Karsten Müller & Luis Engel: Spielertypen im Schach

„Vierdimensionale“ Typologie der Schachspieler

von Ralf Binnewirtz

Der renommierte Schach-Endspiel-Experte und -Autor Karsten Müller und sein junger Kollege Großmeister Luis Engel präsentieren in ihrem Gemeinschaftswerk „Spielertypen im Schach – Ihre Stärken und Schwächen“ eine Typologie der Schachspieler, die auf vier verschiedenen Spielertypen basiert. Die mit umfänglichem Anschauungsmaterial in Form kommentierter Partien versehene Ausarbeitung lädt aktive Spieler dazu ein, sich selbst sowie anstehende Gegner dem einen oder anderen Spielertyp zuzuordnen und hieraus eine geeignete, möglichst vorteilhafte Spielstrategie abzuleiten, aber auch an eventuell vorhandenen eigenen Schwächen zu arbeiten.

Das vom Autorenduo vorgestellte Vier-Typen-Modell geht im Wesentlichen zurück auf Lars Bo Hansen, der es 2005 in seinem Buch Foundations of Chess Strategy eingeführt hat.

Der Aktivspieler

„Aktivspieler“ oder gar „Hyperaktivspieler“ (ein Prototyp der letzteren war der junge Michail Tal) verfolgen eine dynamische, Angriffschancen kreierende Spielweise, die häufig mit intuitiven Opfern verknüpft ist, wobei sie bereit sind, statische Schwächen hinzunehmen. Das Material spielt eine untergeordnete Rolle.
Eine zu hohe Risikobereitschaft bzw. die Überschätzung der eigenen Möglichkeiten kann sich allerdings auch leicht als Bumerang erweisen, zudem sind Aktivspieler oft vergleichsweise schwach in der Kunst der Verteidigung. Zur Freude der Zuschauer ergeben sich dafür vielfach spektakuläre Partien von hohem Unterhaltungswert.
Prominente Vertreter dieses Stils sind Aljechin, Tal, Spasski, Kasparow und Anand (um nur die Weltmeister zu nennen).

Der Theoretiker

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Die Zunft der „Theoretiker“ ist aus einem anderen Holz geschnitzt. Ihr Spiel ist von Logik und Systematik geprägt, sie verfügen in der Regel über ein überschaubares, aber äußerst ausgefeiltes und verlässliches Eröffnungsrepertoire. Sie kennen sich hervorragend aus in den konkreten Strukturen und positionellen Themen, die aus ihren Eröffnungssystemen hervorgehen und sich zuweilen bis ins Endspiel erstrecken. Die Endspieltheorie beherrschen sie ebenfalls perfekt.
Zu ihren Schwächen mag ein Hang zum Dogmatismus zählen (Paradebeispiel Tarrasch!) oder eine gewisse Inflexibilität ihres Spiels, falls sie aus den ihnen vertrauten Strukturen gedrängt werden.
Steinitz, Botwinnik und Kramnik können als typische Vertreter dieser Kategorie gelten. Überraschend unerwähnt im Buch bleibt der historisch bedeutende Theoretiker Ernst Grünfeld – der „Mann mit dem Variantenkoffer“.

Der Reflektor

Müller & Engel - Spielertypen im Schach - Leseprobe 1 (Aktivspieler) - Glarean Magazin
Weltmeister Garry Kasparow als Prototyp des „Aktivspielers“ (Leseprobe aus Müller & Engel: „Spielertypen im Schach“)

Mit der bislang kaum verbreiteten Bezeichnung „Reflektoren“ ist die dritte Gruppe der Spielertypen belegt. Diese besitzen ein untrügliches und nicht erlernbares Gefühl für die Harmonie und Koordination der Figuren, betreiben aktive Prophylaxe und sind besonders stark in der Akkumulation und Verdichtung kleiner Vorteile. Zu ihren bevorzugten taktischen Mitteln gehören langfristige Positionsopfer.
Als ihre potenziellen Schwachpunkte gelten die Eröffnung sowie konkrete Berechnung.
Gemeinhin als Reflektoren eingestuft werden Capablanca, Smyslow, Petrosjan, Karpow und natürlich Carlsen.

Der Pragmatiker

„Pragmatiker“ hingegen fühlen sich besonders wohl in scharfen, taktischen Stellungen, in denen sie ihre Stärke bei der konkreten Variantenberechnung zur Geltung bringen können. Gerne schnappen sie sich Material, um nachfolgend in zäher Verteidigung zu reüssieren, wie es z.B. der „russische Verteidigungsminister“ Karjakin häufig praktiziert. Überdies lieben sie es, den Gegner mit unangenehmen praktischen Entscheidungen zu konfrontieren.
Schwächen können sich einstellen in technisch-positionellen Stellungen, die keine konkreten Berechnungen erfordern, sowie im Erkennen langfristiger Pläne positioneller oder auch taktischer Natur.
Diesem Typus zuzuordnen wären beispielsweise Fischer, Euwe und Lasker.

Partien und Trainingsaufgaben

Müller & Engel - Spielertypen im Schach - Leseprobe 2 (Hyper-Aktivspieler) - Glarean Magazin
Weltmeister Michael Tal als Prototyp des „Hyper-Aktivspielers“ (Leseprobe aus Müller & Engel: „Spielertypen im Schach“)

Die vier Kapitel zu den Spielertypen werden jeweils durch einen allgemeinen Teil eingeleitet (Diskussion der Stärken und Schwächen, Trainingsoptionen, Gegner, Eröffnungen, etc.), wonach in diversen Unterkapiteln (diese finden sich leider nicht im Inhaltsverzeichnis) einzelne Themen zum betreffenden Spielertyp sowohl anhand von Partien als auch von Übungsaufgaben illustriert werden. Die relevanten Partiephasen wurden von den Autoren sorgfältig, aber nicht überbordend kommentiert, in einer ansprechenden Balance zwischen verbalen Kommentaren und Varianten, wobei erstere sogar oft überwiegen (was mir lobenswert erscheint). Gleiches gilt für die Lösungen zu den Aufgaben, die in einem separaten Folgekapitel versammelt sind. In der Auswahl der Partien bieten die Autoren eine gefällige Mischung aus historischen Glanzlichtern, Klassikern der Moderne, weithin unbekannten Partien sowie Beispielen aus der eigenen Spielpraxis.

Vorsätzliches Schubladen-Denken

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Der vorgestellten Typologie wohnt zweifellos ein gewisses Schubladendenken inne, auch wenn Karsten Müller versichert, dass es bei eigenen Trainingsveranstaltungen erstaunlich gut gepasst hat. Bereits in der Einleitung geben die Autoren auch zu, das „Schubladendenken mit gutem Grund überbetont“ zu haben, eben um mit dieser Herangehensweise klarere Bilder zu erhalten. In der Realität geht es nicht ganz so einfach zu, sind die Grenzen nicht so scharf gezogen. Spieler können in ihrer Weiterentwicklung durchaus den Typus wechseln oder zumindest partiell ändern. So hat sich der hyperaktive junge Michail Tal ab ca. 1966 – bei zunehmend fragiler Gesundheit – weitgehend zu einem Pragmatiker gewandelt. Und auch ein Kasparow repräsentierte wohl zwei Typen (Aktivspieler und Pragmatiker) in einer Person. Der Fall wiederum, dass Theoretiker zu Reflektoren mutieren, scheint äußerst selten vorzukommen.

Unerwartete Entwicklung

Magnus Carlsen - Glarean Magazin
Ein einziger „Reflektor“ unter den Top 10 der aktuellen Weltspitze: WM Magnus Carlsen

In einem kurzen Kapitel stellen die Autoren die Spielertypen aus den Top Ten der Weltrangliste der Jahre 2005 und 2020 gegenüber, wobei sich nach 15 Jahren signifikante Änderungen in der Verteilung zeigen: 2005 dominierten noch Aktivspieler die Liste der Top Ten, in 2020 haben wir den (einzigen) Reflektor Carlsen an der Spitze, dem in der Mehrzahl Pragmatiker und nur noch drei Aktivspieler folgen. Die damalige Prognose von L. B. Hansen, dass sich immer mehr Aktivspieler in der Spitze etablieren werden, hat sich damit nicht erfüllt. Die Ursache für diese Entwicklung sehen die Autoren im wachsenden Einfluss des Computers und in der zunehmenden Betonung sportlicher Aspekte, eine vertiefende Betrachtung hierzu bleibt jedoch aus.

Zitate in neuer Interpretation

Die Autoren räumen ein, dass ihr Vier-Typen-Modell näherungsweise der alten, aber undifferenzierten Einteilung in ‚Taktiker und Strategen‘ entspricht (demnach Reflektoren und Theoretiker auf Seiten der Strategen). In der Folge greifen sie zu Tukmakows Buch Modern Chess Formula, um dessen Thesen zum Einfluss der modernen Computertechnik auf das Schach aus der Sicht ihres Typologie-Modells zu deuten, was bei einer Reihe von zitierten Passagen auch gut funktioniert. Vorab stellen sie allerdings einschränkend klar, dass sie mit ihrer Darstellung „nur an der Oberfläche kratzen“ können und eine künftige, gründlichere Ausarbeitung der Thematik eher einem Theoretiker anheimstellen.

Raum für weitere Erkundungen

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Aus vorstehenden Bemerkungen geht bereits hervor, dass das hier diskutierte Typologie-Modell noch nicht die ultimative Letztform darstellen kann. Die Intention der Autoren mag darin bestanden haben, eine Art Pionierarbeit zum Thema „Spielertypen“ vorzulegen, die noch Raum lässt für weitere Erkundungen, Verfeinerungen und Ergänzungen. Hier einen Anstoß für weitere Untersuchungen gegeben zu haben, ist ein Verdienst (unter anderen) des Autorengespanns. Die Zukunft wird zeigen, ob Müller & Engel andere Autoren zu Anschlussarbeiten zu inspirieren vermögen.

Mission erfüllt

Karsten Müller - Luis Engel - Schachgrossmeister - Glarean Magazin
Erfolgreiches Autoren-Gespann: Das Großmeister-Duo Karsten Müller & Luis Engel

Es ist den beiden Autoren Karsten Müller & Luis Engel sichtlich gelungen, die vier Spielertypen ihrer Wahl eingängig darzustellen, wozu in erheblichem Maß die zahlreichen Partien und Trainingsaufgaben beitragen, die mit ihrer profunden, den Spielertypus erhellenden Kommentierung den größten Teil des Buchs ausmachen. Schließlich soll der Leser durch Spielertypenanalyse befähigt werden, sowohl die eigenen Stärken/Schwächen zu erkennen wie auch eine entsprechende Charakteristik seiner Gegner aufzustellen, um mit den so gewonnenen Erkenntnissen eine für den Gegner psychologisch unangenehme Justierung der eigenen Spielweise vorzunehmen. Eine ernsthafte Trainingsarbeit ist selbstredend auch hier Voraussetzung für den Erfolg.

Das Buch ist in der gewohnt soliden Aufmachung des Joachim Beyer Verlags erschienen (Hardcover-Ausgabe, Lesebändchen), sauberer Druck und lesefreundliches Layout inbegriffen. Mit einem Vorwort der deutschen Schach-Hoffnung Vincent Keymer, einem Quellen- und Spielerverzeichnis sowie Kurzbiografien der beiden Autoren eine insgesamt erbauliche und richtungsweisende Neuerscheinung, die ich sehr empfehlen kann. ♦

Karsten Müller, Luis Engel: Spielertypen – Ihre Stärken und Schwächen1), 244 Seiten, Joachim Beyer Verlag, ISBN 978-3-95920-129-2

1)Anmerkung: Inzwischen ist auch eine englische Ausgabe erschienen: The Human Factor in Chess – 4 Types of Players with their Strengths and Weaknesses, JBV Chess Books 2021, 244p, ISBN 978-3-95920-990-8

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schachpsychologie auch über Marion Bönsch-Kauke: Klüger durch Schach – Wissenschaftliche Forschungen zu den Werten des Schachs

…sowie zum Thema „Spekulatives Handeln im Schach“ den Essay von Roland Stuckardt: Too clever is dumb

Weitere interessante Artikel im Internet zum Thema Schach-Psychologie:


English translation:

„Four-dimensional“ typology of chess players

by Ralf Binnewirtz

In their joint work „Player Types in Chess – Their Strengths and Weaknesses“, the renowned chess endgame expert and author Karsten Müller and his young colleague Grandmaster Luis Engel present a typology of chess players based on four different player types. The elaboration, which is provided with extensive illustrative material in the form of annotated games, invites active players to assign themselves as well as upcoming opponents to one or the other player type and to derive from this a suitable, preferably advantageous game strategy, but also to work on possibly existing own weaknesses.

The four-type model presented by the author duo essentially goes back to Lars Bo Hansen, who introduced it in 2005 in his book „Foundations of Chess Strategy“.

The active player

„Active players“ or even „hyperactive players“ (a prototype of the latter was the young Mikhail Tal) pursue a dynamic, attacking chance-creating style of play, often linked to intuitive sacrifices, while being willing to accept static weaknesses. The material plays a subordinate role.
However, taking too many risks or overestimating one’s own possibilities can easily turn out to be a boomerang; moreover, active players are often comparatively weak in the art of defense. To the delight of the spectators, this often results in spectacular games of high entertainment value.
Prominent representatives of this style are Alekhine, Spassky, Kasparov and Anand (to name only the world champions).

The theoretician

The guild of „theorists“ is cut from a different cloth. Their game is characterized by logic and systematics, they usually have a manageable but extremely sophisticated and reliable opening repertoire. They have an excellent knowledge of the concrete structures and positional themes that emerge from their opening systems, sometimes extending into the endgame. They also have a perfect command of endgame theory.
Their weaknesses may include a tendency to dogmatism (prime example Tarrasch!) or a certain inflexibility of their play if they are forced out of the structures they are familiar with.
Steinitz, Botwinnik and Kramnik can be considered typical representatives of this category. Surprisingly unmentioned in the book is the historically important theorist Ernst Grünfeld – the „man with the variation case“.

The Reflector

The third group of player types is referred to by the hitherto hardly used term „reflectors“. They possess an unerring and unlearnable feeling for the harmony and coordination of the pieces, practice active prophylaxis and are particularly strong in the accumulation and consolidation of small advantages. Among their preferred tactical tools are long-term positional sacrifices.
Their potential weaknesses are considered to be the opening and concrete calculation.
Commonly classified as reflectors are Capablanca, Smyslov, Petrosian, Karpov and, of course, Carlsen.

The pragmatist

„Pragmatists,“ on the other hand, feel particularly comfortable in sharp, tactical positions, where they can show off their strength in concrete variant calculation. They like to grab material in order to subsequently succeed in tough defense, as, for example, the „Russian Defense Minister“ Karjakin often does. Moreover, they love to confront the opponent with unpleasant practical decisions.
Weaknesses can occur in technical-positional positions that do not require concrete calculations, as well as in recognizing long-term plans of a positional or even tactical nature.
Fischer, Euwe and Lasker, for example, belong to this type.

Games and training exercises

The four chapters on player types are each introduced by a general section (discussion of strengths and weaknesses, training options, opponents, openings, etc.), after which various subchapters (these are unfortunately not found in the table of contents) illustrate individual topics relating to the player type in question, using both games and practice exercises. The relevant game phases have been carefully but not excessively annotated by the authors, in an appealing balance between verbal comments and variants, with the former even often predominating (which seems commendable to me). The same applies to the solutions to the exercises, which are collected in a separate chapter. In the selection of games, the authors offer a pleasing mixture of historical highlights, modern classics, widely unknown games as well as examples from their own playing practice.

Deliberate pigeonholing

There is undoubtedly a certain pigeonholing inherent in the typology presented, even though Karsten Müller asserts that it has fit surprisingly well in his own training events. Already in the introduction, the authors admit to having „overemphasized pigeonholing with good reason“, precisely in order to obtain clearer pictures with this approach. In reality, things are not quite so simple, the boundaries are not so sharply drawn. Players can change their type in their further development or at least change it partially. Thus the hyperactive young Mikhail Tal from about 1966 – with increasingly fragile health – has largely changed into a pragmatist. And even a Kasparov probably represented two types (active player and pragmatist) in one person. The case of theoreticians mutating into reflectors, on the other hand, seems to be extremely rare.

Unexpected development

In a short chapter the authors compare the player types from the top 10 world rankings of 2005 and 2020, showing significant changes in the distribution after 15 years: in 2005 active players still dominated the list of the top ten, in 2020 we have the (only) reflector Carlsen at the top, followed by pragmatists in the majority and only three active players. L. B. Hansen’s prediction at the time that more and more active players would establish themselves at the top has thus not been fulfilled. The authors see the cause for this development in the growing influence of the computer and in the increasing emphasis on sporting aspects, but there is no in-depth analysis of this.

Quotations in a new interpretation

The authors concede that their four-type model corresponds approximately to the old, but undifferentiated division into ‚tacticians and strategists‘ (thus reflectors and theoreticians on the side of the strategists). Subsequently they turn to Tukmakov’s book „Modern Chess Formula“ to interpret his theses on the influence of modern computer technology on chess from the point of view of their typology model, which works well for a number of quoted passages. However, they make it clear in advance that they can „only scratch the surface“ with their presentation and leave a future, more thorough elaboration of the topic to a theorist.

Place for further exploration

It is already clear from the foregoing remarks that the typology model discussed here cannot yet represent the ultimate final form. The authors‘ intention may have been to present a kind of pioneering work on the topic of „player types“ that still leaves room for further exploration, refinement, and addition. To have given an impulse for further investigations is a merit (among others) of the authors. The future will show whether Müller & Engel are able to inspire other authors to follow-up work.

Mission accomplished

The two authors Karsten Müller & Luis Engel have obviously succeeded in presenting the four player types of their choice in a catchy way, to which the numerous games and training exercises contribute to a considerable extent, which make up the largest part of the book with their profound commentary illuminating the player type. Finally, the reader should be enabled by player type analysis to recognize both his own strengths/weaknesses and to draw up corresponding characteristics of his opponents, in order to use the knowledge gained in this way to make adjustments to his own playing style that are psychologically unpleasant for the opponent. Serious training is, of course, a prerequisite for success here as well.

The book is published in the usual solid appearance of the Joachim Beyer Verlag (hardcover edition, ribbon bookmark), clean printing and reader-friendly layout included. With a foreword by German chess hopeful Vincent Keymer, an index of sources and players, and short biographies of the two authors, this is an altogether edifying and trend-setting new publication that I can highly recommend. ♦


Cyrus Lakdawala: Rewire Your Chess Brain (Schach)

Taktik-Training mit Schachkompositionen

von Ralf Binnewirtz

Cyrus Lakdawala, US-amerikanischer Schach-IM und -Trainer mit indischen Wurzeln, ist in den letzten 10 Jahren vor allem als bienenfleißiger Autor hervorgetreten. Rund 50 Bücher sind bereits aus seiner Feder erschienen. In seinem neuesten Werk „Rewire Your Chess Brain“ überrascht er uns mit einer bislang wenig beachteten Trainingsmethode zur Verbesserung der taktischen Fertigkeiten, nämlich dem Lösen von Endspielstudien und Problemen.

Cyrus Lakdawala - Rewire your Chess Brain - Everyman ChessWährend erstere für den genannten Zweck wohl weithin akzeptiert sind, sollen Probleme diesbezüglich kaum zielführend sein – so jedenfalls der mehrheitliche Tenor der Partiespieler. Das Unterfangen des Autors, auch das Schachproblem aus seinem Schattendasein der (scheinbaren) Nutzlosigkeit zu befreien, scheint mir indessen geglückt.

Eine Lanze für das Kunstschach

Lakdawala, der seit jeher ein Faible für das Kunstschach hat, kann jedenfalls auf die positiven Erfahrungen verweisen, die er als Trainer mit seinen Schülern gewonnen hat. In seiner Einführung zum Buch entkräftet er zunächst die Einwände, die standardmäßig gegen Kompositionen zum Zwecke des Schachtrainings vorgebracht werden, und listet auf vollen drei Seiten auf, welche Vorteile das Lösen von Studien und Problemen mit sich bringt.

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Weiter führt er aus, wie der Leser/Löser den größtmöglichen Nutzen aus seinem Buch ziehen kann. So ist es keineswegs erforderlich, bei komplexen Studien und Problemen jenseits des Dreizügers die gesamte Lösung zu finden. Aus seiner Sicht ist es allein der mentale Suchprozess, der – gemäß der Aufforderung des Buchtitels – das Gehirn neu verkabelt!
Natürlich soll sich der Leser jeweils die komplette Lösung mit ihren wesentlichen Motiven und Varianten genau ansehen, um den kreativen Ideen der Komponisten nachzuspüren, um die Fähigkeiten der Visualisierung auszubauen und eingefahrene Denkmuster abzustreifen, um letztlich das Unkonventionelle, Überraschende und unerwartet Schwierige zum neuen Standard der eigenen Denkprozesse am Brett werden zu lassen.

