. Mein Schaffen umfasst beinahe alle damals gängigen Gattungen der weltlichen Kunstmusik. Lange Zeit völlig verkannt, hat die Musikforschung mein Oeuvre längst einer genaueren Durchsicht und inzwischen auch das früher eher marginalisierende Urteil einer grundlegenden Revision unterzogen. Das nachstehende Notenbeispiel gibt den Anfang meiner „Klavierfantasie in G-Dur“ wieder:

Notenbeispiel: Wer bin ich? (Woman Power 13 – Musik)

Also: Wer bin ich?

Lesen Sie in dieser Rubrik auch
Wer bin ich? (Woman Power 12 – Literatur)

… sowie das neue
50-Euro-Preisrätsel: Wer bin ich? (Woman-Power 14 – Schach)

Frank Martin: Messe für Doppelchor (CD)

Chormusizieren von grosser Gestaltungskraft

von Walter Eigenmann

Mit dem Genfer Frank Martin, dem Pariser Francis Poulenc und dem Kecskeméter Zoltán Kodály gruppieren Dirigent Peter Dijkstra und sein Bayerischer Elitechor auf ihrer ersten gemeinsamen Disk sprituell inspirierte Chorwerke dreier sowohl stilistisch und klangästhetisch wie kompositionstechnisch sehr unterschiedlicher Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts. Gemeinsam wiederum ist diesem Komponisten-Trio ihre längst „klassische“ Modernität – und eben ihre biographisch verbürgte ursprüngliche (wenngleich unterschiedlich ausgeprägte) Religiösität.

Von jubilierender Hymnik bis entrückter Sphärik

Frank Martin: Messe für Doppelchor - Kodaly: Missa brevis - Poulenc: Litanies a la Vierge Noire - Bayerischer RundfunkDiese ist bei Martin gerade durch seine berühmte Doppelchor-A-capella-Messe (innerhalb eines reichen liturgischen bzw. geistlichen Vokal-Oeuvres) referentiell dokumentiert; auch Poulencs Schaffen verzeichnet gewichtige religiös motivierte Chorkompositionen, während Kodálys Gesamtwerk nur wenige, aber interessante (allerdings seltener aufgeführte) liturgisch intendierte Werke aufweist.

Chor des Bayerischen Rundfunks - Glarean Magazin
Der Chor des Bayerischen Rundfunks bei der Probenarbeit

Poulencs 14 Litaneien „à la Vierge Noire“ für dreistimmigen Frauenchor (hier in der Originalfassung mit Orgel eingesungen), mehr noch die achtteilige „Missa brevis“ Kodálys garnieren diese Chor-CD mit teils üppiger Klangsinnlichkeit, teils entrückter Sphärik, dann wieder mit jubilierender Hymnik oder (kontrastierend) mit inbrünstig deklamierendem Meditieren. Massgeblich untermalend hier bei beiden Werken das registersichere, differenziert eingehörte Spiel des Organisten Max Hanft (an der „romantisch“ disponierten Wöhl-Orgel der Münchner Herz-Jesu-Kirche).

„Eine Sache zwischen Gott und mir“

Musikalische Spiritualität von höchster Authentizität: Anfang des Credo aus der Messe für Doppelchor von Frank Martin
Musikalische Spiritualität von höchster Authentizität: Anfang des Credo aus der Messe für Doppelchor von Frank Martin

Den Schwerpunkt dieser Disk bildet jedoch Frank Martins halbstündige Doppelchor-Messe, vom BR-Chor bereits im Frühling 2007 mit dem erst 29-jährigen Dijkstra im 1’500 Plätze grossen Orlando-Saal der Germeringer Stadthalle für das damals extra neu gegründete Label „BR-Klassik“ eingesungen. Martins A-capella-Messe, vom Komponisten fast sieben Jahre lang buchstäblich erarbeitet – Martin: „Diese Messe ist eine Sache zwischen Gott und mir“ – und erst 40 Jahre nach ihrer Entstehung uraufgeführt – Martin: „Ich kannte damals nicht einen Chorleiter, der sich für dieses Werk hätte interessieren können“ -, stellt in ihrer rhythmischen Differenziertheit, ihrer klanglichen Expressivität in allen vier Stimmlagen, ihrer Weite der Phrasierung und Atmung, ihrer satztechnischen Durchhörbarkeit, ihres weiten emotionalen Spektrums vom quasi-gregorianischen Unisono über fugative Strukturen bis hin zu clusterartigen Klangschichtungen höchste sprach- und interpretationstechnische Anforderungen auch an Berufsensembles.

