Aufklärung ist seit Jahrhunderten ein fortwährender Prozess des Geisteslebens und menschlichen Denkkraftvermögens. Angesichts des Zeitalters von „religiös legitimiertem Terrorismus“ und unversöhnlichen Meinungslagern, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus den Augen zu verlieren scheinen, stellt sich offensichtlich die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des vernunftgesteuerten Geistes eher als eine lahme Ente denn als eine schnelle Brieftaube dar.
Um das „Wie“ geht es im Essay „Gescheiterte Aufklärung?“ von Georg Cavallar, dem Wiener Philosophiedozenten aber nicht, sondern um das „Was“. Was ist am Ende der Gewinn, die Erkenntnis, die umgesetzt wurde und somit erkannt werden kann? Er versucht den Ballast aufklärerischer Ideen in der gesellschaftlichen Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert in ihrer Vielschichtigkeit zu sichten und für die allgemein gebildete Leserschaft nachvollziehbar darzustellen. Dem Autor kann man bescheinigen, dass er seine Ausführungen nicht in reinem Fachwissen mit Schlagwörtern wie „normativer Universalismus“ oder „Toleranzbegründungen“ verklausuliert hat. Das sei bereits auf abertausenden Seiten von Detailexperten geschrieben worden. Cavallar bezieht klar Stellung zu den diversen Meinungen und Strömungen, wägt ab und legt dar, was Aufklärung alles sein kann. Insbesondere in der Abgrenzung des europäischen Abendlandes zum Islam würden die „Bilder“ respektive die Sichtweisen des Begriffs „Aufklärung“ schnell zum „Kampfbegriff“ erklärt. Historisch betrachtet, sind allerdings sehr wohl epochenspezifische Gewichtungen auszumachen und unterscheidend zu berücksichtigen.
Verständnisfördernde Begriffserklärungen
Georg Cavallar (Geb. 1962)
Ein Beleg seiner beabsichtigten Vorgehensweise für eine leserfreundliche und verständnisfördernde Begriffsklärung in diesem Essay ist beispielsweise die Gedichtinterpretation zu Kants „Der Affe – Ein Fabelchen“ aus dem Flaggschiff der Aufklärungs-Flotte „Berlinische Monatsschrift“ von 1784. Dadurch werden Klischees und Zerrbilder nachvollziehbarer zurechtgerückt und fokussiert als durch theoretisierende Termini. Eine weitere Verständnishilfe bietet seine Aktualität mit „Gegenwartsrelevanz“, die sich etwa an der viel diskutierten, aber zu kurz gegriffenen These vom „Gewalt-Dämon“ Islam erweist. Dagegen sei eine „kritische Analyse unseres kausalen Denkens“ zu setzen.
Gegen anderslautende Anschauungen konstatiert Cavallar, dass der Transformationsprozess der europäischen Aufklärung stärker theologisch geprägt war und in der Methodik zu einer Trennung von Theologie und Geschichtswissenschaften tendierte. Die religiöse Aufklärung wird am interessanten Teilaspekt der Kant’schen Radikalisierung in dem Sinne konkretisiert, dass er an die Wurzeln geht.
Nach einer Befunderhebung zeigt der Autor im 2. Kapitel die Grenzen der überzogenen „Vernunftgläubigkeit“ auf.
Aufgeklärtes Denken mit Humor, Satire und Zynismus
Philosoph Kant in seiner „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ vom Dezember 1783 in der „Berlinischen Monatsschrift“ (1784): „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Im dritten Abschnitt sind Humor, Satire und Zynismus ebenso unverzichtbarer Bestandteil dieser Denkart und ermöglichen einen Perspektivenwechsel zur Abwehr von Aberglauben, Fanatismus oder Vorurteilen. Der aktuelle Bezug ist nicht zu überlesen. Selbst in der Moral, Ethik oder im Recht gebe es keine Einheitssprache für eine eindeutige Verständigung. Kants Frage: „Was ist Aufklärung?“, oder von Blochs Philosophie, an deren Ende eine Provokation steht, nämlich: „Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende“1 gelten nach wie vor.
Aufklärungsprozesse fänden gemeinschaftlich und öffentlich statt, deswegen seien alle Urteile auf dem „Forum der kritischen Vernunft“ zu überprüfen. Da sie dem Zweck der Mündigkeit dienen soll, sei auch Selbstkritik unabdingbar vorauszusetzen.
„Was kann ich wissen?“
Was Cavallar als Positivum festhält, ist, dass die europäische Aufklärung immerhin die „vielleicht wichtigste“ aller Fragen stellte, die da heisst: Was kann ich überhaupt wissen? Häufig habe es „zutreffende Antworten“ in den drei vergangenen Jahrhunderten gegeben, doch es würden andere weiterhin zu diskutieren bleiben.
FAZIT: Georg Cavallar meint in seinem Philosophischen Essay „Gescheiterte Aufklärung?“, dass der Mensch die Schwachstelle der Aufklärung sei und bleibe. Deshalb bleibe es fragwürdig „pauschal von einem ,erleuchteten Bewusstsein‘ zu sprechen“. (S. 190) Das Ergebnis dieses kompakt und umfassend gearbeiteten Essays klingt auf dem Hintergrund des bisherigen abendländischen Bildungsniveaus nach dem gesunden Menschenverstand und somit nach einer simplen Erklärung für den ewig andauernden Prozess des aufklärenden Denkens. Was es wohl auch sein muss, wenn wir nicht in „beliebiger Subjektivität verhaftet“ (S. 95) bleiben wollen.
Cavallar: Weil Ideale zu keinem Zeitpunkt vollständig verwirklichbar seien, könnten sie auch jederzeit scheitern. Die „Aufklärung“ wird folglich ein Kampf gegen eine vielköpfige Hydra bleiben. Ziel könne nur sein und müsse bleiben, dass der Mensch „sich nicht als Vernunftwesen“ aufgibt. Cavallar selbst ist der Auffassung: „Das zentrale Problem sind daher die Menschen, die etwa aufklärungsunwillig oder -unfähig sind, nicht die Aufklärung selbst.“ (S. 186)
Mit dem Bild von der Gartenarbeit – kultivieren, pflegen, vervollkommnen, hoffen – wird die Argumentation noch einmal pragmatisch. Ein Zitat aus dem einstigen Kultfilm „The Big Lebowski“ beendet den Essay. Frei übersetzt: „Komm, lass uns kegeln gehen.“ Das ist eine angewandte aufgeklärte Nutzanwendung…♦ 1Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1974
Die Ideen des schriftstellerisch sehr agilen Turiners Alessandro Baricco in seinem neuen Sachbuch „Die Barbaren“ spielen Pingpong. Ist es richtig oder nicht oder ist doch etwas dran, an dem, was aus dem Blätterwald und der globalen Medienmaschinerie zwitschert? Die Barbaren seien da, überall. Ein Genozid stehe uns bevor. Wir würden unterwandert.
Der Autor wollte die Invasoren sehen, ihre Taten erkennen. Täglich schrieb er eine Kolumne darüber oder dazu und brachte sie in der Zeitung „La Repubblica“ heraus. Das Phänomen beschäftigte ihn dermassen, dass er 30 solcher Glossen zu einem Essay gebündelt hat und in ein Buch pressen liess, von dem er schreibt, dass es „vor nichts zurückschreckt“ und ein „Essay über die Ankunft der Barbaren“ sei. Das könnte man irgendwie gesellschaftspolitisch auffassen. Aber die Kunst des Kolumnisten besteht darin, anhand der Infizierung des Kulturlebens das Politische einzubeziehen, ohne es explizit zu benennen. Somit enthält er sich der Meinungsmache.
Was so alles geschieht auf dem Globus
Was so alles geschieht auf diesem Globus, den einige derer, die ihn bewohnen, Erde nennen, und den jene, die darauf hausen, zum Spielball ihrer Überlebensstrategien oder ihres exaltierten Machtstrebens gestalten – das will der italienische, musisch angehauchte Philosoph Alessandro Baricco durchschauen. Er macht sich in diesem Sachbuch an ein Mammutunterfangen, denn gesellschaftliche Veränderungen innerhalb einer Kulturgeneration auch nur im Ansatz erfassen zu wollen, ist nahezu niemandem gelungen. Wie will ein Journalist aus Lust an der täglichen Denkvermittlung für den Leser von La Repubblica das schaffen? Das allein dürfte ebenso ein barbarischer Akt sein. Hat er womöglich mit seinen Folgen einer Durchdringung kultureller Erscheinungsformen unserer globalen Welt jemanden beeinflusst oder etwas bewirkt?
Diese Fortsetzungsgeschichten wollen kein Roman sein. Sie beschreiben lediglich nach Autoransage die unausweichlichen Veränderungsfolgen: Die Barbaren sind im Anmarsch und mit ihnen – gefühlt – die Apokalypse. Im Plauderton baut er Lesererwartungen auf, die er nach und nach in zwei, drei Sätzen zur Entspannung führt. Für ein Sachbuch wird meines Erachtens sehr viel um die Sache herum erzählt und lenken direkte (virtuelle) Leseranreden scheinbar vom Thema ab.
Revolution oder Invasion?
Geb. 1958 in Turin, Studium der Philosophie und Musikwissenschaft, anschliessend in der Werbebranche sowie als Journalist, Schriftsteller und Herausgeber tätig, mehrfach mit Preisen ausgezeichnet: Alessandro Baricco
Wie das aussieht, wie sich das auswirkt? Ich lese mit Luchsaugen weiter. Das neue Duell scheint nicht um strategische Positionen zu streiten, sondern will „die ganze Landkarte verändern“. Es scheint eine einfache Schlussfolgerung zu sein, doch das Wie ist der interessante Hauptteil dieser barbarischen Sachgeschichten.
„Die Genialität der Barbaren“ sei eine absonderliche Qualitätsvorstellung. Qualität – auf dem Buchmarkt etwa – verlagerte sich vom Wert des Autors auf die Wertigkeit beim Leser. Klingt das nach Revolution oder Invasion? Märkte befriedigten Bedürfnisse, sie schaffen sie nicht, behauptet Baricco. (Das lässt mich aufmerken: Denn, wenn ich einen Gedanken weiter denke und mich auf die Ursachen besinne, dann tun sie es doch. Oder „promoten“ sie die Bedürfnisse nicht, bevor sie sie mit den beworbenen Produkten befriedigen?)
Die Veränderung als Energiestrom
Um die Barbaren verstehen zu können, nimmt er sie ernst und fragt zunächst nach: Wer sind die Eindringlinge? Wir sehen Plünderungen, aber nicht die Invasion. Den Sinnverlust belegt er am Beispiel der (unscheinbaren) Phänomene Wein, Fussball und Bücher.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Europäer Kaugummi zu kauen und die Amerikaner „Hollywood-Wein“ zu trinken. Die verändernde Folge des Weinpanschens nach Einschätzung des Italieners: „Wein ohne Seele“. Soll ich daraus folgern: Welt ohne …? Der Autor hat mich dazu animiert, aber überreden will er mich nicht zu seiner gedankenspielerischen Sichtwiese. Ermuntern will er zu einem erweiterten Blickradius, weil wir im Allgemeinen keine Lust hätten, „etwas besser zu machen“. Wie wäre es die Veränderung als Energiestrom zu begreifen?