Zauberhafte Endspielstudien

Schach-Mansube 10. Jahrhundert - Matt in 3 Zügen - 1. Th7 - Glarean Magazin
Arabische Schach-Mansube aus dem 10. Jahrhundert: Matt in 3 Zügen 1. Th7+ Sxh7 2. Sc3 Tg1+ 3. Sd1 Txd1#

Ein erstes kürzeres Kapitel „Old School“ zeigt Studien und Probleme aus alter Zeit, die für den Löser einfacher zu bewältigen sind als die Aufgaben der folgenden Kapitel. Diese als Mansuben bekannten Stücke (von Al Adli, Salvio, Greco, Stamma, Ercole del Rio u.a.) dienen vornehmlich der Einstimmung und Aufwärmung.
Ernst wird es in den beiden anschließenden Kapiteln mit Remis- bzw. Gewinnstudien, die gemeinsam gut 240 Seiten umfassen. Die Studien (gleiches gilt für die später behandelten Mattprobleme) sind chronologisch angeordnet, weitere Einordnungen wie nach thematischen Gesichtspunkten oder nach Schwierigkeitsgrad wurden aber nicht vorgenommen.

Probeseite aus Cyrus Lakdawala: Rewire Your Chess Brain
Probeseite aus Cyrus Lakdawala: Rewire Your Chess Brain

Die Lösungen werden jeweils im Anschluss an das Aufgabendiagramm präsentiert, wobei die Lösungsbesprechung 1 bis 4 Seiten umfassen kann. In Abhängigkeit von Länge und Komplexität der Lösung sind ggf. weitere Diagramme gesetzt worden, damit sich die Lösungen „vom Blatt“ nachvollziehen lassen. Auch sind an kritischen Stellen häufig Übungsaufgaben („Exercises“) eingestreut, die den Leser nach der weiteren Vorgehensweise befragen oder mehrere plausible Möglichkeiten zur Auswahl stellen.

Unter den Komponisten findet sich praktisch alles, was in den letzten gut 150 Jahren Rang und Namen hat(te), von den bekannten Klassikern bis zu den Größen der Gegenwart wie Oleg Pervakov, Martin Minski und Steffen Slumstrup Nielsen, der auch ein Vorwort zum Buch beisteuerte.
Einige Remis- und Gewinnstudien sind in der Leseprobe ab Page 54 zu finden – gönnen Sie sich eine Kostprobe!

Unerschöpfliche, rätselhafte Problemwelt

Cyrus Lakdawala - Schach-IM - Schachautor - Glarean Magazin
Internationaler Meister und Autor zahlreicher Schach-Lehrbücher: Cyrus Lakdawala

Die nächsten ca. 200 Buchseiten werden belegt von (orthodoxen) Mattproblemen, die uns, nach ansteigender Zügezahl gruppiert, in separaten Kapiteln begegnen: ausgehend von (wenigen) einzügigen Problemen über Zweizüger, Dreizüger bis hin zu Vier- und Mehrzügern. Ein weiteres Kapitel „Unchess“ versammelt schließlich eine Reihe von außergewöhnlichen, bizarren oder grotesk anmutenden Aufgaben. Die Zweizüger nehmen insofern eine Sonderstellung ein, als sie von den Lesern wohl noch am ehesten zum Selberlösen in Betracht gezogen werden (so die Erwartung des Autors), winkt hier doch ein vergleichsweise schnelles und befriedigendes Löseerlebnis.

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Das bei den Studien Gesagte trifft auch für die Probleme zu, nur die Lösungsbesprechungen sind hier im Schnitt kürzer. Wie zu erwarten, sind die frühen amerikanischen Koryphäen des Problemschachs, Sam Loyd und W. A. Shinkman, vielfach vertreten, überraschenderweise noch häufiger tritt jedoch der deutsche „Rätselonkel“ Fritz Giegold in Erscheinung (dessen zweiter Vorname Emil kurioserweise ständig mitgeführt wird). Offenbar schätzt Lakdawala Probleme mit starkem Rätselcharakter, wo auf den ersten Blick mysteriöse Schlüsselzüge, unerwartete Wendungen und originelle Pointen das Geschehen dominieren. Die Partiespieler werden es fraglos positiv aufnehmen, dass der Autor den mehrheitlich unbeliebten Problemjargon auf ein erträgliches Minimum beschränkt hat.

In den Diagrammüberschriften (Angaben zu Autor, Quelle, etc.) stößt man gelegentlich auf fehlerhafte bzw. fehlende Angaben („Unknown source“), die meist mit geringem Aufwand hätten korrigiert/ergänzt werden können. Auch wenn dies für das vorgesehene Trainingsprogramm unerheblich erscheinen mag, hätte ich mir an dieser Stelle eine profundere Arbeit des Autors gewünscht.1)

Nun wartet ein wenig Denksport auf Sie: nachstehend zwei Probleme aus dem Buch, die Ihnen hoffentlich zusagen (Mausklick auf einen Zug oder eine Variante öffnet ein Analyse-Fenster / A mouse click on a move or line opens an analysis window):




Das folgende kleine Vexierstück aus dem „Unchess“-Kapitel werden Sie sicherlich selbst lösen wollen, die Stellung mit der kompletten schwarzen „Homebase“-Position ist ja durchaus einladend. Zur Erinnerung: Im Hilfsmatt zieht Schwarz an und beide Parteien kooperieren, um das gemeinsame Ziel – das Matt des schwarzen Königs – in der geforderten Zügezahl zu erreichen.


Adäquate Zugaben

Zum Ende des Buchs finden sich zwei kurze Kapitel: „Life simulates Art“ zeigt erstaunliche Fragmente von Turnierpartien, die komponierten Studien nahekommen, und in „The Wunderkind“ stellt der Autors einen seiner Schüler vor, den 13-jährigen IM Christopher Yoo, der auch ein begabter Studienkomponist ist: fünf seiner Studien, darunter zwei Urdrucke, gibt es zu bewundern. Ein Index der Komponisten und Spieler beschließt das Werk.

Lehrreich – unterhaltsam – lesefreundlich

Lakdawala hat mit seiner neuen Publikation nicht nur eine vortreffliche Einführung in das Kunstschach vorgelegt. Er propagiert damit auch eine wirkungsvolle Methode für das häusliche Taktik-Training, die für den Kampf am Brett eine verbesserte Visualisierung verborgener Möglichkeiten, eine erweiterte Mustererkennung im Hinblick auf Gewinn- und Mattführungen, aber auch auf versteckte Verteidigungsressourcen verspricht.

Cyrus Lakdawala - Rewire Your Chess Brain - Inhaltsverzeichnis Everyman Chess - Schach-Rezensionen Glarean Magazin
Das Inhaltsverzeichnis von „Rewire Your Chess Brain“

Insbesondere Lakdawalas anregender Stil und differenzierte Diktion verdienen eine „ehrende Erwähnung“ (um im Problemjargon zu bleiben). Seine variable und geistreich-witzige, in ihrer Art unnachahmliche Kommentierung macht die Lektüre zu einem Vergnügen, gelegentliche Zitate aus Literatur und Film, von Problemfreunden oder aus seiner Facebook-Gruppe verleihen zusätzliche Würze. Und sein Schreibtalent befähigt ihn, seinen Lesern auch komplexe Aufgaben im lockeren Unterhaltungsmodus nahezubringen. Die Lösungsbesprechungen, die auf Anfänger ohne Vorkenntnisse im Problemschach zugeschnitten sind, könnten in ihrer Ausführlichkeit unübertroffen sein. Dazu verleiht ein großzügiges, übersichtliches Layout beste Lesefreundlichkeit.

Übungsbuch mit Unterhaltungswert

Insgesamt ist dies ein Lehr-, Lese- und Übungsbuch von hohem Unterhaltungswert, mit einer Auswahl von insgesamt 326 meist hochklassigen und häufig diffizilen Aufgaben. Die oben erwähnten kleinen Schwächen könnten in einer zweiten Auflage leicht ausgeräumt werden. Daher eine nachdrückliche Empfehlung meinerseits: Nehmen Sie die Herausforderung an und verdrahten Sie Ihre kleinen grauen Zellen neu – Sie werden es nicht bereuen!

1)Offenbar hat sich der Autor weder der verfügbaren Problemdatenbanken bedient (wie der Schwalbe-PDB, der YACPDB  oder der Albrecht-Sammlung ) noch der einschlägigen deutschen Problemliteratur: Seine „Bibliography“ (S. 5) verzeichnet nur englischsprachige Titel.

Ich habe eine (sicherlich noch unvollständige) Errata-Liste zu den Problemen erstellt, dabei lediglich Angaben geprüft, die mir suspekt erschienen oder offensichtlich lückenhaft sind. ♦

Cyrus Lakdawala: Rewire Your Chess Brain – Endgame Studies and Mating Problems to Enhance Your Tactical Ability, 528 Seiten, Everyman Chess, ISBN 978-1-78194-569-8

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schachprobleme auch über das „Schach-Problem“ Heft Nummer 4-2018 von Chessbase

… sowie über ein weiteres Lehrbuch des Schach-Autoren Cyrus Lakdawala: Winning Ugly in Chess


Boris Gelfand: Decision Making In Major Piece Endings (Schach)

Endspiel-Kost auf hohem Niveau

von Thomas Binder

Weltklassespieler Boris Gelfand ergänzt seine Serie „Decision Making“ um das vierte Werk: „Decision making in major piece endings“. Diesmal geht es also um Schwerfiguren-Endspiele. Passend zum Titel ist das auch „schwere Kost“ für Schachfreunde auf gehobenem Spielniveau. Gelfand präsentiert breite Analysen ausgewählter Partien mit Hintergrundinformationen und zuweilen durchaus unterhaltsamen Einschüben.

Den Weltklassespieler Boris Gelfand muss man dem geneigten (Schach-)Leser nicht vorstellen. Auch als Autor hat der frühere WM-Kandidat Gelfand bereits sichtbare Spuren hinterlassen.

Boris Gelfand - Decision Making In Major Piece EndingsAls sein Hauptwerk kann wohl die mittlerweile vierbändige Reihe „Decision Making“ aus dem Hause Quality Chess gelten. Dem Autor und dem Verlag ist gelungen, hoch qualitative Schachbücher in einheitlicher Aufmachung inhaltlich aus einem Guss vorzulegen. Insofern kann vieles aus dieser Rezension auf die Schwesterwerke übertragen werden. Fortsetzung erwünscht!
Ob man freilich jemals eine deutsche Übersetzung in Händen halten wird, sei dahingestellt. Allzu klein scheint wohl den Verlegern der hiesige Markt, als dass man Bücher für Spieler gehobener Spielstärke gewinnbringend produzieren könnte.

Analysen gewürzt mit Plaudereien

Der israelische Weltklasse-Schachgrossmeister Boris Gelfand (geb. 1968)
Der russisch-israelische Weltklasse-Schachgrossmeister Boris Gelfand (geb. 1968)

Boris Gelfands Bücher heben sich in vielen Details von anderen Werken dieses Niveaus ab. So fällt als erstes auf, dass die Akteure oft in Fotos vorgestellt werden, zuweilen sogar passend zur Zeit der kommentierten Partie. Auch ein paar Zeilen zur Einordnung der Spieler und zur Bedeutung des Wettkampfes sind meist vorangestellt.
Im Text würzt Gelfand seine ernsthaften Analysen hin und wieder mit Einschüben im Plauderton. Das setzt dann zwar gute Fremdsprachenkenntnisse voraus, diese werden aber reich belohnt. Kostprobe gefällig? „Subsequently attempts were made to improve on my play … it is also possible that the players were trying to copy me, but could not remember what I had played.“ („In der Folge wurden Versuche unternommen, mein Spiel zu verbessern … Es ist auch möglich, dass die Spieler versucht haben, mich zu kopieren, sich aber nicht erinnern konnten, was ich gespielt hatte“.)

Anschauliche Gliederung der Varianten

Die Gestaltung des Werkes orientiert sich ansonsten am aktuellen Standard mit anschaulicher Gliederung auch bei komplexen Varianten und gerade hinreichender Visualisierung durch Diagramme, so dass der Leser den Anmerkungen mit einiger Anstrengung folgen kann. Leider ist an einigen Stellen der Fettdruck der Hauptvariante verloren gegangen, was dann den Fluss sehr behindert. Das lässt sich natürlich leicht korrigieren.

Boris Gelfand - Decision Making in Major Piece Endings - Quality Chess Leseprobe - Chess Review Glarean Magazin
Leseprobe aus Boris Gelfand: „Decision Making in Major Piece Endings“ (Quality Chess Verlag)

Was er mit dem Buch erreichen möchte, führt Boris Gelfand im einleitenden Kapitel sehr gut aus. Seine Werke sind keine vorgefertigten Rezepte, wie man sie naturgemäß gerade in der Endspielliteratur findet, sondern Hilfestellungen zur Entscheidungsfindung, ganz dem Titel entsprechend. Ausgehend davon, dass man sicher nicht genau die eine Stellung aus dem Buch in seiner eigenen Partie wiederfinden wird, postuliert er, dass eben tiefes Verständnis einer Stellung ganz allgemein die Spielstärke hebt.

Umfangreiches Analyse-Material

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Die vom Autor ausgewählten Partien stammen entweder aus seiner eigenen Spielpraxis oder aus seiner Arbeit als Trainer. Beides garantiert sehr ausführliche Analysen und zum Teil auch kritische Auseinandersetzung mit anderen Arbeiten zur gleichen Partie. In offenbar sehr fruchtbarer Zusammenarbeit mit dem dänischen Großmeister Jacob Aagaard legt Gelfand Analysen vor, wie ich sie in dieser Tiefe und Ausführlichkeit noch nie gesehen habe. Weit über 20 Seiten für eine einzige Partie – genau genommen ja nur für deren Endspiel – sind keine Seltenheit. Den Rekord hält die mit dem Blick des Laien völlig unspektakuläre Remis-Partie Gelfand – Kasimdzhanov (Baku, 2014), die auf 40 Seiten ausgebreitet wird. Keine einzige Seite ist zu viel.

Besonders gehaltvolle Endspiele

Inhaltlich geht es, wie der Titel sagt, um Schwerfigurenendspiele. Nach einem eher kurzweiligen Einleitungskapitel widmet sich Gelfand dem Grundsatz „do not hurry“, dem er als Junior erstmals im großartigen Endspiel-Strategiebuch seines Landsmanns Shereshevsky begegnete – schöne Erinnerung für den Rezensenten, dem es damals genauso erging…

Boris Gelfand - Serie Decision Making in Chess - Quality Chess Cover - Schach-Rezensionen Glarean Magazin
Bereits vier Bände umfasst Boris Gelfands Serie „Decision Making in Chess“ im Quality Chess Verlag

Es folgen mehrere Kapitel mit sehr intensiv analysierten Turmendspielen, wobei nur stellenweise eine inhaltliche Strukturierung gegeben ist. Viel wichtiger scheint es Boris Gelfand zu sein, besonders gehaltvolle Endspiele zu präsentieren und sich dabei nicht einem Korsett thematischer Vorgaben zu unterwerfen. Das Grundwissen über Turmendspiele hat der Leser gewiss schon früher erworben. Hier sind wir auf einem ganz anderen Level.

Die „vierte Partiephase“

Nach den Turmendspielen folgen einige Kapitel zu Damenendspielen. Gelfand stellt zunächst das Endspiel „Dame + Bauer gegen Dame“ mit Bauern am oder in der Nähe des Randes heraus. Dann widmet er sich Endspielen mit mehr als zwei Damen. Auch Überlegungen zur Überleitung in die „vierte Partiephase“ kommen nicht zu kurz – jene Phase also, wenn sich durch den Wechsel vom Bauern- zum Damenendspiel der Charakter der Partie noch einmal grundlegend wandelt. Nach einigen Studien folgt noch ein kurzer Abschnitt mit Aufgaben und Lösungen zu Turmendspielen. Wer sich der Herausforderung zum selbständigen Lösen stellen möchte, mag das tun. Ansonsten kann man natürlich auch dieses Kapitel ganz normal als Lehrtext lesen.

Unumgänglich: Disziplin und Konzentration

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Es dürfte bereits mehrfach angeklungen sein: Dieses Buch verlangt dem Leser Disziplin und Aufmerksamkeit ab. Eine Partieanalyse wie jene 40 Seiten über die Kasimdzhanov-Partie liest man nicht eben mal auf dem Heimweg in der S-Bahn. Wer über den durchaus vorhandenen reinen Lese-Genuss hinaus etwas mitnehmen möchte, muss sich sehr tief in die Analysen hineindenken. Die Sprachbarriere darf dabei kein Hindernis sein. Schließlich setzt Gelfand bei seinem Leser einen hohen Level schachlicher Vorkenntnisse und entsprechenden Urteilsvermögens voraus. Erst ab einer Spielstärke von ca. 1800 Elo-Punkten wird man wenigstens den größten Teil des vermittelten Wissens – nein, besser des Könnens – vollständig aufnehmen und in eigene Entscheidungsfindung am Schachbrett umsetzen können. ♦

Boris Gelfand: Decision making in major piece endings, 316 Seiten (engl.), Quality Chess UK Ltd., ISBN 978-1784831400

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Endspiele auch über Karsten Müller: Endspiele der Weltmeister (Schach-DVD)

… sowie zum Thema Schachtheorie über Andrew Soltis: Schwindeln im Schach (How To Swindle in Chess)


English Translation

Endgame food on a high level

World-class player Boris Gelfand adds his fourth work to his „Decision Making“ series: „Decision making in major piece endings“. So this time it is about „heavy“ piece endings. Matching the title, this is also „heavy fare“ for chess friends on a higher playing level. Gelfand presents broad analyses of selected games with background information and sometimes quite entertaining inserts.

There is no need to introduce the world class player Boris Gelfand to the inclined (chess) reader. Also as an author, the former World Cup candidate Gelfand has already left visible traces.
His main work is probably the meanwhile four-volume series „Decision Making“ from Quality Chess. The author and the publishing house have succeeded in presenting high quality chess books in a uniform presentation, all of a piece. In this respect much of this review can be transferred to the sister works. Continuation desired!
Whether one will ever hold a German translation in one’s hands remains to be seen. The local market seems to be too small for publishers to produce books for players of high skill level.

Analyses spiced with chats

Boris Gelfand’s books stand out in many details from other works of this level. The first thing that stands out is that the actors are often introduced in photographs, sometimes even matching the time of the commented game. Also a few lines on the classification of the players and the meaning of the competition are usually placed in front.
In the text, Gelfand spices up his serious analyses with occasional insertions in a conversational tone. This requires good foreign language skills, but these are richly rewarded. Want a taste? „Subsequently attempts were made to improve on my play … it is also possible that the players were trying to copy me, but could not remember what I had played. („Subsequently attempts were made to improve my play … It is also possible that the players were trying to copy me, but could not remember what I had played“)

Clear structure of the variants

The design of the work is otherwise based on the current standard with a clear structure even for complex variants and just sufficient visualization by means of diagrams, so that the reader can follow the notes with some effort. Unfortunately, the bold print of the main variant has been lost in some places, which then hinders the flow very much. This can of course be easily corrected.

Boris Gelfand explains very well what he wants to achieve with the book in the introductory chapter. His works are not ready-made recipes, as one naturally finds them in endgame literature, but rather aids to decision-making, in keeping with the title. Based on the assumption that one will certainly not find exactly one position from the book in one’s own game, he postulates that a deep understanding of a position generally enhances the playing strength.

Extensive analysis material

The games selected by the author are either from his own playing practice or from his work as a coach. Both guarantee very detailed analyses and in part also critical examination of other works on the same game. In an obviously very fruitful collaboration with the Danish grandmaster Jacob Aagaard, Gelfand presents analyses that I have never seen before in such depth and detail. Far more than 20 pages for a single game – in fact only for its endgame – are not uncommon. The record is held by the draw Gelfand – Kasimdzhanov (Baku, 2014), which is completely unspectacular in layman’s terms, and is spread over 40 pages. No single page is too much.

Especially rich endgames

In terms of content, as the title suggests, the focus is on „heavy“-figure endgames. After a rather entertaining introductory chapter, Gelfand devotes himself to the principle „do not hurry“, which he first encountered as a junior in the great endgame strategy book of his compatriot Shereshevsky – a nice memory for the reviewer, who had the same fate back then…

There follow several chapters with very intensively analyzed tower end games, whereby only in places a content structure is given. Boris Gelfand seems to be much more important to present particularly rich endgames and not to subject himself to a corset of thematic guidelines. The reader has certainly already acquired the basic knowledge of tower endgames. Here we are on a completely different level.