Lupenreine Intonation und dynamisch weites Spektrum

Eine gültige, auch liturgisch „unbefleckte“ Zuhörerschaft in ihren Bann ziehende, über weite Strecken gar massgebliche Neueinspielung von Frank Martins Messe für Doppelchor.

Der Chor sang eine nicht nur stets lupenrein intonierte und mit enormem dynamischem Spektrum aufwartende, auch Martins eng am Wort orientierte Chormusik expressiv formende, dabei sehr stimmpräzis agierende CD ein, sondern transponierte adäquat den hohen spirituellen, urpersönlich empfundenen Gehalt in Martins Werk. Letzteres natürlich v.a. Verdienst des Dirigenten, dem offenbar gleichsam ein Instinkt für diese gestenreiche, buchstäblich wortreiche liturgische Vokalmusik zur Verfügung zu stehen scheint. Dabei haben sich Dijkstra und sein Chor durchaus gegen hochstehende Interpretationen anderer Formationen durchzusetzen, etwa des „Sixteen“-Ensembles unter Christopher (2005) oder des „Westminster Cathedral Choir“ (O’Donnell/1998). – Eine gültige, auch liturgisch „unbefleckte“ Zuhörerschaft in ihren Bann ziehende, über weite Strecken gar massgebliche Produktion. ♦

Martin: Messe für Doppelchor / Kodály: Missa brevis / Poulenc: Litanies à la Vierge Noire; Chor des Bayerischen Rundfunks / Peter Dijkstra; Label BR-Klassik

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Orgelmusik auch über
S. Kugelmeier: Danke für diesen guten Morgen (Lied)

… sowie zum Thema Chormusik über die neue CD von
Richard Harvey: Evensong – New Choral Music

Martin Grubinger: Drums `N` Chant (CD)

Hohe Affinität zur Spiritualität verlangt

von Christian Schütte

Die gregorianischen Gesänge von Mönchen in vielfältigster Weise auf Tonträgern zu produzieren ist wahrlich keine Novität mehr. Wie im Beiheft zu dieser neuen Aufnahme mit dem Perkussionisten Martin Grubinger sowie Mönchen der Benediktinerabtei Münsterschwarzach und weiteren Musikern zurecht hingewiesen wird, tragen diese Produktionen oftmals allzu sehr die Züge von sphärischer Wohlfühlmusik, was an Sinn und Zweck der gregorianischen Gesänge weit vorbeigeht.

Drums 'n' Chant - Martin Grubinger - Deutsche GrammophonGrubinger wollte diese CD nun trotzdem und ganz anders produzieren, hat es erfolgreich geschafft, den „Hüter der Gregorianik in Münsterschwarzach“, Pater Rhabanus, zur Kooperation zu überzeugen. Dabei sind Gregorianik-Chor-Aufnahmen benutzt worden, die mit den Mönchen aus Münsterschwarzach schon vor einiger Zeit entstanden und von der Deutschen Grammophon als Archivaufnahmen produziert wurden. Martin Grubinger hat dazu eine Reihe von Musikern gewinnen können, weitere Percussionisten, aber auch zum Beispiel den Oboisten Albrecht Mayer und andere Instrumentalisten. Entstanden ist so eine Kombination der vorhandenen gregorianischen Gesänge mit neu komponierten Instrumental- und Percussionselementen.