Im zweiten Komplex untersucht er in einem aktuellen Google-Porträt das „barbarische Tier“ und schlussfolgert, dass es gegen jede Tradition anläuft. So viele Umrisse hat er durch das Skizzieren „technologischer Neuerungen, kommerzieller Raserei, Spektakularität, moderner Sprache und Oberflächlichkeit“ und nicht sehr viel mehr Konturen zeichnen können. Die Skizze „überschreitet“ vorhandene Qualität mit Neuerungen. Das sei eine Anmassung, denn es „atmet mit Google-Kiemen“. Aber historisch gesehen wird es ein „Durchgangssystem“ bleiben. Für Spektakularität führt er das Kino als Paradebeispiel an.
FAZIT: Alessandro Baricco hält in seinem neuen Buch „Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur“ die Balance zwischen lockerer Besorgnis und gelassener Sachlichkeit. In freundlichem Plauderstil informiert er über eine Sicht auf die kulturellen Veränderungen aller Zeiten. Wer diese Seiten gelesen hat, wird einen Deut realistischer einschätzen können, was die weltweiten Änderungsströmungen verursachen könnten, aber vielleicht doch nicht auslösen müssen. Denn seit Menschheitsbestehen seien es Mutationen gewesen, die den Fortschritt brachten. Lesenswert.
Der fremde Mutant fasziniert durch Verlieren seiner Seele – er verzichtet auf Unterordnung unter das „Wohlwollen einer göttlichen Autorität“. Deswegen könnten Barbaren mit der Seele überhaupt nichts anfangen. Er exemplifiziert das Seelenleben als Spiritualitätserfindung des 19. Jahrhunderts an der klassischen Musik. Sie gelte als „präziseste Form“ des „Zwischenreichs“ zwischen dem „Menschentier und der Gottheit“. Er pointiert es auf die Frage: „Was kannst du mit Schubert anfangen, wenn du versuchst [wie die Barbaren es tun], ohne Seele zu leben?“ Das ist der Stil, in dem Baricco zusammenfasst und munter philosophisch-witzig in nonkonformen Denkwendungen mit dem Leser über unterschwellige Vereinnahmung unserer Kultur durch die fremdartigen Veränderungen plaudert. Barbaren seien keine „krankhafte Degeneration“, auch sie hätten eine Logik, nämlich die, zu überleben im bestmöglichen Lebensraum. So simpel sei dieses An-Sinnen. Immer wieder blitzt die Methode des Autors durch: das total unkonventionelle Denken und das pfiffige Formulieren seiner Gedanken.
Mutation gleich Fortschritt
Den Epilog verfasst er von der Chinesischen Mauer herab. Will er mit dieser Location einen künftigen Kulturhoheitsraum andeuten? Er redet nicht ein nur ein bisschen schön, um zu relativieren oder zu nivellieren oder gar zu verharmlosen. Er bietet kein veralberndes Kabarett, Slapstick oder Klatsch-Comedy. Er wandert sicher auf dem schmalen Grat geistreich-humoristischer Ironie.
Sehr gerne habe ich mich in dieses Buch auf „die Reise für geduldige Wanderer“ vertieft. Vor allem wegen der lebendigen Sätze, die keinen langen Lektorierungsschliff ausgesetzt worden sind. Positiv schimmert die gelungene Übersetzung ins Deutsche durch alle Zeilen, weil sie ohne unnötige Anglizismen auskommt und „neudeutsche“ Adaptionen vermeidet.
Balance zwischen Besorgnis und Sachlichkeit
In meiner Nutzanwendung gelange ich zu der Schlussfolgerung: Ein bedrohlicher Barbar kann das nicht geschrieben haben. Es muss ein abendländisch aufgeklärter Geist gewesen sein. In diesem Sinne habe ich mich auch nicht durch Lektüre seiner zuvor veröffentlichten Schriften in eine Vereinnahmungsprägung verführen lassen, sondern werde sie sozusagen im Nachgang „bewandern“. Zerstörung ist „geistiger Umbau“, der überrascht, wenn wir die Lasten unserer Erinnerungen noch mit uns herumtragen.
Alessandro Baricco hält in seinem neuen Buch „Die Barbaren – Über die Mutation der Kultur“ die Balance zwischen lockerer Besorgnis und gelassener Sachlichkeit. In freundlichem Plauderstil informiert er über eine Sicht auf die kulturellen Veränderungen aller Zeiten. Wer diese Seiten gelesen hat, wird einen Deut realistischer einschätzen können, was die weltweiten Änderungsströmungen verursachen könnten, aber vielleicht doch nicht auslösen müssen. Denn seit Menschheitsbestehen seien es Mutationen gewesen, die den Fortschritt brachten. Lesenswert. ♦
Es ist unzweifelhaft ein geradezu epochaler „Bewusstseinsschub der Menschheit“ erforderlich, wenn es gelingen soll, die entfesselte globale Wirtschaftsdynamik in eine sinnvolle und legitime supranationale Ordnung sich wechselseitig achtender und anerkennender Welt-(Wirtschafts-)Bürger einzubinden. Doch es ist eine alternativlose Herausforderung, sofern wir das Projekt der kulturellen und gesellschaftlichen Moderne, die Emanzipation der Menschen aus Abhängigkeiten und Zwangen aller Art, auch aus ideologischen Denkzwängen, nicht preisgeben wollen. Das wird noch reichliche wirtschaftsethische Aufklärungsarbeit an der bis anhin herrschenden Metaphysik des Weltmarktes erfordern.
Wirtschaftsethiker Peter Ulrich
Gegen den ökonomistischen Zeitgeist ein ethisch orientiertes, ,,zivilisiertes“ Verständnis von nationaler und supranationaler Ordnungspolitik zu vertreten, braucht vorerst noch ziemlichen Mut. Aber es geht um eine attraktive, ja vielleicht um die einzige hoffnungsvolle menschheitsgeschichtliche Zukunftsvision – die Vision einer vitalpolitisch eingebundenen Globalisierung, die allen Menschen auf diesem Planeten die Voraussetzungen für ein gutes, menschenwürdiges Leben in realer Freiheit und vernünftigem, d. h. International und intergenerationell verallgemeinerungsfähigem Wohlstand gewahrt. ♦
Von den Deckmäntelchen „Modernisierung“ und Flexiblisierung“
Die meisten Berufe im privaten Dienstleistungssektor sind (mehr oder weniger) von der Digitalisierung betroffen. Dabei handelt es sich häufig um kontinuierliche Prozesse, die seit Längerem am Laufen sind, sich aber in gewissen Branchen und Berufen beschleunigen. Wie wir gezeigt haben, sind Frauen stärker vom Jobverlust und von einem Anpassungsbedarf durch berufliche Qualifizierung und Weiterbildung betroffen als Männer. Das hängt unter anderem zusammen mit ihrer Untervertretung in boomenden Branchen (ICT-Branchen) und mit ihrer Übervertretung in Berufen des Dienstleistungsbereiches, die unter Druck geraten (u.a. Kassiererinnen, Verkauf, allg. Sekretariatskräfte, Bürokräfte im Finanz- und Rechnungswesen). Dies vor dem Hintergrund, dass die Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt immer noch ungleich ist und die Lohndifferenz zwischen Frauen- und Männerlöhnen seit Jahren hartnäckig 19.5 Prozent beträgt.
Die Scheinlösung der Digitalisierung
Jahrbuch Denknetz 2017: Technisierte Gesellschaft – Bestandsaufnahmen und kritische Analyse eines Hypes
Die Merkmale der Zeit- und Ortsunabhängigkeit, die viele digitalisierte Berufe mit sich bringen, sollen nun den Frauen neue Chancen für eine bessere Integration in den Arbeitsmarkt bringen. Hier zeigt sich deutlich, dass die bisherigen Analysen zur Digitalisierung der Arbeitswelt gender- und insbesondere auch careblind sind. Das Volumen der unbezahlten Arbeit übersteigt das Volumen der bezahlten Arbeit in der Schweiz, ebenso übersteigt das Volumen der bezahlten und unbezahlten Care-Arbeit (Pflege-, Betreuungs- und Haushaltsarbeit) den Umfang der industriellen und gewerblichen Produktion. Diese gesellschaftlich notwendige Care-Arbeit wird meist von Frauen erbracht und zeichnet sich durch ihre besondere Zeitstruktur (Betreuungsarbeit muss zu dem Zeitpunkt erbracht werden, wo sie anfällt, und dort, wo die zu betreuenden Personen sind) und ihre beschränkte Rationalisierbarkeit aus.
Deshalb sind einerseits traditionelle Frauenberufe wie die Pflegeberufe durch die Digitalisierung kaum gefährdet, andererseits ist es ein Trugschluss zu meinen, dass flexibilisierte Arbeitszeiten die Vereinbarkeitsproblematik von Frauen und von Personen mit Betreuungspflichten lösen. Sie müssen gleichzeitig zu Hause Essen kochen, den Kindern bei den Hausaufgaben helfen, Mails des Chefs beantworten oder einen Übersetzungsauftrag von der Crowdplattform herunterladen und zeitnah erledigen. Es handelt sich um eine Scheinlösung.
Doppelbelastung von Betreuenden durch die ständige Verfügbarkeit
Die zunehmende und einseitig verordnete Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die Intensivierung der Arbeit, die Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Familien- und Privatleben sowie die Erwartung an eine ständige Verfügbarkeit erhöhen die Doppelbelastung von Personen mit Betreuungspflichten und verstärken insbesondere in den Dienstleistungsbranchen den berufsbedingten Stress und die Burnout-Gefahr. Mit den sich aktuell wiederholenden Angriffen im Parlament auf das Schweizer Arbeitsgesetz sollen unter dem Deckmantel von „Flexibilisierung“ und „Modernisierung“ insbesondere die Arbeitszeiterfassung, aber auch die geltenden Höchstarbeits- und Ruhezeiten abgeschafft werden. Das Ziel sind noch flexibler einsetzbare Arbeitskräfte, die zu (z.B. saisonalen) Spitzenzeiten auch 70-Stunden-Wochen hinlegen können. Eine Diskriminierung von Personen mit Betreuungspflichten und daher eingeschränkter Zeitautonomie ist vorprogrammiert.
Wird also kein Gegensteuer gegeben, ist davon auszugehen, dass die Digitalisierung die Diskriminierung der Frauen in der Arbeitswelt und die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit unter den Geschlechtern verstärken wird. Der Druck für weitere Flexibilisierungen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen in den Dienstleistungsberufen wird steigen, wenn die neuen Arbeitsformen nicht aktiv gestaltet und reguliert werden. ♦
Aus Natalie Imboden & Christine Michel: Digitaler Graben – Gender und Dienstleistung 4.0; in Jahrbuch Denknetz 2017: Technisierte Gesellschaft – Bestandsaufnahmen und kritische Analyse eines Hypes; Hg: Hans Baumann, Martin Galluser, Roland Herzog, Ute Klotz, Christine Michel, Beat Ringger, Holger Schatz; Verlag edition 8, 248 Seiten, ISBN 978-3-85990-326-5
Als Beraterin für Opfer rassistischer Gewalt hat der Band „Antisexistische Awareness – Ein Handbuch“ von Ann Wiesental sofort mein Interesse geweckt. In einer Zeit, in der ein Konzept wie „Political Correctness“ von vielen BürgerInnen als eine Art um sich greifende Seuche betrachtet wird, ist Awareness im Sinne von Bewusstsein sehr wichtig.