The „fourth game phase“

After the rook end games there are some chapters on queen end games. Gelfand first points out the endgame „Queen + Pawn against Queen“ with pawns at or near the edge. Then he devotes himself to endgames with more than two queens. He also considers the transition to the „fourth phase of the game“ – the phase when the character of the game is fundamentally changed by the change from the pawn endgame to the queen’s endgame. After some studies, a short section with tasks and solutions for rook end games follows. If you want to take up the challenge to solve them independently, you may do so. Otherwise, you can of course read this chapter as a normal teaching text.

Indispensable: Discipline and concentration

It has probably already been mentioned several times: This book demands discipline and attention from the reader. A game analysis such as the 40 pages about the Kasimdzhanov game is not something you read on the way home on the suburban train… If you want to take something with you beyond the pure reading pleasure that is certainly present, you have to think very deeply into the analyses. The language barrier should not be an obstacle. After all, Gelfand requires a high level of chess knowledge and judgement from his readers. Only from a playing strength of approx. 1800 Elo points on will one be able to take in at least the largest part of the knowledge – no, better of the skill – completely and convert it into own decision making on the chess board. ♦

Robert Johnson: Adolf Anderssen (Schach-Biographie)

Rückschau auf die Schach-Romantik

von Ralf Binnewirtz

Es mag wunderlich klingen, dass sich ein australischer Vollzeit-Schafzüchter hingebungsvoll einer deutschen Schachgröße des 19. Jahrhunderts widmet und die Ergebnisse seiner langjährigen Recherchen in Buchform vorlegt. Indes hat sich Robert Johnson hiermit einen Lebenstraum erfüllt, denn bereits als 11-Jähriger hatte er sich nachhaltig für Adolf Anderssen begeistert. 16 Jahre später, 1993, nahm Johnson die Arbeit an seinem Buch auf, die sich – unvorhersehbar – über ein gutes Vierteljahrhundert erstrecken sollte. Soweit zur Entstehungsgeschichte des „bislang besten australischen Schachbuchs“ (nach Bob Meadley), das in diesem Jahr im Selbstverlag des Autors erschienen ist: Adolf Anderssen – Combinative Chess Genius.

Eigentlich hätte dieser schmucke, großformatige und schwergewichtige Band zum 200. Geburtstag von Adolf Anderssen am 6. Juli 2018 das Licht der Schachwelt erblicken sollen, aber dies war dem Autor (und der Schachwelt) nicht vergönnt. Schauen wir uns näher an, wie Johnson sein Opus Magnum konzipiert und inhaltlich präpariert hat.

Adolf Anderssen - Combinative Chess Genius - Schach-Biographie Robert Johnson - Buch-Rezensionen Glarean MagazinAuf das Vorwort des Autors folgt mit zehn biografischen Kapiteln der Hauptteil des Werkes: Dem jeweiligen rein biografischen Part ist eine Auswahl kommentierter Partien nachgestellt, die dem behandelten Zeitraum oder Ereignis zugeordnet sind. Über das ganze Buch verteilt sind außerdem 36 große Bildtafeln (von Anderssen selbst bzw. den großen Meistern jener Zeit und von einzelnen Gebäuden, sowie drei in Farbe von Anderssens Grabstätte).

Ausnahmespieler mit menschlicher Größe

Der biografische Teil vermittelt die Fakten und Erkenntnisse, die der Autor zusammengetragen hat über den Gymnasialprofessor aus Breslau (in den Fächern Mathematik und Deutsch) und den zeitweilig stärksten Schachspieler der Welt (1851-57; 1860-66), der in London 1851 das erste Schachturnier der Neuzeit gewann und wie kein anderer die romantische Epoche des Schachs verkörpert und geprägt hat.

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In einem der Kapitel wird insbesondere der Mensch Anderssen beleuchtet, der keine eigene Familie gründete, aber in seinem beruflichen wie schachlichen Umfeld ein hohes Ansehen genoss und in Fairness, Charakter und Integrität seinesgleichen suchte. Das hier entworfene Bild Anderssens wird untermauert und vertieft durch zahlreiche in den Text eingestreute Zitate aus alten Quellen, die zum Lesegenuss erheblich beitragen.

Ein Schatz magischer Partien

Die im Buch reproduzierten 80 (nicht ausschließlich Gewinn-)Partien des virtuosen Kombinationskünstlers Anderssen sind weitgehend mit historischen Kommentaren und Analysen versehen, hin und wieder hat Johnson (ein langjähriger Fernschachspieler) eigene Anmerkungen beigesteuert. Sicherlich ist diese Kommentierung für die Mehrzahl der Leser völlig ausreichend. Wer einzelne Analysen vertiefen möchte, muss wohl oder übel die eigene Engine bemühen.1)

Adolf Anderssen - Combinative Chess Genius - Schach-Biographie Robert Johnson - Probeseite - Buch-Rezensionen Glarean Magazin
Probeseite aus Robert Johnson: Adolf Anderssen – Combinative Chess Genius

An ungewöhnlicher Stelle, direkt im Anschluss an das Frontispiz, finden sich zwei tabellarische Aufstellungen zu Anderssens Turnier- und Matchergebnissen (mit den Turnierplatzierungen sowie der Zahl der Gewinn-, Remis- und Verlustpartien). Die zugehörigen Turniertabellen wurden nicht ins Buch aufgenommen, gegebenenfalls sind diese vom Leser in anderen Quellen nachzuschlagen.
Apropos Anderssen-Partien: Adolf Anderssen ist bekanntlich der Gewinner der sog. Unsterblichen Partie, die im Jahre 1851 in London zwischen ihm und dem Schachmeister Lionel Kieseritzky ausgetragen wurde und ob ihres kombinatorischen Feuerwerks zur wohl berühmtesten Partie der Schachgeschichte avancierte.

Stiefmütterlich behandeltes Problemschaffen

Was mir indessen allzu kurz kommt, ist das Problemschaffen Adolf Anderssens – lediglich erwähnt wird im ersten Kapitel sein Büchlein Aufgaben für Schachspieler von 1842. Schließlich hat Anderssen auch auf dem Gebiet des künstlerischen Schachproblems eine beachtliche Pionierarbeit geleistet2), und eine kleine Auswahl seiner Kompositionen, fachkundig im Buch besprochen, hätte der Bedeutung dieser Leistung Rechnung getragen.

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Auch wenn diese Biografie kein reiner Bildband ist, so ist sie doch in ihrer hochwertigen Ausstattung einem coffee-table book vergleichbar. Insbesondere das ausnehmend attraktive Design des Vorderdeckels, die zahlreichen historischen Bilder und der Druck auf schwerem Glanzpapier werden das bibliophile Sammlerherz erfreuen. Eine nette Zugabe des Autors: für den Verkauf vorgesehene Exemplare der relativ kleinen Auflage (von 204 Stück) werden von ihm auf dem Vorsatz signiert und datiert.

Diskutable Typographie

An der typografischen Gestaltung werden sich vermutlich die Geister scheiden: Ist die Schrift in Gottschalls Anderssen-Biografie (1912) so winzig geraten, dass man bei längerem Lesen eine Schädigung seiner Augen befürchten muss, so hat Johnson mit der Wahl einer besonders großen (serifenlosen) Schrift das Gegenteil angestrebt – zumindest für sehschwache Leser ein Vorteil. Aber vornehmlich bei den Partien ergibt sich hieraus im Verein mit dem durchgängig verwendeten Flattersatz ein insgesamt wenig harmonisches Schriftbild, dem ich etwas ambivalent gegenüberstehe.
Die Farbgebung (hell- und mittelgraue Felder) bei den Diagrammen scheint mir ganz annehmbar, aber letztere wären ohne die rundum laufenden, m. E. entbehrlichen Brettkoordinaten fraglos ansehnlicher ausgefallen. Zudem führt die stattliche Größe der Diagramme manches Mal zum vorzeitigen Seitenumbruch (mit erheblichem Leerraum), wenn ein Diagramm nicht mehr unten auf die Seite passt. Zu den hier verwendeten Apronus-Diagrammen gibt es natürlich auch zufriedenstellende Alternativen.

Liebens- und lesenswerte Hommage

Adolf Anderssen - Combinative Chess Genius - Schach-Biographie Robert Johnson - Matt in sechs Zügen - Glarean Magazin
„Das Tor zur modernen Epoche des Schachproblems aufgestoßen“: Adolf Anderssen als Problemschach-Komponist: Weiss setzt in sechs Zügen matt!

Das Buch schließt mit einem Nachdruck von Steinitz‘ wortreichem Nekrolog auf Anderssen aus The Field 1879, einer nahezu 3-seitigen Bibliografie sowie den Indizes der Partiegegner und Eröffnungen. Nennenswerte Fehler sind mir kaum aufgefallen.3) Warum auf der inneren Titelseite diese Biografie als „autobiography“ bezeichnet wird, bleibt eine offene Frage. Ansonsten dürfte diese lesenswerte Hommage auf das deutsche Kombinationsgenie nicht nur im angloamerikanischen Sprachraum auf lebhaftes Interesse stoßen. Da – neben der erbaulichen Lektüre des biografischen Teils – auch die taktisch fulminanten Partien beste Unterhaltung garantieren, kann ich für dieses Werk eine klare Empfehlung aussprechen. In der deutschen Schachliteratur wird nach wie vor eine moderne und zugleich erschöpfende, d.h. die ultimative Anderssen-Biografie, vermisst – ob sie jemals erscheinen wird? ♦

1)Mir fiel auf, dass Johnson zwei deutsche Turnierbücher in seiner Bibliografie nicht berücksichtigt hat: Dr. Mario Ziegler: Das Schachturnier London 1851, St. Ingbert 2013 [mit computergestützten Analysen]; und Stefan Haas: Das Schachturnier zu Baden-Baden 1870 – Der unbekannte Schachmeister Adolf Stern, Ludwigshafen 2006.

2)„Dabei ist Anderssens Bedeutung für die Entwicklung der Problemkunst nicht weniger hoch einzuschätzen als seine Leistungen … im Kampf Mann gegen Mann … Er … ging in seinen Aufgaben weit über das hinaus, was Stamma und die Modenesen an taktischen Finessen aufzuweisen hatten; er verfeinerte und vertiefte den Inhalt, die ‚Kombination‘, verzichtete ihr zuliebe vielfach schon auf den äußeren Schein einer partiegemäßen Aufstellung und wagte es als erster, den ‚stillen‘, nicht schachbietenden Zug, der vor ihm allenfalls als Ruhe- und Höhepunkt im späteren Verlauf der Lösung Verwendung gefunden hatte, an den Anfang zu stellen. Damit war das Tor zur modernen Epoche des Schachproblems aufgestoßen.“ (Herbert Grasemann in Problemschach, Berlin 1955, S. 15)
Eine gänzlich umgearbeitete Zweitauflage von Anderssens Büchlein erschien 1852. Die Schwalbe-PDB enthält 85 Probleme Anderssens.

3)In Partie 18 muss es Herrmann Pollmächer heißen statt Hermann Pollmacher.

Robert Johnson: Adolf Anderssen – Combinative Chess Genius, 353 Seiten, Clark & Mackay Self Publishing, Brisbane (Australia), ISBN 978-0-646-81614-2 – Vertrieb: Tony Peterson

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schach-Biographien auch über Alexander Münninghoff: Heiner Donner


Graham Burgess: An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire

Geweckte Erwartungen nicht erfüllt

von Thomas Binder

Graham Burgess präsentiert mit „An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire“ in umfangreichen und detaillierten Varianten ein Eröffnungs-Repertoire mit der Fokussierung auf sehr wenige Systeme. Damit soll dem unerfahrenen Spieler ein schadloses Überstehen der ersten Partiephase garantiert werden. Zielführend ist dieser Ansatz nur, wenn sich der Leser auf das Erlernen sehr konkreter Zugfolgen einlässt, statt allgemeinen Prinzipien zu vertrauen…

Um es vorweg zu nehmen: Ich schätze den englischen FIDE-Meister Graham Burgess als Schach-Autor vor allem für den Trainingswert seiner Bücher, insbesondere auch die zuletzt erschienenen Eröffnungslehrbücher „for kids“. Letztere habe ich trotz der Sprachbarriere meinen Schülern empfohlen.

Auswendiglernen von Theorie?

An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire - Graham Burgess - Gambit Verlag - An easy-to-learn repertoire where you can relax and just play chessBurgess‘ neuestes Werk hinterlässt mich nun allerdings ratlos bis enttäuscht, und sei es nur, weil der Titel eine Erwartungshaltung weckt, die es nicht erfüllen kann.
Ich hätte erwartet, Richtlinien zu erhalten, anhand derer ein Spieler am Beginn seiner Laufbahn – also mit wenig Erfahrung und entsprechend noch entwicklungsfähiger Spielstärke – die Klippen der ersten Partiephase umschifft. Ich bin mir sicher, dass es dafür auch einen „idiot proof“ Weg gibt, doch besteht dieser sicher nicht im Auswendiglernen ausgefeilter Theorievarianten.
Dieser Weg könnte etwa folgende Elemente umfassen:
• Beherzige die allgemeinen Eröffnungsprinzipien (Figurenentwicklung, Königssicherheit, Zentrumsbeherrschung) und die dafür gegebenen Empfehlungen (jede Figur nur einmal ziehen, Rochade hinter sichere Bauernkette, wenig Bauernzüge in der Eröffnung)
• Erkenne rechtzeitig die wichtigsten taktischen Motive, auf denen die oft überschätzten Eröffnungsfallen beruhen (Opfermotive auf f7 oder h7, Fesselungen, Doppelangriffe,…)
• Mit wachsender Erfahrung und Spielstärke erkennst du die Besonderheiten von Zentrumsformen und Bauernstrukturen und richtest dein Eröffnungsspiel darauf aus.

Limitieres Programm mit klaren Zugfolgen

Graham Burgess - Chess-Author - Schach-Trainer - Rezensionen Glarean Magazin
Produktiv und vielbeachtet: Schach-Autor Graham Burgess

Was bekommt die „Idiot-Proof“-Zielgruppe nun bei Burgess geboten? Er bleibt dem Repertoiregedanken treu und orientiert auf ein sehr limitiertes Programm aus klar vorgegebenen Zugfolgen:
• Mit Schwarz spielen wir gegen e2-e4 immer Skandinavisch und in der Folge die Modevariante 1.e4 d5 2.exd5 Dxd5 3.Sc3 Dd6
• Gegen d2-d4 spielen wir Slawisch, allerdings eingegrenzt auf die Variante 1.d4 d5 2.c4 dxc4 3.Sf3 c6 4.e3 Le6
• Gegen c2-c4 antworten wir symmetrisch mit c7-c5
• Gegen Sg1-f3 spielen wir d7-d5
• Mit Weiss spielen wir im ersten Zug immer c2-c4 und in der Folge sobald wie möglich ein Königsfianchetto mit g2-g3 und Lf1-g2

Damit wird doch sehr viel Schach ausgeblendet und die Sicht sehr verengt. Vor allem die offenen und halboffenen (ausser Skandinavisch) Spiele kommen gar nicht vor. Gerade mit diesen Eröffnungen wird aber jeder Schacheinsteiger zuerst konfrontiert, und gerade die dort lauernden taktischen und strategischen Motive bilden ein Grundwissen, ohne dass man keine dauerhafte Freude am Schach haben wird.

Knappe Text-Anmerkungen

Graham Burgess - An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire - Leseprobe - Schach-Rezensionen - Glarean Magazin
Leseprobe aus „An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire“

Man könnte die Einengung des schachlichen Blickfeldes rechtfertigen, wenn das so verbleibende Eröffnungsrepertoire ausführlich und eben „idiot-proof“ erklärt würde. Doch leider sind auch die textlichen Anmerkungen zu knapp gehalten, um die Zielgruppe adäquat anzusprechen. Den Versuch, dies zu leisten, möchte ich Burgess nicht absprechen, doch die Variantenfülle lässt dafür keinen ausreichenden Raum.

Mit dem Stichwort „Variantenfülle“ sind wir beim nächsten Aspekt: Der Leser bekommt nichts anderes geboten als in einer gediegenen Eröffnungsmonographie. Nach der Kurzvorstellung des Repertoires folgen 180 Seiten mit zweispaltig engbedrucktem Varianten-Dschungel. Bis zu vier Diagramme pro Seite erleichtern die Orientierung etwas. Ein erfahrener Spieler wird sich zurechtfinden. Der Einsteiger wird von seinem möglicherweise ersten detaillierten Eröffnungsbuch eher abgeschreckt. Da hilft auch die systematische Gliederung bis hinunter zu Strukturen wie „Kapitel 8 – Abschnitt F2.2.1 – 5. Zug von Schwarz – Variante a.2.2“ nicht wirklich.
Für den erwartungsfrohen Einsteiger bleibt die ernüchternde Erkenntnis „Wenn ich schon für dieses schmalspurige Repertoire 180 Seiten Varianten lernen soll, ist dann Eröffnungsstudium überhaupt sinnvoll?“

Keine Überraschungen für den Leser

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Die vorstehende Kritik begründet sich ausschliesslich aus dem Ansatz von Burgess‘ Werk. Wer diesen Ansatz mitgehen möchte, der wird zu einem gänzlich anderen Fazit kommen und das Buch in höchsten Tönen loben – und auch dieses Urteil wäre gerechtfertigt.
Die vorgelegten Varianten decken das empfohlene Repertoire komplett ab. Vor Überraschungen wird der Leser weitgehend sicher sein – wenn er denn alles verstanden und verinnerlicht hat. Dass ihm grosse Teile der Schachwelt zunächst verborgen bleiben, merkt er erst nach und nach. Dann hat er hoffentlich eine Spielstärke erreicht, die auch risikolos den Blick über den Tellerrand des Burgess-Repertoires erlaubt. Insofern gleicht unser Buch einem Reiseführer, der nur zu den touristischen Highlights führt und die reizvollen Nebenstrassen einer späteren Tour vorbehält.

Schachlich fundierte Varianten

Englische Schach-Eröffnung - Variante c4 - Sf6 - Glarean Magazin - Häufigste Variante in der Praxis, Nebenvariante im Buch: Der Springerzug Sf6 nach 1. c4
Häufigste Variante in der Praxis, Nebenvariante im Buch: Der Springerzug Sf6 nach 1. c4

Ausser Zweifel steht, dass alle Varianten schachlich fundiert und sicher auch computergeprüft sind. Das Partiematerial ist aktuell. Bei der Gewichtung der Varianten wird sich Burgess Gedanken gemacht haben, die sich an seinem Gesamtkonzept orientieren. Dennoch wäre auch hier ein Blick auf die „idiot-proof“-Zielgruppe hilfreich. Die Folge 1.c4 Sf6 kommt nur als Nebenvariante auf neun Seiten vor – vor allem mit dem Hinweis auf Überleitungen in bereits behandelte Systeme. In der Praxis ist aber (laut Megabase) der Springerzug die häufigste Antwort auf 1.c2-c4. Dem fortgeschrittenen Spieler werden die Überleitungen schnell klar sein, der unerfahrene Amateur könnte schon im ersten Zug irritiert dreinblicken.

Hervorragende layouterische Gestaltung

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Layout und Aufbau kennt man von vielen Büchern des Gambit-Verlages. Dieser hat hier eine Norm gesetzt, die man unbewusst mittlerweile auch für Werke anderer Verlage zum Massstab nimmt.
Allerdings wird dabei konsequent auf modernere Mittel der Visualisierung von Ideen verzichtet. Dem kann man sich aber kaum noch entziehen, denn gerade Eröffnungsmonographien geraten in eine Nische, in der sie bestenfalls als Nachschlagewerk überdauern können. Interaktive Formate, computergestützte Analysen, Video-Präsentationen und ähnliche Angebote laufen ihnen zunehmend den Rang ab. ♦

Graham Burgess: An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire, 190 Seiten (engl.), Gambit Publications Ltd, ISBN 978-1911465423

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neue Schachbücher auch über F. Zavatarelli: Das schachjournalistische Phänomen Ideka – Die Feuilletons von Ignaz Kolisch

ausserdem zum Thema Schach-Eröffnungsbücher: Rainer Schlenker: Randspringer – Quixotische Schacheröffnungen


English Translation

Raised expectations not fulfilled

by Thomas Binder

With „An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire“ Graham Burgess presents in extensive and detailed variations an opening repertoire with the focus on very few systems. This should guarantee the inexperienced player a harmless survival of the first game phase. This approach is only effective if the reader is willing to learn very concrete moves instead of trusting general principles…

To anticipate: I esteem the English FIDE master Graham Burgess as chess author especially for the training value of his books, especially also the recently published opening textbooks „for kids“. I have recommended the latter to my students despite the language barrier.