Instrumental gewichtete Einspielung

Das Beiheft zur CD verrät, Martin Grubinger wolle, dass sich der Hörer mit den Inhalten beschäftige, sich auf die Texte konzentriere. Immerhin sind die lateinischen Texte dazu mit abgedruckt. In einigen Stücken ist das auch unbedingt notwendig, da Percussion und Instrumente so stark im klanglichen Vordergrund stehen, dass ein Verstehen des Textes ohne Mitlesen kaum möglich ist.
Neben klassischem Schlagwerk hat Grubinger sich ganz bewusst dazu entschieden, auch Instrumente aus der afrikanischen und der arabischen Musik zu verwenden – um zu zeigen, dass die katholische Kirche eine in der ganzen Welt verbreitete Gemeinschaft ist, die nicht an einen bestimmten kulturellen Raum gebunden ist. So sind die Gesänge überwiegend von einer sehr prägnanten Instrumentalbegleitung geprägt, immer wieder gibt es ausgedehnte Soli der Percussion oder der Melodie-Instrumente.

Balance von Text und Gesang in Gefahr

Martin Grubinger - Glarean Magazin
Perkussionist Martin Grubinger in concert

Diese stark instrumental bestimmte Seite der Einspielung bringt immer wieder die Gewichtung des Textes, das Verhältnis von Text und Begleitung in Gefahr. Grundlage sind und bleiben die gregorianischen Gesänge, eine musikalische Ausdrucksform, die eben durch die Reinheit des Vokalen besticht und lebt, darum keine Ergänzungen braucht. Auch wenn das klangliche Ergebnis durchaus hörendes Interesse weckt, geraten insgesamt die Texte und damit die unbedingt notwendige Basis dieser Musik zu sehr in den Hintergrund.

Weltmusik mit experimentellem Charakter

Auch wenn das klangliche Ergebnis durchaus Hörinteresse weckt, geraten insgesamt die Texte und damit die unbedingt notwendige Basis dieser Musik manchmal zu sehr in den Hintergrund. „Drums `N` Chant“ hat experimentellen Charakter, verknüpft schwierig vermittelbare Klänge&Stilrichtungen – ist aber dadurch gewiss als Stil-Experiment beachtenswert.

Diese Aufnahme ist mehr unter dem Begriff Weltmusik zu fassen, hat vor allem experimentellen Charakter und verknüpft Klänge und Stilrichtungen miteinander, die schwierig miteinander in Beziehung zu setzen sind. Und obwohl im Booklet stets betont bleibt, Pater Rhabanus sei von dem Projekt überzeugt worden, so bleibt doch die Frage zurück, wie in engeren und auch weiteren Kreisen von Menschen mit wie auch immer gearteter hoher Affinität zur Kirche, zur Gläubigkeit und zur Strenge diese CD tatsächlich ankommt. Zweifel und Ablehnung sollten hier vielleicht kalkuliert werden. ♦

Martin Grubinger / Benediktinerabtei Münsterschwarzach: Drums `N` Chant, Audio-CD, Deutsche Grammophon / Universal

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neue Kirchenmusik auch über
Kurt Estermann: Missa brevis
… sowie zum Thema Mönchs-Gesänge auch über
Heinrich Laufenberg: Kingdom of Heaven

Isabel Willenberg: Vertraulich (CD)

Ein vertontes Tagebuch

von Stephan Urban

Isabel Willenberg wurde 1982 geboren und begann bereits im Alter von 16 Jahren bei verschiedenen Coverbands zu singen.  Schon bald (und selbst während ihres Medizinstudiums, das sie 2008 beendete) begann sie zu komponieren und Songtexte zu schreiben. Trotz des erfolgreich abgeschlossenen Studiums wandte sich Isabel Willenberg von der Medizin ab, um sich voll und ganz auf ihre grosse Leidenschaft, die Musik, zu konzentrieren, was sicherlich keine leichte Entscheidung gewesen ist.

Isabel Willenberg - Vertraulich - Audio-CDAber zweifellos eine gute, wie Ihr Debüt-Album „Vertraulich“ beweist. Der Titel wurde wohl gewählt, weil die Songs primär sehr persönliche Texte enthalten, die teilweise einem privaten Tagebuch entnommen sein könnten. Die Tatsache, dass Isabel Willenberg mit ihrer medizinischen Ausbildung über ein zweites Standbein verfügt, trug wohl dazu bei, sich nicht unbedingt auf den Geschmack eines bestimmten Publikums konzentrieren zu müssen und konsequent die eigenen Vorstellungen umsetzen zu können. Es bleibt zu wünschen, dass dieser mutige Zugang mit dem entsprechenden Erfolg belohnt wird.

