Zwischen sportlicher Höchstleistung und staatlicher Ideologie
von Thomas Binder
„Die Geschichte des Schachsports in der DDR ist nahezu komplett unerforscht“, stellt Manuel Friedel in seiner unlängst erschienenen Untersuchung „Sport und Politik in der DDR am Beispiel des Schachsports“ einleitend fest. In seiner Bachelor-Arbeit an der TU Chemnitz hat der junge Historiker – über dessen persönlichen Bezug zum Thema wir leider nichts erfahren – zumindest für einen wichtigen Teilbereich die Grundsteine gelegt.
Das schmale Buch (der substantielle Inhalt beschränkt sich auf gut 40 Seiten) ist Ergebnis einer umfangreichen Forschungsarbeit. Friedel standen dabei unveröffentlichte Archive sowie die Erinnerungen von Zeitzeugen (darunter Grossmeister Wolfgang Uhlmann und Rainer Knaak) zur Verfügung.
Sein Text ist als wissenschaftliche Arbeit gestaltet. Jede Aussage wird akribisch mit Quellen belegt, allein das Literaturverzeichnis füllt 10 Seiten. Der Leser muss sich auf diesen Stil einlassen. Sensationelle Enthüllungsgeschichten oder rührende Einzelschicksale wird er nicht finden.
Dennoch ist das Werk angenehm zu lesen. Dafür sorgt der Autor mit einem flüssigen Schreibstil und einer logischen Gliederung. (Da stört es auch nicht, dass zuweilen die Kapitelnummerierung durcheinander gerät; solche kleinen handwerklichen Fehler sind wohl dem Vertriebsmodell „Print on Demand“ geschuldet.)
Verfehlungen der DDR-Schachfunktionäre
Zeitzeugen des DDR-Schachs: Die Grossmeister Wolfgang Uhlmann (oben) und Rainer Knaak
Friedel beschreibt zunächst die frühen Jahre des DDR-Schachs bis zur Gründung des Deutschen Schachverbandes im Jahre 1958. Hier geht er genauer auf Zwistigkeiten und Verfehlungen unter den Funktionären ein – ein Aspekt, der auch manchem sachkundigen Leser neu sein dürfte. Daraus jedoch eine Geringschätzung des Schachs bis in die letzten Jahre der DDR abzuleiten (Seite 51), erscheint etwas gewagt.
Es folgen Erörterungen zur Rolle des Sports und besonders des Schachs im politischen System der DDR. Die Staatsführung hatte früh erkannt, dass sportliche Erfolge die Anerkennung des jungen Staates fördern können. Der Beitrag der Schachspieler hierzu war in den frühen Jahren gewiss bedeutsam, fanden sie doch als erste Sportorganisation Aufnahme in einem internationalen Fachverband.
Als unumstrittenen Höhepunkt in 40 Jahren DDR-Schach arbeitet der Autor die Schach-Olympiade in Leipzig 1960 heraus. Die folgenden Jahre brachten sportlich die grössten Erfolge, worauf das Buch allerdings nur sehr summarisch eingeht.
Diskriminierung der nichtolympischen Sportarten in der DDR
Der Höhenflug des DDR-Schachs endete nach 1972 mit dem unseligen „Leistungssportbeschluss“. Die Aktiven nichtolympischer Sportarten konnten fortan nicht mehr an internationalen Meisterschaften teilnehmen oder ins westliche Ausland reisen. Auch die optimalen Trainingsmöglichkeiten des DDR-Sports (Stichwort „Staatsamateure“) blieben ihnen versagt.
Manfred Ewald, allmächtiger Chef des DDR-Sports: Aversion gegen Schach?
Das genaue Zustandekommen dieses Beschlusses kann auch Manuel Friedel nicht erhellen. Andere Quellen sprechen hierzu von einem Beschluss des SED-Politbüros im April 1969. Der Autor berichtet aber in interessanten Details, dass alle Versuche, ihn für das Schach zu umgehen zum Scheitern verurteilt waren. Selbst der ungarische Parteichef Kadar gehörte zu den Fürsprechern der ostdeutschen Schachspieler. Ob man freilich eine von Ernst Bönsch organisierte wissenschaftliche Konferenz als Massnahme gegen diesen Beschluss deuten kann, sei dahingestellt. Man hätte sich diesbezüglich vom Buchautor ein paar Hinweise darauf gewünscht, wie die DDR-Schachspieler (sowohl im Spitzen- wie im Breitensport) mit den Beschränkungen ihrer Turnierpraxis umgingen.
Ideologische Überfrachtung der DDR-Zeitschrift SCHACH
So bleibt im Dunkel, wie es 1988 zum überraschenden Start einer DDR-Mannschaft bei der Schacholympiade kam. Andere Quellen (Tischbierek) führen es auf eine Erkrankung von DTSB-Chef Manfred Ewald zurück, dem eine persönliche Abneigung gegen das Schach unterstellt wird. Bereits mit Beginn des Jahres 1988 gab es erste Anzeichen für ein Aufweichen des Leistungssportbeschlusses. Hatten erneut die Schachspieler (wie damals bei der Aufnahme in die FIDE) einen Damm gebrochen? Diese Frage bleibt leider unbeantwortet, denn sie wurde durch die geschichtliche Entwicklung ab 1989 obsolet.
Sportlicher Höhepunkt des DDR-Schachs: Schacholympiade Leipzig 1960 (DDR-USA – Uhlmann vs Fischer)
Damit endet auch Friedels chronologischer Rückblick. Die Entwicklung des Deutschen Schachverbandes in der Wendezeit (z.B. die Ablösung des Präsidenten Werner Barthel 1990) kommt nicht mehr zur Sprache.
Im letzten grösseren Kapitel bespricht der Autor die politisch-ideologische Überfrachtung der Zeitschrift „SCHACH“. Seine Analyse ist auch hier korrekt und stichhaltig. Dennoch scheint er das Thema etwas überzubewerten, waren doch politische Ergebenheitserklärungen und ideologische Vereinnahmung typisch für alle Publikationen in der DDR.
In den Grenzen einer Bachelor-Arbeit müssen natürlich manche Wünsche des interessierten Publikums offen bleiben. Die strikte Beschränkung auf das Thema „Sport und Politik“ blendet jede Darstellung sportlicher Ergebnisse aus. Auch episodische Schilderungen und Erfahrungsberichte sucht der Leser vergeblich. Die Interviews mit Zeitzeugen werden nur indirekt zitiert und Abbildungen, Tabellen oder Grafiken fehlen fast völlig.
Für die noch zu schreibende Geschichte des DDR-Schachs hat Manuel Friedel aber wesentliche Forschungsergebnisse zusammengetragen. Der Themenkomplex ist dabei so wichtig und inhaltsreich, dass er eine weitere Bearbeitung und repäsentative Darstellung verdient. ♦
„Je weiter Auschwitz entfernt ist, desto näher kommt es, die Jahre dazwischen sind weggewischt. Auschwitz ist Realität, alles andere Traum. Nicht Mauthausen, wo Waiki ermordet wurde und ich mit ihm. Das Entsetzen hat sich vom eigenen Schicksal verlagert auf das der vielen. Auschwitz ist Chiffre, kein Ort auf der Landkarte.
Meine Nerven reagieren auf jede Gewalt, Menschen, ihre Mörder, eine sadistische Meute beamteter, uniformierter Peiniger. Eltern, die ihre Kinder quälen, Eheleute, die sich langsam erwürgen, Gemetzel mit Bajonetten, Peitschen, Elektroden, Wörtern, in Folterkammern und guten Stuben. Es verfolgt mich.“
„Es verfolgt mich“
Grete Weil (1906-1999)
So steht es in einem Buch, das ich vor einigen Jahren, und mit dringlicher Leseempfehlung, geschenkt bekam: in Grete Weils Roman „Generationen“.1
Dieses Buch beeindruckte und bewegte mich derart, dass ich daraufhin alle weiteren Bücher der Weil las und begann, mich mit Leben und Werk der Autorin zu beschäftigen, einer Autorin, die nur ein Lebensthema hat: Die Judenverfolgung (ihr eigenes Schicksal), den Faschismus und die Nichtaufarbeitung der Vergangenheit durch die Deutschen. Ein Thema, das sie immer erneut gestaltete, in einfacher, klarer, oft stakkatohafter Sprache, unbeschönigt, aber nicht unschön.