Memorizing theory?

Burgess‘ latest work, however, leaves me helpless to disappointed, if only because the title arouses an expectation, which it cannot fulfil.
I would have expected to be given guidelines to help a player at the beginning of his career – i.e. with little experience and a correspondingly still developable playing strength – to avoid the pitfalls of the first phase of the game. I am sure that there is an „idiot proof“ way to do this, but it certainly does not consist of memorizing sophisticated theory variations.
This path could include the following elements:
– Keep the general opening principles (figure development, king safety, center control) and the recommendations given for them (move each figure only once, castling behind safe pawn chain, few pawn moves in the opening)
– Recognize in time the most important tactical motives on which the often overestimated opening traps are based (sacrificial motives on f7 or h7, bondage, double attacks, …)
– With growing experience and playing strength you will recognize the special features of center forms and pawn structures and adjust your opening game accordingly.

Limited program with clear move sequences

What does the „Idiot-Proof“ target group now get at Burgess? He remains true to the repertoire idea and focuses on a very limited program of clearly defined moves:
– With Black we always play against e2-e4 Scandinavian and in the following the fashion variant 1.e4 d5 2.exd5 Dxd5 3.Sc3 Dd6
– Against d2-d4 we play Slavic, but limited to the variant 1.d4 d5 2.c4 dxc4 3.Sf3 c6 4.e3 Le6
– Against c2-c4 we answer symmetrically with c7-c5
– Against Sg1-f3 we play d7-d5
– With white we always play c2-c4 in the first move and then as soon as possible a king fianchetto with g2-g3 and Lf1-g2

With this a lot of chess is hidden and the view is very narrow. Especially the open and half-open (except Scandinavian) games do not occur at all. However, it is precisely with these openings that every chess beginner is confronted first, and it is precisely the tactical and strategic motives lurking there that form a basic knowledge, without which one will not have lasting enjoyment of chess.

Short text notes

One could justify the restriction of the chess field of view, if the remaining opening repertoire would be explained in detail and just „idiot-proof“. Unfortunately, however, the textual comments are too brief to adequately address the target group. I don’t want to deny Burgess the attempt to achieve this, but the wealth of variations does not leave enough room for this.

The keyword „wealth of variants“ brings us to the next aspect: the reader is offered nothing but a solid opening monograph. The short introduction to the repertoire is followed by 180 pages with a jungle of variants printed in two columns. Up to four diagrams per page make orientation somewhat easier. An experienced player will find his way around. The beginner is rather deterred by his possibly first detailed opening book. Even the systematic outline down to structures like „Chapter 8 – Section F2.2.1 – 5th move of Black – Variant a.2.2“ does not really help.
For the expectant beginner, the sobering realization „If I am to learn 180 pages of variations for this narrow repertoire, is it at all useful to study the opening section?

No surprises for the reader

The above criticism is based exclusively on the approach of Burgess‘ work. Anyone who wants to follow this approach will come to a completely different conclusion and praise the book in the highest possible terms – and this judgment would also be justified.
The presented variants cover the recommended repertoire completely. The reader will be largely safe from surprises – once he has understood and internalized everything. That large parts of the chess world remain hidden to him at first, he will only gradually notice. Then he will hopefully have reached a level of playing strength, which allows him to look beyond the edge of his nose of the Burgess repertoire without any risk. In this respect our book resembles a travel guide, which only leads to the tourist highlights and reserves the charming side streets for a later tour.

Chess based variations

There is no doubt that all variants are chess well-founded and certainly computer-tested. The game material is up-to-date. Burgess will have thought about the weighting of the variants, which are based on his overall concept. Nevertheless, a look at the „idiot-proof“ target group would also be helpful here. Episode 1.c4 Sf6 appears only as a secondary variant on nine pages – mainly with the reference to transitions to systems already covered. In practice, however, (according to Megabase) the Springer move is the most common answer to 1.c2-c4. The advanced player will quickly understand the transitions, the inexperienced amateur might already look irritated in the first move.

Excellent layout design

Layout and structure are familiar from many books published by Gambit Verlag. They have set a standard here, which is now unconsciously used as a benchmark for the works of other publishers as well.
However, they consistently avoid modern means of visualizing ideas. One can hardly escape this, however, because opening monographs in particular find a niche in which they can at best survive as reference works. Interactive formats, computer-aided analysis, video presentations and similar offerings are increasingly outstripping them. ♦
(Pictures and links are at the top of the German text)

F. Zavatarelli u.a: Feuilletons von Ignaz Kolisch

Das schachjournalistische Phänomen Ideka

von Ralf Binnewirtz

Drei Schachhistoriker und -autoren haben sich zusammengetan, um die 92 sonntäglichen Feuilletons von Ignaz Kolisch – erschienen 1886-1888 in dessen eigener Wiener Allgemeinen Zeitung – in einem kompakten Band zu vereinen, der weit über die Schachwelt hinaus Interesse beanspruchen darf. Denn diese Feuilletons tangieren und reflektieren nahezu alle Bereiche der Gesellschaft und vermitteln in der ausgefeilten Prosa des Autors ein Zeit- und Sittengemälde Westeuropas aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Erneut darf sich der Rezensent mit einer schillernden Figur der Schachgeschichte befassen. Diesmal ist es jedoch alles andere als ein Enfant terrible (wie zuletzt Hein Donner), sondern das Multitalent Ignaz Kolisch (1837-1889), ab 1881 Baron Ignaz von Kolisch, der ein weithin nomadenhaftes Leben führte und seine Feuilletons unter dem Pseudonym Ideka publizierte.

Hilfreicher Fussnoten-Service

Fabrizio Zavatarelli, Luca D’Ambrosio, Michael Burghardt (Hrsg): Die Feuilletons von Ignaz Kolisch, Edition MarcoDer vorliegende Sammelband ist keineswegs eine reine Kompilation, denn die Herausgeber Fabrizio Zavatarelli, Luca D’Ambrosio und Michael Burghardt haben über 1100 erhellende Anmerkungen in Fussnoten hinzugefügt, um die Verständlichkeit der Texte für die heutige Leserschaft zu verbessern. Der hochgebildete und äusserst sprachgewandte Kolisch kultivierte nämlich nicht nur im gesprochenen, sondern auch im geschriebenen Wort die Vorliebe, seine Ausführungen mit fremdsprachigen Sentenzen anzureichern (in Latein, Französisch, Englisch, usw.). Sehr hilfreich ist auch die „Übersetzung“ von regional-zeitgenössischen Ausdrücken im Text, zudem wurden zahllose, heute meist unbekannte Personen recherchiert, die daselbst auftauchen.

Diversität ohne Schach-Fokus

Baron Ignaz Kolisch - Schach-Feuilletonist - Glarean Magazin
Vom Schachmeister zum Finanzmogul: Ignaz Kolisch (1837-1889)

Die inhaltliche Mannigfaltigkeit der Beiträge wird bereits durch das Inhaltsverzeichnis angedeutet, dort erfolgt auch eine thematische Zuordnung, indem den einzelnen Feuilletons bestimmte Themenbereiche (wie Aktuelles, Finanzwelt, Kurzweiliges, Zeitgeschichte, etc.) zugewiesen werden. Lediglich in wenigen Fällen bilden zwei bis drei Feuilletons eine lockere Fortsetzungsgeschichte, ansonsten sind eigenständige Einzelepisoden die Regel. Das Buch lädt daher dazu ein, kreuz und quer zu lesen oder auch eine thematische Auswahl bei der Lektüre vorzunehmen. Dem Thema „Schach“ ist keine dominierende Rolle zugedacht, es taucht bei den 92 Feuilletons nur zwölf Mal auf; sowie zusätzlich in Anhang A, der fünf unkommentierte Partien von Kolisch in Kurznotation verzeichnet. Demzufolge ist das Buch für einen breiten Leserkreis (selbst ohne Schachkenntnisse) prädestiniert, aber natürlich auch empfehlenswert für Schachfreunde, die über den Tellerrand der eigenen Passion hinausblicken möchten.

Angaben zum Inhalt müssen naturgemäss fragmentarisch bleiben, wenige subjektiv herausgegriffene Beiträge und wiederkehrende thematische Motive will ich aber – quasi als appetizer – kurz erwähnen.

Esoterik und Aberglaube

Weitgehend von der Ratio geleitet, stand Kolisch esoterischen Modetrends wie dem Spiritismus und verwandten Phänomenen ungläubig-kritisch gegenüber (siehe Feuilleton 2; auch F. 25), von kleinen abergläubischen Überzeugungen war aber auch er nicht völlig frei (F. 20). Ob Kolisch sonderlich religiös war, bleibt offen; seine jüdischen Wurzeln erwähnte er nicht, allzu verständlich angesichts eines progressiven Antisemitismus in Wien, dem er auch in seinen Feuilletons immer wieder vehement entgegentrat.

Politisch aktuell geblieben

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Politisch war Kolisch liberal eingestellt, seine kleinen Polemiken haben häufig kaum an Aktualität eingebüsst. Ein für sich selbst sprechendes Zitat (aus F. 52, S. 317) kann ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen:
„Die Zerfahrenheit unserer öffentlichen Zustände, die Unsicherheit in den politischen Programmen, die Schwankungen unserer hoch- und niedertrabenden Volkstribunen und vor Allem die Unverlässlichkeit unserer grossen Parteiführer berauben mich nachgerade jedes bürgerlichen Vergnügens. Ich weiss heute nicht mehr, wem ich glauben soll, ich komme in die peinlichste Verlegenheit, wenn ich zu entscheiden habe, welchem Volksbeglücker ich mein Vertrauen schenken soll, und gerathe in helle Verzweiflung, wenn ich vor der Frage stehe, wessen beredte Auslassungen ich vorzugsweise auf mich wirken lassen darf“.
An anderer Stelle beschreibt Kolisch den radikalisierten Pöbel, der sich in gewalttätigen Demonstrationen Bahn bricht – bis hin zur (gerade noch verhinderten) Lynchjustiz (F. 21). Und er geisselt die „gewissenlosen Phrasendrescher“, die als mentale Brandstifter die leichte Verführbarkeit der Massen ausnutzen.

Betrüger und Scharlatane

"Das Gespräch drehte sich um Geister": Leseprobe aus "Die Feuilletons von Ignaz Kolisch" (Vergrösserung mit Mausklick)
„Das Gespräch drehte sich um Geister“: Leseprobe aus „Die Feuilletons von Ignaz Kolisch“ (Vergrösserung mit Mausklick)

Von ungebrochener Aktualität ist wiederum das Unwesen der Betrüger und Kleinkriminellen, die sich in den Metropolen Europas tummelten (siehe insb. F. 23): Praktisch ungestört konnten diese „Industrieritter“ (d.h. Nepper und Bauernfänger, Scharlatane und Rosstäuscher) ganze Stadtviertel in Beschlag nehmen. Heutzutage haben sich derlei Aktivitäten zu weiten Teilen globalisiert bzw. ins Internet verlagert, bei weiterhin geringer Erfolgsquote der Strafverfolgungsbehörden.
Ein spezieller Fall ist die lesenswerte Episode über einen verarmten, des Praktizierens längst entwöhnten Medicus, der infolge Kolischs Ratschlägen ein Vermögen im Orient erwerben kann (F. 65): Mit einer Therapie, die lediglich auf der Anwendung von frischem kalten Wasser beruht, „heilte“ er eingebildete Kranke in der Hautevolee (somit ein reiner Placeboeffekt) und liess sich dafür fürstlich entlohnen – wenigstens hat es bei den derart Gesundeten keine Armen getroffen. Fazit: Kurpfuscherei lohnt sich, wenn man es richtig anstellt – zumindest war dies noch im 19. Jahrhundert so.

Russische Verhältnisse

Kolisch scheute sich auch keineswegs, Missstände im östlichen Teil unseres Kontinents aufzuzeigen. So nahm er schonungslos das mächtige Reich der Russen ins Visier, wo sich das Geschwür der Korruption und die Schmiergeld-Kultur wie Mehltau über das ganze Land gelegt hatten (F. 45).
In diesem bunten Potpourri der Unterhaltungsbeilagen sind diejenigen, die sich ganz oder teilweise der reinen Erheiterung widmen, durchaus gut vertreten. Wer einmal herzhaft lachen möchte, mag beispielsweise F. 55 „Nicht für Damen“ lesen, das zudem mit einem geradezu märchenhaften Finale aufwartet. Unvergessen in ihrer ergötzenden Komik bleiben auch die trefflich geschilderten „Eroberungsversuche“ eines gealterten Lebemanns auf einem Pariser Boulevard (Passage auf S. 320) – und vieles andere mehr.


Exkurs: Kolisch als Schachmeister

W.E./Ignaz Kolisch konnte hervorragend mit dem Geld und mit dem Wort umgehen – aber auch mit den Schachfiguren. Als Erz-Schachromantiker des 19. Jahrhunderts führte er eine scharfe Angriffsklinge, die auch vor bekannten Grössen seiner Zeit keinerlei Respekt zeigte.
Hier ein paar Kostproben:


Famoser Unterhalter

Bereits von seinen Zeitgenossen wurde Kolisch attestiert, ein famoser Unterhalter zu sein, und in der kleinen Form des Feuilletons mit maximal 5-7 Seiten konnte er seine Fähigkeiten offenbar besonders vorteilhaft zur Geltung bringen. Eine überaus gelungene Mischung aus Witz, Ironie und tieferer Bedeutung, die seine Beiträge charakterisiert, war sicherlich ein Garant des Erfolgs. Dazu gesellte sich seine glänzende Formulierungskunst und ein (für einen Bankier!) wohl singulärer literarischer Schachzug: Mit frappierender Offenheit liess er sein Lesepublikum teilhaben an seinen Gedanken, seinen Interessen und Emotionen, was seinen Schriften eine hohe Authentizität verlieh und die Anhänglichkeit seiner Leserschaft immens vertiefte.

Fliessende Grenzen zwischen Fact & Fiction

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In welchem Ausmass Kolischs Schilderungen mit realen Begebenheiten seines bewegten Lebens übereinstimmen und welche Anteile auf Fiktion beruhen, ist nicht immer klar. Auch sind zeitlich auseinanderliegende Ereignisse wohl vereinzelt zusammengeführt worden. All dies mag jedoch von untergeordneter Bedeutung gewesen sein, solange seine Anekdoten geistreiche und amüsante Unterhaltung boten.
Ich finde das Buch inhaltlich hochinteressant und auch in der Ausstattung bestens gelungen (solide Hardcover-Ausgabe mit Fadenheftung). Ein biografisches Vorwort „Der literarische Schachmeister“, ein vorangestelltes Kapitel „Kolisch als Feuilletonist“ sowie mehrere Anhänge rahmen das Werk ein. Unbedeutende Druckfehler im Original wurden von den Herausgebern korrigiert, verbliebene kleine Vertipper haben Seltenheitswert. Insgesamt verspricht das Buch einen ungetrübten Lesegenuss, daher gebe ich die uneingeschränkte Empfehlung: Kaufen und lesen! ♦

Fabrizio Zavatarelli, Luca D’Ambrosio und Michael Burghardt (Hrsg.): Die Feuilletons von Ignaz Kolisch, 544 Seiten, Edition Marco, ISBN 978-3-924833-82-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach-Feuilleton auch über Helmut Pflegers neue ZEIT-Schachspalten

… sowie zum Thema „Romantisches Schach“ über Robert Johnson: Adolf Anderssen (Biographie)

Alexander Münninghoff: Hein Donner (Schach-Biographie)

Donnerhall im Reich der Schachliteratur

von Ralf Binnewirtz

Der holländische Grossmeister Jan Hein Donner (1927-1988) wird bei der jungen Generation weitgehend in Vergessenheit geraten sein, zumal er auf der Schachbühne nicht in die obersten Ränge gelangen konnte. Und ausserhalb der niederländischen Schachliteratur sind nur wenige biografische Details über ihn verbreitet worden. Der Ende April verstorbene Autor Alexander Münninghoff hat dem nonkonformistischen Schach-Grossmeister und -Autor ein bemerkenswertes literarisches Denkmal gesetzt, das nun auch in Englisch erschienen ist.

Hein Donner - The Biography - New In Chess NIC - Alexander MünninghoffJohannes Hendrikus (Hein) Donner war sicherlich die schillerndste Figur in der Geschichte des niederländischen Schachs – jedenfalls auf GM-Niveau. Als Spross einer prominenten, streng calvinistischen Familie in Den Haag – sein Vater Jan Donner brachte es zum Justizminister der Niederlande – sollte Hein als Einziger des sechsköpfigen Donner-Nachwuchses aus der Art schlagen: Er hatte zwar halbherzig einige Semester Jura absolviert, entschloss sich dann aber – sehr zum Leidwesen seines Vaters – zu einer keineswegs risikofreien Profilaufbahn im Schach. Ein weitgehend ungebundenes, bohemienhaftes Leben in der Schachwelt entsprach seinem Naturell offenbar weitaus mehr als eine konventionelle Laufbahn im Establishment.

Mal top, mal flop

Faul, genial, scharfzüngig: Johannes Hendrikus (Hein) Donner (1927-1988)
Scharfzüngig, faul, witzig, polemisch, genial: Johannes Hendrikus (Hein) Donner (1927-1988)

Hein Donner (GM-Titel 1959) war ein weit überdurchschnittliches Talent, um nicht zu sagen Genie in die Wiege gelegt, aber zumindest als Schachspieler hat er den in ihn gesetzten Erwartungen nicht recht entsprochen. Seine Faulheit, gepaart mit einem Mangel an Disziplin und Ehrgeiz (er verfolgte nicht die Neuerungen in der Eröffnungstheorie, bereitete sich auf Turniere in der Regel nicht vor und gab sich mit dem Erreichten zufrieden), zeitigten ein ständiges Auf und Ab in den Turnierresultaten und verhinderten den Aufstieg in die höchsten Sphären, wobei ihm auch noch eine ausgeprägte Russenphobie im Wege stand.
Im Gedächtnis der Nachwelt ist Donner vor allem als Verlierer zahlreicher Kurzpartien verblieben, die ihn im Kreis seiner internationalen GM-Kollegen zum Gespött machten als „unumstrittenen Träger der Narrenkappe“ 1). Gleichwohl war er in der Zeitspanne zwischen Max Euwe und Jan Timman der stärkste niederländische Schachspieler.

Zur Ehrenrettung Donners sei hier eine seiner respektablen Gewinnpartien präsentiert:

In seiner Spielleidenschaft hat sich Donner auch in unzähligen anderen Spielen (u.a. Bridge) versucht, lediglich vom Damespiel hat er sich verächtlich abgewandt.

Unterwegs im Amsterdamer Szene-Viertel

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Einen grossen Teil seiner Freizeit verbrachte Donner in der Amsterdamer Szene („The Ring Of Canals“) bzw. im elitären Künstler-Zirkel „De Kring“, den er gemeinhin abends und nachts aufsuchte, da er erst am späten Nachmittag aus dem Bett zu steigen pflegte. Dort traf er auf die lokale Intelligenzia, mit der er sich in unermüdlichen Diskussionen messen oder aber den Clown spielen konnte. Donner, der sich schon früh zu einem notorischen „contrarian“ entwickelte hatte, also grundsätzlich die gegenteilige Meinung seines Gegenübers einnahm, war nicht nur körperlich (mit knapp 2 m Grösse), sondern auch intellektuell ein Riese. Ausgestattet mit einem messerscharfen Verstand, mit enormer Eloquenz und sardonischem Witz, war er praktisch jedem Gegner verbal gewachsen, wenn nicht überlegen. Und sollte ein Disput zu einem Faustkampf eskalieren, was gelegentlich vorkam, so besass Donner auch hier aufgrund seiner Obelix-artigen Statur Vorteile. Es darf daher nicht wundern, wenn die Zahl seiner Freunde überschaubar blieb. Seine legendäre Dauerfehde mit Lodewijk Prins (Ehren-GM 1982) soll hier nur erwähnt sein.

In der Romanliteratur verewigt

Verewigte seinen Freund Donner in der Figur des Onno Quist: Schriftsteller Harry Mulisch
Verewigte seinen Freund Donner in der Figur des Onno Quist: Schriftsteller Harry Mulisch

Eine tiefe Freundschaft verband Donner mit dem Schriftsteller Harry Mulisch, dem Donner literarisch nachzueifern suchte – nicht immer zum Vorteil seiner Turnier-Performance (siehe z.B. Santa Monica 1966). In seinem Roman „Die Entdeckung des Himmels“ (1992) hat Mulisch seinen Freund posthum in der Figur des Onno Quist verewigt. In diesem Kontext ist auch das aufschlussreiche Interview zu erwähnen, das Dirk Jan ten Geuzendam mit Harry Mulisch geführt hat (Kap. 11 – Harry Mulisch’s Heinweh).