Unsere Sprache enthält viele diskriminierende Elemente, dessen sollten wir uns auf alle Fälle zumindest bewusst sein. In Ann Wiesentals Handbuch wird das sehr treffend zum Ausdruck gebracht: „Herrschaftsverhältnisse sind in unserer Gesellschaft vielfach verschränkt. Menschen werden in unterschiedlicher Weise privilegiert oder ausgegrenzt und abgewertet. Unterdrückung und Ausbeutung findet auf verschiedenen Ebenen und im Bezug auf verschiedenste Aspekte statt: Wer hat Zugang zu Ressourcen, zu Geld, Wohnraum, Mobilität, guter Ausbildung, Jobs, Karrieremöglichkeiten, wer kann eine Familie ernähren und Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen?“ (S.32 ff.) Diese Privilegierung bzw. Diskriminierung sollte möglichst vielen Menschen bewusst gemacht werden.
Arbeit von Awareness-Gruppen im Mittelpunkt
In diesem Handbuch geht es aber nicht so sehr darum, bei einem breiten Publikum ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was Sexismus überhaupt ist und wo er zu finden ist, sondern vor allem darum, wie Unterstützungsarbeit aussehen könnte. Die Arbeit von Awareness-Gruppen, die auf Partys, Festivals und politischen Kongressen von sexistischer Gewalt und Diskriminierung Betroffene unterstützen, steht dabei im Mittelpunkt. Mir persönlich ist das alles etwas zu szenebezogen. Sollte es nicht um mehr Bewusstsein im Alltag – also auch in Schule, Uni, Arbeit und persönlichem Umfeld usw. – gehen?
Der Band richtet sich also eher an ein Fachpublikum, namentlich „Unterstützer*innen, Awareness-Gruppen und Interessierte“. Wenngleich der Klappentext auch „Betroffene von sexualisierter Gewalt“ als Zielgruppe angibt, sollte klargestellt werden, dass es sich an Betroffene richtet, die selbst tiefer in die Materie einsteigen und sich ausführlich damit beschäftigen wollen. Es ist kein Ratgeber im klassischen Sinne, sondern eben ein Handbuch, das vor allem UnterstützerInnen Anregungen und Tipps an die Hand gibt.
Tipps zur Schulung von UnterstützerInnen
Sehr gelungen finde ich dabei die umfangreiche Einleitung sowie den historischen Hintergrund. Hier wird erklärt, worum es geht und wie sich die Frauenbewegung entwickelt hat. Im Praxisteil sind zahlreiche Tipps zu finden, wie Betroffenen geholfen werden kann. Als Opferberaterin frage ich mich natürlich, inwiefern UnterstützerInnen geschult werden. Die Lektüre dieses Handbuches ist sicher nicht hinreichend, wobei hier viele Tipps zu finden sind, wie eine Schulung erfolgen kann (z.B. mit Rollenspielen etc.). Allerdings sollten UnterstützerInnen stets professionell angeleitet werden, da sonst schnell eine Überforderung eintreten kann, was auch für die Betroffenen ganz und gar nicht hilfreich ist.
Überblick auf potenzielle Probleme
Alles in allem ist Ann Wiesentals Handbuch „Antisexistische Awareness“ eine hilfreiche Lektüre für UnterstützerInnen, kann aber natürlich eine Ausbildung nicht ersetzen. Das Buch liefert auch zahlreiche Denkanstösse – hier hätte man sich allerdings einen etwas breiteren Publikumsbezug gewünscht. Jedenfalls bietet der Band viele Tipps zur Schulung von UnterstützerInnen und einen guten Überblick auf potenzielle Probleme.
Neben der konkreten Arbeit mit Betroffenen wird auch die „transformative Arbeit mit gewaltausübenden“ Personen thematisiert, weiterhin Intersektionalität, Definitionsmacht und Parteilichkeit und konsensuale Sexualität, bei der es um das gegenseitige Einverständnis geht. Natürlich wird auch das Thema „Trauma“ nicht ausgespart. Sehr gelungen und wichtig für UnterstützerInnen finde ich schliesslich den Abschnitt „Knackpunkte und Stolpersteine“, denn hier wird ein Überblick über potenziell auftretende Probleme gegeben und somit der Überforderung vorgebeugt.
Alles in allem ist Ann Wiesentals Handbuch eine hilfreiche Lektüre für UnterstützerInnen, kann aber natürlich eine Ausbildung nicht ersetzen. Das Buch liefert auch zahlreiche Denkanstösse – hier hätte ich mir allerdings einen etwas breiteren Publikumsbezug gewünscht.
Eine Vermehrung des materiellen Wohlstandes – das soll einmal grundsätzlich festgestellt sein – bewirkt in gar keiner Weise ein echtes moralisches Wachstum.
(Mahatma Gandhi)
Rassismus in der Schweiz: Eine Welle des Fremdenhasses überrollt das Land. In einer Zeit, in der die Flüchtlingsströme der Zweiten und Dritten Welt vermehrt in die Erste fliessen, verschärft die Schweizer Regierung in verschiedenen Anläufen mit dem Segen des Volkes das Asylgesetz und schickt die Armee an die Grenze, um illegale Einwanderer abzufangen. Die humanitäre Tradition des reichsten Landes der Welt erschöpft sich in der Ghettoisierung der Asylsuchenden und in abgedroschenen Floskeln der Politiker. Afghanische, äthiopische, syrische und andere Männer, Frauen und Kinder, die vor politischer Verfolgung, Kerker, Folter, Streu-, Phosphor- und Gasbomben zu uns fliehen, finden hier oft nur gegen den massiven Willen der ortsansässigen Behörden und Bevölkerung ein provisorisches Zuhause. Die neuen Nachbarn sprechen ihnen das Recht ab, an unserer Gesellschaft teilzuhaben.
Nicht integriert, sondern ausgegrenzt
„Flüchtlinge werden nicht angenommen, sondern geduldet; sie werden nicht in die Gemeinschaft integriert, sondern ausgegrenzt“ (Peter Fahr). Bild: Flüchtlinge aus Eritrea während ihrer selbstmörderischen Bootsfahrt übers Mittelmeer nach Europa
Flüchtlinge werden nicht angenommen, sondern geduldet; sie werden nicht in die Gemeinschaft integriert, sondern ausgegrenzt. Arbeit hat es für sie auf dem Bau, im Gastgewerbe, in Reinigungsinstituten und ähnlichen Berufszweigen. Mit ein paar Franken Sackgeld haben sie auszukommen und der Gerechtigkeitssinn mancher Schweizer sähe auch dieses Geld lieber in der eigenen Tasche. Die Wartezeit von der Einreichung des Asylgesuchs bis zum definitiven Bescheid der zuständigen Stellen zehrt an den Nerven und nur wenige Bewerber – das betrifft sogar Kinder, die ganz allein und ohne Eltern unterwegs sind – erhalten schliesslich Asyl. Die anderen werden in Drittländer ausgewiesen oder in ihr Heimatland abgeschoben, wo sie nicht selten im Gefängnis landen und gefoltert werden.
Fanatische Neonazis in der Schweiz
Doch die Ausländerfeindlichkeit begnügt sich nicht mehr mit einer unmenschlichen Asylpolitik, mit Parteiparolen, Hetzkampagnen und der Schaumschlägerei am Stammtisch und in Internetforen. Sie ist über die Mitgliederlisten von Schweizer Demokraten (SD), Aktion für eine unabhängige Schweiz (Auns) und Schweizerischer Volkspartei (SVP) hinausgewachsen und nistet sich ein in den Herzen der Unzufriedenen, Ängstlichen und Zukurzgekommenen. Mussten in den 60er, 70er und 80er Jahren Gastarbeiter und Saisonniers, in den 90er und 00er Jahren Tamilen und Tschetschenen verbale Prügel einstecken und nach Süditalien, Spanien, Griechenland, Sri Lanka und Tschetschenien zurückkehren, bangen die Asylbewerber heute um ihr Leben.
„Was Politiker, Stimmbürger und Beamte in die Wege geleitet haben, wird von Presse, Rundfunk und Fernsehen vernachlässigt oder verharmlost und somit gutgeheissen“: Abstimmungs-Plakat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) für ihre Initiative „Masseneinwanderung stoppen“
Denn auch die Schweiz hat ihren Ku-Klux-Klan, unverbesserliche und fanatische Neonazis, die nicht nur Konzerte wie jenes in Unterwasser im Toggenburg im Oktober 2016 veranstalten, an denen deutsche Szenebands wie Frontalkraft, Stahlgewitter, Confident of Victory und die Schweizer Gruppe Amok auftreten, sondern auch Flüchtlinge zusammenschlagen oder Brandanschläge auf Asylunterkünfte verüben. Ihre Aktionen erinnern an die nationalsozialistischen der 30er Jahre und machen Schlagzeilen: Drohungen und Anpöbelungen, Brandstiftung und Bombenanschläge, Schlägereien und Totschlag. Während Flüchtlinge bedroht und verprügelt und ermordet werden, steht die Polizei abseits. Sie beobachtet und umzäunt höchstens Durchgangsheime und Asylunterkünfte mit Stacheldraht. Der Bundesrat ruft dazu auf, weitere Gewalttätigkeiten zu verhindern, und die Polizei erwägt zum Schutz der Asylbewerber die Installation von Flutlichtanlagen und Elektrozaun und diskutiert den Einsatz von Hundeführern. Dass diese Massnahmen kontraproduktiv sein könnten, da sie die Heimbewohner von ihrer Umgebung abkapseln und die fremdenfeindlichen Schläger zu neuen Angriffen herausfordern, scheint den Verantwortlichen unerheblich.
Bedachtes Schweigen statt öffentliches Gespräch
„Sieg Heil Sieg Heil !“ – Versteckte Aufnahmen des Neonazi-Rockkonzertes in Unterwasser (St.Gallen) 2016 (Quelle: BLICK-Video – Screenshot)
Wo das öffentliche Gespräch geführt werden sollte, herrscht betretenes oder bedachtes Schweigen. Wo Ursachen- und Präventionsforschung betrieben werden müsste, wird ausgewogen Bericht erstattet. Was Politiker, Stimmbürger und Beamte in die Wege geleitet haben, wird von Presse, Rundfunk und Fernsehen vernachlässigt oder verharmlost und somit gutgeheissen. Die Schlagzeilen verblassen und die Bilder der Stacheldrahtverhaue sind schnell vergessen – es kann zur Tagesordnung übergegangen werden. Offensichtlich spiegeln die Medien bloss eine weitverbreitete satte Zufriedenheit, die Enttäuschung und Wut verheimlicht, eine Selbstherrlichkeit, die sich auch Verletzte und Tote leisten kann. Vermutlich sind nicht wenige Zuschauer, Hörer und Leser insgeheim sogar froh über die gewalttätigen Mitbürger, die es „den Schmarotzern“ endlich mal zeigen.
Lukrative Schweizer Waffenausfuhr in Krisenherde
Die Ausländerfeindlichkeit war bisher latent vorhanden in der Benachteiligung der Ausländer auf dem Arbeitsmarkt, wo diese ungleiche Bedingungen und eine niedrigere Entlöhnung in Kauf zu nehmen haben; in der scheinheiligen Entwicklungspolitik des Bundes, die ein Mehrfaches der Investitionen aus der Dritten Welt herauspresst; im „Bankenbanditismus“ (Jean Ziegler), der die Annahme von Flucht- und Drogengeldern und damit die Mitverantwortung für die Verschuldung der Entwicklungsländer beinhaltet; in der jahrelangen wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenarbeit mit Unrechtsregimes wie der Türkei, China und Saudi-Arabien; in der lukrativen Waffenausfuhr in Krisenherde und Diktaturen. Die Gesinnung, die der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Völker und Nationen zugrunde liegt, zeigt sich auch in der hartnäckigen Schweizer Weigerung, der EU beizutreten. Diese Gesinnung, die egomanische Verachtung all derer, die jenseits der Grenzen leben, offenbart sich nun in der grausamen Ausländerhetze innerhalb der Landesgrenzen. Wie konnte es so weit kommen?