Angenehmes Stimm-Timbre

Die Tracks 1 „A plan of care and kindness“ und 3 „Autumn“ wurden nur mit einer Martin-Gitarre, Typ DC-1E, die Klaviertracks einerseits mit einem Yamaha C3 Flügel – Track 4 „free“, Track 6 „Gedankenvögel“ (der einzig deutschsprachige Text), Track 7 „Broken Flower“, Track 8 „Your cry“ – andererseits mit einem Galaxy II Steinway mit VST-Software – Track 2 „Memories“, Track 5 „Standing still“, Track 9 „My friend“ – in einem professionellen Tonstudio aufgenommen. Das hört man zweifelsfrei: Eine glasklare, intime, sehr unmittelbare Aufnahme mit unkomprimierter Dynamik ist hier entstanden.
Und so kommt nach dem Starten der CD Isabel Willenberg aus Kleve mit ihrem musikalischen Begleiter Christian Spelz auf Besuch und trägt ihre zwischen Pop und Jazz schwebenden Balladen direkt im Hörraum des geneigten Zuhörers vor. Ihre Stimme verfügt über ein angenehmes Timbre und eine seltsame Art von Energie, die einen gewissen Wiedererkennungswert besitzt. Sie trägt ihre Texte sehr selbstbewusst und virtuos vor. Einige Textstellen werden von Christian Spelz mit zweiter Stimme dezent begleitet, wobei – leider, möchte ich fast sagen – die Terzenseligkeit, wie z.B. bei Simon&Garfunkel oder wie in der Volksmusik üblich, vermieden wird. Zumeist singen sie strengere Intervalle oder unisono, das hört sich ziemlich interessant an.

Hoffnungsvolles Debüt-Album

„Vertraulich“ ist ein überzeugendes Debüt-Album von Isabelle Willenberg mit sehr persönlichen Texten, die mit sparsamer Begleitung in intimer Atmosphäre und in hervorragender Tonqualität vorgetragen werden.

Schade finde ich allerdings, dass sie ihre Lieder mit Ausnahme eines einzigen Songs in englischer Sprache präsentiert – und das, obwohl das Album einen deutschsprachigen Titel trägt. Das ist ein wenig irreführend, und ich bin auch der Meinung, dass Texte in der Muttersprache des Künstlers oft emotionaler und berührender vorgetragen werden können.
So, wie ihre Musik gemacht ist, läuft Isabel Willenberg sowieso keinesfalls Gefahr, in irgendwelche Schubladen, die nach „deutschem Schlager“ riechen, gesteckt zu werden, warum also englische Texte? Sollten hier Gedanken an internationale Vermarktung dahinterstecken? Da ist die Konkurrenz auf diesem Musiksektor wohl übermächtig, im deutschsprachigen Raum hingegen sähe ich bessere Chancen, wenn diese Lyrik emotional und verständlich dargeboten würde. So ist auch nur bei dem Song „Gedankenvögel“ leicht herauszuhören, dass es hier wohl nicht zuletzt um ihre Entscheidung bezüglich der Hinwendung zur Musik geht und sie ihren Zuhörern Mut machen möchte, ebenfalls den eigenen Weg zu gehen und etwaige Zweifel zu überwinden.
In „Broken flowers“ geht es wohl um die Auseinandersetzung mit dem Tod eines geliebten Menschen, wohingegen der Opener „A plan of care and kindness“ von ihren Erlebnissen in Kenia geprägt ist, wo sie viereinhalb Monate in einem Krankenhaus gearbeitet hat.
Das aus meiner Sicht etwas langweilig gestaltete Booklet enthält sämtliche Texte, die üblichen Danksagungen und einen als Einbegleitung gedachten Text von Rainer Maria Rilke. Weitere Werke dieser interessanten Künstlerin dürfen mit Spannung erwartet werden. ♦