Weitaus erfolgreicher als am Turnierbrett war Donner als Schachschriftsteller, hier konnte er seine Lust an der Polemik und Provokation gleichermassen ausleben. Aber unter seinen zahllosen, in über drei Jahrzehnten in diversen holländischen Zeitungen publizierten Artikeln finden sich auch manche seriösen Beiträge. Eine Selektion seiner besten Artikel ist als Anthologie erschienen: „The King – Chess Pieces“ steht in der Gunst der internationalen Leserschaft bis heute ganz oben. [Rezension von Taylor Kingston]

Kreativität auch im Rollstuhl

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Nach einem Schlaganfall im August 1983, der Donner für die letzten Lebensjahre in ein Pflegeheim verbannte, blieb ihm, an den Rollstuhl gefesselt, nur das Schreiben als einzige kreative Beschäftigung. Mit einem Finger auf der Schreibmaschine verfasste er minimalistische Beiträge: Für „Na mijn dood geschreven“ [Nach meinem Tod geschrieben] wurde ihm 1987 der höchst angesehene Henriëtte-Roland-Holst-Preis verliehen. Auch die öffentliche Erstpräsentation von De Koning: Schaakstukken konnte er noch (in einem miserablen Zustand) erleben. Er hat sein Schicksal klaglos hingenommen. Eine im November 1988 unversehens eingetretene Magenblutung bedeutete den endgültigen Exitus.

Donners Frauen – ein wechselhaftes Glück

Donner lernte seine erste Freundin Olga Blaauw im Frühling 1949 kennen, sie lebten gut sechs Jahre ohne Trauschein zusammen. Die Trennung wurde unerwartet ausgelöst durch einen Heiratsantrag Donners (nach dessen Rückkehr von Göteborg 1955), der die Leidenschaft instantan erlöschen liess.

Donners zweite Frau und spätere Stadträtin von Amsterdam: Irène van de Weetering
Donners zweite Frau und spätere Stadträtin von Amsterdam: Irène van de Weetering

Die zweite erwähnenswerte Dame, die in Donners Leben trat, war Irène van de Weetering, im Jahre 1958 noch „eine 18-jährige Nymphe“. Als sich Ende 1959 Nachwuchs ankündigte, war die eigentlich unerwünschte Heirat nach calvinistischem Reglement unvermeidlich. Das zweite Kind kam Anfang 1962. Während Donner seinen Nachwuchs (Sohn und Tochter) abgöttisch liebte, war das Verhältnis zu seiner Ehefrau deutlich kühler – schon bald nach der Trauung hatte er eh ein promiskuitives Wanderleben begonnen. Die marode Liaison ging schliesslich vollends in die Brüche, als sich Irène 1966 der anarchistischen Provo-Bewegung anschloss und Stadträtin in Amsterdam wurde (Scheidung 1968).

Donners letzte Frau war die Anwältin Marian Couterier, die er 1971 ehelichte. Die Verbindung verlief von Beginn in harmonischen Bahnen, und Hein wandelte sich gar zum Familienmensch, eine Tochter kam 1974 zur Welt. Die Ehe währte bis zu Heins Tod.

Polarisierender Charakter mit Bohemien-Charme

Nicht jeder wird sich mit der Persönlichkeit eines Hein Donner identifizieren können, zu ambivalent sind hierfür die Eindrücke, die man bei der Lektüre gewinnt. Donners zwanghafte Streitsucht insbesondere im trunkenen Zustand, sein despektierliches Verhalten gegenüber Meisterkollegen, sein Dominanzgehabe sind Attribute einer merklichen Ungeniessbarkeit. Hierzu mögen auch noch sein meist schmuddeliges Outfit und eine nachlässige körperliche Hygiene zählen. Indes gehörte Donner zu einer Spezies, die in der heutigen Schachszenerie ausgestorben ist: Ein echtes Original mit Ecken und Kanten und einem sehr spezifischen Humor. Ein unabhängiger Geist, der sich nicht um Konventionen scherte, der sein Leben lebte, wie er es wollte, auch wenn es (durch übermässiges Rauchen und Trinken) gesundheitlich bedenklich schien oder er sein soziales Umfeld brüskierte. Und schliesslich war er einer der besten und unterhaltsamsten Schachschriftsteller aller Zeiten.

Kontroverse Persönlichkeit meisterhaft biografiert

Alexander Münninghoff - Schriftsteller Journalist Biograph - Glarean Magazin
Biograph ohne Beschönigungen: Alexander Münninghoff

Alexander Münninghoff hat diesen polarisierenden Charakter vortrefflich beschrieben, dabei unangemessene hagiografische Beschönigungen bewusst vermieden. Eine gewisse Nachsichtigkeit des Autors gegenüber seinem biografischen Objekt ist zwar spürbar, aber nicht gravierend. Die englische Übersetzung ist rundum gelungen und – solide Englischkenntnisse vorausgesetzt – flüssig lesbar, zumal der Autor seine Darstellung chronologisch angelegt hat. Vor allem hat er die wichtigste Forderung beherzigt, die ein gutes Buch erfüllen muss: Es darf seine Leserschaft keinesfalls langweilen! Daher gebe ich eine klassische Empfehlung weiter: „Lest die besten Bücher zuallererst; sonst kommt ihr überhaupt nicht dazu, sie zu lesen.“ (Henry David Thoreau)
Neun Seiten Bildtafeln (18 s/w-Fotos aus Donners Leben) und ein Kapitel mit 34 kommentierten Donner-Partien (Recherche/Analysen von Maarten de Zeeuw) komplettieren das Werk. Fehler sind eher selten, lediglich die auf S. 128 mit Nr. 23 referenzierte Partie gegen Kortschnoi sucht man in der Partieauswahl / Kap. 12 vergeblich. ♦

1) Die Runde um die Welt machte die sensationelle Kurzpartie des Chinesen Liu Wenzhe gegen Donner, Olympiade Buenos Aires 1978 (s. S. 265), die erste Partie, die ein Chinese gegen einen westlichen GM gewann. Kommentar Donner: „Now I will be the Kieseritzky of China.”

Alexander Münninghoff: Hein Donner – The Biography, 272 Seiten (engl.), New In Chess, ISBN 978-90-5691-892-7

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach-Biographien auch über Carsten Hensel: Wladimir Kramnik – Aus dem Leben eines Schachgenies

Andrew Soltis / David Smerdon: Schwindeln im Schach

Das Maximum aus verlorenen Stellungen holen

von Thomas Binder

Man muss im Schach nicht immer den besten Zug finden. In objektiv verlorenen Stellungen hilft oft nur jener Zug, der den Gegner vor eine schwierige Wahl stellt oder die Gestalt der Partie in unerwarteter Weise wendet. Doch wie geht erfolgreiches Schwindeln im Schach? Die beiden Autoren Andrew Soltis in „How To Swindle In Chess“ und David Smerdon in „The Complete Chess Swindler“ zeigen es uns auf unterhaltsame und lehrreiche Weise.

Der Zufall will es, dass kurz nacheinander zwei renommierte Verlage und ebenso bewährte Autoren Bücher mit nahezu identischem Ansatz herausgebracht haben. Die Grossmeister Andrew Soltis aus den USA und David Smerdon aus Australien widmen sich dem Thema „Schwindeln im Schach“. Normalerweise bietet sich jetzt ein Vergleichstest mit einer Kaufempfehlung an, doch hier ergibt sich ein „totes Rennen“. Denn vorweggenommen: Ich habe beide Bücher mit grossem Vergnügen gelesen und kann sie uneingeschränkt empfehlen. Das verwendete Partiematerial überschneidet sich nur geringfügig, beide Werke ergänzen sich also hervorragend.

Chancen für schwere Fehler bieten

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Andrew Soltis: How to Swindle in Chess

„Schwindel“ ist zwar sprachlich die sanftere Form der Lüge, doch es wird einem eventuellen Übersetzer schwerfallen, eine passende deutsche Fassung des zentralen Begriffs zu finden. Es geht in beiden Büchern darum, wie man aus objektiv verlorenen – manchmal aufgabereifen – Stellungen das Maximum an Chancen herausholt. Da der nach reiner Lehre „beste Zug“ die Partie unweigerlich verlieren wird, muss man andere Ressourcen ergründen. Es geht darum, dem Gegner die Verwertung seines Vorteils möglichst schwer zu machen, ihm viele Optionen zu lassen, unter denen er die verlockendste (aber falsche) wählen könnte. Da wir die Partie nicht mehr durch eigene gute Züge gewinnen können, müssen wir die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Gegner noch einen schweren Fehler begeht. Das englische Verb „to bamboozle“ beschreibt dies schon lautmalerisch sehr schön und ist eine weitere Herausforderung für den Übersetzer.

Mittelweg zwischen Lehr- und Unterhaltungsbuch

David Smerdon - The Complete Chess Swindler - New in Chess - Schach-Rezensionen Glarean Magazin
David Smerdon: The Complete Chess Swindler

Beide Autoren nähern sich dem Thema in gleicher Weise und finden einen sehr gesunden Mittelweg zwischen Lehr- und Unterhaltungsbuch. Wenn man nach der Lektüre eines Schachbuchs das Gefühl hat, gut unterhalten worden zu sein und dabei etwas praktisch Verwertbares gelernt zu haben – was kann es Schöneres geben?
Sehr zum Verständnis trägt die ausführliche Bebilderung mit Stellungsdiagrammen bei. Sie ist in beiden Büchern so gehalten, dass man den Partien mühelos ohne eigenes Schachbrett folgen kann. Die am Zug befindliche Seite wird bei Soltis noch ganz klassisch mit „White / Black to play“ beschrieben. Smerdon verzichtet im Hauptteil des Buches leider völlig auf die Kennzeichnung des Zugrechts – eigentlich heute Standard in der Schachliteratur.

Geeignet für Vereinsspieler ab 1600 Elo

Umfang und Inhalt der schachlichen Erläuterungen treffen genau den Geschmack des Rezensenten. Natürlich wird schachliches Können und vor allem wohl auch Wettkampferfahrung vorausgesetzt, um sich auf den Ansatz der Werke einzulassen. Doch ab einem mittleren Vereinsspielerniveau, das ich bei einer Elo-Bewertung um 1600 ansetzen würde, kann man allen Gedankengängen folgen und die Bücher mit Genuss und Gewinn lesen. Auch schachbegeisterte Jugendliche sind als Zielgruppe vorstellbar, sofern die Fremdsprache keine wesentliche Hürde darstellt.

Andrew Soltis - How to Swindle in Chess - Batsford Chess - Leseprobe 1 - Glarean Magazin
Einfach gehaltene Erläuterungen: Leseprobe aus Andrew Soltis „How to Swindle in Chess“

Kommen wir auf die äusserlichen Unterschiede: Smerdons Werk ist um ca. 50% stärker, zudem im Format etwas grösser. Von den gut 120 zusätzlichen Seiten, entfallen allerdings ca. 80 auf das abschliessende Kapitel mit Aufgaben und deren Lösungen. Diese gibt es zwar bei Soltis ebenfalls, aber deutlich knapper und in die Fachkapitel integriert. Abgesehen davon unterscheidet sich die Zahl der vorgestellten Partien weniger als man erwarten könnte. Beide Bücher stellen jeweils ungefähr 100 Beispiele ausführlich vor.

Farbiger Sprachstil vs nüchterne Erklärungen

Das Layout wirkt bei Smerdon insgesamt etwas edler, was aber wohl nicht dem Autor sondern dem jeweiligen Verlagsprogramm zuzurechnen ist. Meist sind auch die Texte bei Smerdon ausführlicher. Rein schachlich ist dies aber nur dort von Belang, wo er im Detail auf abweichende Varianten eingeht. Ansonsten ist eben sein Sprachstil deutlich farbiger als die nüchternen Erklärungen seines amerikanischen Kollegen.

David Smerdon - The Complete Chess Swindler - New in Chess - Leseprobe 1 - Glarean Magazin
Anekdoten und Geschichten: Leseprobe aus David Smerdon „The Complete Chess Swindler“

Auch findet sich bei Smerdon manche kleine Anekdote und Geschichte zur vorgestellten Partie. So werden einige Personen der australischen Schachszene porträtiert, die man hier bislang nicht wahrgenommen hatte. Sollten also die Englisch-Kenntnisse des Lesers ein Kaufkriterium sein, wäre hier der einfacher gehaltene Soltis-Text vorzuziehen. Allerdings sind bei diesem Buch noch einige Schreibfehler im Text und in der Notation auszumerzen.

Umfangreicher Bestand an Aufgaben

Wie bereits angedeutet, haben beide Werke einen mehr oder weniger umfangreichen Bestand an Aufgaben und jeweils einen Lösungsteil dazu. Solche Abschnitte findet man heute in fast jedem Schachbuch. Die Meinungen zur Sinnhaftigkeit dieses Formats mögen auseinander gehen. Ich hätte mir gewünscht, dass man lieber einen Teil dieser Partien in aller Ausführlichkeit in den Haupttext integriert hätte. ♦

Andrew Soltis: How To Swindle in Chess, 240 Seiten, Batsford Chess (Pavilion Books), ISBN 978-1849945639

David Smerdon: The Complete Chess Swindler, 368 Seiten, New in Chess, ISBN 978-9056919115

Lesen Sie ausserdem im Glarean Magazin zum Thema „Schwindeln im Schach“ den Computerschach-Essay von Roland Stuckardt: Too clever is dumb

… sowie zum Thema „Unerwartete Schachzüge“: Der Brilliant Correspondence Chess Move BCCM Nummer 8

Weitere Internet-Links zum Thema Schach

 


English Translation

You don’t always have to find the best move in chess. Often the only thing that helps in objectively lost positions is the move that confronts the opponent with a difficult choice or unexpectedly changes the shape of the game. The authors David Smerdon in „The complete chess swindler“ and Andrew Soltis in „How to swindle in chess“ convey this knowledge in an entertaining and informative way.

It’s a nice coincidence, that two renowned publishers and successful authors recently edited books with an almost identical approach. Grandmasters Andrew Soltis (from US) and David Smerdon (from Down Under) focus on the subject „Swindling in Chess”. Usually this would tender a comparison test, but that would end in dead heat. I read both books with great pleasure and recommend them both without any reservation. The quoted games overlap only to a small extent; so both books complement one another perfectly.

Offer chances to make serious mistakes

„To swindle“ seems to me as a gentle form of „to lie“ or „to betray“, but of course it’s not about something morally reprehensible here. Both books deal with situations on the chessboard where one side is objectively utterly lost. But now it’s time to generate some „swindle“ chances. The „best move“ according to pure teaching or computer evaluation will inevitably lose the game. So we need to set obstacles for the opponent to convert his clear advantage. We offer him as much options as possible to fall into a trap. The word „to bamboozle“ is the perfect onomatopoetic expression for this attitude.
Both authors find the happy medium between education and entertainment. Feeling well entertained and having learned something useful – what can be better?
Both books are well equipped with position diagrams. That makes it easy to understand the examples and to follow the course of the game without using a chessboard.
Soltis marks the side to play with classical comments next to the board. Unfortunately Smerdon doesn’t use any move indicator – actually a standard in today’s chess literature.

Useful for club players with Elo 1600+

Scope and content of the chess-related explanations exactly match the taste of the reviewer. Of course both books require a certain amount of chess skills and competition experience. But medium club players at an Elo-level of about 1600 will be able to follow all lines of thought and read the books with pleasure and profit. Chess-enthusiastic teenagers can profit as well, provided that the foreign language is not a major hurdle to them.

Let’s have a look at the external differences: Smerdon’s book is about 50% bigger and uses a slightly larger format. But about 80 of the 120 additional pages account for the final section with exercises and solutions. These are available at Soltis too, but much more scarce and integrated in the respective chapters. Apart from that, the number of games presented differs less than one might expect. Both books provide about 100 examples in detail.

Colourful style vs sober explanations

The layout looks a bit nobler at Smerdon’s book, but this must be attributed to the publishing program rather than to the author. The texts are a bit more detailed there too. But the difference is chess-related only in the subsidiary variants, not in the game’s main line. Of course his language style is more colourful than the sober explanations of his American colleague. In Smerdon’s text we find lots of small anecdotes and stories about the games presented. Some people from Australian chess scene are portrayed, who have so far not been noticed here in Europe. If the reader’s English knowledge is a purchase criterion, the simpler Soltis text would be preferable. However, some spelling mistakes in the text and in the notation have to be eliminated in Soltis’ book.

Both works have am more or less extended part with tasks and solutions. Such sections can be found in almost every chess book today. The opinions on this format may differ. I would have preferred that some of these examples had been integrated to the main text in greater detail.

Pictures and Links can be found in the text above

Andrew Soltis: Bobby Fischer Rediscovered (Schach)

Ein Schach-Genie im Spiegel seiner Partien

von Ralf Binnewirtz

Dem amerikanischen Grossmeister und Schachautor Andrew Soltis ist mit „Bobby Fischer Rediscovered“, einer nach 17 Jahren merklich verbesserten Zweitauflage, ein beachtlicher Wurf gelungen.
Mit nunmehr 107 herausragenden und ausgewogen kommentierten Fischer-Partien sowie zahlreichen informativen Textbeigaben, die Leben und Werk des legendären Protagonisten erhellen, ist diese Partieauswahl ein unverzichtbarer Bestandteil jeder ernsthaften Fischer-Kollektion.

Bobby Fischer Rediscovered - Andrew Soltis - Batsford Chess - Cover - Glarean MagazinAuch nach dem Tode von Bobby Fischer im Jahre 2008 ist der stetige Strom der Publikationen aller Art über die amerikanische Schachlegende nicht verebbt. Das aktuellste Produkt dieser anhaltenden Faszination ist die runderneuerte Zweitauflage der Partieselektion, die der US-Grossmeister und renommierte Schach-Autor Andrew Soltis erstmals 2003 vorgelegt hat. Die im Buchtitel formulierte, auf den ersten Blick etwas kurios anmutende „Wiederentdeckung Fischers“ erklärte der Autor bereits 2003 damit, dass dessen Partien nach drei Jahrzehnten (ab Reykjavik 1972 gerechnet) eine neue Betrachtung und Bewertung mit frischem Blick verdient hätten. Schauen wir uns an, was wir von der im Untertitel so vorgestellten „überarbeiteten, ergänzten und neu analysierten Auflage“ 2020 erwarten dürfen.

Einblicke in Fischers Persönlichkeit

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In der Einleitung („Author’s Note“) blickt Soltis u.a. zurück auf die persönlichen – mal mehr, mal weniger zufälligen – Begegnungen mit dem von ihm bewunderten Schachgenie in der US-Schachszene. Hieraus hat sich allerdings nie eine dauerhafte Bekanntschaft oder gar Freundschaft entwickelt (eine solche wurde bekanntlich nur wenigen Auserwählten zuteil). Eine einmalige Schnellpartie gegen Fischer (1971) verkorkste Soltis in Gewinnstellung zum Verlust, allzu sehr gelähmt von der dominanten Präsenz seines Gegenübers.
Diese kurzen Treffen gewähren bereits interessante Einblicke in Fischers Persönlichkeit. Des Weiteren geben die Einführungen zu den Partien einen informativen Überblick auf den schachlichen Werdegang Fischers, auf dessen Vorlieben, Vorzüge und Schwächen, auf seine fundamentalen schachlichen Grundsätze, die er in kurze Faustregeln zu fassen pflegte, und seine eröffnungstheoretische Vorbereitung. Es sind diese persönlich gefärbten Ausführungen des Autors, bisweilen angereichert mit historischen Bezügen und anekdotenhaften Begebenheiten, die eine besondere Stärke des Buchs ausmachen und erheblich zum Lesevergnügen beitragen. Und dazu, dass der Leser auch den Menschen Bobby Fischer ein wenig kennenlernt.

No smoke, no drinks, no girls

Hierzu ein kurzes Beispiel: Vor dem Interzonenturnier Portoroz 1958 schrieb Fischer-Mutter Regina einen „enthüllenden“ Brief an den Jugoslawischen Schachverband, in dem sie kundtat: „… He [Bobby] would not give simultaneous exhibitions or interviews – and didn’t like journalists ‚who ask non-chess questions‘ about his private life. She volunteered to the Yugoslavs that Fischer didn’t smoke, drink or date girls and ‚doesn’t know how to dance.‘ But, she added, ‚He likes to swim, play tennis, ski, skate, etc.'“ (S. 25)
Selbstredend kann und soll das Buch nicht mit einer echten Biografie konkurrieren, wie sie etwa Frank Brady verfasst hat.