Ohnmacht
Die gesellschaftliche Orientierungskrise im Zeitalter der Umweltzerstörung – Stichwort Klimakatastrophe – erfasst Privilegierte und weniger Privilegierte. Die Ohnmacht gegenüber dem Lauf der Dinge fördert Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle, die in Misstrauen gegen Menschen, Schichten, Minderheiten und Ethnien umschlagen, die auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter stehen. Dazu gehören die Ausländer und Flüchtlinge. Der gegen sie gerichtete Hass vermag die eigene soziale Identität aufzuwerten und suggeriert Selbstsicherheit.
Futterneid
Das auf Wettbewerb ausgerichtete westliche Gesellschafts-, Wirtschafts- und Finanzsystem macht aus Menschen Gegner. Der Konkurrenzkampf um Wohnraum, Arbeitsplatz, Privileg und vieles mehr beutelt hauptsächlich un- und halbqualifizierte Arbeitnehmende und sozial schwache Familien; er gipfelt im Futterneid. In der Projektion der eigenen Angst vor einer ungewissen Zukunft auf Ausländer und Flüchtlinge zeigt sich der Versuch, die Machtposition in der Gemeinschaft zu behaupten.
Intoleranz
Die Unternehmer, Global Players und Financiers, die das Medienkarussell – Zeitungen, TV und Internet – mit Strom versorgen, liefern der Masse nur Informationen, die das politische System, das ihre Machtposition ermöglicht, festigen. Demokratie ist gut, solange sie ihre nationalen und transnationalen Machenschaften nicht tangiert. Die Informationsflut, der wir ausgesetzt sind, besteht grösstenteils aus Unterhaltung. Wer sich unterhält, informiert sich nicht. Vorurteile beruhen auf einem Mangel an Information und Wissen. Diese geistige Beschränktheit, dieses Bewusstseinsvakuum begünstigt die Intoleranz gegenüber den Flüchtlingen, über die man sich die schauerlichsten Geschichten erzählt, statt sich über ihre Kultur und ihren Schweizer Alltag zu informieren.
Schuldzuweisung
Die Mitverantwortung des Einzelnen für die bestehenden Missstände wiegt schwer. Gewissen und Handeln klaffen weit auseinander. Diese Schuld wird verdrängt, indem sie delegiert wird. Indem auf andere verwiesen wird, braucht man sich selbst nicht zu hinterfragen. Die Asphaltierung und Zubetonierung der Landschaft beispielsweise, so wird argumentiert, wäre ohne den Anteil der ausländischen Bevölkerung weniger weit fortgeschritten. Der Ausländer wird für das eigene Fehlverhalten haftbar und zum Sündenbock gemacht.
Rassismus
Sowohl die bürgerlichen Parteien wie auch die Sozialdemokraten unterschätzen nach wie vor die sozialen, militärischen und ökologischen Herausforderungen. Sie haben keine wirksamen Programme zur Hand. Viele Wähler sind enttäuscht und suchen neue Leit- und Vorbilder. Auf die komplexen Fragen dieser Zeit geben rechtsextreme Parteien und neonazistische Vereinigungen klare Antworten. Sie bestätigen, statt zu verunsichern. Ihr nationalistisches Weltbild bietet den Verwirrten neuen Halt, ihr rassistisches Gedankengut stärkt die Schwachen. Je grösser die nationalen und globalen Bedrohungen, desto grösser die Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen. Angst und Aggression machen sich Luft in der Diskriminierung von Andersartigen. Wer die Ethnien der Ausländer und Flüchtlinge zu degenerierten Rassen erklärt, verbirgt damit die eigene Degeneration.
Eine Welle des Fremdenhasses überrollt das Land. Machen wir uns nichts vor: Die meisten werden aufspringen, um nicht von ihr begraben zu werden. Mögen wir anderen den Mut aufbringen, in die Konfrontation einzutauchen und für die Vertriebenen und Verfolgten einzustehen. ♦
Gedichte zum Thema Ausländerfeindlichkeit
von Peter Fahr
Kürzlich
Kürzlich starben nahe der syrischen Grenze sieben jordanische Soldaten bei einem Selbstmordanschlag und Jordaniens Armee erklärte die Region zum Kriegsgebiet
Tausende syrische Flüchtlinge Männer Frauen Kinder harren seit acht Tagen aus in der jordanischen Wüste ohne Nahrung und Medizin ohne Aussicht auf Rettung
So viele Vertriebene die Hälfte davon Kinder sind ausgeliefert der Angst dem Hunger dem Fieber und brauchen dringend Hilfe in der glühenden Hitze
Die Sonne brennt Haut und Lippen platzen die Eingeweide verklumpen der Atem setzt aus und die leeren Augen der Verzweifelten brechen
Wir sind Touristen
Sie flüchten mit Booten aufs offene Meer
und viele ertrinken vor diesen Küsten.
Wir stürzen uns in die erfrischende Flut,
als ob wir nichts von den Flüchtlingen wüssten.
Wir liegen am Strand und träumen die Tage.
Wir leben gern. Was gehen uns Tote an?
Mietwagen und Hotelsuite klimatisiert.
Pizza und Pasta. Und ein Bier dann und wann.
Wir erholen uns hier, wir sind Touristen.
Wir cremen uns mit Schutzfaktor 50 ein.
Im Windschatten wachsender Leichenberge
bräunt uns der lampedusische Sonnenschein.
Geb. 1958 in Bern/CH, Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Bern, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Veröffentlichungen in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, Autor von Hörspielen, politischen Gedichten und zeitkritischen Essays, Träger verschiedener Literaturpreise, lebt in Bern
Der Kopf des Monats im Scherenschnitt von Simone Frieling: Angela Merkel
Die Mainzer Schriftstellerin und Künstlerin Simone Frieling stellt im Glarean Magazin jeweils einen „Kopf des Monats“ in Form von Scherenschnitten vor.
„Ritzeratze – Dieses war der dritte Streich Doch der vierte folgt sogleich“: Donald Trump & Moritz (Wilhelm Busch)
Die Mainzer Schriftstellerin und Künstlerin Simone Frieling stellt im Glarean Magazin jeweils einen „Kopf des Monats“ in Form von Scherenschnitten vor.
Mysteriöse Gender-Aspekte des Literatur-Nobelpreises
von Prof. Dr. Markus Winkler
Der Literaturnobelpreis, den die Schwedische Akademie seit 1901 jedes Jahr vergibt (Ausnahmen waren die Kriegsjahre 1914, 1918 und 1940-1943), wurde bislang 98 Schriftstellern und 14 Schriftstellerinnen zugesprochen. Die Gründe für dieses Ungleichgewicht sind vielfältig, wie Simone Frieling im Nachwort zu ihrem neuen Buch „Ausgezeichnete Frauen – Die Nobelpreis-Trägerinnen für Literatur“ darlegt: Bis zum Jahr 1914, als Selma Lagerlöf, selbst Preisträgerin des Jahres 1909 (und die erste Frau, die mit dem Preis ausgezeichnet wurde), in die Akademie eintrat, hatte diese kein weibliches Mitglied, und selbst heute arbeiten nur vier Frauen aktiv in ihr mit.
Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts allerdings wird der Preis in kürzeren Abständen an Frauen vergeben, und seit 2015 ist eine Frau, die Literaturwissenschaftlerin Sara Danius, Vorsitzende der achtzehnköpfigen Jury, die für die Preisvergabe verantwortlich ist – eine einschneidende Veränderung, wie Frieling unterstreicht. Dergleichen Veränderungen seien in den Jahrzehnten bis 1990 gewiss dadurch erschwert worden, dass die Mitgliedschaft in der Akademie lebenslang ist. Und schliesslich seien die Normen der Bewertung von Gegenwartsliteratur bekanntlich überaus abhängig vom jeweiligen „Zeitgeist“. Dementsprechend bleibe die Arbeit des Nobelpreiskomitees in vielerlei Hinsicht „Ein Mysterium“ (so der Titel von Frielings Nachwort, der eine Äusserung von Horace Engdahl, dem langjährigen Akademie-Sekretär, aufgreift). Der Eindruck des Mysteriös-Intransparenten stellt sich in der Tat beim Rückblick auf manche der Entscheidungen ein: Warum wurde z.B. 1926 „die rückwärtsgewandte Grazia Deledda“ ausgezeichnet und 1938 „die literarisch weniger bedeutende Pearl S. Buck“, während Virginal Woolf „nicht einmal in Erwägung gezogen worden ist“ (S. 286-287)? Und warum, so möchte man im Hinblick auf die Zeit seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts hinzufügen, wurde die grosse französische Schriftstellerin Nathalie Sarraute, eine bedeutende Repräsentantin des „nouveau roman“, nicht ausgezeichnet, wohl aber im Jahre 2004 Elfriede Jelinek – eine bekanntlich überaus kontroverse Entscheidung, die u.a. zum Rückzug eines der Juroren aus der Akademie führte?
Licht ins Dunkel der Nobelpreis-„Mysterien“
Beleuchtet die mysteriöse Tatsache, warum kaum Frauen den Literatur-Nobelpreis erhalten: Autorin und Künstlerin Simone Frieling
Frieling versucht, Licht in solche ‚Mysterien‘ zu bringen: zunächst in ihrem einleitenden Kapitel über Alfred Nobel und die Geschichte der Nobelpreis-Verleihung, dann in jedem der vierzehn, chronologisch angeordneten essayistischen Porträts der Nobelpreisträgerinnen. Dabei berücksichtigt sie die Argumente, mit denen die Akademie die jeweilige Auszeichnung begründete, und die Reaktionen der literarischen oder auch politischen Öffentlichkeit ebenso wie den Lebensweg und schriftstellerischen Wedergang der Ausgezeichneten und die spezifischen Kontexte ihres Schreibens (Anfeindungen seitens einer männlich dominierten Kritik, Konflikte mit der Mutterrolle, Exil etc.). Vor allem aber zeichnet sie in jedem Kapitel ein prägnantes literarisches Profil der jeweiligen Autorin.
Die eigenen sehr kunstvollen Scherenschnitte, die sie den Kapiteln voranstellt, stimmen das Lesepublikum ebenso auf diese Vorgehensweise ein wie die jeweiligen Untertitel. „Die streitbare Chronistin des schwarzen Amerika“, lautet z.B. derjenige des Kapitels über Toni Morrison, deren Scherenschnitt vor Augen führt, dass diese Chronistinnen-Arbeit immer auch eine Auseinandersetzung mit der „whiteness“ beinhaltete (die schwarze Silhouette wird hier verdoppelt durch den weissen Ausschnitt). In jedem Kapitel gewinnt das literarische Profil dadurch an Deutlichkeit, dass zwar das gesamte Oeuvre zumindest ansatzweise Erwähnung findet, aber einige herausragende Werke genauer charakterisiert werden. In dem Kapitel über Selma Lagerlöf z.B. sind es insbesondere Gösta Berling und Nils Holgerson, in dem über Nelly Sachs das Gedicht „Schmetterling“, in dem über Nadine Gordimer, die ihre Schreiben ganz in den Kampf gegen die Apartheid gestellt habe, der Roman July’s People, in dem sich das Herrschaft-Dienerschaft-Verhältnis verkehre, und der „Entwicklungsroman“ Burger’s Daughter; in dem Kapitel über Toni Morrison der ist es der Generationenroman Song of Solomon und in dem über Elfriede Jelinek der Roman Lust, den Jelinek selbst als vergeblichen Versuch eines „weiblichen Pornos“ ankündigte, der sich aber durchaus so lesen lasse.