Glückliche Kindheit: verwöhnt und verhätschelt
Grete Weil wurde 1906 in Rottach-Egern am Tegernsee als Margarete Elisabeth Dispeker geboren, Tochter einer grossbürgerlichen jüdischen Familie, und verlebte nach ihren eigenen Worten eine unendlich glückliche Kindheit, verwöhnt und verhätschelt. Sie studierte Germanistik in Berlin, München und Frankfurt/M, begann zu schreiben, denn Schriftstellerin zu werden war ihr eigentliches Lebensziel schon früh, und heiratete 1932 den Dramaturgen der Münchner Kammerspiele Edgar Weil, dem sie 1936 nach Holland ins Exil folgte.
Dort arbeitete sie zunächst als Portrait-Photographin. Als die Niederlande kapitulierten (1940), versuchten sie und ihr Mann nach England zu fliehen, aber der Versuch misslang. 1941 wurde Edgar Weil auf der Strasse verhaftet und im KZ Mauthausen ermordet. Grete Weil meldete sich zur Arbeit beim jüdischen Rat in der „Schouwburg“ in Amsterdam, dem Sammellager für die zur Deportation bestimmten Juden, als Selbstrettung und um nach Kräften die Deportationen zu behindern und zu verzögern. Im Herbst 1943 tauchte sie jedoch bei Freunden unter und überlebte.
Aussöhnung ohne Vergessen
Nachdem die Deutschen den Juden 1941 die Staatsbürgerschaft aberkannt hatten, war auch Grete Weil staatenlos geworden, und da die Alliierten nach dem Krieg keine Staatenlosen nach Deutschland liessen, ging sie 1947 heimlich über die grüne Grenze in die Heimat zurück, in das trotz allem geliebte Land. Immer hatte sie sich als Deutsche gefühlt, denn ihre Sprache und ihre Kultur waren deutsch. Sie söhnte sich aus mit diesem Land und diesem Volk, aber ohne zu vergessen oder zu verdrängen. Ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Leidensgenossen blieb ihr gegenwärtig und wurde das Thema ihrer nun im fortgeschrittenen Alter wieder aufgenommenen literarischen Produktion: „Zwölf Jahre nicht geschrieben, in der Zeit, die entscheidet, in der man die besten Einfälle hat und die meiste Kraft. Nach dem Krieg schreibe ich ein paar Bücher. Sie handeln von Krieg und Deportation. Ich kann von nichts anderem erzählen. Der Angelpunkt meines Lebens.“2
Ans Ende der Welt
„Ans Ende der Welt“3 hiess ihr erstes Buch, das 1949 in Berlin erschien. Diese Erzählung ist eine Darstellung ihrer Erfahrungen in der Schouwburg. Hier sind hunderte von Menschen jeden Alters zusammengepfercht in Erwartung ihres Schicksals, so auch ein Universitätsprofessor mit Frau und Tochter, einer der nur sehr langsam begreift, dass den Nazis seine soziale Stellung, seine Verdienste nichts bedeuten, dass auch er nur eine Nummer in den Listen ist, einer von vielen, die sterben müssen. Beklemmend ist diese Schilderung der Atmosphäre von Angst, Verzweiflung, Hoffnung auch, an die sich die Verlorenen klammern, und anrührend die Begegnung der Tochter Annabeth mit dem Jungen Ben und ihre erste scheue Liebe im Angesicht des nahen Todes.
Dieses Buch wurde zwar von einem Albert Ehrenstein als „knappes Meisterwerk“ bezeichnet, „eine einfache, herzergreifende Geschichte von Liebe und Tod, die viele kennen sollen, kennen müssen …“4, aber ein Erfolg war es nicht, kaum jemand wollte nach dem Krieg etwas wissen von diesen Dingen, man war beschäftigt damit Neues aufzubauen und das Alte zu verdrängen.
Nachdenken über die deutsche Schande
Weil-Libretto zu Henz-Oper: „Boulevarde Solitude“ (Aufnahme von 1953)
Aber die Weil schrieb weiter. Nachdem sie ihren Jugendfreund, den Opernregisseur Walter Jockisch wiedergefunden hatte, (den sie 1960 heiratete), entstand zunächst, zusammen mit ihm, das Libretto zu Hans Werner Henzes Oper „Boulevard Solitude“, die 1952 in Hannover uraufgeführt wurde, sowie der Text zu Fortners Pantomime „Die Witwe von Ephesus“ (Uraufführung in Berlin 1952). Sie übersetzte Bücher aus dem Englischen (Durrell, Aiken, Buchanan, Hawkes) und Holländischen (J. Brouwers), textete Kurzfilme, besprach Bücher im Funk, und bevor ihr nächstes Buch erschien, verging Zeit. Aber sie hatte sich keineswegs abgefunden mit der praktizierten „Vergangenheitsbewältigung“ der Deutschen. Sie bestand weiter darauf, über die deutsche Schande nachzudenken, zu reden, zu schreiben.
Schonungslose Offenheit
Und sie tat es mit schonungsloser Offenheit in dem 1963 erschienen Roman „Tramhalte Beethovenstraat“5, in dem sie abermals ihre Holland-Erlebnisse zu verarbeiten sucht. Indem sie hier einen jungen deutschen Journalisten zum Protagonisten macht, der 1942 als Berichterstatter in Amsterdam Zeuge der Judendeportationen wurde, bemüht sie sich um etwas objektivierende Distanz.
Aber auch er will nach dem Krieg nicht vergessen, sich nicht arrangieren, sondern versucht auf einer Reise in die Vergangenheit mit sich und seinen Erinnerungen ins Reine zu kommen. Ein aufwühlendes Buch, das ergreift und angreift, keine gemütliche Lektüre, „in einer Prosa von grosser Schlichtheit und Wärme, Direktheit und Kraft, wie man sie selten findet“,6 wie Martin Gregor-Dellin schrieb.
Ein Ghetto des Nichtwissenwollens
1968: „Happy, sagte der Onkel“7 – drei Impressionen aus Amerika, auch dort wieder das ständige Thema. Die Titelerzählung schildert einen Besuch bei Verwandten, die der Vernichtung im Dritten Reich entronnen, die Vergangenheit völlig verdrängt haben und als 150prozentige Amerikaner jede Erinnerung daran weit von sich weisen. Sie haben sich rührend in ein Ghetto aus Nichtwissenwollen, Nichtanrühren zurückgezogen, eine Haltung, die Grete Weil bitterem Spott anheimgibt. In der zweiten Skizze („Gloria Halleluja“) besucht sie Harlem, ein Ghetto von heute, in dem sie mit Hass und Ablehnung konfrontiert wird. Es gibt keine Solidarität der Unterdrückten und Verfolgten, wenn sie verschiedener Hautfarbe sind. Schliesslich eine Touristenreise nach Mexiko, ins aztekische Chichen-Itza, auch das eine Schädelstätte, für die Weil eine Parallele zu Auschwitz, und dort begegnet sie einem SS-Schergen wieder (oder glaubt ihm zu begegnen), der jetzt als Fremdenführer tätig ist. Anlass zu einer Selbstbefragung, einem nochmaligen Durchleben der schlimmen Vergangenheit („B sagen“). Später notiert sie: „Ich verstehe jeden, habe eine Geschichte geschrieben, in der ich mich mit einem SS-Mann identifiziere, wir haben beide überlebt, sind beide schuldig“8.