Bobby Fischer Rediscovered - Andrew Soltis - Batsford Chess - Lesebeispiel - Glarean Magazin
Die „Jahrhundertpartie“ gegen Donald Byrne (8. Matchpartie in New York 1956) mit Fischers legendärem Damenopfer, kommentiert von Andrew Soltis

Wenden wir uns dem Hauptteil des Buches zu, den aufgenommenen Partien. Die 100 Games der Erstauflage, in chronologischer Folge angeordnet, finden sich auch in der Neuauflage wieder: Sie umspannen die gesamte Schachkarriere Fischers von der „Jahrhundertpartie“ 1956 gegen D. Byrne bis zur 11. Match-Partie gegen Spasski in Sveti Stefan 1992. Nur etwa ein Viertel dieser Partien ist auch in Fischers eigenem Werk „Meine 60 denkwürdigen Partien“ enthalten. Neu hinzugekommen ist ein Epilog mit 7 weiteren Partien, die bislang „übersehen“ wurden bzw. nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erfahren haben.


Exkurs: Die Partie Bobby Fischer vs Andrew Soltis

… aus dem Jahre 1971 ist vielleicht kein Ruhmesblatt für Grossmeister Soltis. Aber hey, der Gegner hiess Bobby Fischer…

(Mittels Mausklick auf einen Zug oder eine Variante öffnet sich ein Analyse-Fenster, inklusive Download-Option als PGN-Datei)


Gute Balance zwischen Text und Varianten

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Sämtliche Partien wurden von Soltis gründlich kommentiert, ohne dass sich seine Analysen in weitläufige, unübersichtliche Verzweigungen von Varianten ergehen. Dies und eine ausgewogene Balance zwischen Textkommentierung und Varianten wird die grosse Mehrheit der Leserschaft zu schätzen wissen. Die Analysen wurden für die Neuauflage beträchtlich überarbeitet, sie beruhen teilweise auf eigenen Bemühungen, teils auf fremden Vorgängeranalysen, was sicherlich nicht kritikwürdig ist. Dies gilt auch für Soltis‘ Entscheidung, keine Verlustpartien Fischers aufzunehmen, sowie nur wenige – dafür hochinteressante – Remispartien.

Bobby Fischer und Mutter Regina - Melonen-Essen in Manhattan - Schach im Glarean Magazin
Teenager Bobby und Mutter Regina beim Melonen-Essen in Brooklyn / New York

Die Markenzeichen von Bobby Fischers Stil, das luzide Positionsspiel, die Fähigkeit, Vorteile zu generieren und diese gnadenlos zu verwerten, die taktische Schlagfertigkeit, all dies verknüpft mit einem unbändigen Siegeswillen, scheinen in all seinen grossartigen Partien auf. Dabei zeigt sich, dass Fischer insgesamt nur sehr wenige Opferpartien gespielt hat, auch wenn diese zu seinen bekanntesten gehören mögen.
Mit dieser ausgezeichneten Partieauswahl dürften nicht nur Fischer-Fans voll auf ihre Kosten kommen. Ich kann dieses Buch nur nachhaltig empfehlen – es dürfte die zweitbeste Partiesammlung zu Bobby Fischer sein, die beste stammt halt immer noch vom grossen Meister selbst! ♦

Andrew Soltis: Bobby Fischer Rediscovered, 312 Seiten, Batsford, ISBN 978-1-84994-606-3 (engl.)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach-Genies auch die Anekdoten aus der Welt des Schachs

… sowie zum Thema „Schach in der Zeit des Kalten Krieges“ von Boris Gulko & Viktor Kortschnoi: Der KGB setzt matt

Weitere interessante Internet-Links zu Bobby Fischer:

Graham Burgess: Chess Opening Workbook for Kids

400 Eröffnungsstellungen für Schach-Kids

von Thomas Binder

Mit „Chess Opening Workbook for Kids“ komplettiert der angesehene englische Schach-Trainer und -Autor Graham Burgess seine Eröffnungs-Trilogie für Kinder. Zuvor hatte er in gleicher Aufmachung die Bücher „Schacheröffnungen für Kids“ und „Schach für Kids – Eröffnungsfallen“ vorgelegt. Es ist zu hoffen, dass auch vom neuesten Werk sehr bald eine deutschsprachige Ausgabe erscheint.

Chess Opening Book for Kids - Graham Burgess - Schachbuch-Cover - Gambit Verlag - Glarean Magazin
.

Diesmal hat Burgess den Stoff als „Arbeitsbuch“ aufgearbeitet. Das bedeutet, dass in elf Kapiteln über 400 Eröffnungsstellungen präsentiert und jeweils mit einer konkreten Fragestellung verknüpft werden. Wir blicken in der Regel auf eine Stellung, die nach etwa sieben bis zehn Zügen entstanden ist, manchmal auch etwas später.
Welche Seite am Zug ist, wird durch die Buchstaben „W“ bzw. „B“ neben dem Diagramm angezeigt. Für diese Kennzeichnung fehlt in der Schachliteratur offenbar noch ein Quasi-Standard. Andere Autoren benutzen (neben der klassischen Textform) Pfeile oder farbige Kästchen. Chessbase (der Marktführer der Schachprogramme) setzt auf ein rundes schwarzes oder weisses Symbol rechts unten neben dem Brett.
Einige wenige Illustrationen von Shane Mercer lockern das Buch auf. Davon würde ich mir deutlich mehr wünschen.

Von Taktik bis Strategie

Chess Opening Workbook for Kids - Graham Burgess - Leseprobe Glarean Magazin
Leseprobe aus „Chess Opening Workbook for Kids“ zum Thema „Entwicklung und Zentrum“

Das Material ist nach Themen geordnet. Zunächst gibt es taktische Kapitel, wie Matt, Doppelangriff, Figurenfang oder Königsjagd. Unter dem Oberbegriff „Eröffnungsstrategie“ folgen dann Entwicklung, Zentrumsbeherrschung und Rochade. Das letzte dieser Kapitel ist mit „Does Bxh7+ work?“ überschrieben. Es hätte meines Erachtens allerdings in den Taktik-Abschnitt gehört. Der Leser soll hier unvoreingenommen entscheiden, ob sich das klassische Läuferopfer auf h7 oder h2 in der konkreten Stellung lohnt.
Abschliessend gibt es dann noch einige Testaufgaben mit Punktbewertung – ein offenbar unausrottbares Element vieler Schachlehrbücher, dessen Sinn sich mir noch nicht so recht erschlossen hat.

Überlegt ausgewählte Aufgaben

Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen Einführung ins Thema. Auch hier trifft Burgess nach Inhalt und Umfang genau ins Schwarze.
Die Aufgaben – je 6 Diagramme auf einer Seite – sind durchweg sehr überlegt ausgewählt. Es werden unterschiedliche Schwierigkeitsgrade bedient, ohne dass unbedingt eine Sortierung nach aufsteigender Schwierigkeit erkennbar ist. Im Rahmen des Kapitelthemas sind die Aufgaben wiederum recht vielfältig. Hervorzuheben ist auch, dass sich der Leser in manchen Fällen auf die Seite des Verteidigers begeben muss, der eine thematische Gefahr abwehrt. Insgesamt bleibt man immer auf einem Niveau, das es dem jungen Schachtalent ermöglicht, die Aufgaben ohne Schachbrett „vom Blatt“ zu bearbeiten. Genau so muss es ja für eine Vorbereitung unter turniernahen Bedingungen sein.
Im Anschluss an jedes einzelne Kapitel folgen dann die Lösungen. Sie werden schmucklos und ohne weitere Diagramme präsentiert. Das fordert die ambitionierten jungen Leser doch etwas mehr heraus, wenn sie auch hier noch allen Varianten folgen wollen. Auch wirken diese Seiten im Kontrast zu den Aufgabenblättern etwas zu eng bedruckt.

Junge Leser und Trainer als Zielgruppen

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Das Workbook wendet sich primär an die im Titel angesprochenen „Kids“, wobei ich die Altersuntergrenze bei 10 Jahren ansetzen würde. Da es aber keine wirklich auf Kinder zugeschnittenen Elemente enthält, können selbst ältere Jugendliche unbefangen damit arbeiten. Ja – man kann es mit wachsender Spielstärke und Erfahrung sicher auch mehrfach zur Hand nehmen. Neben den jungen Lesern sind deren Trainer eine genauso wichtige Zielgruppe. Sie können den hier vorgelegten Aufgabenschatz in ihren Unterricht einbauen oder für individuelle Aufgabenstellungen nutzen. Gerade Trainer mit wenig Literatur im Hintergrund (z.B. in Schulschachgruppen) finden für kleines Geld einen riesigen Aufgabenvorrat zum Eröffnungsspiel.

Geeignet auch fürs Selbststudium

Aus der Sicht des Trainers ist es allerdings etwas schade, dass die einleitenden Züge vor der Diagrammstellung nicht angegeben werden. Ja – das hätte etwas Platz gekostet, würde aber zusätzliche Einsatzmöglichkeiten im Training bzw. bei der Wettkampfvorbereitung eröffnen. Dass die Partiestellungen ohne Quellen angegeben sind, wirkt auf den ersten Blick ungewohnt, aber es geht eben um Eröffnungsstellungen, die so in der Turnierpraxis ungezählte Male auf dem Brett waren.
Fazit: „Chess Opening Workbook for Kids „ist eine sinnvolle Ergänzung zu den bisher vorliegenden Eröffnungsbüchern für Kinder des gleichen Autors. Sowohl für das Selbststudium als auch den Einsatz im Training ist der Band, der über 400 Aufgaben mit angemessen erklärten Lösungen enthält, hervorragend geeignet. ♦

Graham Burgess: Chess Opening Workbook for Kids – Schachlehrbuch für Kinder, 128 Seiten, Gambit Publications, ISBN 978-1911465379, 2019

Leseprobe (PDF)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Jugend-Schachbücher auch über das Lehrbuch des Circon Verlag: Schachtricks für Kinder

… sowie zum Thema „Schachspielen online“ über Stefan Breuer: Online-Schach für Amateur- und Hobbyspieler


English Translation

400 Opening Positions for Chess Kids

With „Chess Opening Workbook for Kids“ the renowned English chess trainer and author Graham Burgess completes his opening trilogy for children. Previously he had presented the books „Chess Opening Workbook for Kids“ and „Chess for Kids – Opening Traps“ in the same layout. It is to be hoped that a German-language edition of his latest work will also be published very soon.

This time Burgess has worked up the material as a „workbook“. This means that over 400 opening positions are presented in eleven chapters, each linked to a specific question. As a rule we look at a position that was created after about seven to ten moves, sometimes a little later.
Which side is the move is indicated by the letters „W“ or „B“ next to the diagram. Apparently there is still no quasi-standard for this marking in chess literature. Other authors use (besides the classical text form) arrows or coloured boxes. Chessbase (the market leader of chess programs) uses a round black or white symbol at the bottom right of the board.
A few illustrations by Shane Mercer loosen up the book. I would like to see much more of that.

From tactics to strategy

The material is arranged by topic. First there are tactical chapters, such as Matt, double attack, figure catching or king hunting. Under the generic term „opening strategy“, development, centre control and castling follow. The last of these chapters is titled „Does Bxh7+ work? In my opinion, however, it would have belonged in the tactics section. The reader should decide here without prejudice whether the classic runner sacrifice on h7 or h2 is worthwhile in the concrete position.
Finally there are some test exercises with point scoring – an apparently ineradicable element of many chess textbooks, the sense of which I have not yet quite understood.

Thoughtfully selected exercises

Each chapter begins with a short introduction to the topic. Here too, Burgess hits the mark in terms of content and scope.
The tasks – 6 diagrams on each page – have been carefully chosen throughout. Different levels of difficulty are used, without necessarily being sorted according to ascending difficulty. Within the chapter topic the tasks are again quite varied. It should also be emphasized that in some cases the reader has to take the side of the defender who defends a thematic danger. All in all one always stays on a level that allows the young chess talent to work on the tasks „off the page“ without a chessboard. This is exactly how it has to be for a preparation under tournament conditions.
Each chapter is followed by the solutions. They are presented unadorned and without further diagrams. This challenges the ambitious young readers a little bit more, if they want to follow all variants. Also, these pages appear a little too tightly printed in contrast to the task sheets.

Young readers and trainers as target groups

The workbook is primarily aimed at the „kids“ mentioned in the title, whereby I would set the age limit at 10 years. However, since it does not contain any elements that are really tailored to children, even older teenagers can work with it without any bias. Yes – with increasing playing strength and experience you can certainly use it several times. Besides young readers, their trainers are an equally important target group. They can incorporate the wealth of tasks presented here into their lessons or use it for individual tasks. Especially coaches with little literature in the background (e.g. in school chess groups) will find a huge pool of tasks for the opening game for little money.

Also suitable for self-study

From the trainer’s point of view, however, it is a bit of a pity that the introductory moves are not indicated before the diagram is drawn. Yes – this would have taken up some space, but would have opened up additional possibilities for training or competition preparation. The fact that the party positions are given without sources may seem unusual at first sight, but it is about opening positions, which have been on the board countless times in practice.

Conclusion: „Chess Opening Workbook for Kids „is a useful addition to the existing opening books for children by the same author. The volume, which contains over 400 tasks with appropriately explained solutions, is excellently suited for both self-study and training. ♦
(Thomas Binder, http://www.glarean-magazin.ch)

Ausstellungs-Katalog „Schach und Religion“ (Ebersberg)

Geistesgeschichtlicher Blick auf das Schachspiel

von Thomas Binder

An wenigen Tagen im August 2019 fand im Rathaus des oberbayrischen Ebersberg eine Ausstellung unter dem Titel „Schach und Religion“ statt. Trotz Erwähnung auf gemeinhin einflussreichen Homepages hat sie in der klassischen Schach-Öffentlichkeit nur wenig Widerhall gefunden. Nun hat die ausrichtende Schach- und Kulturstiftung ein Begleitbuch zu dieser Schau herausgebracht, das weit über einen Ausstellungskatalog hinaus geht.
Katalogcharakter im herkömmlichen Sinne haben nur die letzten knapp 40 Seiten, auf denen die ausgestellten Exponate (vorwiegend Gemälde und Figurensätze) abgebildet werden. Für diejenigen Werke, die im Textteil des Buches nicht näher besprochen werden, sind die Informationen in diesem Abschnitt leider etwas knapp.

Schach und Religion - Kulturstiftung GHS - Ausstellungs-Katalog - Cover - Glarean MagazinKommen wir also zum gut 100 Seiten langen Textteil. Hier werden wir nicht etwa auf theologische Abhandlungen stossen, sondern erfahren unter dem Obertitel „Schach und Religion“ viel Interessantes aus der Geschichte unseres Spiels. Der religiöse Aspekt dient dabei mal mehr, mal weniger als Leitfaden, wird aber oft genug verlassen, und der Blick reicht deutlich weiter.
Wer sich fragt, was denn wohl Schach und Religion miteinander zu tun haben, dem sei aus der Einleitung zu einem Beitrag des früheren DSB-Präsidenten Herbert Bastian zitiert: Er bezeichnet Schach und Religion als „… zwei Kulturfaktoren mit weltumspannender Bedeutung […] Beide geben ihren Anhängern Halt und etwas Familiäres.“

Leseprobe

Schach und Religion - Kulturstiftung GHS - Ausstellungs-Katalog - Leseprobe - Glarean Magazin
„Schach und Religion“ der Kulturstiftung GHS: Leseprobe aus dem gleichnamigen Ausstellungs-Katalog (Ebersberg 2019)

Autoren mit wissenschaftlichem Anspruch

Den Leser erwarten insgesamt acht Artikel von unterschiedlichem Umfang, denen freilich gemein ist, dass sie von sachkundigen Autoren mit durchaus wissenschaftlichem Anspruch geschrieben wurden. Das mag es dem Leser, der in die Materie gerade erst eintauchen will, hier und da etwas schwer machen. Angesichts der thematischen Vielfalt wird aber wohl jeder historisch interessierte Schachfreund Erkenntnisse und Denkanstösse mitnehmen.

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Der Salzburger Kulturhistoriker Rainer Buland hat mit „Schach – Spiel – Religion“ den Leitartikel (oder neudeutsch: die Keynote) geschrieben. Er gliedert seine Arbeit in fünf Ebenen. Zunächst widmet er sich der Figur des Läufers, der ja in manchen Sprachen eigentlich ein Bischof ist. Dann verweist er darauf, dass viele Theologen dem Schachspiel zugetan waren, es dabei aber im grösseren Zusammenhang als Allegorie verstanden und in ihre Lehre einbanden. Dann geht Buland darauf ein, dass das Spiel durchaus zeitweise als Laster angesehen und gegen solche Vorwürfe verteidigt werden musste. Einen grossen Umfang nehmen die sehr interessanten Untersuchungen zu der Radierung „Die Schachspieler“ von Moritz Retzsch (1779 – 1857) ein. Schliesslich stellt sich der Autor noch der Frage, ob man das Schachspiel selbst als Religion verstehen kann.

Profunde Artikel für Laien und Experten

Herbert Bastian - Schach-Funktionär Buchautor - Glarean Magazin
Verbandsfunktionär, Internationaler Meister, Schachhistoriker: Herbert Bastian

Im zweiten umfangreichen Beitrag beleuchtet Herbert Bastian das Verhältnis von Schach und Religion an Beispielen von den ersten Erwähnungen an bis zur Gegenwart. Bastian ist als profunder Kenner der Kulturgeschichte des Schachspiels nicht zuletzt durch eine umfangreiche Artikelserie in der Zeitschrift „Rochade Europa“ ausgewiesen. Daher an eine breite Leserschaft gewohnt, ist sein Text für den interessierten Laien sogar etwas einfacher nachzuvollziehen, als die doch sehr wissenschaftlichen Ausführungen bei Rainer Buland – gut, dass wir in diesem Katalog beide Herangehensweisen finden.
Den dritten, sehr umfangreichen Artikel verfasste der Altphilologe Wilfried Stroh. Er bietet eine Neuübersetzung (aus dem Lateinischen) sowie eine ausführliche Interpretation der „Schachode“ des Jesuiten und Dichters Jacob Balde (1604 – 1668). Wenn im Vorwort von einem „berühmten Gedicht“ gesprochen wird, verdeutlicht dies die angesprochene Zielgruppe. Als sehr wohl schachhistorisch belesener Interessent, waren mir diese Ode und ihr Autor – Asche auf mein Haupt – bislang völlig unbekannt und selbst der Wikipedia-Eintrag über Balde erwähnt die Schachode mit keinem Wort. Spätestens jetzt ahnt man also, dass die Neuübersetzung und Interpretation dem kritischen Blick der Fachwissenschaft Stand halten wird, ja wohl richtungsweisenden Charakter einer Neubewertung hat. Dementsprechend anspruchsvoll ist für literaturwissenschaftliche Laien allerdings auch die Lektüre des 20 Seiten umfassenden Artikels.

Schachmatt - Geistliche Würdenträger beim Schachspielen - Holzstich von Thure Cederström 1880 - Glarean Magazin
„Schachmatt“ nach einem Holzstich von Thure Cederström 1880: Geistliche Würdenträger beim Schachspielen

Luther und Augustinus beim Schachspielen

Eingebettet in diese drei „grossen Brocken“ finden wir fünf kürzere und in all ihrer Unterschiedlichkeit anregende Texte.
Lokalkolorit zum Ort der Ausstellung steuert Georg Schweiger (Vorstand der ausrichtenden Stiftung) mit dem Artikel über die Schachfiguren der Falkensteiner Grafen bei. Bis ins 12. Jahrhundert lässt sich nachweisen, welche Bedeutung das Spiel in dieser Herrscherfamilie und darüber hinaus für Adel und – als Bezug zum Titel der Ausstellung – für den Klerus hatte. In seinem zweiten Beitrag erläutert Schweiger, warum die Heilige Teresa von Avila (1515 – 1582) die Patronin der Schachspieler ist. Auch hier ist Ihr Rezensent peinlich berührt von einer bisherigen Wissenslücke, hatte ich doch bisher nur Caissa gekannt.