Kenntnisreicher und engagierter Beitrag
Simone Frielings Monographie „Ausgezeichnete Frauen – Die Nobelpreisträgerinnen für Literatur“ ist ein sehr kenntnisreicher, engagierter und ansprechender Beitrag zu einem wichtigen Aspekt der Geschichte des Literaturnobelpreises.
Simone Frielings Porträts der ‚ausgezeichneten Frauen“, zu denen ausser den bereits Genannten die Autorinnen Sigrid Undset, Gabriela Mistral, Wisława Szymborska, Doris Lessing, Herta Müller, Alice Munro und Swetlana Alexijewitsch zählen, sind immer nuanciert, aber auch wertend: So bemerkt sie z.B., dass Nadine Gordimer anders als ihr Freund J.M. Coetzee in künstlerischer Hinsicht „keine neuen Anstösse gegeben“ habe, sondern den „Konventionen realistischen Erzählens treu“ geblieben sei (S. 151); in Toni Morrisons neuestem Roman Home wiederum schwäche die „Anhäufung der Grausamkeiten“ (S. 167) die Geschichte, die erzählt werde. Das Lesepublikum muss diese und andere Wertungen nicht teilen, wird sie aber als Leseanregungen ebenso zu schätzen wissen wie die Offenlegung von Widersprüchen und Ungereimtheiten im Schreiben und Leben der Autorinnen (etwa die Tatsache, dass Selma Lagerlöf, Frauenrechtlerin und Pazifistin, eindeutige Stellungnahmen gegen die Nationalsozialisten vermied). Nützlich sind schliesslich die weiterführenden Angaben zur deutschsprachigen Forschungsliteratur am Ende jedes Kapitels.
Frielings Monographie ist ein sehr kenntnisreicher, engagierter und ansprechender Beitrag zu einem wichtigen Aspekt der Geschichte des Literaturnobelpreises. Zur guten Lesbarkeit des Buches tragen u.a. die Querverweise zwischen den Kapiteln, die Skizzen rezeptionsgeschichtlicher Zusammenhänge und vor allem der gepflegte Schreibstil der Autorin bei. Das Buch wendet sich sowohl an ein breites literaturinteressiertes Lesepublikum als auch an Komparatistinnen und Komparatisten, die ihm z.B. die Frage entnehmen können, inwiefern der Literatur-Nobelpreis zur Genese einer spezifisch weiblichen Weltliteratur beigetragen hat. ♦
Simone Frieling: Ausgezeichnete Frauen – Die Nobelpreisträgerinnen für Literatur, Verlag LiteraturWissenschaft.de, 280 Seiten, ISBN 978-3936134513
Geb. 1955, Studium der Romanistik, Germanistik, Philosophie und Pädagogik in Bonn, Paris und Lausanne, Lehrtätigkeit an den Universitäten Genf und Pennsylvania/USA (1992–1998), 2002-2014 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, seit 1998 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Genf, zahlreiche fachwissenschaftliche Buch-Publikationen und herausgeberische Arbeiten
Geb. 1958 in Bern/CH, Studium der Germanistik an der Universität Bern, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Veröffentlichungen in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, Autor von Hörspielen, politischen Gedichten und zeitkritischen Essays, Träger verschiedener Literaturpreise, lebt in Bern
Dem ehemaligen Verleger im Ostberliner Aufbau-Verlag und Freund Walter Janka gewidmet.
von Wolfgang Windhausen
Walter Janka – ein tapferer Mensch und Kommunist durch und durch, der sich von Jugend an für seine Überzeugungen und Ideale engagierte und viele Nachteile in Kauf genommen hat. Er war einer der prominentesten reformkommunistischen Intellektuellen, die nach dem XX. Parteitag in Moskau 1956 eine Demokratisierung der DDR verlangten.
Vielen in der DDR wurde der Name Walter Janka erst ein Begriff, als im Ost-Berliner Deutschen Theater der Schauspieler Ulrich Mühe am 28. Oktober 1989 aus den Erinnerungen Walter Jankas „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ gelesen hatte. Über Freunde vom Fernsehen hatte ich noch eine Karte für die schnell ausverkaufte Lesung bekommen. Die total überfüllte Veranstaltung am Abend wurde auch mit Lautsprechern auf den Vorplatz übertragen.
Berlin, Juli 1955: Aufbau-Verlags-Leiter Janka (r.) an einer Pressekonferenz mit DDR-Kulturminister Johannes R. Becher (Mitte) und dessen persönlichem Referenten K. Tümmler
Diese Lesung Jankas zählte zu jenen Tropfen, die das Fass zum Überlaufen gebracht haben in der vom Verfall ergriffenen Deutschen Demokratischen Republik. Mich bewegte das alles derart, dass ich Kontakt mit Walter Janka aufnahm, der mich dann zu einem Kaffee in sein Haus nach Kleinmachnow bei Berlin einlud. Aus dieser ersten Begegnung, der noch viele folgten, entwickelte sich eine von Achtung und Herzlichkeit geprägte Freundschaft, die bis zu Jankas Tod währte.
Verwundet im Spanischen Bürgerkrieg
Der Autor mit Walter Janka (rechts)
In den Gesprächen berichtete der 1914 geborene Walter Janka aus seinem ereignisreichen Leben: Von seiner Lehre und dem Beruf als Schriftsetzer, von seinem Eintritt in die KPD und von seiner Verhaftung nach der Machtergreifung der Nazis 1933 als Mitglied der Kommunistischen Partei. Er wurde zuerst in das Zuchthaus Bautzen und anschliessend in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Sein ältester Bruder Albert war KPD–Reichstags-Abgeordneter und wurde 1933 im KZ Reichenbach ermordet.
Walter Janka wurde nach der Haft aus Deutschland ausgewiesen und erlebte drei Jahre lang eine teils schlimme Zeit in den Internationalen Brigaden des Spanischen Bürgerkrieges. Wie er weiter erzählte, war er dort an allen grossen Schlachten beteiligt und wurde dreimal schwer verwundet, darunter mit zwei Lungensteckschüssen, die ihm auch später noch zu schaffen machten. Er erzählte von der Internierung in Frankreich und der Flucht 1941 nach Mexiko.
Mitbegründer des Exilverlages El Libro Libre
Janka mit seiner Lebensgefährtin Charlotte Schulz
In Marseille lernte er seine spätere Frau Charlotte Scholz kennen, die mit ihm zusammen nach Mexiko ging. Dort traf er mit Genossen zusammen, die Mitbegründer der Bewegung sowie der Zeitschrift „Freies Deutschland“ waren. Janka war auch Mitbegründer des Verlages El Libro Libre, dessen Leiter er später wurde. Dieser Verlag war der berühmteste und erfolgreichste Exilverlag auf dem Amerikanischen Kontinent in dem, neben 30 anderen Büchern, auch Anna Seghers bedeutendes „Siebte Kreuz“ und Egon Erich Kischs „Entdeckungen in Mexiko“ veröffentlicht wurden.
Er kehrte im Januar 1947 mit seiner Lebensgefährtin, die er dann heiratete, zusammen mit Ludwig Renn nach Berlin zurück und wurde Generaldirektor der DEFA. Anfang 1952 übernahm er mit dem Aufbau-Verlag den bedeutendsten belletristischen Verlag der DDR. U. a. schrieb er für Blochs „Wissen und Hoffen“ das Vorwort, und unter seiner Ägide erschienen Werkausgaben von Heinrich und Thomas Mann, Arnold Zweig, Leonard Frank, Georg Lukacs und Ernst Bloch.
Walter Janka berichtete mir von Begegnungen mit Halldor Laxness in Berlin, der bei seinen Besuchen dort nie die Vorstellungen des „Berliner Ensembles“ versäumte, und der Janka auch zur Nobelpreisverleihung nach Stockholm einlud. Ich erfuhr auch von seinen Beziehungen zu Thomas Mann in Kilchberg; weil Thomas Mann die Honorare für seine in der DDR gedruckten Bücher nicht ausführen konnte, liess er sich dafür einen Nerzmantel in Ost-Berlin fertigen, den Janka ihm in die Schweiz brachte.( Neben bei bemerkt: Erika Mann leistete sich aus diesem Guthaben, anlässlich eines Berlinbesuches, einen Persianermantel).
Im Laufe der Gespräche streute Walter Janka mitunter auch Anekdoten von Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten in Ost und West ein, so u. a. von dem Besuch Thomas Manns in Weimar 1955, von Leonard Frank, Johannes von Guenther und Erich Kästner. Besonders fasziniert war Janka von einem Besuch bei Charlie Chaplin am Genfer See, welchen Thomas Mann vermittelt hatte.
Schauprozess wegen konterrevolutionärer Verschwörung
DDR-Justiz-Ministerin und Schauprozess-Vorsitzende im Ulbricht-Staat: Hilde Benjamin, genannt „Die blutige Hilde“
Nach dem Ungarn-Aufstand wird Janka am 6. Dezember 1956 verhaftet. Ihm wird „konterrevolutionäre Verschwörung“ gegen die Regierung Ulbricht vorgeworfen. Im anschliessenden Schauprozess beschuldigt man ihn, er habe „das Haupt der Konterrevolution Georg Lukacs“ von Budapest nach Ost-Berlin schmuggeln wollen. Janka erzählte mir, wie betroffen er gewesen sei, dass niemand seiner Kollegen und Freunde gegen die unwahren Behauptungen im Prozess protestierte; Anna Seghers, Willi Bredel, Bodo Uhse, Helene Weigel und andere, die von Ulbricht „verdonnert“ waren am Prozess teilzunehmen, blieben stumm. Janka berichtete ebenfalls von dem Prozess, in dem er sich trotz brutaler Verhöre und übelster Haftbedingungen kein Geständnis abpressen liess. Das grosse Interesse der Regierung an diesem Prozess wurde dadurch dokumentiert, dass die gefürchtete Hilde Benjamin, die damalige DDR Justizministerin, häufig persönlich an ihm teilnahm. (Hilde Benjamin wurde im DDR-Volksmund auch die „Rote Guillotine“, „Rote Hilde“ oder „Blutige Hilde“ genannt, weil sie für eine Reihe von Schauprozessen gegen Oppositionelle, Sozialdemokraten und willkürlich angeklagte Personen sowie für zahlreiche Todesurteile mitverantwortlich war). Sehr ausführlich schildert Walter Janka den Schauprozess in seinem Buch „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ (Rowohlt 1989). Obwohl Jankas Anwälte mutig für Freispruch plädierten, wurde er zu fünf Jahren Zuchthaus mit verschärfter Einzelhaft verurteilt, die er im Staatssicherheitsgefängnis Bautzen verbrachte. In Bautzen erkrankte er so schwer, dass seine Frau ihre eigene lebensgefährliche Erkrankung verschwieg.