Schuld des Überlebens
Schuld des Überlebens: „Spätfolgen“ (Grete Weil)
In ihrem letzten Buch, mit dem bezeichnenden Titel „Spätfolgen“ setzt sie sich in kleinen Erzählungen nochmals mit dem Weiterwirken des Entsetzlichen und mit der Scham des Überlebenden auseinander. Da ist jenes jüdische Mädchen, das dem Nazi-Morden entkommt, auf einer Reise durch das heutige Deutschland einen Autounfall erleidet und stirbt, weil sie sich von keinem deutschen Arzt anfassen lassen kann („Don’t touch me“). Oder jener Mann, der nach Italien zurückkehrt, an die Orte einstigen Glücks mit der in Sobibor vergasten Bella und sich dort erschiesst, weil er sich als Überlebender schuldig fühlt. („Das Schönste der Welt“). Der Band enthält auch eine Neufassung von „Happy, sagte der Onkel“ („Das Haus in der Wüste“), die im wesentlichen eine Straffung darstellt, eine strengere, knappere Form; diese Bearbeitung zeigt, dass Grete Weil auch gerade an dieser Geschichte über Verdrängung und Arrangierung viel gelegen war.
1970 starb auch Walter Jockisch, und Grete Weil, jetzt 64 Jahre alt, allein, nicht mehr gesund, noch heimgesucht von den Gespenstern der Vergangenheit, schrieb jenen Roman, der 1980 ihren künstlerischen Durchbrach brachte: „Meine Schwester Antigone“.
Gegenwart gewordene Vergangenheit
In Aufzeichnungen einer alten Frau, die minuziös ihren Tagesablauf notiert, ihr Leben allein, ihr Leiden an der Einsamkeit, die sie doch auch braucht, ihr Leiden am Alter, das sie doch mit verbissenem Stolz trägt, und ihr Ringen mit dem unfertigen und nie vollendeten Antigone-Stoff.
Die sophokleische Heldin, die sie beschäftigt und verfolgt, sieht sie als Ebenbild, aber auch als Gegenpart, dessen Handlungen sie in unzähligen Gedankenspielen analysiert und interpretiert, immer in Bezug auf sich selbst. Antigone aber auch als rebellische Verkörperung einer Jugend, „die uns nicht die kleinste Ausflucht erlaubt, diese Welt noch in Ordnung zu finden“9, einer Jugend, für die die Autorin Verständnis und Zuneigung empfindet.
Immer wieder sind da auch die Erinnerungen an ihre toten Ehemänner, auch an ihren verschwundenen Hund, den einzigen verbliebenen Gefährten, vor allem aber an die furchtbare Vergangenheit, die Verfolgung, die Zeit im jüdischen Rat in Amsterdam, die unvermittelt in die Gegenwartsschilderungen eingefügt und damit selbst zur ständigen Gegenwart werden. Noch nie wurden zudem die Probleme des Alterns, die Einsamkeit wie der Kampf um eine würdiges sinnvolles Dasein so eindringlich beschworen.
Verschachtelte Zeitebenen
„Auflösung“ des polnischen Ghettos Piotrkow (Petrikau): „Die Bestie Mensch“
Am Ende werden die Zeitebenen immer stärker verschachtelt, durchdringen sich Erinnerungen der Autorin, die Identifizierung mit Antigone, die Gegenwart, die Kindheit, die hypothetischen Erlebnisse so stark, dass sie fast untrennbar werden. Letztlich wird die Erzählerin nicht damit fertig, dass sie hingenommen hat, nicht wie Antigone aufgestanden ist und um den Preis des Untergangs ein Zeichen der Revolte gegeben hat.
Eingefügt in dieses Buch ist ein furchtbares Dokument: 20 Seiten eines Augenzeugenberichts über die „Auflösung“ des Juden-Ghettos Petrikau (Piotrkow) 1943, den Friedrich Hellmund geschrieben hatte, ein lettischer Autor, 1945 in Polen vermisst. Hier wird nüchtern-sachlich, aber mit brutaler Deutlichkeit vorgeführt, was sich hinter so leicht zu handhabenden Vokalen wie „Ghetto-Auflösung“ und „Endlösung“ verbirgt: die Bestie Mensch in geradezu unvorstellbarer Form. Dieses Dokument macht mit einem Schlag auch dem letzten Zweifler klar, warum die Weil nicht vergessen kann, nicht vergessen will, und warum sie das Erschiessungskommando hinter sich spürt, wenn sie Erde im Garten aushebt, um Blumen zu pflanzen, warum sie Sympathie hat mit der verfolgten „Sympathisantin“.
„Der Erfolg tut weh, der Preis war zu hoch“
Das Buch war, wie gesagt, ein Erfolg. „Der späte Erfolg tut gut. Der späte Erfolg tut weh“, schrieb sie, „der Preis war zu hoch. Ich bin Zeuge, und als Zeuge muss ich aussagen. Und dieser Zwang hat mir Kraft gegeben durchzuhalten. Viele Jahre wollte es niemand hören, aber das ist anders geworden.“10
Die Offenheit einer nachgewachsenen Generation für die längst überfällige Beschäftigung mit der jüngeren deutschen Geschichte trug sicher zum Erfolg auch des nächsten Buches bei, jene „Generationen“ von 1983. Hier wird der Versuch einer Wohngemeinschaft dreier unterschiedlicher Frauen geschildert: Einer älteren, die Autorin mit der schweren Hypothek der Verfolgten und Gedemütigten, einer Jungen und einer Frau mittleren Alters, beide ohne diese Erfahrungen,aber mit eigenen Problemen und auch mit einem gewissen rücksichtslosen Egoismus. Der Versuch dieses Zusammenlebens verschiedener Generationen scheitert, an Missverständnissen, Empfindsamkeiten, Rivalitäten. Die Junge sucht ihren eigenen Weg, eine Arbeit, in der sie sich verwirklichen kann, die mittlere ist eine einzelgängerische Künstlerin, und alle führen in wechselnden Konstellationen einen Kampf um Wärme, Verstehen, Freundschaft, wozu letztlich keiner fähig ist, weil jeder mit seinem Geschick auf einer Insel lebt.
Auch dies wieder ein Tagebuch (in dem übrigens die Entstehung der „Antigone“ verfolgt werden kann), und eigentlich ein sehr ähnliches Buch, doch neu aufgerollt, neu gespiegelt, der Einsamkeit dort ein Versuch von Gemeinschaft hier gegenübergestellt, stets im Schatten der Vergangenheit.
Keine Wehleidigkeit
Grete Weil in einem Interview vor einigen Jahren
Aber hier, wie immer bei der Weil, fehlt jede Wehleidigkeit, jede Larmoyanz, immer bleibt sie nüchtern, von grosser, harter Aufrichtigkeit, schonungslos auch sich selbst gegenüber. Und nochmals, nach einem Herzinfarkt und einem schweren Schlaganfall schafft sie es, einen Roman, den „Brautpreis“ zu schreiben. Hierin liest man: „Herrlich, dass du wenigstens schreiben kannst. Nein, es ist nicht herrlich, kein bisschen. Es ist eine gewaltige Anstrengung. Die dauernde Furcht, es nicht mehr zu können. „11
In diesem Buch entdeckt die Weil ein neues Thema für sich, steigt sie tief hinab in die jüdische Geschichte; sie, die niemals eine jüdische, nur eine deutsche Identität in sich entdecken konnte, wird hier zu Michal, Tochter des Königs Saul und erste Frau König Davids, auch sie nun eine alte Frau, die ihr langes kummervolles Leben berichtet. Dann aber spricht auch wieder die Autorin selbst: Ein Dialog über die Zeiten hinweg, zwischen einer Jüdin am Anfang und einer am Ende der Geschichte. „3000 Jahre liegen dazwischen. Eine lange Zeit zur Einsicht, doch geändert hat sich nicht viel.“12
Zum ersten Mal in Israel
Um ihr Buch schreiben zu können, ist sie, die immer gern und viel reiste (bis nach Ladakh und Nepal!), endlich auch nach Israel gefahren, zum ersten Mal in ihrem Leben, denn sie hatte bislang wohl immer Angst vor ihren Emotionen, eine Angst, die sich dann als unbegründet erwies. Das Land erschien ihr fremd, vermittelte ihr nicht das Gefühl nach Hause zu kommen; wohl aber empfand sie eine Zärtlichkeit für Land und Bewohner und hoffte, wenn auch zweifelnd, dass es gut gehen möge mit ihnen.