Glarean Magazin - Muster-Inserat - Banner 250x176Mit zwei kurzen Beiträgen ist der Historiker sowie engagierte Schachspieler und -organisator Konrad Reiss vertreten. Reiss dürfte einer grösseren Öffentlichkeit vor allem als Leiter des Schachmuseums in Löberitz bekannt sein. Die beiden Artikel verbinden Schach und Religion in kongenialer Weise mit Reiss‘ mitteldeutscher Heimat. Er stellt uns die Schachallegorie im Dom zu Naumburg vor: Zwei schachspielende Affen an einem Pfeilersims laden zu jeder Art von Interpretation ein. Seinen zweiten Beitrag widmet Reiss der Legende über eine Schachpartie Martin Luthers gegen eine Gruppe von als Bergleute verkleideten Studenten.
Noch weiter zurück führt uns die Kuratorin der Ausstellung Natascha Niemeyer-Wasserer mit ihrem kurzen Exkurs über ein Gemälde von Nicolo di Pietro vom Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts, das den Heiligen Augustinus beim Schachspiel zeigt.

Vielfältiger Blick auf die Schachgeschichte

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Ich hoffe, diese kurze Inhaltsübersicht konnte die Neugier der Leser wecken, sich näher mit den Beiträgen dieses Begleitbuchs zur Ausstellung „Schach und Religion“ zu beschäftigen. Den nicht ganz geringen Preis rechtfertigen neben dem Inhalt der Arbeiten auch die zahlreichen Abbildungen und die insgesamt hochwertig anmutende Gestaltung.
Fazit: Weit über einen Ausstellungskatalog hinaus gehend, bietet das Buch vielfältige Blicke auf die europäische Schach-Frühgeschichte. Die Bezüge zur Religion sind dabei Richtschnur, schränken aber die Vielfalt der Betrachtungen nicht ein. Auch wer sich schon intensiver mit der Historie des königlichen Spiels beschäftigt hat, wird viele neue Erkenntnisse gewinnen, muss sich freilich an einigen Stellen auf das sprachliche Niveau einer wissenschaftlichen Arbeit einstellen. ♦

Schach und Religion – Katalog zur Ausstellung in Ebersberg, Schach- und Kulturstiftung G.H.S., 144 Seiten, ISBN 978-3-00-063173-3

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schachgeschichte auch über
Gerhard Josten: Auf der SeidenStrasse zur Quelle des Schachs

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Axel Gutjahr: Schach spielen mit Niveau

Zu ausschweifend, zu fehlerhaft

von Thomas Binder

Wie viele Einsteiger-Lehrbücher in den letzten zehn Jahren über meinen Schreibtisch wanderten, habe ich nicht nachgezählt. Und doch wird man immer wieder mit neuem Herangehen an dieses Thema konfrontiert.
Der aktuellste Versuch heisst „Schach spielen mit Niveau“, im Untertitel „Bewährte Regeln und Strategien für Anfänger und Fortgeschrittene“. Als Autor fungiert Axel Gutjahr aus dem thüringischen Stadtroda.

Axel Gutjahr - Schach spielen mit Niveau - Cover Anaconda Verlag - Glarean MagazinAls Schachspieler, -trainer oder -autor ist Gutjahr meines Wissens bisher nicht hervorgetreten. Auch wird er im Buch nicht näher vorgestellt. Allerdings sind im gleichen Verlag aus seiner Feder und mit entsprechend identischem „niveauvollen“ Titel auch Lehrbücher zum Skat und zum Doppelkopf erschienen. Gutjahr arbeitet also offenbar als Ratgeber-Autor in einem etwas breiteren Feld, und den Eindruck eines Ratgebers wird man auch bei der Lektüre immer wieder haben. Im gleichen Stil könnte der Autor wohl auch Kochrezepte oder Anleitungen für Heimwerker verfassen…

Wortreich und umständlich

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Was bedeutet das? Es bedeutet vor allem, dass wir sprachlich und teilweise auch satztechnisch ein Buch vor uns haben, dass sich von sonstiger Schachlektüre stark unterscheidet. Gutjahr schreibt wortreich und ausschweifend – als schachlich gewandter Leser könnte man auch „umständlich“ sagen. Gewöhnungsbedürftig ist auch die Notation, bei der er die Halbzüge eines Zugpaares mit einem Bindestrich trennt: 1.e4 – e5 2. Sf3 – Sc6. Das sind natürlich Äusserlichkeiten, doch das Vertrauen in den Anspruch des Untertitels wird dabei nicht unbedingt gefestigt.
Schauen wir kurz durch die einzelnen Kapitel des Buches: Es beginnt natürlich mit den Spielregeln, angefangen beim Brettaufbau und schon mit Einschluss der technischen Matts. Nach etwa 30 Seiten Text haben wir die Grundregeln also erlernt. Wie schon angedeutet, wird alles sehr ausführlich und verschwurbelt in langen Texten verpackt.
Leider gibt es mindestens einen gravierenden Fehler bei der Erklärung des Remis durch Stellungswiederholung. Dieses kommt nur als „Dauerschach“ vor und verlangt zudem eine Wiederholung der gleichen Züge. Spätestens an dieser Stelle war mein Vertrauen in das Buch unwiederbringlich erschüttert.

Grundlegende Schach-Techniken

Auf den nächsten knapp zehn Seiten geht es um grundlegende Techniken wie Fesselung und Gabeln, natürlich auch wieder sehr ausschweifend erklärt. Lebhafter wird es auf den nächsten sechs Seiten mit der Präsentation einiger bekannter und immer wieder beeindruckender Mattkombinationen, etwa das Libellenmatt, Bodens Matt oder jenes der Anastasia. Diese in Schachkreisen bekannten Bezeichnungen kommen in der ausführlichen Beschreibung der Kombinationen allerdings nicht vor.

Leseprobe aus Axel Gutjahr: Schach spielen mit Niveau (Anaconda Verlag 2019) Glarean Magazin
Leseprobe aus Axel Gutjahr: Schach spielen mit Niveau (Anaconda Verlag 2019)

In der Folge geht es um die drei Teile der Schachpartie: Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel. Mit Abstand den grössten Rahmen nimmt dabei die Eröffnung ein. Etwa 40 Seiten widmet Gutjahr diesem Abschnitt. Das Wichtigste steht dabei auf jener einen(!) Seite, auf der die Grundprinzipien des Partieanfangs erklärt werden: Figurenentwicklung, Besetzung des Zentrums und Königssicherheit.
Den gleichen Raum verwendet Gutjahr darauf, zu erklären, warum nach 1.e4 e5 2.Sf3 der Zug 2.- Ld6 nicht eben zu empfehlen ist (der zudem per Druckfehler als 2.- Lf6 vorgestellt wird). Es folgen grundlegende Varianten und kurze Erläuterungen zu einigen willkürlich ausgewählten Systemen. Hier hat man stellenweise den Eindruck eines gediegenen Schachbuches – um gleich danach zwei(!) Seiten lang vor den beiden Narrenmatts 1.f3 e5 2.g4?? Dh4# und 1.e3 e5 2.Dh5 Ke7?? 3.Dxe5# gewarnt zu werden.

Oberflächliche Endspiel-Behandlung

FAZIT: „Schach spielen mit Niveau“ von Axel Gutjahr ist ein Einsteiger-Lehrbuch im Ratgeber-Stil, das zwiespältige Eindrücke hinterlässt. Wer als Erwachsener auf dem Weg über ein Buch im Selbststudium das königliche Spiel erlernen will, mag es mit diesem sehr preiswerten Buch versuchen.

Es folgen ca. zehn Seiten über das Mittelspiel. Anhand ausgewählter Partieverläufe stellt der Autor das Zusammenspiel der Figuren in den Blickpunkt. Dieser Ansatz, bei dem die ausführlichen Erläuterungen zur Stärke reifen können, hätte deutlich mehr Umfang verdient.
Das Endspiel-Kapitel ist nicht ganz 20 Seiten lang, beschränkt sich dabei auf einfache Endspiele und bleibt allgemein sehr an der Oberfläche.
Im letzten grösseren Kapitel stellt Axel Gutjahr schliesslich einige Partien von Weltmeistern vor. Die Auswahl fiel (in dieser Reihenfolge) auf Lasker, Capablanca, Fischer, Menchik, Aljechin, Zsuzsa Polgar, Spasski und Kasparow.

Ansprechende Buchgestaltung

Das insgesamt ansprechend gestaltete und durchweg vierfarbig gedruckte Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Wenn sich der Autor an dem Anspruch „… für Anfänger und Fortgeschrittene“ messen lässt, wird er wohl den ersteren längst nicht alle Fragen beantworten, während die anderen nicht mehr viel Erkenntnisgewinn aus dem Werk ziehen können.

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Als Leser kommen erwachsene Schach-Einsteiger in Frage – für ein Kinderbuch fehlen jegliche unterhaltenden oder spielerischen Elemente –, die das königliche Spiel im Selbststudium mittels eines Buches erlernen wollen. Ob diese Klientel gross genug ist, kann man angesichts der zahlreichen anderen Möglichkeiten bezweifeln.
Zudem hätte man sich aus deren Sicht noch einen Ausblick gewünscht, der dem Leser den Weg in einen Schachklub oder zu einem passenden Turnier ebnet. Die Fragen „Wie finde ich den passenden Schachverein und was erwartet mich dort?“ und „Was muss ich wissen, wenn ich mich an mein erstes Turnier wage?“ werden leider nicht beantwortet.
Zusammengefasst: „Schach spielen mit Niveau“ von Axel Gutjahr ist ein Einsteiger-Lehrbuch im Ratgeber-Stil, das zwiespältige Eindrücke hinterlässt. Wer als Erwachsener auf dem Weg über ein Buch im Selbststudium das königliche Spiel erlernen will, mag es mit diesem sehr preiswerten Buch versuchen. ♦

Axel Gutjahr: Schach spielen mit Niveau – Bewährte Regeln und Strategien für Anfänger und Fortgeschrittene, Anaconda Verlag, 144 Seiten, ISBN 978-3730607633

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schachpädagogik auch das
Interview mit dem Schach-Autor Reinhold Ripperger

… sowie zum Thema Schach-Tricks über
Gerhard Kubik: Die Psychotricks der Schachprofis

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Cyrus Lakdawala: Winning Ugly in Chess (Schach)

Herausragende Schach-Kommentierung

von Thomas Binder

Wenn sich vortreffliche Fähigkeiten sowohl als Schachtrainer wie als Autor positiv ergänzen, ist das für den Leser der so entstandenen Bücher ein Glücksfall. Ein solcher Glücksfall ist der amerikanische Schach-IM Cyrus Lakdawala für uns Schachbuch-Konsumenten. Als neuestes Werk aus seiner Feder liegt nun „Winning ugly in chess“ vor.
Der Untertitel „Playing badly is no excuse for losing“ und auch der Satz aus dem Klappentext „The next time the wrong player wins, you will be that player!” wecken dabei allerdings eine Erwartung, die man nicht zu wörtlich nehmen sollte.

Ressourcen in nachteiligen Stellungen

Cyrus Lakdawala - Winning ugly in Chess - New In Chess - Cover - Glarean MagazinEs geht hier natürlich nicht um schmutzige Tricks. Wir lernen vielmehr, dass auch in nachteiligen Stellungen oft noch Ressourcen schlummern, mit denen man dem Spiel eine unerwartete Wende geben kann. Auch für die Gegenseite gibt es hilfreiche Tipps, wie man den verdienten Sieg absichert und sich gegen unliebsame Überraschungen wappnet.
Lakdawala präsentiert uns 67 Partien von Klassikern bis zum Jahr 2018 einschliesslich eines Ausblicks in die Alpha-Zero-Ära. Das Spektrum der Spielstärke reicht von den Weltmeistern bis zu Lakdawalas Schülern im Bereich um Elo 2000. Dabei haben die Partien gemein, dass der Vorteil oft mehrfach hin und her wechselt.Der Kampf wird immer aus Sicht beider Parteien beleuchtet – eben keine ausgesuchten Musterpartien, sondern Schach aus dem richtigen Leben.

Rekordpartie Nikolic-Arsovic 1989

Hervorheben möchte ich die Rekordpartie Nikolic-Arsovic von 1989, mit 269 Zügen die längste Turnierpartie der Geschichte. Sie wird ja oft nur als Kuriosität vermerkt, hier aber seriös analysiert. Allerdings tut der Autor den Spielern Unrecht, wenn er ihnen mehrfach vorwirft, die 50-Züge-Regel nicht in Anspruch genommen zu haben. Diese war gerade zu jener Zeit und für diesen Endspieltyp ausser Kraft gesetzt.
(Wir bringen nachfolgend die gesamte Partie, versehen mit der automatischen Kommentierung durch Stockfish, eines der führenden aktuellen Schachprogramme; für jene die sich das Buch zulegen, wäre es reizvoll, Lakdawala’s Kommentare mit jenen des Computers zu vergleichen):

67 Partien auf 330 Seiten

67 Partien auf ca. 330 Seiten – wir bekommen also jeweils ausführliche Kommentare geboten. Dabei legt Lakdawala den Schwerpunkt auf Erklärungen in Textform. Varianten untermauern lediglich das Gesagte, sind dabei immer überschaubar und nachvollziehbar. Das zweispaltige Layout wirkt harmonisch und erleichtert die Lektüre.

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Neben dem reinen Kommentar sind in jeder Partie drei weitere Stilmittel zu finden, die den erfahrenen Trainer erkennen lassen:

  • Moments of Contemplation: Hier wird die Stellung an kritischen Wendepunkten betrachtet, werden die Pläne beider Seiten vorgestellt. Auch der Leser sollte sich diesen Moment der Besinnung nehmen.
  • Exercises: Hier werden wir direkt aufgefordert, uns für eine Fortsetzung (nicht unbedingt nur den nächsten Zug, sondern oft einen weiterführenden Plan) zu entscheiden. Kleiner Kritikpunkt an dieser Stelle: Da die Partiefortsetzung unmittelbar in der Notation folgt und per Zeichensetzung bewertet wird, kann man kaum vermeiden, sie bereits im Blick zu haben.
  • Principles: An passenden Stellen ruft der Trainer die bekannten Prinzipien in Erinnerung, wie z.B. „Öffne das Spiel, wenn du Entwicklungsvorsprung hast.“

Breites Leistungsspektrum

In Summe bekommen wir herausragend kommentierte und für Schachspieler in einem breiten Leistungsspektrum lehrreiche Partien. Vom fortgeschrittenen Vereinsspieler (Niveau um 2000) bis zum ambitionierten 1500er wird niemand das Buch enttäuscht aus der Hand legen. Die folgende Leseprobe verdeutlicht diese Einschätzung:

Cyrus Lakdawala - Winning ugly in Chess - New In Chess - Leseprobe - Glarean Magazin
Leseprobe aus Cyrus Lakdawala: Winning ugly in Chess

Einzigartiger Plauderton

FAZIT: Für die neue Schach-Monographie von Cyrus Lakdawala: Winning ugly in chess darf man eine uneingeschränkte Kaufempfehlung aussprechen. Die Qualitäten von Lakdawala sowohl als Trainer als auch als Autor ergänzen sich hervorragend. Und Lakdawalas Kommentare gehen weit über das rein Schachliche hinaus. Immer wieder nimmt er Anleihen im Alltag, in der Literatur oder beim Film. Dieser Plauderton sucht in der Schachliteratur seinesgleichen und verleiht diesen 67 ausführlich und lehrreich kommentierten Partien einen zusätzlichen Reiz. Prächtige Schach-Unterhaltung!

Vom Trainer zum Autor Lakdawala: Er redet mit uns in einem Plauderton, der in der Schachliteratur seinesgleichen sucht. Nicht alles, was er schreibt ist „political correct“ – so kommt auch ein gut Stück Persönlichkeit herüber. Man wähnt in Lakdawala bald einen guten Freund, den man schon lange kennt. Dass der Autor allerdings bei einer eigenen(!) Partie die dem Namen nach offensichtlich weibliche Gegnerin konsequent als „he“ adressiert, ist gewiss nur ein Versehen. Das Phänomen, den Gegner immer mit „er“ zu beschreiben, auch wenn es sich um eine Frau handelte, hat der Rezensent auch selbst schon bei vielen Schachfreunden – selbst bei Kindern – bemerkt.
Lakdawalas Kommentare gehen weit über das rein Schachliche hinaus. Immer wieder nimmt er Anleihen im Alltag, in der Literatur oder beim Film. Dass da der mitteleuropäische Leser an einigen Stellen die Bezüge nicht ganz auflösen kann, ist dem Autor natürlich nicht vorzuwerfen.

Unterhaltsam und lehrreich

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Das Buch liegt gegenwärtig nur im englischen Original vor. Wer mit fremdsprachigen Schachbüchern oder Internet-Quellen vertraut ist, wird kein Problem damit haben. Allerdings braucht es für das restlose Verstehen des ganzen Textes – einschliesslich aller gedanklichen Abschweifungen – doch etwas mehr Sprachkompetenz, als bei englischsprachigen Schachbüchern sonst. Dem rein schachlichen Erkenntnisgewinn tut es jedoch keinen Abbruch, wenn man hier oder da sprachlich abgehängt wird.
Nach dem Lesen des Buches fühlt sich der Rezensent prächtig unterhalten und glaubt sogar, dass er etwas gelernt hat. Wenn ich also das nächste Mal eine Schachpartie gewinne, dann vielleicht gerade deshalb, weil nicht „the wrong player wins“.
Lakdawala kündigte jüngst in einem Interview der Zeitschrift SCHACH weitere Buchprojekte an. Spannung und Vorfreude der Leserschaft sind ihm gewiss. ♦

Cyrus Lakdawala: Winning Ugly in Chess, 336 Seiten, Verlag New In Chess, ISBN 978-90-5691-828-6

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach-Training auch über
Franco Zaninotti: Aus Fehlern lernen

… sowie zum Thema Schach-Kommentare über
Siegbert Tarrasch: Das Schachspiel


English Translation

Outstanding Chess Comments

by Thomas Binder

If excellent skills complement each other positively both as a chess trainer and as an author, this is a stroke of luck for the reader of the books thus created. Such a stroke of luck is the American chess IM Cyrus Lakdawala for us chess book consumers. The latest work from his pen is „Winning ugly in chess“.
The subtitle „Playing badly is no excuse for losing“ and the sentence from the blurb „The next time the wrong player wins, you will be that player!

Resources in disadvantageous positions

Of course, this isn’t about dirty tricks. Rather, we learn that even in disadvantageous positions, there are often resources that can be used to give the game an unexpected turn. There are also helpful tips for the other side on how to secure your deserved victory and arm yourself against unpleasant surprises.
Lakdawala presents 67 games of classics through 2018, including a glimpse into the Alpha Zero era. The range of the playing strength reaches from the world champions to Lakdawala’s students in the area around Elo 2000. The games have in common that the advantage often changes back and forth several times. The fight is always illuminated from the point of view of both parties – no selected sample games, but chess from real life.

Record game Nikolic-Arsovic 1989

I would like to highlight the record game Nikolic-Arsovic from 1989, with 269 moves the longest tournament game in history. It is often only noted as a curiosity, but here it is analysed seriously. However, the author does the players wrong by repeatedly accusing them of not having made use of the 50-move rule. This rule was suspended at that time and for this type of endgame.
(We bring below the whole game, provided with the automatic comment by Stockfish, one of the leading current chess programs; for those who buy the book, it would be appealing to compare Lakdawala’s comments with those of the computer):

(See PGN game above)

67 games on 330 pages

67 games on approx. 330 pages – so we always get detailed comments. Lakdawala focuses on explanations in text form. Variants only support what has been said and are always clear and comprehensible. The two-column layout is harmonious and makes reading easier.

Beside the pure commentary there are three further stylistic devices in each game, which let the experienced trainer recognize:

Moments of Contemplation: Here the position at critical turning points is examined and the plans of both sides are presented. The reader should also take this moment of reflection.
Exercises: Here we are directly asked to decide for a continuation (not necessarily only the next move, but often a further plan). A small point of criticism at this point: Since the continuation of the game follows immediately in the notation and is evaluated by punctuation, one can hardly avoid having it already in view.
Principles: In appropriate places, the trainer recalls the familiar principles, such as „Open the game if you have a head start in development“.

Wide range of services

All in all, we get outstandingly commented and instructive games for chess players in a wide performance spectrum. From the advanced club player (level around 2000) to the ambitious 1500 player nobody will put the book disappointed out of hand. The following sample illustrates this assessment:

Unique chat tone

From trainer to author Lakdawala: He talks to us in a chatty tone that has no equal in chess literature. Not everything he writes is „politically correct“ – this is how a good piece of personality comes across. In Lakdawala you soon think of a good friend you’ve known for a long time. But the fact that the author consistently addresses his obviously female opponent as „he“ in his own (!) game is certainly only an oversight. The phenomenon of always describing the opponent with „he“, even if it was a woman, has already been noticed by the reviewer himself with many chess friends – even with children.
Lakdawala’s comments go far beyond the pure chess. Again and again he borrows from everyday life, literature or film. The fact that the Central European reader cannot completely dissolve the references in some places is of course not to be reproached to the author.