Attraktive Angebote aus dem Westen abgelehnt
Das Ehepaar Janka (mit persönlicher Widmung an den Autor)
Nach seiner Entlassung war der einst einflussreiche Walter Janka arbeitslos. Demütigende Angebote lehnte er ab, genauso wie attraktive Angebote aus dem Westen. Frühere Autoren verhalfen ihm zu einer Stelle als Dramaturg bei der DEFA, und Marta Feuchtwanger ebenso wie Katia Mann machten Vergaben von Roman-Filmrechten an die DEFA davon abhängig, dass Janka an der Realisierung mitwirkte. Insgesamt zwölf Spielfilme entstanden unter seiner Beteiligung, u.a. „Lotte in Weimar“ und „Die Toten bleiben jung“.
1972 wurde Janka pensioniert. In seinen letzten Jahren konnte er sich wieder zu Wort melden, auch in Publikationen der DDR zu Themen, die den Spanischen Bürgerkrieg berührten. Zum 1. Mai 1989, kurz vor seinem 75. Geburtstag, wurde ihm der „Vaterländische Verdienstorden“ verliehen. Eine Rehabilitierung für das an ihm verübte Unrecht war das nicht; diese wurde erst 1990 vom Obersten Gericht der DDR ausgesprochen.
1990/91 kommt es zwischen Wolfgang Harig und Walter Janka zu einem Prozess wegen Verleumdung. Janka hatte in seinen Erinnerungen Harig wegen dessen Verhalten während seiner Verfolgung durch das Ulbricht-Regime kritisiert. Diese Kritik wurde von Harig zurückgewiesen bzw. zu relativieren versucht; 1993 endet das Gerichtsverfahren mit einem Vergleich.
Zuletzt sah und sprach ich Janka anlässlich einer meiner Lesungen in Berlin, einige Monate vor seinem Tod im März 1994. – Über zwei Jahrzehnte hin wurde Walter Janka vergessen, aber ich hoffe sehr, dass dieser integere, sich selbst und seinen Idealen treu gebliebene Mensch auch von den Nachgeborenen wieder entdeckt und gewürdigt wird. ♦
Geb. 1949, Schriftsteller, Lyriker, Menschenrechtler; zahlreiche Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften des In- und Auslandes, über 20-jähriges Engagement bei Amnesty International, Mitglied des Internationalen P.E.N. – Träger des „Niedersachsen-Preises für Bürgerengagement“; Mitarbeiter des Deutschen P.E.N.-Komitees „Writers in Prison“; Lebt in Duderstadt/BRD und Berlin (Foto: H. Hauswald)
Der MVG-Verlag, in dem das Buch „Auge um Auge“ von Ameneh Bahrami erschienen ist, hat eine Philosophie: Man will Mut machen und kompetente Hilfe in allen Lebenslagen bieten. Die Bücher, die im Verlag erscheinen, sollen für ein unbeschwertes, glückliches und bewusstes Leben stehen. Der MVG-Verlag versteht sich als zukunftsorientierter Ratgeberverlag mit den thematischen Schwerpunkten Persönlichkeitsbildung und Motivation. Sein Programm umfasst rund 700 lieferbare Titel. Im Bereich Lifestyle erscheinen Hardcover und Taschenbücher zu verschiedenen Themen. Und so kündigt er das Buch, um das es hier geht, an: „Das Buch gibt allen Frauen Kraft, für ihr Leben und ihre Freiheit einzustehen. Es ist die Geschichte einer unglaublich starken Frau.“
„Auge um Auge“ hat 256 Seiten und ist ein Hardcover-Band. Bevor ich auf den Inhalt eingehe, erlauben Sie mir einen Blick auf den Einband. Vorne direkt unter dem Titel steht: „Ein Verehrer schüttete mir Säure ins Gesicht. Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand.“ Zwei Augen in einem ansonsten mit einem Schleier verborgenen Gesicht springen dem Leser – bzw. der Leserin, denn Frauen sind die Zielgruppe – entgegen. Derlei Bucheinbände gibt es mittlerweile vielfach – ja, ist denn dem Verlag nichts Eigenes eingefallen?
„Auge um Auge“ als Bestandteil des Alten Testaments und der Scharia
Aber sehen wir uns den Titel näher an: „Auge um Auge“. Wer kennt das Zitat nicht? Soweit so gut: der Verlag setzt auf zwei bekannte und in vielen Menschen umhergeisternde Vorstellungen, um sein Buch zu vermarkten und neu im Unterbewusstsein zu verankern. Die Leute sollen kaufen! Das ist legitim, denn damit verdient ein Verlag sein Geld. Und er hat Recht: vermutlich geht für eine kurze Zeit – denn länger reicht das Gedächtnis und die Geduld der Leser nicht mehr – genau mit dieser Kombination die Rechnung auf. Daran verdient hoffentlich auch die Autorin.
Auge für Auge (hebräisch עין תÖחת עין ajin tachat ajin) ist Teil eines Rechtssatzes aus dem Sefer ha-Berit (hebr. Bundesbuch) in der Tora für das Volk Israel (Ex 21,23–25 EU). In der heutigen Umgangssprache wird Auge für Auge überwiegend unreflektiert als Ausdruck für gnadenlose Vergeltung verwendet. Übersetzt als Auge um Auge (und zusammen mit Zahn um Zahn) wird das Teilzitat zur Anweisung an das Opfer oder seine Vertreter, dem Täter Gleiches mit Gleichem „heimzuzahlen“ bzw. sein Vergehen zu sühnen. Dass es ursprünglich auch im Alten Testament (2. Moses 21, 24) darum ging, Rache abzuwehren und Gewalt zu begrenzen, ist nur wenigen präsent.
Im Iran, dem Heimatland der Erzählerin, ist aufgrund der rund 1300 Jahre alten Scharia-Gesetze, die bei vorsätzlicher Tötung und vorsätzlicher Körperverletzung das Vergeltungsprinzip („Qisas“) darstellen, sogar vorgesehen, dass der Täter das erleiden soll, was er seinem Opfer angetan hat.
Der Erzählerin wird nach einer Gerichtsverhandlung eben dieser Urteilsspruch zuteil, dergleichen vornehmen zu dürfen. Zwar darf sie für zwei ihrer Augen zunächst nur ein Auge des Täters blenden, aber sie kann ja das zweite hinzukaufen. Eine Frau ist eben nur halb so viel wert wie ein Mann. Sie bekommt schliesslich doch seine beiden Augen…
Sich für ein Leben allein entschieden
Einst jung und schön, heute entstellt und blind: Säureopfer Ameneh Bahrami
Ameneh ist eine junge Frau, die an der Freien Universität in Teheran Elektrotechnik studiert. Vom Tschador hält sie nicht viel: sie trägt lieber einen knielangen weissen Mantel und ein Kopftuch. Damit macht sie sich natürlich nicht nur Freunde, und setzt sich den Männerblicken und auch so mancher Anmache aus. Im Jahre 2003 ist eine Frau im Iran alles andere als hamsar und auf Augenhöhe eines Mannes, und scheint am besten in einer (wie auch immer arrangierten) Ehe aufgehoben. Die Nach-Khomeini-Zeit – aber nicht nur diese – hat seltsame männliche Exemplare und verquer-menschenverachtende Ansichten hervorgebracht. Nun ist es nicht ungewöhnlich und überraschend, dass in einer reglementierten Gesellschaft das Dunkle ungleich böser zum Ausbruch drängt.
Nicht alle sind „infiziert“, aber eben viel zu viele. Ameneh kann sich damit nicht abfinden und glaubt an die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens. Sie hat für ihr Studium gekämpft und sich mehrfach beworben, dann hat sie Jobs angenommen, um sich dieses Studium zu finanzieren – etwas, das Frauen im Westen ebenfalls kennen, denn auch uns wird nichts geschenkt. Sie hat einen jungen Mann, in den sie wirklich verliebt war, nicht geheiratet, weil er sich als eifersüchtig und kontrollierend entpuppte und sie am liebsten gleich in die Küche verbannt hätte. Sie hat sich für ein Leben allein entschieden – für solange, bis der „Richtige“ käme. Da beginnt ein um drei Jahre jüngerer Mann, sie zu bedrängen – und das Ganze endet in der inzwischen weltweit bekannten Katastrophe: als sie ihn abweist, schüttet er ihr Säure ins Gesicht, sie erblindet.
Tragik medial ausgenützt
Was Ameneh Bahrami durchgemacht hat, ist erschütternd, da gibt es keine Diskussion. Was nur können Menschen Menschen antun! Und wieso lässt Gott das zu, warum lässt er zu, dass ein heranwachsendes Leben zerstört wird und ein Mensch tiefer und tiefer fällt, bis auf den Grund seiner Menschenwürde? Soll er daran zugrundegehen oder soll er wachsen? Ist das die Lektion des Lebens?
Ameneh bemerkt in ihrer Hilflosigkeit bald, wer Freund und wer Feind ist, sie lernt zu unterscheiden, wer sie versteht, und wer schadenfroh ist. Sie ist bewusst und sich ihrer eigenen Empfindungen gewahr. Der Gedanke an Rache kommt dann auf, wenn man seelisch überfordert ist und von der anderen Seite, die man selbst noch vor sich in Schutz zu nehmen beginnt, keinerlei Reue kommt.
Das hätte ein gutes, ein grossartiges Buch über grundsätzliche Fragen werden können. Nicht jedoch jetzt, zu diesem Zeitpunkt, sondern erst viel später. Amenehs Geschichte ist noch nicht zuende – die Medien haben sie ihr aber vorschnell aus der Hand gerissen. Dieses Buch ist eine Chimäre. Ein Verlag publiziert es mit der Herausstellung des Leidensweges einer Frau und liefert eine nur halbwegs durchgearbeitete Geschichte.
Es gibt durchaus Passagen, in denen Ameneh Bahrami anschaulich und erfrischend vom Alltagsleben in Hamadan oder Teheran erzählt. Ich bekomme ein Bild von diesem Mädchen, das sich seinen Platz in der Welt erobern möchte. Es ist ein menschliches Bild, das sich in jedem Land der Welt einstellen könnte. Überall suchen junge Menschen nach Selbstbestimmung und Eigenständigkeit, Anerkennung und Liebe ohne Bedingungen.
Emotionalität der Schilderungen kaum zu ertragen
Was Ameneh durchgemacht hat, ist erschütternd, da gibt es keine Diskussion. Doch dann sind da die gewollten Belehrungen und die ideologischen Knöpfe, die gedrückt werden. Die Emotionalität der Schilderungen ist vielfach kaum zu ertragen. Der Leser wird missbraucht und in eine Meinung gezwungen, anderes als hier geschrieben darf man nicht fühlen. Eine solch künstliche, amateurhafte Erzeugung von Spannung hätte die Geschichte nicht nötig gehabt…
Doch dann sind da die gewollten Belehrungen und die ideologischen Knöpfe, die gedrückt werden. Natürlich geht es um Literatur – und das ist hier trotz guter Ansätze eben Betroffenheitsliteratur. Das zeigt sich im Erzählmodus ganz bestimmter Zeitungen, die ein bestimmtes Klientel bedienen. Die Emotionalität der Schilderungen ist vielfach kaum zu ertragen. Der Leser wird missbraucht und in eine Meinung gezwungen, anderes als hier geschrieben darf man nicht fühlen. An der Verwendung des Wortes „plötzlich“ übrigens erkennt man die Anfänger, und dieses Wörtchen taucht mir zu häufig auf. Eine solch künstliche, amateurhafte Erzeugung von Spannung hat die Geschichte nicht nötig.