Eine Skepsis, geboren aus leidvoller Erfahrung und aus einer leidvollen Geschichte voll Blut und Gewalt, wie sie auch in dieser Erzählung berichtet wird. Aber Michal, diese Stimme aus ferner Vergangenheit setzte die Hoffnung auf eine künftig bessere, menschlichere Welt und ahnte doch nicht, welches Schicksal ihrem Volk noch bevorstand. Grete, die andere Stimme, hat dieses Schicksal durchlebt und überlebt und muss mit dieser Wunde leben; dennoch ist sie bereit zu vergeben. Ein Buch von grosser Trauer und grosser Menschlichkeit.
Das Schuldgefühl der Davongekommenen
In den „Spätfolgen“ wird dann ein resignierter Ton hörbar: „Über vierzig Jahre lang habe ich mir eingebildet ein Zeuge zu sein, und das hat mich befähigt so zu leben wie ich es getan habe. Ich bin kein Zeuge mehr. Ich habe nichts gewusst. Wenn ich Primo Levi lese, weiss ich, dass ich mir ein KZ nicht wirklich vorstellen konnte. Meine Phantasie war nicht krank genug.“13
Primo Levi hat sich wie andere, die das KZ überlebten: Jean Améry, Bruno Bettelheim, Paul Celan später das Leben genommen, und was schon zuvor gelegentlich bei Grete Weil anklang, wird hier nochmals sehr deutlich: das Schuldgefühl der Davongekommenen gegenüber den Opfern des Nazi-Terrors.
Für den „Brautpreis“ und für ihr Lebenswerk erhielt Grete Weil 1988 den mit 20’000 DM dotierten Geschwister-Scholl-Preis. In ihrer Dankrede erklärte sie, dieser Preis sei der einzige, den sie sich immer gewünscht habe, denn er gelte nicht nur der Literatur, sondern auch der Gesinnung, und da glaube sie ihn im Sinne von Hans und Sophie Scholl mit Recht annehmen zu dürfen.
„Ich, die Spätgeborene“, schreibt sie in dem Roman, „muss mit dem Wissen um Auschwitz mein Leben zu Ende bringen, es wird mich quälen bis zum letzten Atemzug.“14
Aber, auch das sagte sie einmal in einem Interview, hassen könne sie nicht: „Ich bin wohl eine schlechte Hasserin.“ ♦
1 Grete Weil, Generationen, Roman, Berlin: Volk und Welt, 1985 2 Grete Weil, Meine Schwester Antigone, Roman, Zürich/Köln: Benziger, 1980 3 Grete Weil, Ans Ende der Welt, Erzählung, Berlin: Volk und Welt, 1949 4 zitiert nach G. Weil, Ans Ende der Welt 5 Grete Weil, Tramhalte Beethovenstraat, Roman, Wiesbaden: Limes, 1963 6 zitiert nach G. Weil, Tramhalte Beethovenstraat 7 Grete Weil, Happy sagte der Onkel, Wiesbaden: Limes, 1968 8 G. Weil, Antigone 9 G. Weil, Antigone 10 G. Weil, Generationen 11 Grete Weil, Der Brautpreis, Roman, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1988 12 G. Weil, Der Brautpreis 13 Grete Weil, Spätfolgen, Erzählungen, Zürich/Frauenfeld: Nagel&Kimche, 1992 14 G. Weil, Der Brautpreis
(Dieser Beitrag von Peter Ahrendt stammt aus dem Jahre 1994)
Geb 1940 in Penzlin/D, bis 2005 Konzern-Betriebsprüfer, Prosa-, Lyrik- und essayistische Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Mitglied der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser GASL und der Fritz-Reuter-Gesellschaft, lebt in Norderstedt/D
Schon die im Titel dieses Textes verwendeten Begriffe wird man als vage und mehrdeutig bezeichnen. Sie sind es, und dass sie es sind, ist notwendig, um die Bedeutungen und Spielarten hinlänglich beschreiben zu können, in denen sich Kultur heute ereignet – in diesem Kontinent, der unfreiwillig der internationalste, der am wenigsten regional und provinziell geprägte, der verflochtenste und trotz seiner ökonomischen Potenz und relativen politischen Stärke der kulturell am wenigsten selbstbestimmte der fünf bewohnten Kontinente ist.
„Neue Kultur“ bezeichnet nicht einfach das gerade eben mit kulturellem Anspruch ins Werk Gesetzte. „Volkskultur“ bezieht sich nicht auf die touristisch inspirierten Darbietungen alter Leute in alten Kostümen. „Neue Kultur“ umschliesst all die vielgestaltigen, tastenden Versuche einer neuen Bewegung, ihre eigenen Erfahrungen und ihr momentanes Bild einer anderen Weltordnung zu vergegenständlichen. Diese unverbrauchte, in vielem noch unentwickelte und gestaltlose Kultur findet ihr Gegenstück – halb Spiegelbild, halb Antagonismus – in einer Volkskultur, die aus zerstörten Resten aufscheint oder sich neu entzündet an populären Gefühlen, an Kämpfen und Identifikationen.
Alternativ und avantgardistisch
Eine alternative Kultur kann sich nicht damit abgeben, den Menschen zu sagen, was sie längst wissen und tun. Sie muss avantgardistisch sein, sie muss einen Schritt voraus sein oder auch einige Schritte, und sie darf nicht gemessen werden am sogenannten gesunden Menschenverstand.
Wider die „Ehedramen und Kleine-Leute-Geschichten“: Wolf Vostell mit seiner „Elektronischen dé coll age“ 1968
Eine der erbärmlichsten Sachen ist es, wenn sogenannte Linke sich nicht zu schade sind, das auf den Hund gekommene Volksempfinden zu Hilfe zu rufen gegen all das, was sie nicht verstehen können und nicht verstehen wollen. Natürlich gibt es auch Pseudo-Avantgardismus, gibt es Scharlatanerie und serielles Kunstgewerbe, wo ein Otto Herbert Hajek so impotent ist wie einstmals ein Bernard Buffet. Natürlich ist nicht die Haltung der kritiklosen Bewunderung – platt auf den Bauch, die Augen fest geschlossen – gefordert, also jene servile Museumswächter-Mentalität, die schon aufschreit, wenn jemand unerlaubterweise eine Beuyssche Stahlrohrkonstruktion berührt.
Aber es ist eben einfach daran festzuhalten, dass ein Vostell in seinen Fluxus-Containern mehr transportiert an Gegenwart und an Zukunft als ganze Güterzüge voller Spätimpressionismus und „sozialistischem Realismus“. Die bleiern schweren Grabfiguren, der messergespickte Hund im roten Pfefferstaub – das ist viel näher dran an unseren wirklichen Problemen als all die Ehedramen und Kleine-Leute-Geschichten, als all die engagierte Künstlichkeit der Arbeitnehmer-Reportagen.