Isabel Willenberg, Vertraulich, Audio-CD – Hörproben

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Jazz-Musik auch über
Liska & Honzak: Bercheros & Uncertainty (CD)

Greg Alper Band: Fat Doggie (CD)

Die Fusion-Wundertüte

von Stephan Urban

Es war 1978, die grosse Zeit der Discomusik und des „Studio 54“. Wollte man als Jazzmusiker auch einmal gutes Geld verdienen, kam man damals an diesem Stil kaum vorbei, und wollte man dabei auch noch Würde bewahren, dann musste man den Ansatz so wählen, dass der Jazz-Anteil nicht an belanglose Fahrstuhl-Beschallungsmusik erinnerte. Aufmüpfiger und progressiver sollte das schon sein.
So lag es auch nahe, sich bewährter Konzepte zu bedienen, zum Beispiel beim druckvollen Funk eines James Brown oder auch Herbie Hancock, der ja ab den frühen 70ern auf manchen Alben gezeigt hatte, wie man das richtig macht.

Am Disco Funk orientiert

Greg Alper Band: Fat Doggie (First Hand)
Greg Alper Band: Fat Doggie (First Hand)

Bei der Einstiegsnummer „Hole In Your Pocket“ – von Ray Anderson gesungen – orientiert man sich eindeutig am Disco Funk. Manche DJ’s werden sich vermutlich speziell dieses Songs wegen über diese CD-Neuveröffentlichung freuen, war er doch jahrelang eine gesuchte Rarität. Anderson ist zwar alles andere als ein guter Sänger, aber er versucht hier halbwegs erfolgreich, die Shouter-Qualitäten von James Brown nachzuahmen. Da dies ein sehr rhythmusbetonter Song ist, stört dann auch die eine oder andere falsche Intonation nicht sehr.
Auch die Titelnummer schlägt in die gleiche Kerbe, wobei aber die üppigen Bläsersätze hier durchaus angenehm an die frühen „Chicago“ erinnern, und auch der Jazz-Anteil hier bereits ungleich grösser ist.
„Give It Up“ klingt wie eine mit dem „Godfather Of Funk“ eingespielte Jamsession, ist hektisch, aber dennoch groovig, und das Blech erinnert an die entsprechende Sektion bei der Formation „Tower Of Power“. Somit bleibt an der insgesamt gebotenen Dynamik rein gar nichts auszusetzen.

Jazz-Funk-Mischung erster Güte

Der erste bisher unveröffentlichte Track „Three’s A Crowd“ bietet eine Jazz-Funk-Mischung erster Güte. Das Trombone-Solo von Ray Anderson klingt, als würde er durch die Posaune schreien, so wie es damals auch Namensvetter Ian Anderson durch seine Querflöte gerne tat, und dürfte eine wohl nicht unerhebliche Inspiration für einen anderen bekannten New Yorker Posaunisten und seinen Stil gewesen sein, nämlich Joseph Bowie von der „Funk-Jazz-Band Defunkt“. Überhaupt gibt es hier herrlich schmutzigen Funk zu hören, dargeboten mit übersprudelnder Spielfreude. Verwunderlich, dass es dieser Titel nicht schon auf das seinerzeitige Album geschafft hat.
„Huevos Nuevos“ hat nicht nur einen lateinamerikanischen Titel, es kommt auch stilistisch aus der Latin-Fusion-Ecke. Im musikalischen Schmelztiegel des New York der späten 70er Jahre waren ja Latin-Sounds fast eine Pflichtübung, und das Stück weiss sowohl rhythmisch als auch musikalisch zu überzeugen.