Ameneh Bahrami wünsche ich, dass sie die nahende Zeit, in der das Interesse der Medien nachlassen wird, für sich nutzen kann, um ihren Frieden zu finden. Ihren Grossvater habe ich übrigens ins Herz geschlossen. Ob sie auf ihn hört? – „Was dir die Zukunft bringt, das frage nicht / Und die vergangne Zeit beklage nicht. / Allein das Bargeld Gegenwart hat Wert, / Nach dem, was war und sein wird, frage nicht.“ (Omar Khayyam) ♦
Ameneh Bahrami: Auge um Auge, MVG-Verlag, 256 Seiten, ISBN 978-3-86882-155-0
Sprache ist nie neutral und kann nicht wirklich objektiv gebraucht werden. Man kann das, was man wie sagt, aktiv auswählen. Aussagen über Wirklichkeits- und Wertvorstellungen schwingen dabei immer mit. Diskriminierung geschieht nicht nur über Schimpfwörter oder offene Ausgrenzung, Diskriminierung entsteht im sprachlichen und im sozialen Kontext. Das überaus spannend zu lesende „Nachschlagewerk“ der beiden Herausgeber A. Nduka-Agwu & A. Hornscheidt: „Rassismus auf gut Deutsch“ nimmt den oft unterbewussten oder versteckten Rassismus in unserer alltäglichen Sprache unter die Lupe und hilft dabei ein entsprechendes Bewusstsein, nicht nur für offizielle Stellen oder für Menschen, die sich mit Text und gesprochenem Wort an eine grössere Öffentlichkeit wenden, zu schaffen.
Das Werk, das viele verschiedene Autoren aus einem wissenschaftlichen Zusammenhang versammelt, ermöglicht ein Überdenken der Benutzung von Sprache bis in den privaten Bereich hinein. Und: „Dieser Text kann v.a. durch Rassismus Privilegierte irritieren, verunsichern oder sogar ärgerlich machen, denn viele Personen werden beim Lesen feststellen, dass sie kontinuierlich in den eigenen sprachlichen Handlungen rassistisch sind.“ (S.12) So die einleitenden Worte der Herausgeberinnen.
Gedankenloser Sprachgebrauch im Alltag
Der Aufbau des Buches stellt sich folgendermassen dar: Nach der Einleitung, die vorweg schon über die Bedeutung von Begriffen wie „Rassismus“ oder „Weisssein“ aufklärt, stellt der zweite Teil „zentrale empowernde und strategisch signifizierende Begriffe und Konzepte“ (S.45) vor. Es geht um die Erläuterung von Begriffen wie Afrodeutsch, Diaspora, People of Color. Danach folgen Analyse und Reflexion rassistischer Begriffe – Leitfrage ist hier, wie rassistische Vorstellungen durch Sprache weitergegeben werden und welche Strategien für eine Vermeidung dieser Weitergabe herangezogen werden können. Beispielsweise geht es um Begriffe wie „Ausländer_in“, das Spiel „Ching-chang-chong“ (nämlich als Beispiel für eine abwertende Veralberung fremder Sprachen), „Entwicklungshilfe“, „Farbig“, „exotisch“. Hier wird eine Kulturgeschichte abwertender Begriffe gezeigt.
Man denkt im Sprachgebrauch über viele Dinge nicht nach, so z.B. beim zunächst wenig rassistisch scheinenden Begriffsfeld der „Tropenkrankheiten“, es scheint sich hierbei doch um eine rein geografische Herkunftsbezeichnung zu handeln, aber die Autorinnen machen gut begründet darauf aufmerksam, dass die „Tropen“ der einzige geografische Bereich sind, der sprachlich spezifische Krankheiten aufweist (es gibt keine gemässigten Zonen-Krankheiten o.ä.). Der Text zeigt, dass dieser Begriff sich kulturgeschichtlich eher auf die in den Tropen lebenden Menschen bezieht und ihre dort angenommene ungesunde Lebensweise, die hochgradig mit europäischer Angst besetzte Krankheiten hervorrufen muss.
Anfällig für rassistische Kontexte: „Integration“, „Ethnizität“, „Amerika“
In „Rassismus auf gut Deutsch“ geht es nicht um die Frage, was überhaupt sprachlich noch erlaubt sein soll, sondern hier steht eine wissenschaftlich-reflexive Sprachkritik im Vordergrund – und die Ermunterung, den „alltäglichen Rassismus“ in Wort und Schrift aufmerksam zu beobachten. Ein gelungenes Buch-Projekt, dem eine grosse Leserschaft zu wünschen ist.
Der vierte Teil klärt über die etwas komplizierteren Begriffe auf, die leicht in einen rassistischen Kontext hineingezogen werden können, wie z.B. „Integration“, „Ethnizität“, aber auch Begriffe wie „Amerika“. Dieser Begriff muss auch aus den Umständen seiner Entstehung heraus reflektiert werden, da er ja u.a. angenommene Besitzverhältnisse widerspiegelt.
Im fünften Teil finden sich schliesslich verschiedene Aufsätze, die den gegenwärtigen Rassismusdiskurs beleuchten – Konzepte und Modelle zur Analyse von Rassismus werden vorgestellt.
Keine einseitigen Verurteilungen
„Rassismus auf gut Deutsch“ will nicht einseitig verurteilen, sondern zum Nachdenken provozieren und das auch, indem es sich selbst sprachlichen Regelungen unterwirft, die beim Lesen zunächst seltsam anmuten, z.B. wenn Rezipienten konsequent als Les_erinnen angesprochen werden. Es geht dabei nicht um die Frage, was jetzt überhaupt sprachlich noch erlaubt sein soll, sondern hier steht eine wissenschaftlich-reflexive Sprachkritik im Vordergrund, eben die Ermunterung, das Alltägliche aufmerksam zu betrachten, andere Standpunkte zu probieren, wobei man nach Lektüre des Buches doch sagen kann, dass die (ernsthafte) Beschäftigung mit solchen Fragen letztlich doch in eine Form eigener (politischer) Aktivität münden muss. Ein gelungenes Projekt einer Sprachkritik, ein Buch dem viele Les_erinnen zu wünschen sind. ♦
Das Urteil: Vollumfänglich schuldfähiger Verbrecher
von Walter Eigenmann
Lange Jahre stand, angesichts von Millionen Kriegs- und Mord-Toten während des deutschen „Dritten Reiches“, für viele fest: Nur ein Wahnsinniger, nur ein hoffnungslos kranker Psychopath konnte solche Zerstörung, solch kollektives Leid, solch abgrundtiefe Unmenschlichkeit über die ganze Welt ausbreiten, und schon lange vor Kriegsende, also vor dem totalen Zusammenbruch der Deutschen und ihrer Hitlerei, fragten sich die ob solch unfassbarer Barbarei Entsetzten öffentlich oder insgeheim: War Adolf Hitler krank? Wurde die weltweit wütende Wehrmacht von einem Drogenabhängigen geführt? Hat ein krankes Hirn die Abschlachtung von Millionen Menschen befohlen? War Auschwitz womöglich „nur“ die Ausgeburt eines perversen Morbiden, der für seinen wahnhaften Zustand „eigentlich gar nichts konnte?“
Dieser Frage gehen nun, nach einigen bisherigen anderen, thematisch ähnlich gelagerten Publikationen, die beiden deutschen Autoren Prof. Dr. Hans-Joachim Neumann (Medizinhistoriker & Pathograph) und Prof. Dr. Henrik Eberle (Historiker) in einem „abschliessenden Befund“ unter dem Titel „War Hitler krank?“ nach.
Auf über 300 Seiten breiten dabei die zwei Wissenschaftler Zeit- und aktuell recherchierte Dokumente aus: Medizinische Gutachten, pharmakologische Analysen, Zeitzeugen-Gespräche, Tagebücher, Befehls-Unterlagen, Arzt-Berichte, u.v.a. Und Seite um Seite demontieren die Autoren den ebenso langlebigen wie allen betroffenen Schuldigen zupassekommenden Mythos von Hitler als einem hinfälligen Psychopathen im Bunker der Reichskanzlei, der von seinem Leibarzt Morell „kaputtgespritzt“ worden sei.
Keine schuldmindernden Erkrankungen
Unmittelbar nach Kriegsende exhumierten sowjetische Offiziere Hitlers verbrannte Überreste und stellten die Echtheit anhand seiner Zähne fest.
Denn zwar bestreiten Neumann und Eberle natürlich nicht, dass dieser vom Rassismus zerfressene „Führer“ unter verschiedenen Erkrankungen litt (u.a. Augen- und Hals-/Nasen-Probleme, psychosomatische Verdauungs-Beschwerden, Bluthochdruck, Koronarsklerose, später Parkinson, evtl. Medikamenten-Missbrauch), aber die wegweisenden Entscheidungen traf Hitler schon früh, als gesunder Mensch, und krankheitsbedingt war, wie die Buchautoren nachweisen, kein einziger seiner zahllosen destruktiven Befehle. Auch für eine schuldmindernde Beeinträchtigung infolge psychopathologischer Erkrankungen fehlt jeder wissenschaftlich haltbare Beweis, wie Neumann und Eberle dokumentieren.
Die beiden Pathographen wörtlich: „Die Konstellation seiner Familiengeschichte teilten Millionen Deutsche. Ein dominierender, möglicherweise gewaltätiger Vater und eine überfürsorgliche, vielleicht zu sehr liebende Mutter waren der Normalfall in einem Haushalt der vorletzten Jahrhunderte. Alle anderen exogenen, also von aussen verursachten seelischen Beeinträchtigungen gehören in das Reich der Mythologie und der vorsätzlichen Lüge. […]
Fast das gesamte deutsche Volk jubelte seinem Führer begeistert zu (Video-Dokument: „Adolf Hitler spricht im Berliner Sportpalast“)
Hitler hasste zwar, war aber immer in der Lage, seinen Wunsch nach Vernichtung der Juden mit den Vorstellungen der Gesellschaft zu synchronisieren. Gerade die zahlreichen taktischen Wendungen – etwa der Hitler-Stalin-Pakt mit der jüdisch-bolschewistischen Sowjetunion – zeigen die zynische Flexibilität seines Handelns.
Ursachen von Hitlers Verbrechen in der deutschen Gesellschaft
Adolf Hitler im März 1945 an der Ostfront in einer Lagebesprechung. Er war gezeichnet von seiner Parkinson-Krankheit und konnte nicht mehr länger als eine halbe Stunde stehen; die zitternde linke Hand ist unter dem Kartentisch verborgen. Neumann&Eberle: „Seine geistigen Fähigkeiten wurden durch die Krankheit nicht beeinträchtigt.“
So zynisch es klingt: Alle Verbrechen, die er anordnete und ermöglichte, der Völkermord an den Juden, die Ermordung von Sinti und Roma, Massentötungen von Geisteskranken, sind durch sein Agieren in den gesellschaftlichen Handlungs-Spielräumen erklärbar. […] Die wirklichen Ursachen für diese Verbrechen sind in der deutschen Gesellschaft zu suchen, in ihrer Geistesgeschichte und den sozialen Zusammenhängen.“
Neumann und Eberle kommen nach ihrem 320-seitigen Report denn auch zu einem eindeutigen Urteil, ihr Befund ist ernüchternd: „Der Krieg wurde nicht geführt, und die Juden wurden nicht vernichtet, weil Hitler krank war, sondern weil die meisten Deutschen seine Überzeugungen teilten, ihn zu ihrem Führer machten und ihm folgten.“ ♦
„Nur eine Minderheit wusste vom Leistungssport-Beschluss“
Interview mit dem DDR-Schach-Historiker Manuel Friedel
von Thomas Binder
Ende letzten Jahres publizierte der junge Historiker Manuel Friedel eine Bachelor-Arbeit an der Technischen Universität Chemnitz mit dem Titel „Sport und Politik in der DDR am Beispiel des Schachsports„: „Die Geschichte des Schachsports in der DDR ist nahezu komplett unerforscht“, stellte dabei Friedel in dieser seiner Untersuchung fest, die für wichtige Teilbereiche einige wissenschaftliche Grundsteine für zukünftige Forschungsarbeit legte. Um die Thematik zu vertiefen, hat „Glarean“-Mitarbeiter Thomas Binder dem jungen DDR-Forscher ein paar Fragen zu seinem Buch und dessen Ergebnissen gestellt. (Hier finden Sie die ganze Bachelor-Arbeit von Manuel Friedel)
Glarean Magazin: Herr Friedel, welchen Bezug haben Sie persönlich zum Schachspiel?