Den Künstlern die Freiheit lassen, so zu sein, wie sie sind
Überhaupt sollten wir uns lösen von der Doktrin, dass der Künstler gefälligst als zugleich genialer und brav progressiver Kulturschaffender ein wackerer Gewerkschafter, ein zuverlässiger Parteimann, ein konsequenter Revolutionsasket zu sein habe. Wir müssen uns freimachen von diesen Fiktionen, wir müssen den Künstlern und der Kunst die Freiheit lassen, so zu sein, wie sie sind – eine totale, schrankenlose Freiheit, nicht eine halbe und kastrierte im Sinne einer regierungsoffiziellen sowjetischen Broschüre aus der Breschnew-Ära, in der es heisst: „Schriftsteller, Maler oder Regisseure sind in ihrem Schaffen frei. Es gibt weder verbotene Formen noch verbotene Themen. Das Prinzip der Schaffensfreiheit ist jedoch mit Anschlägen auf die Lebensinteressen der Gesellschaft und der Werktätigen unvereinbar. Die Gesellschaft lässt weder die Propaganda des Krieges zu noch das Schüren von rassistischer oder religiöser Feindschaft, sie verbietet die Verbreitung von Pornographie oder Werken, die von antihumanem, antisozialistischem Geist durchdrungen sind.“ (Presseagentur Nowosti „Jahrbuch UdSSR 1984“, APN-Verlag, Moskau 1984).
Die Kunst zu widersprechen – die Widersprüche der Kunst
Man wird akzeptieren müssen, dass Künstler nicht immer Heroen sind, sondern alles und jedes: Klerikale Spinner die einen, ängstliche Psychopathen die anderen, brutale Saufbolde oder prosaische Buchhalter, geldgierige Bonvivants oder rachsüchtige Menschenfeinde. Man wird akzeptieren müssen, dass Künstler keine Vorbilder sind. Man wird akzeptieren müssen, dass etliche Künstler nicht „“links, wo das Herz ist“, ihren Platz gehabt haben, sondern auf der anderen Seite der Frontlinie.
Faschist und genialer Lyriker: Ezra Pound (1885-1972)
Dass Ezra Pound ein Sympathisant der italienischen Faschisten war, hat nicht verhindert, dass er einer der grössten Lyriker dieses Jahrhunderts war und blieb. Gerade in Deutschland ist ein nationaler Konsens nötig darüber, welche der in den Faschismus verstrickten Künstler wir auf den Sperrmüll der Geschichte werfen sollten und welche nicht.
Unwissenheit und Ohnmacht
In einer längst nicht mehr europäisch zentrierten und sich rapide wandelnden Welt wäre es notwendig, dass bei einer Pflichtschulzeit von zwölf oder dreizehn Jahren jeder, der nicht lernbehindert ist, also auch jeder heutige „Hauptschüler“ am Ende zwei Weltsprachen fliessend spricht, geschichtliche, politische und geographische Zusammenhänge kennt, die Grundzüge mathematischen und philosophischen Denkens begreift, die elementaren Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften zumindest in metaphorischer Form nachvollzogen hat, das Handwerkliche der Kunst kennengelernt und in kreativer, selbstbestimmter Arbeit zu eigenständiger Gestaltung gefunden hat, mehrere Sportarten beherrscht, sowie gelernt hat, wie in Fabriken und Labors, in Handwerksbetrieben und in der Landwirtschaft die Hände und der Kopf gebraucht werden.
Natürlich, das ist eine Utopie. Aber eine vom Gang der Geschichte diktierte, der die europäischen Länder nur um den Preis ihres kulturellen und wirtschaftlichen Zurückbleibens ausweichen können. Diese Utopie zu verwirklichen wird nicht nur grosse Geldsummen, sondern auch Schweiss und Tränen und den Verzicht auf liebgewordene Vorurteile kosten.
Für das, was anders ist
Wir müssen die Verschiedenartigkeit, die Eigenartigkeit, die Einzigartigkeit, das besondere Gesicht unserer eigenen Kultur verteidigen – die in aller Vermischung unvertauschbare und unübertragbare Einzelexistenz, das Phänotypische. Es ist eine Entscheidung, die wir zu treffen haben: Wollen wir eine von allen nationalen Exzentrizitäten gereinigte, jeden Bezug auf das eigene Land ängstlich vermeidende Kultur, die in Melbourne und in München, in Vancouver und in Frankfurt die eine, ewig gleiche, unterschiedslose Weltkunst (oder ihre europäisch-abendländische Variante) inszeniert? Wollen wir eine Kultur, die den Charakter ihrer Charakterlosigkeit bezieht aus der fröhlichen Befolgung von globalen Marktgesetzen und international gültigen Sebstverstümmelungs-Mechanismen – oder wollen wir eine aus den nur begrenzt miteinander verbundenen, nur begrenzt vermittelbaren Sonderkulturen all der vielen Völker entstehende Weltkultur, in der das einigende Band sehr lose und sehr äusserlich ist und so verschwindet wie ein Faden, der unter den vielen bunten Blumen fast unsichtbar bleibt und doch das Gebinde zusammenbringt? Ich plädiere für eine bei aller wechselseitigen Beeinflussung und Befruchtung unaufhebbare Schranke zwischen den Kulturen, für eine deutsche und eine spanische und eine französische Kultur statt eines Einheitsbreis nach Europa-Norm.
Dies bedeutet natürlich ein Abkoppeln von einer als unaufhaltsam dargestellten „allgemeinen Entwicklung“, von der zwanghaft auf Uniformität und Verflachung abgerichteten Wanderbühnenkunst, deren Heimat das Nirgendwo und deren letzter Grund das Geschäftemachen ist. Dies bedeutet ein Ausklinken aus den aktuellen „Sachzwängen“, mit denen das allseitige Angleichen, Abschleifen und Verflachen erreicht werden soll. Die Zerstörung des Besonderen jeder Kultur im heutigen freien Westen hat ihre unübersehbare Parallele in der Zerstörung der vielgestaltigen natürlichen Ökotope wie in der Zerstörung gewachsener Stadtteilstrukturen. Das triste Einerlei der durch Emissionen, Kultivierung und freizeitgerechte Abnutzung sterbenden Wälder, die todtraurige Langweiligkeit der wuchernden Hochhaus- und Reihenhausgeschwulste – all das wächst auf demselben Boden wie die Vermarktung der Kultur und ihre industrielle Verarbeitung zu geschmacksneutralen Appetithappen. Die Macht, die die Natur und die Menschen zugrunde richtet, ist dieselbe, die die menschlichen Schöpfungen zu vernichten sucht: Eine zentralistische, monopolistische, industrialistische Lebens- und Arbeitsstruktur, die sich in Herrschaftsordnungen und Wirtschaftsformen, in Denkgewohnheiten und Herrscherfiguren verkörpert, welche – je mehr sie miteinander in Verteilungskämpfe geraten – sich um so ähnlicher werden.
Was Europa sein könnte
„Kleineuropa der Bürokraten und ihres parlamentarischen Begleitorchesters“: Die EU-Kommission in Brüssel
Wir wollen eine regionalistische Kultur der Völker in einem Europa, das nicht das Kleineuropa der Euro-Bürokraten und ihres parlamentarischen Begleitorchesters ist, sondern jenes grosse und grossartige Gesamteuropa, das vom Bosporus bis Spitzbergen, von Gibraltar bis zum Ural reicht, zu dem all die kleinen, von den Grossmachtpolitikern ebenso unterschätzten wie unterdrückten Völker gehören, ob heute in einem eigenen Staat lebend wie Albaner und Finnen oder noch in einem fremden Staatsverband eingepfercht wie Basken und Korsen, ein Gesamteuropa, das all die in einen anderen Kontinent hinüberreichenden halbeuropäischen Brücken- und Zwischen-Länder (die Sowjetunion, die Türkei, Zypern, Malta, Grönland) – zu Austausch und enger Kooperation aufruft und den aussereuropäischen Mächten USA und Kanada den kostenlosen Heimtransport ihrer Soldaten und Vernichtungswaffen spendiert.