Free-Jazz-Elemente inklusive

„The Cantatta Baratta“  und „Suite For Renee“ emulieren nahezu perfekt den Fusion Sound von Billy Cobham und der Brecker Brothers, die – auch New Yorker – an diesen Aufnahmen nicht beteiligt waren. „Suite For Renee“ endet mit einem wahren Percussion-Feuerwerk, das die perfekte Überleitung auf das moderate, ebenfalls südamerikanisch angehauchte „Many Moods“ bietet. Dieser zweite Bonus Track ist von der Harmonik her der vielleicht jazzigste Song dieses Albums. Die lyrischen Solis von Greg Alper und Gitarrist Chuck Loeb betonen hier perfekt die leicht melancholische Stimmung.
Im gleichen musikalischen Farbton geht es mit „Five Verses For“ dann weiter, und man stellt fest, dass diese Platte gegen Ende hin immer jazziger wird, hier sind sogar einige kurze Free-Jazz-Elemente zu orten. Auch hört man gegen Ende immer stärker den – von Herb Alper selbst zugegebenen – Einfluss Frank Zappas auf seine Kompositionen heraus. Und ob nun auch noch John Klemmer für die Abschlussnummer „Don’t Ever Let Me Catch You“ Pate gestanden haben mag, sei der Beurteilung des geneigten Hörers überlassen.

Geglücktes Remaster

Ein erstaunlich vielseitiges Remaster-Funk-Album, dessen Jazzorientierung mit jedem Song ständig zunimmt. Die erste Liga der New Yorker Session Musiker der 70er Jahre bemüht sich hier auf Greg Alpers Solodebüt redlich, den von ihm wohl angestrebten Spagat zwischen anspruchsvoll und kommerziell zu vollziehen. Die Stärke dieser Produktion ist aber gleichzeitig ihre Schwäche: Der spürbare Wille, das grösstmögliche Spektrum des Fusion-Jazz abzudecken, geht ein wenig zu Lasten der Homogenität. Gregory Alper hat hier aber auf jeden Fall viel Mut bewiesen und eine hochwertige Fusion-Scheibe abgeliefert.

In Würde gealtert, doch erstaunlich aktuell

Obwohl sich die Musik eindeutig am Jazz-Funk der späten 70er-Jahre orientiert, ist sie in Würde gealtert und klingt erstaunlich modern und aktuell. So war es sicher eine gute Entscheidung, die seinerzeitige – mittlerweile völlig vergriffene – Vinyl-LP auf CD wieder zu veröffentlichen. Leider wurde das durchaus originelle Originalcover vollkommen verändert, es findet sich aber zumindest als Abbildung im Booklet wieder.
Zum Klang der mehr als dreissig Jahre alten Aufnahme sei gesagt, dass der durchaus voller und körperlicher sein könnte, vor allem der akustische Bass von Ernie Provencher, der manchmal ein wenig hohl klingt. Das Remaster ist aber durchaus geglückt, die Aufnahme ist dynamisch weitgehend unkomprimiert, die einzelnen Instrumente sind präzise zu orten, das Gesamtgefüge wirkt gut balanciert.

Erstaunlich vielseitiges Remaster-Funk-Album

Kurzum: Ein erstaunlich vielseitiges Remaster-Funk-Album, dessen Jazzorientierung mit jedem Song ständig zunimmt. Die erste Liga der New Yorker Session Musiker der 70er Jahre bemüht sich hier auf Greg Alpers Solodebüt redlich, den von ihm wohl angestrebten Spagat zwischen anspruchsvoll und kommerziell zu vollziehen.
Die Stärke dieser Produktion ist aber gleichzeitig ihre Schwäche: Der spürbare Wille, das grösstmögliche Spektrum des Fusion-Jazz abzudecken, geht ein wenig zu Lasten der Homogenität. Gregory Alper hat hier aber auf jeden Fall viel Mut bewiesen und eine hochwertige Fusion-Scheibe abgeliefert. ♦

Greg Alper Band, Fat Doggie, CD-Remaster,  Audio-CD, Label First Hand (Harmonia Mundi)

Titel

1. Hole in Your Pocket
2. Fat Doggie
3. Give It Up
4. Threes a Crowd
5. Huevos Nuevos
6. Tha Cantatta Baratta
7. Suite for Renee
8. Many Moods
9. Five Verses For
10.Don’t Ever Let Me Catch You

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die CD-Rezension über Isabel Willenberg: Vertraulich