Manuel Friedel: Sport und Politik in der DDR am Beispiel des Schachsports
Manuel Friedel: Ich selbst bin ein Amateurschachspieler mit rund 1800 DWZ und spielte einige Jahre für den ESV Nickelhütte Aue in der Bezirksliga. Seit 2002 spiele ich allerdings nicht mehr im Verein, sondern nur noch gelegentlich einige Internetpartien. Ich verfolge aber nach wie vor gespannt das internationale Schachgeschehen. Ich habe mich auch schon immer für die Geschichte des Schachspiels interessiert.
GM: Wie kamen Sie eigentlich auf das Thema Ihrer Bachelor-Arbeit?
MF: Es kamen wohl mehrere Faktoren zusammen. Zum einen interessiere ich mich besonders für die Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, worauf ich auch meinen Studienschwerpunkt gelegt habe, und zum anderen interessiert mich, wie ich bereits erwähnt habe, die Geschichte des Schachspiels. Da kam mir irgendwann die Idee, meine Abschlussarbeit zum DDR-Schach zu schreiben.
Bei meinen ersten Recherchen zum DDR-Schach habe ich mit Erstaunen festgestellt, dass es noch kein Buch zu diesem Thema gab. Das sah ich als Herausforderung an, weil ich „Pionierarbeit“ leisten musste und mich auf keine Sekundärliteratur stützen konnte. Ich habe dann mit meinen beiden Dozenten, Prof. Kroll und Dr. Thoss gesprochen, ob sie die Arbeit betreuen würden. Sie stimmten beide sofort zu, worüber ich sehr froh war.
Allerdings bereitete mir der Mangel an Quellen einige Bauchschmerzen, weshalb ich zwischendurch überlegte, das Projekt abzubrechen. Aber meine Freunde haben mir immer wieder Mut gemacht, die Arbeit zu Ende zu führen.
Einsichtnahme in die Akten des Bundesarchives
GM: War es schwer, für dieses Thema offene Ohren an der Universität zu finden, oder stiessen Sie auf Verständnis?
MF: Wie erwähnt willigten beide Dozenten sofort ein. Mir kam auch der Umstand zugute, dass Dr. Thoss sich sehr für die DDR und deren Sportgeschichte der Neuzeit interessiert. Er konnte mir deshalb auch sehr wertvolle Hinweise zu der Arbeit geben.
GM: Welche Quellen konnten Sie erschliessen? Manches war ja wohl bisher nicht veröffentlicht?
Propaganda-Träger der sozialistischen Schach-Politik: Die ab 1953 einzige in der DDR herausgegebene Schachzeitschrift „Schach“
MF:Ich habe mir einige Akten des Bundesarchives in Berlin-Lichterfelde angesehen. Allerdings konnte ich nicht sonderlich viele neue Erkenntnisse gewinnen. Ich hatte mir von dem Archivbesuch mehr erhofft.
Ich habe mir dazu sämtliche Ausgaben der Zeitschrift „Schach“ bis 1990 angesehen und einige Artikel aus dem „Neuen Deutschland“ und noch ein paar kurze Artikel aus anderen Zeitschriften. Weiterhin führte ich zwei Zeitzeugen-Interviews mit GM Knaak und GM Uhlmann, die auch sehr hilfreich waren. Im Internet fand ich ausserdem zwei Interviews mit Ernst Bönsch und Paul Werner Wagner, die ich ebenfalls mit in die Arbeit einfliessen liess. In einigen Büchern gab es hier und dort einen Absatz zum Schach in der DDR, aber es gab eben noch kein Überblickswerk zum DDR-Schach.
Meine Arbeit war deswegen wie ein Puzzle, weil es galt, viele kleine Bausteine zusammenzusetzen, um einen groben Überblick zu gewinnen.
Hintergrund-Infos von den DDR-Grossmeistern Uhlmann und Knaak
GM: Sie fanden Kontakt zu wichtigen Zeitzeugen, die Hintergrundinformationen geben konnten ?
MF: Ja, die Interviews mit GM Uhlmann und GM Knaak gaben mir viele Hintergrundinformationen, ebenso die Interviews im Internet mit Paul Werner Wagner und Ernst Bönsch. Allerdings stellte sich schnell heraus und war auch nicht anders zu erwarten, dass diese vier Zeitzeugen einige widersprüchliche Auskünfte gaben; schliesslich sind alle vier subjektiv durch ihre persönlichen Erfahrungen geprägt. Wie heisst es so schön: „Der Zeitzeuge ist der Feind des Historikers“. Es galt also diese Aussagen zu hinterfragen und zu gewichten. Ähnlich subjektiv gefärbt war natürlich die Autobiografie von Manfred Ewald; Autobiografien neigen immer dazu, dass eigene Handeln im Nachhinein zu rechtfertigen und in ein besseres Licht zu rücken.
GM: Woran liegt es wohl, dass es bislang keine umfassende Darstellung des DDR-Schachs gibt?
MF: Ich habe mich auch gefragt, warum zu diesem interessanten Thema noch keiner etwas geschrieben hat. Eine Antwort auf diese Frage weiss ich leider auch nicht.
GM: Gab es bisher erwähnenswertes Feedback auf Ihre Arbeit von Spielern oder Funktionären aus der Zeit des DDR-Schachs?
MF: Nein, bisher nicht.
Die DDR-Führung hatte kein besonderes Interesse am Schach
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GM: Ich wurde in letzter Zeit oft mit dem Gedanken konfrontiert, wonach das Schach in der DDR in hohem Ansehen gestanden haben müsste, weil es in der Sowjetunion hohe Achtung genoss. Haben Sie dieses Vorurteil auch erfahren?
MF: Ja – aber die DDR-Sportsführung hatte kein besonderes Interesse am Schach. Sie verteidigten sich immer wieder mit dem Argument, dass sie das Schachspiel bereits genug fördern würden, und dass nicht noch mehr Geld für diesen Sport – sofern er als Sport gesehen wurde – vorhanden wäre.
Ich habe vor wenigen Tagen (also erst nach dem Erscheinen meines Buches) ein neues Dokument (datiert vom 10.April 1987) aus dem Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde („Finanzielle Handlungsspielräume – Konsequenzen einer Gleichstellung des sogenannten ‚Sport II‘ mit den besonders geförderten Sportarten“) gefunden, in dem es u.a. heisst: „Nicht zugestimmt werden kann […] der These, dass bei der Popularisierung des Schachsports durch die Massenmedien unzureichende Beiträge geleistet werden. Wie keine zweite Sportart in der DDR ist das Schach Gegenstand von Beiträgen im ND, in den Organen der Bezirksleitungen der SED, in der ‚Jungen Welt‘, im ‚Sportecho‘ und anderen Tageszeitungen […] Auch das Fernsehen und der Rundfunk leisten unter Beachtung der Spezifik der Darstellung dieser Sportart eine verantwortungsbewusste Arbeit […] Die DDR ist das Land, in dem die reichhaltigste Schachliteratur in der Welt produziert und der Bevölkerung angeboten wird“…
GM: Zentraler Punkt beim Rückblick auf 40 Jahre Schach in der DDR bleibt der unselige ‚Leistungssportbeschluss‚. Stimmt es eigentlich, dass diesen bisher niemand als Dokument gesehen hat, er nur mündlich vermittelt wurde?
MF: Wie ich leider erst nach Publikation meiner Arbeit herausgefunden habe, kann man den Beschluss, der auf das Jahr 1969 zurückgeht, in einigen Quellenpublikationen mittlerweile ansehen: Der Leistungssportbeschluss als Google-Book
Ausländische Versuche das DDR-Schach international zu integrieren
Allgewaltiger Sportschef neben Staatsoberhaupt Honecker: Manfred Ewald (rechts)
GM: Haben Sie bei Ihren Recherchen Anhaltspunkte dafür gefunden, dass es unter den führenden Schachspielern der DDR Versuche des Widerstands gegen diesen Beschluss gegeben hat?
MF: Es gab insgesamt genügend Widerstand gegen diesen Beschluss. Aber in wie weit die DDR-Spitzenspieler Widerstand leisteten oder überhaupt leisten konnten, kann ich (noch) nicht genau sagen. Es gab auf alle Fälle aus dem Ausland genügend Versuche, die DDR in das internationale Schachgeschehen wieder zu integrieren.
GM: Im Rückblick überlagert die „Diskriminierung“ der Schachspieler nach 1972 das Bild deutlich. Umgekehrt erscheinen die frühen Jahre als eine Blütezeit des DDR-Schachs auch im Spitzenbereich – mit der Olympiade in Leipzig 1960 als Höhepunkt. Hat also der Leistungssportbeschluss nicht nur die Wettkampfchancen der Spitzenspieler, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung völlig verändert?
MF: Nur eine Minderheit wusste von diesem Beschluss; er wurde schliesslich nur mündlich verbreitet. GM Knaak sagte mir, dass er immer wieder gefragt wurde, warum denn die DDR nicht an der Olympiade teilnahm. Die Leute dachten, so sagte er mir, dass die DDR zu schlecht sei, um an dieser Olympiade teilzunehmen, obwohl man sich nicht für die Olympiade qualifizieren musste. Die Verwunderung über die Absenz der DDR war also schon da. Die Zeitschrift „Schach“ hat versucht, um dieses Problem herumzuschreiben. Man kann also schon sagen, dass das Image des DDR-Schachs unter diesem Beschluss gelitten hat.
Neue Erkenntnisse in Sachen Leistungssportbeschluss
GM: Da sich Ihr Buch im Rahmen einer Bachelor-Arbeit in Umfang und Form an einigen Stellen beschränken musste, bleibt die Frage, ob das gesammelte Material vielleicht die Grundlage einer weiterführenden Darstellung sein könnte?
MF: Ich werde dieses Thema auf alle Fälle weiterverfolgen. Gerade was den „Leistunssportbeschluss“ angeht, habe ich seit dem Erscheinen des Buches einige neue Erkenntnisse hinzugewonnen, auch wenn einiges noch im Dunkeln liegt und vielleicht auch liegen bleiben wird.
An der einen oder anderen Stelle kann man das Buch mit Sicherheit auch noch vertiefen. Wenn ich genügend neues Quellenmaterial gesammelt und ausgewertet habe, werde ich evtl. eine neue Auflage des Buches anstreben. ♦