Ein solches Europa wird sich freimachen von der engstirnigen Fixierung auf ein christkatholisches Abendländertum, es wird die widersprüchliche Vermischung der Ethnien, und Kulturen in der europäischen Geschichte bewusst aufgreifen als Chance für Vielgestaltigkeit und Formenreichtum. Es wird weder romanisch noch germanisch sein, weder slawisch noch „nordisch“, es wird ebenso eine Balance seiner kulturellen Bildungselemente ermöglichen wie ein politisches Gleichgewicht der Mächtegruppierungen. Europa hat eine Chance zu überleben, wenn es sich politisch, wirtschaftlich und militärisch abkoppelt von den USA, wenn es aus der Distanz der Nicht-Paktgebundenheit heraus eine Mittlerrolle einnimmt – zwischen Westen und Osten, zwischen Nordamerika und Asien, zwischen „erster“ und „dritter“ Welt.
Zu dieser Unabhängigkeit gehört aber auch, dass Europa nicht länger sich der amerikanischen kulturellen Hegemonie beugt, die – ohne dass politischer Druck und militärische Erpressung hinzutreten müssten – allein durch den Selbstlauf der technologischen Entwicklung immer weiter anwächst: Als Kommerzialisierung, als Trivialisierung, als Schablonisierung, von den Werbemythen bis hin zu den Schnellrestaurants, von den Seifenopern bis hin zur elektronischen Kinderstube.
Was verteidigen wir, was geben wir auf?
Kulturelle Grenzüberschreitung durch omnipräsentes McDonald’s?
Was heisst das konkret, für viele Einzelkulturen der europäischen Völker statt für die Chimäre einer einheitlichen „Europa-Kultur“ einzutreten? Es bedeutet zunächst einmal, nichts, was lebensfähig ist, aufzugeben aus den lokalen, regionalen und nationalen Traditionen, sondern es zu bewahren und zu erneuern: Die bunten Häuser Portugals und die weissen Andalusiens, die Fachwerk-, Schiefer- und Bruchsteinhäuser Deutschlands, das „unmögliche“ zungenbrecherische Walisisch, die griechische und die kyrillische Schrift, Trachten und Tänze und Volksmusik, bayrisches Brauchtum und die Riten der unchristlichen Abendländer (der Mohammedaner auf dem Balkan), die eigene Literatur der baltischen Völker oder der albanischen Minderheit in Italien, die den Zentralisten verhasste und als Separatismus verdächtige Wiederbelebung einer elsässischen oder katalanischen oder sowjetischen Identität…
Aber es geht um mehr als um ein Konservieren und Restaurieren. Notwendig sind Kulturen, die neue Schöpfungen hervorbringen und neue Traditionen begründen, die das moderne Leben der Völker zum Leben bringen in Kunstwerken, die mehr sind als Kopien oder späte Nachklänge der alten Meister. Eine solche Kunst muss notwendig avantgardistisch sein, sie kann nicht spekulieren auf unmittelbare Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit. So wie wir in der Pädagogik die Doktrinen des Laisser faire und der Anpassung ans jeweils niedrigste Niveau, die Anbetung der spontanen Ignoranz und die Orientierung am Flachkopf und am Faulpelz endlich überwinden und der verdienten Lächerlichkeit preisgeben sollten, so ist auch auf kulturellem Gebiet ein fundamentales Umdenken an der Zeit. Es muss in die Köpfe hinein, dass ein Kunstwerk sich immer wieder der Vereinnahmung und Vereindeutigung entzieht, dass Ehrfurcht und Schweigen angebrachter sind als interpretierendes Gefasel, dass das Verstehen eines Kunstwerkes nur aus der Distanz möglich ist, dass dieses Verstehen mit geistigen Anstrengungen, mit Arbeit, mit inneren Kämpfen und Schmerzen, mit Risiken und mit Sich-Bewähren zu tun hat.
Das Feuer auf die Erde!
Göttin Europa, gestützt von Afrika und Amerika (William Blake, 1796)
Dort, wo sich wirklich etwas abspielt, wo Bücher mehr sind als Papierkram, wo Maler mehr vollbringen als gehobene Anstreicherei, wo die Musik die Dämonen und die Götter beschwört, dort ist eine Chance für den schöpferischen Menschen, sich vom Wiederkäuen der Realität zu lösen, sich aus den Zwangsgedanken des Foto-Realismus zu befreien und das Feuer auf die Erde zu bringen, das ebenso gemeingefährlich wie schön ist.
So wie die modernen Abenteurer aus dem Bannkreis der begradigten Flüsse, möblierten Wälder und seilbahnerschlossenen Berge flüchten, das Unkalkulierbare, den Tanz auf dem Seil suchen und den möglichen Tod der sicheren Langeweile vorziehen, so steigen die Künstler aus dem vermarkteten, reglementierten, korrumpierten und keimfreien Kulturbetrieb aus – across the river and into the trees.
Natürlich ist dies eine romantische Attitüde, natürlich ist dies Flucht und Verweigerung, aber es ist überlebensnotwendig, wenn man der geistigen Verödung, Versteppung und Verwüstung, der Plattwalzung und Ruhigstellung entgehen will. Ob stiller Rückzug in ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, ob aggressive Aufkündigung des Mitspiel-Engagements, ob Gegen-Offensive oder autistische Abkehr – in jedem Fall geht es darum, sich nicht als Quisling der kulturellen Nivellierung und Verblödung zur Verfügung zu stellen. Es geht darum, frei zu bleiben, unbestechlich und souverän. ♦
Geb. 1949 in Mühlheim/D, Studium der Psychologie in Tübingen und Köln, zahlreiche fachwissenschaftliche und belletristische Publikationen in Büchern und Zeitschriften, früher SDS-Aktivist, Mitbegründer der Grünen Deutschland, umfangreiche fotokünstlerische Arbeit, lebt in Köln
In seinem Vorwort zur soeben im Zürcher Rotpunkt-Verlag erschienenen Essay-Sammlung „Zukunft der Demokratie – Das postkapitalistische Projekt“ steckt Urs Marti, Professor für Politische Philosophie in Zürich, den Denk-Rahmen des Bandes betont breit aus. Denn, so Marti: „Dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer, ist ein Befund, dem zu widersprechen mittlerweile auch überzeugten Anhängern des Kapitalismus schwerfällt“.
Politologe Marti weiter: „In dem Mass, wie er sich bestätigt, wird klar, dass der Kapitalismus unfähig ist, die von ihm gegebenen Versprechen zu halten. Die ungleiche Verteilung des Wohlstands – und damit auch der Chancen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen – gehört zu den grossen Problemen der Gegenwart; ein weiteres ist die Unfähigkeit des Kapitalismus, der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen Einhalt zu gebieten. Der Kapitalismus als private Aneignung der Welt steht im Widerspruch zu den grossen Prinzipien der Moderne: Der demokratischen Mitbestimmung einerseits, die notwendigerweise auch die kollektive Nutzung der Ressourcen einschliesst, der individuellen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung andererseits, die heute im Namen der unerbittlichen Gesetze des Marktes für die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung faktisch negiert werden.“
Demokratische Kontrolle der Wirtschaft verpasst
Demgegenüber aber auch: „Viele werden dem Urteil zustimmen, der Kapitalismus sei unökonomisch im Gebrauch von Ressourcen und ungerecht in deren Verteilung. Dennoch werden sie die Frage, ob die Überwindung des Kapitalismus eine realistische Perspektive sei, verneinen. Tatsächlich sind die Erfahrungen des zo. Jahrhunderts ernüchternd. Das sozialdemokratische Projekt einer Zähmung des Kapitalismus ist nicht zuletzt deshalb gescheitert, weil kaum ernsthaft versucht worden ist, demokratische Kontrolle auf den Bereich der Wirtschaft auszudehnen. Sozialistische Projekte, den Kapitalismus durch ein anderes System zu ersetzen, haben statt mehr Freiheit neue Formen totaler Herrschaft geschaffen.“
Utopie-Entwurf mit realpolitischer Praktikabilität
Beat Ringger (geb. 1955)
Zwischen diesen beiden realpolitischen Befunden verlaufen nun die thematischen Stränge der sieben umfangreichen Aufsätze dieses Bandes, wobei die Autorinnen&Autoren Urs Marti (geb. 1948, Politologe an der Universität Zürich), Katrin Meyer (geb. 1962, Philosophin an der Universität Basel), Patricia Purtschert (geb. 1973, Kulturwissenschaftlerin in Basel), Willi Eberle (geb. 1948, Gewerkschafter in Zürich), Hans Schäppi (geb. 1942, Vorstandsmitglied von „Sans Papier“ in Basel), Beat Ringger (geb.1955, Zentralsekretär der Schweizer Gewerkschaft VPOD) und Sarah Schilliger (geb. 1979, Soziologin an der Universität Basel) sich einig sind in ihrem aufklärerischen Bestreben, welches der Vorwort-Verfasser programmatisch (und dezidiert an Marx&Engels anknüpfend) umreisst:
„So gross die Unzufriedenheit der Menschen mit den bestehenden Zuständen in den Gesellschaften der Gegenwart auch sein mag, so setzt sie doch so lange keine revolutionären Energien frei, wie die Mechanismen kapitalistischer Fremdbestimmung nicht durchschaut werden und das Wissen um die Veränderbarkeit der Verhältnisse fehlt. Mit dem vorliegenden Buch wollen die Autorinnen und Autoren beitragen zur Überwindung jenes Irrationalismus, der den Kapitalismus zum Schicksal erklärt, die Frage nach vernünftigen Alternativen tabuisiert und dem Projekt revolutionärer Veränderung die Legitimität abspricht.“
Provokante Bestandesaufnahme des Antikapitalismus‘
Diese Anthologie ist eine provokante Bestandesaufnahme und zugleich ein ideologisches Granulat jener modernen antikapitalistischen Denk-Strömungen, die – von aller Patina eines spätmarxistischen Revoluzzertums befreit – durchaus den humanistischen Utopie-Entwurf mit realpolitischer Praktikabilität verschmilzt, wobei der „Projekt“-Charakter eben dieses alternativen Entwurfes von völlig unterschiedlichen Blickwinkeln aus angegangen wird. Eine sehr notwendige Sammlung, die – eigentlich gewidmet auch der differenzierteren Identitätsfindung der aktuellen linken Bewegungen – genau richtig kommt in unseren Zeiten des omnipräsenten, dabei schamlosest monetär grundierten Rechtspopulismus‘ und einer global ruinösen Bankenwirtschaft. ♦
Am 14. März 1989 geht ein Schrei der Entrüstung und des Entsetzens durch die gesamte aufgeklärte Welt: Der Islam, fundamentalistisch personifiziert in dem Teheraner Imam Ruhollah Ibn Mustafa Musawi Chomeini, gibt den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie, einen der bedeutendsten Intellektuellen des Westens, buchstäblich zum Abschuss frei. Der Mullah Chomeini, seit seiner Rückkehr aus dem Pariser Exil (am 1. Februar 1979) Irans oberster religiöser wie politischer Führer und absolutistischer Theokrat mit faktisch uneingeschränkter Machtbefugnis, ruft in einer Fatwa die Moslems der ganzen Welt dazu auf, Rushdie zu ermorden. Denn dieser habe in seinem Buch „Die satanischen Verse“ Blasphemie wider den Propheten Mohammed betrieben. Chomeini: „Ich ersuche alle tapferen Muslime, ihn, gleich wo sie ihn finden, schnell zu töten, damit nie wieder jemand wagt, die Heiligen des Islam zu beleidigen. Jeder, der bei dem Versuch, Rushdie umzubringen, selbst ums Leben kommt, ist, so Gott will, ein Märtyrer.“ (Ulrich Encke: Ajatollah Chomeini 1989, Seite 172)
Kopfgeld-Prämie von 3 Millionen Dollar
Um ihrem Mord-Aufruf Nachdruck zu verleihen, setzen Ajatollah Chomeini und seine radikalen Theokraten eine Kopf-Prämie von drei Millionen US-Dollar aus. Das Blutgeld wird später sogar verdoppelt, die Fatwa nach dem Tode Chomeinis (am 3. Juni 1989) von den hohen Mullahs Chamenei und Rafsandjani ausdrücklich bekräftigt. Rushdie muss in den Untergrund abtauchen, vom britischen Geheimdienst unter Polizeischutz gestellt, er wechselt ständig den Wohnsitz, ununterbrochene Mord-Drohungen zwingen den Schriftsteller in die totale Isolation.
Gleichzeitig sind verschiedene Rushdie-Verleger Repressalien und Anschlägen ausgesetzt, sein dänischer Verleger entgeht nur knapp einem Attentat, und dem fundamentalistischen Islam-Fanatismus fallen schliesslich der italienische und der japanische Rushdie-Übersetzer zum Opfer, die in Mailand niedergestochen bzw. in Tokio ermordet werden. Zehn Jahre lang lebt der berühmte Autor der „Mitternachtskinder“ (1981) und von „Scham und Schande“ (1983) nun an streng geheimen Orten, 30 Mal wechselt er in dieser Zeit sein Versteck, und wo immer er sich (für kurze Augenblicke) zeigt, gilt die höchste Sicherheitsstufe – derweil ein Mann im britischen Fernsehen vor einem Millionen-Publikum öffentlich bekennt: „Ihn zu töten ist eine Ehre für mich, für jeden guten Moslem!“.
Fatwa-Mordruf gegen Rushdie bis heute nicht zurückgenommen
Salman Rushdie
Salman Rushdie findet sich indes mit diesem Leben nicht ab, er entschuldigt sich schon früh, erklärt gegenüber der Islamischen Glaubensgemeinschaft sein „Bedauern über die Besorgnis, die die Veröffentlichung aufrichtigen Anhängern des Islam bereitet hat“. Und bald nach der Verhängung der Fatwa regt sich weltweiter Widerstand gegen das Todes-Urteil, Prominente und bekannte Politiker (darunter auch US-Präsident Clinton) setzen sich für ihn ein, ebenso einhellig die grossen Schriftsteller- sowie andere starke Verbände.
„Redefreiheit ist das Leben!“
Heute ist der bedeutende, von zahlreichen Institutionen geehrte Vertreter des „Magischen Realismus“ wieder quasi auf freiem Fuss, und seine weltweit heiss „umkämpften“ und darum höchst erfolgreich verkauften „Satanischen Verse“ dürften ihn längst zum Millionär gemacht haben. Doch obwohl 1998 der eher liberale iranische Staatspräsident Chatami am Rande der UN-Vollversammlung erklärt, dass man den Fall Salman Rushdie offiziell als „völlig abgeschlossen“ betrachte, und dass überhaupt die iranische Regierung nie Mörder für die Beseitigung des Dichters gedungen habe, ist der Fatwa-Mordruf gegen Rushdie bis zum heutigen Tage nicht offiziell zurückgenommen worden. Vor einigen Monaten wurde Rushdie von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen; Islamisten drohen inzwischen erneut mit Anschlägen…
Solcher hasserfüllten, totalitär-ideologischen, den humanistischen Kern des Korans negierenden Barbarei hält der „realistische Phantast“ und grosse Islam-Kenner, aber auch erklärte Freidenker Salman Rushdie entgegen: „Redefreiheit ist das Entscheidende, um sie dreht sich alles. Redefreiheit ist das Leben.“ ♦
Seit es die international wuchernde „Scientology-Church“ gibt, steht sie bei Sekten-Kennern im Verdacht, systematisch Gehirnwäsche und Psychoterror auszuüben. (Der Hamburger Verfassungsschutz redet gar von Scientology als einer „extremistischen Organisation„).
Nun packt die „Scientology“-Expertin Ursula Caberta aus und enthüllt eine Fülle von teils erschütternden Fakten über diese umstrittene Organisation.
Angesichts einer zunehmenden Verharmlosung der „Scientology“ in unserer Gesellschaft gerade auch durch Prominente und andere Lobbyisten eine notwendige Aufkärung, deren vielen Recherchen den Tarn-Schleier über einer weltweit operierenden Sekte lüftet.
Falsche Propheten und elterliche Ignoranz
Anhand zahlreicher Beispiele wird gezeigt, was falsche Propheten und elterliche Ignoranz anrichten können. Wichtige Praxis-Tipps ermöglichen es Eltern, Pädagogen und allen in Jugend- und Sozialarbeit Tätigen, Probleme zu erkennen und Lösungen zu erarbeiten.
Ursula Caberta, u.a. Leiterin der Hamburger Landes-Jugendbehörde, gehört zu den dokumentiertesten Kennerinnen der deutschen Sekten-Szene und befasst sich seit Jahren mit den Demokratie-feindlichen Auswüchsen der weitgehend im Verborgenen agierenden Scientologen. ♦
Es mag paradox klingen, aber den Jugendlichen ist die Musik so wichtig, dass sie es nicht ertragen, wenn die Schule sie vereinnahmt. Deshalb wird die Schulmusik nicht ernst genommen, das ist die Krise der Schulmusik. –
Pantalone* ging skeptisch an den Anlass, dessen Thema die Schweizer Volksinitiative „jugend+musik“ war. Musik ist doch ein Allerweltsthema. Alle würden sich auf die Schultern klopfen. Wer hat denn etwas gegen Musik?
Jürg Seiberth
Aber die Veranstaltung war gut. Es gab Harfenmusik, schön, fein, aber auch ein wenig neckisch und stachlig. Pantalone wurde es warm ums Herz. Musik ist die Grundlage aller Poesie. Schön auch, dass es in der Schweiz diese Initiative gibt, und dass die Schweizer in den nächsten Monaten weiter über Musik diskutieren werden. Niemand ist gegen Musik, solange es nicht an die Ressourcen geht, ans Geld und an die Zeit.
Musikunterricht an der Volksschule wird marginalisiert
Zum Beispiel an die Schulzeit. Der Musikunterricht an den Schulen wird marginalisiert, ihr Gewicht in der LehrerInnenausbildung nimmt ab. Hector Herzig, der Präsident des Verbandes Musikschulen Schweiz, lieβ sich zur Aussage hinreiβen, wenn Musikerziehung derart vernachläβigt werde, müsse man sich nicht wundern, wenn die pubertierende Jugend „keine Affinität zur Musik“ habe.
Da musste Pantalone intervenieren: In keinem Lebensalter ist die Affinität zur Musik gröβer als in der Pubertät. Die Krise des Musikunterrichts hat ihre Ursache nicht darin, dass sich die Jugend nicht für Musik interessiert. Im Gegenteil, Musik ist das wichtigste im Leben der Jugendlichen. Pantalone vermutet, dass das schon in der Steinzeit so war, und er ist sicher, dass es heute so ist.
Musik soll neben der Schule stattfinden!
Merkwürdig findet Pantalone, dass es Leute gibt, die denken, die Musik sei auf die Schule angewiesen. Es mag paradox klingen, aber den Jugendlichen ist die Musik so wichtig, dass sie es nicht ertragen, wenn die Schule sie vereinnahmt. Pantalone ist überzeugt: So wichtig es ist, dass die Musik ihren Platz in der Primarschule hat, für die SekundarschülerInnen muss die Musik hauptsächlich neben der Schule stattfinden, im Kreis von Freunden, in der Disco, im Bandkeller, und vor allem auch in den Musikschulen.
Die Musikschule wiederum tut gut daran, sich von der Schule zu distanzieren. In der Musikschule passiert nicht das gleiche wie in der Schule. Deshalb sind auch private Musikschulen (z.B. die Basler Musikwerkstatt) so beliebt und so erfolgreich. Die pubertierenden Jugendlichen suchen Musik und sie suchen Menschen, die sie in die Geheimnisse der Musik einweihen, aber sie suchen das alles nicht in der Schule.
Vielleicht braucht die Schule die Musik, die Musik braucht die Schule nicht. Die Musik braucht auch keine Lobby, aber die Lobby braucht offenbar die Musik. Pantalone ist natürlich für die Initiative, denn wie gesagt: Musik ist die Grundlage aller Poesie. Aber Musik ist nicht primär ein Schulthema. Es geht um Menschen und um Musik. Die Musikausbildung, das Musizieren, das Musikhören kann und muss auch und vor allem auβerhalb der Schule massiv gefördert werden. ♦
*Pantalone ist eine „Maske“ von Jürg Seiberth, geb. 1955, freier Autor und Texter, Hobbymusiker und Musikschulrat, lebt in Arlesheim. „Die Musik braucht die Schule nicht“ erschien zuerst in seinem Weblog Pantalones Poetik – Mit freundlicher Genehmigung des Autors
„Das spektakuläre Attentat vom 11. September 2001, das die Vereinigten Staaten ins Herz traf, ist ein Verbrechen. Ein Verbrechen, begangen von Islamisten, Höhepunkt einer Serie von Terrorakten mit stetig ansteigender Kurve, die nach meinem Dafürhalten im Jahr 1979 beginnt, mit dem Triumph Khomeinis im Iran und dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan. Beides waren Ereignisse mit weitreichenden Folgen, welche die fundamentalistischen Bewegungen stärkten und ihnen dabei halfen, ihre Ideologie zu verbreiten. Wenn man begreifen möchte, wie diese Ideologie entstanden ist, muss man sich weit zurück in die Vergangenheit begeben.“
Plädoyer für einen toleranten Islam
So beginnt „Die Krankheit des Islam“, ein passioniert geschriebenes Plädoyer des Islam-Experten und Schriftstellers Abdelwahab Meddeb (geb. 1946 in Tunis) für einen „neuen“ Islam. Die höchst kenntnisreich, von Humanismus durchdrungene, historisch detaillreich grundierte Abhandlung streitet einerseits durchaus für die alte Tradition der Toleranz im Islam, schonunglos werden aber auch die (religiösen und soziologischen) Wurzeln jener islamistischen Selbstzerstörung offengelegt, welche zum Fundamentalismus und zum Fanatismus führen.
Islam muss sich der Aufklärung stellen
Die höchst kenntnisreich, von Humanismus durchdrungene, historisch detaillreich grundierte Abhandlung streitet einerseits durchaus für die alte Tradition der Toleranz im Islam, schonungslos werden aber auch die (religiösen und soziologischen) Wurzeln jener islamistischen Selbstzerstörung offengelegt, welche zum Fundamentalismus und zum Fanatismus führen. Ein mutiges Buch; Wen diese immer brennendere Thematik genauer interessiert, liest es mit Gewinn.
Das Credo Meddebs: Der Islam muss sich der Herausforderung der Aufklärung stellen. „Es gehört zu den Aufgaben des Schriftstellers, die eigenen Leute auf ihre Verirrungen aufmerksam zu machen. Ich möchte sozusagen vor der eigenen Tür kehren“, formuliert der Autor die tiefere Intention seiner jüngsten, international mehrfach preisgekrönten Abhandlung.
Abdelwahab Meddeb
Der Band ist in vier grosse Teile gegliedert: 1. „Der Islam hat den Machtverlust nicht verkraftet“; 2. „Genealogie des Fundamentalismus“; 3. „Fundamentalismus kontra Okzident“; 4. „Der Ausschluss des Islam durch den Westen“.
Ein mutiges Buch. Wen diese immer brennendere Thematik genauer interessiert, liest es mit grossem Gewinn. ♦
Abdelwahab Meddeb: Die Krankheit des Islam, Unionsverlag, 252 Seiten, ISBN 978-3-293-20396-9