Entertaining and instructive

The book is currently only available in the English original. Who is familiar with foreign chess books or Internet sources will have no problem with it. However, for the complete understanding of the whole text – including all mental digressions – a little more language competence is needed than with English chess books otherwise. The purely chess knowledge gain, however, is not affected by being lost here and there linguistically.
After reading the book the reviewer feels splendidly entertained and even believes that he has learned something. So the next time I win a game of chess, maybe it’s precisely because „the wrong player wins“.
Lakdawala recently announced further book projects in an interview with the magazine SCHACH. He is sure of the excitement and anticipation of the readership. ♦

Cyrus Lakdawala: Winning Ugly in Chess, 336 pages, Verlag New In Chess, ISBN 978-90-5691-828-6

Christian Mann: Schach – Die Welt auf 64 Feldern

Tour de Force durch die Schachwelt

von Ralf Binnewirtz

Der Autor Dr. Christian Mann, Professor für Alte Geschichte in Mannheim und Internationaler Meister im Schach, legt mit seinem Taschenbuch „Schach – Die Welt auf 64 Feldern“ seinen schachliterarischen Erstling vor. Der Klappentext deutet an, dass der Leser einen facettenreichen Überblick über die Welt des Schachs erwarten darf, realisiert in einem kleinformatigen Büchlein von lediglich 128 Seiten – zweifellos ein ambitioniertes Unterfangen. Hierbei werden noch 24 Seiten verwendet für „Vorspann“ und Inhaltsangabe, Spielregeln/Notation, Glossar, Register, Literaturverzeichnis sowie eine Auflistung der Weltmeister am Ende des Buchs.

Christian Mann - Schach - Die Welt auf 64 Feldern - Beck Verlag - Rezensionen Glarean MagazinDas Buch dürfte insbesondere Einsteiger in das Gebiet des Schachs ansprechen, zumindest suggeriert dies das aufgenommene, gut neun Seiten beanspruchende Regelwerk. Aber auch allen Schachfreunden, die sich kurz über die Geschichte des Schachs, über Randgebiete bzw. kulturelle Aspekte des Spiels informieren möchten, dürfte es als erste Auskunftsquelle dienlich sein. (Hier finden sich die exakten Inhaltsangaben des Bandes).

Faszination Schach

Zum Auftakt beleuchtet der Autor zwei entscheidende Stellungen aus WM-Partien der Vergangenheit. Es folgen mehr oder weniger kurze Betrachtungen des Autors zur politischen Instrumentalisierung des Schachs, zur Einordnung als Sport, Spiel, Wissenschaft oder Kunst, zum Auftreten in Literatur und Film, zu Schachcomputern usw. bilden Appetitanreger auf Themen, die in späteren Kapiteln ausführlicher behandelt werden. Leider mit nur wenigen Zeilen bedacht ist das Thema Problemschach. Ich hätte es begrüsst, wenn der Autor diesem künstlerischen Zweig des Schachs an späterer Stelle etwas mehr Beachtung geschenkt hätte, zumal manch anderes Thema im Buch vergleichsweise ausführlich behandelt wird.1) Im Literaturverzeichnis wird „Die Schwalbe – Zeitschrift für Problemschach“ angeführt, dieses Vereinsorgan ist aber vor allem für fortgeschrittene Problemfreunde geeignet, zudem erhält man die Zeitschrift nur regelmässig als Mitglied der Schwalbe, deutsche Vereinigung für Problemschach e.V.

Geschichte des Schachs

Prof. Dr. Christian Mann - Schach-Autor - Glarean Magazin
Historiker, Autor, Schachmeister: Prof. Dr. Christian Mann

Vom mythen- und legendenumrankten Ursprung des Schachs im ostasiatischen Raum2) und der weiteren Ausbreitung des Spiels nach Europa führt uns der Autor sukzessive auf der Zeitachse voran: Von der Rolle des Schachs im Mittelalter, die Dynamisierung des Spiels durch die Metamorphose von Dame und Läufer in langschrittige Figuren gegen Ende des 15. Jahrhunderts und die weitere Entwicklung über Philidor bis ins 19. Jahrhundert. Wer über die teils konzise Darstellung hinaus weiter reichende Kenntnisse erwerben will, muss auf andere schachhistorische Werke zurückgreifen. Indes gilt dies analog für das gesamte Buch.
Die nachfolgenden Unterkapitel widmen sich der Zeit ab 1851 (erstes Schachturnier der Neuzeit in London) bis zur Gegenwart und damit den klassischen Schachweltmeistern von Wilhelm Steinitz bis Magnus Carlsen. Nicht berücksichtigt werden die FIDE-Weltmeister aus der Zeit des Schismas 1993 bis 2005. Gelegentlich nimmt der Autor die Gelegenheit wahr, Ereignisse der Vergangenheit etwas näher ins Visier zu nehmen: Zum Beispiel bei Aljechin, der 1941 mit antisemitischen Schriften gegen jüdische Schachspieler agitiert hat, wobei er u.a. auch einen Emanuel Lasker verunglimpfte. Bei der Lektüre dieser Passage ist dem Rezensenten der frappierende „Sinneswandel“ aufgefallen, den Aljechin hier vollzogen hat. Denn letzterer hatte noch wenige Jahre zuvor (in Nottingham 1936) denselben Lasker mit Worten der Wertschätzung und aufrichtigen Bewunderung gewürdigt.3)

Leben und Denken des Schachspielers

Immense Bedeutung für die theoretische Vorbereitung: Der Schachcomputer bzw. die moderne Schachsoftware
Immense Bedeutung für Partieschach On-the-Board: Der Schachcomputer bzw. die moderne Schachsoftware

Der Autor zeigt zunächst auf, warum Schach als Sport einzustufen ist, bespricht die diversen Formate von Turnieren und Wettkämpfen sowie Bedenkzeitregelungen. Das hier vermittelte fundamentale Wissen mag teilweise etwas trocken erscheinen, ist aber gerade für Einsteiger sehr wertvoll, um in den Schachmedien das Geschehen im nationalen oder internationalen Schachzirkus verfolgen zu können. Die finanziellen Einkunftsmöglichkeiten, insbesondere für diejenigen, die nicht den Top 100 zugehören, wirken ernüchternd. Das Ranglistensystem auf Basis der Elo-Zahlen wird ebenso erläutert wie die durch Erfüllung von Normen erzielbaren Titel für Männer und Frauen.
Im Unterkapitel „Training und Wettkampf“ wird vor allem die immense Bedeutung hervorgehoben, die der Computer im Partieschach gewonnen hat: bei der Vorbereitung auf den Gegner, in der häuslichen Ausarbeitung von Eröffnungsneuerungen, bei der nachträglichen Analyse.4) Als Antidot für ein überhandnehmendes „Retortenschach“ wird das auf Bobby Fischer zurückgehende Schach960 vorgeschlagen.

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In „Die Gedanken eines Schachspielers: das Geheimnis von Spielstärke“ widmet sich der Autor vornehmlich den drei schachspezifischen Fähigkeiten des Spielers: Dem (Theorie-)Wissen, der Rechenfähigkeit am Brett und dem Schachgefühl, der intuitiven Einschätzung von nicht exakt berechenbaren Stellungen. Zur Entwicklung der Schachlehre, insbesondere des Positionsspiels, schlägt der Autor einen grossen Bogen von Steinitz bis zu den Vertretern der Moderne, d.h. John Watson, Jonathan Rowson und Willy Hendriks mit ihren schachliterarischen Bestsellern. Der Autor beendet diesen Abschnitt mit der Betrachtung von drei kritischen Stellungen aus der 5. WM-Partie 2008, Kramnik – Anand.
Die letzten Schwerpunkte des Kapitels, „Psychologie, Doping und Computerbetrug“ sowie „Genie“ und „Wahnsinn“, sollen gleichfalls nur kurz erwähnt sein. Bei letzterem ist so manche Darstellung klischeebehaftet bzw. entbehrt der sachlichen Grundlage. Dass Schachspieler auch ausserhalb ihrer eigenen Sphäre zu herausragenden Leistungen imstande sein können (entgegen einer pauschalen Aussage Einsteins), belegt der Autor an einigen Beispielen.

Schach in der Gesellschaft

Unter der Überschrift „Schach im Alltag und in der Wissenschaft“ bündelt der Autor vielfältige Themen, vom Schach in der Werbung über schachmathematische Probleme bis hin zu Schach in der Psychologie, Debatten über Talent und Lernen sowie dem Nutzen von Schach für die kindliche Entwicklung (Schach an Schulen). Ein eingestreuter ca. halbseitiger Exkurs zur heiligen Theresia von Ávila, einer mittelalterlichen Mystikerin, die posthum (1944) zur Schutzpatronin der Schachspieler avancierte, scheint dem Rezensenten im gegebenen Kontext allerdings entbehrlich.

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Bedeutsamer Roman-Erstling von Thomas Glavinic aus der Psycho-Welt des Schachspiels: „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“

In den Fokus des Autors rücken schliesslich „Lebensunfähige Genies und zynische Meisterdenker“, d.h. „Schach in Literatur, Film und Kunst“. Aus der Fülle der Schachbelletristik werden vier Werke selektiert und besprochen: Stefan Zweigs „Schachnovelle“, Vladimir Nabokovs „Lushins Verteidigung“, Thomas Glavinics „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“ sowie „Die Schachspieler von Buenos Aires“ von Ariel Magnus. – Schachszenen in Filmen gibt es unzählige, aber nur relativ wenige Filme, deren Handlung massgeblich vom Schach bestimmt wird – der Autor kann einige Beispiele benennen und kurz vorstellen. –
Im Abschnitt über bildende Kunst beleuchtet der Autor exemplarisch das „Reunion“-Projekt von Marcel Duchamp und John Cage, bei dem die Züge von Schachpartien in Musik transformiert werden. Vielleicht wäre hier noch die japanische Fluxus-Künstlerin Takako Saito eine Erwähnung wert gewesen, die sich in der Nachfolge von Duchamp wie kein(e) andere(r) um die Verbindung von Schach und Kunst („Fluxchess“) bemüht und verdient gemacht hat.5)

Schach und die Gender-Frage

Mit „Ein brisantes Thema: Schach und Geschlechterbeziehungen“ hat sich der Autor einem in der sonstigen Schachliteratur wenig bedachten Sujet angenommen, das in den Online-Medien immer wieder auftaucht und oft heftig disputiert wird, ohne dass ein übergreifender Konsens in Reichweite scheint.
Die „Drosophila der Künstlichen Intelligenz“: „Computerschach vom ‚Schachtürken‘ bis zu AlphaZero“ gibt hiernach einen Überblick über die Entwicklung des Computerschachs von der Geschichte über den „getürkten“ Schachautomaten des Baron von Kempelen im 18. Jh. bis zum aufsehenerregenden jüngsten Produkt der technischen Entwicklung, dem selbstlernenden Programm AlphaZero bzw. dessen Open-Source-Variante „Leela“. Es ist noch nicht abzusehen, welche futuristischen Möglichkeiten der technischen Anwendung sich hieraus auch auf ausserschachlichen Feldern ergeben könnten.

Informativer Überblick

Insgesamt hat der Autor sein Anliegen, den Mikrokosmos des Schachs mit seinen vielfältigen Aspekten und Verknüpfungen zu anderen (kulturellen, gesellschaftlichen) Bereichen im Taschenbuchformat zu präsentieren, routiniert und sachkundig umgesetzt. Aus nicht allzu ferner Zeit fällt vor allem ein weiteres Buch mit vergleichbarer Zielsetzung – indes höherem Anspruch – ins Auge: Michael Ehn, Hugo Kastner: „Alles über Schach“ (Hannover 2010), das aber aufgrund der unterschiedlichen Aufmachung (Format, Umfang, reichhaltige u. teils farbige Bebilderung) keinen echten Vergleich zulässt. Ähnliches gilt für das bereits 35 Jahre alte SCHACH – Spiel Sport Wissenschaft Kunst (hrsg. von Helmut Pfleger/Horst Metzing, Hamburg 1984), das natürlich in verschiedenen Teilen nicht mehr aktuell sein kann.

Sorgfältige Recherche

FAZIT: Insbesondere für Einsteiger und Amateure erscheint „Schach – Die Welt auf 64 Feldern“ von Christian Mann durchweg sehr nützlich und wertvoll, und es bietet so manchen Blick über den Tellerrand in weniger alltägliche Gefilde des Schach-Kosmos. Einzelne mehr oder weniger bedeutsame Lücken können vielleicht in einer späteren Auflage gestopft werden. Insgesamt erhält der Käufer einen gehaltvollen und instruktiven Überblick über die Welt des Schachs zum kleinen Preis, so dass ich dieses Bändchen gerne weiterempfehle.

Die Fülle des Stoffs im vorliegenden Buch wurde vom Autor – soweit für den Rezensenten erkennbar – sorgfältig recherchiert und aufbereitet. Schwerpunktsetzung oder Gewichtung von Themen/Details sind der unvermeidbar subjektiven Wahl des Autors geschuldet, ich vermute, die Mehrzahl der Leser wird sich mit der getroffenen Auslese anfreunden können. Ein ernster Wermutstropfen bleibt die sehr spärliche Berücksichtigung des Kunstschachs. Ein wenig unterrepräsentiert ist auch das Gebiet der Schach-Varianten, wo lediglich das Schach960 angesprochen wird. Hier besteht bisweilen eine Überlappung mit dem Märchenschach (z.B. beim Räuberschach = Schlagschach).

Angenehmer Lesefluss

In Stil und Diktion ist das Buch ausgewogen und gut verständlich, so dass ein angenehmer Lesefluss resultiert. Von den 22 Abbildungen des Buchs entfallen 19 auf Schachdiagramme, hier hätte man die Attraktivität durch Aufnahme weiterer Illustrationen/Fotos noch etwas steigern können. Sachliche Fehler sind mir nicht aufgefallen, eine kleine Unstimmigkeit auf S. 67 bezüglich der Abb. 4 + 5 („linke/rechte Stellung“ statt richtig „obere/untere …“) ist kaum der Rede wert.
Das Verzeichnis „Literatur und Webseiten“ (mit kurz kommentierten Literaturangaben) scheint mir etwas knapp bemessen und in der Auswahl nicht immer optimal. Vereinzelt könnte die genannte Literatur etwas aktueller sein, wie im Fall des schachhistorischen Werks von Joachim Petzold.
Im Buch unerwähnt bleiben andersartige Aktivitäten von Schachfreunden, die sich abseits des Kampfs am Brett abspielen und nicht immer meisterliche Spielstärke voraussetzen:
– Tätigkeit als Schachhistoriker, ferner als Autor von Büchern/Artikeln/Beiträgen (auch im Web);
– Sammler von (bibliophiler) Schachliteratur; von Schachfiguren/-sets; von Schach-Memorabilien oder Schachmotiv-Sammler, die alle in diversen (teils internationalen) Vereinen organisiert sind. ♦

Christian Mann: Schach – Die Welt auf 64 Feldern, 128 Seiten, C.H. Beck Verlag, ISBN 978 3 406 73970 5


1) Als eine empfehlenswerte Einführung in das Gebiet sei das Buch von Michael Ehn u. Hugo Kastner: Schachkompositionen (Hannover 2013) genannt, das alle Kategorien des Problemschachs einbezieht. Weitere Literatur für Einsteiger wurde in den einschlägigen Artikeln von Bernd Gräfrath (Schach 10/2018, S. 66-70) und Thomas Brand (Schach 12/2018, S. 66-70) besprochen.

2) Der letzte Stand der Urschachforschung ist zusammengefasst in Jean-Louis Cazaux and Rick Knowlton: A World of Chess – Its development and variations through centuries and civilizations. McFarland, Jefferson 2017

3) So schrieb Aljechin in seiner Turnierrückschau (Manchester Guardian, 29.08.1936): „Ich finde es fast unmöglich, Lasker zu kritisieren, derart ist meine Bewunderung für ihn, gleichermassen als Persönlichkeit, Künstler und treuer Anhänger des Schachs. Ich kann nur eins sagen, Lasker mit 67 ist immer noch Lasker, vielleicht nicht als praktischer Spieler, aber gewiss als Führer der Schachwelt, mit seiner ausgesprochen jugendlichen Energie, seinem Kampfgeist und der unvergleichlichen Tiefe seiner Auffassung der Probleme auf dem Brett. Sein Beispiel ist gleichsam ein Beispiel für unsere eigene Zeit wie für die Schachspieler kommender Generationen.“ [Zitiert nach Forster/Hansen/Negele, Emanuel Lasker – Denker Weltenbürger Schachweltmeister. Berlin 2009, S. 49] – Eine aktualisierte Zusammenfassung der ganzen Affäre bietet z.B. Edward Winter mit seinem Feature article Was Alekhine a Nazi?

4) Übrigens hat der Computer auch im Problemschach erhebliche Relevanz erlangt, einmal zur Korrektheitsprüfung beim Komponieren (mit Hilfe spezieller Löseprogramme), andererseits um in riesigen Problemdatenbanken eventuelle Vorgänger von Aufgaben aufzuspüren. Mehr hierzu ist in dem jüngst erschienenen Buch von Wolfgang Dittmann (†): Der Flug der Schwalbe – Geschichte einer Problemschach-Vereinigung (Zweite Aufl. aktualisiert und ergänzt von Thomas Brand und Hans Gruber, München 2018) nachzulesen.

5) Die inzwischen 90-jährige Künstlerin, die in Düsseldorf lebt, ist immer noch künstlerisch aktiv. Literatur (Ausstellungskatalog): Takako Saito: Dreams To Do. Snoeck, Köln 2018.

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach-Geschichte auch über Gerhard Josten: Auf der SeidenStrasse zur Quelle des Schachs

… sowie zum Thema Schach-Psychologie über Marion Bönsch-Kauke: Klüger durch Schach

Rainer Schlenker: Randspringer – Quixotische Schacheröffnungen

Willkommen im Abenteuerland

von Mario Ziegler

Der „Randspringer“ ist ein Geheimtipp, zumindest für die „ältere Generation“ der Schachliebhaber. In den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts veröffentlichte der Tübinger Zweitbundesliga-Spieler Rainer Schlenker mehr als 70 Ausgaben einer Zeitschrift, die einen so ganz anderen Ansatz verfolgte als alle anderen Magazine: Bevölkert von exotischen, teilweise abstrus wirkenden Eröffnungen und Varianten mit malerischen Namen strotzte der „Randspringer“ vor Originalität, Kreativität, auch Provokation: „Kann man wirklich so etwas spielen?“ Nicht zufällig trug er damals den Untertitel: Das Magazin nicht für jeden Schachfreund, und wenig überraschend erwarb er sich eine treue Leserschaft.

Der Randspringer - Verlag Schachtherapeut - Cover - Reiner Schlenker - Rezension Glarean MagazinNach einer langen Pause erschien nun im Verlag Der Schachtherapeut des rheinland-pfälzischen Schach-Autors und -Herausgebers Manfred Herbold ein Revival des „Randspringers“. Ist das Konzept auch im neuen Jahrtausend noch tragfähig?
Der erste Unterschied zur früheren Publikation fällt sofort ins Auge: Das übersichtliche Layout des Softcover-Werkes im Format A5 hat absolut nichts mehr mit dem früheren „Randspringer“ zu tun, dessen einzelne Beiträge mehr oder weniger inhomogen auf einer Schreibmaschine zusammengetippt wurden.
Der bekannte Karikaturist Frank Stiefel, der bereits zahlreiche Schachbücher mit seinen Zeichnungen bereichert hat, leitet jedes Kapitel mit einer Grafik ein. Sofern man kein eingefleischter Anhänger des „anarchischen“ Layouts des früheren „Randspringers“ ist, wird man diese optischen Veränderungen wohlwollend zur Kenntnis nehmen. Doch wie sieht das Innenleben aus?

Rainer Schlenker - Randspringer 1987 - Glarean Magazin
Zwei Beispielspielseiten aus dem legendären alten „Randspringer“: Heft 3 (1987)

Von Eselsohren und Ochsenfröschen

Im Vorwort beschreibt Herausgeber Herbold, dass Schlenker, mit dem er seit Jahren befreundet ist, ihm seine Skripte und Partien zur Veröffentlichung zukommen liess. Diese beinhalten nun genau solche Spielanfänge, die man lieben muss, wenn man am „Randspringer“ Gefallen finden will: „So wie früher Stabsaugervertreter gutgläubigen Hausfrauen minderwertige Sauggeräte im Tausch (natürlich mit gehörigem Aufpreis) gegen ihre eigentlich einwandfreien ‚Altgeräte‘ andrehten, so bietet Schlenker allerlei gemeine Tricks für den Naturspieler, dem es nicht ums Schach geht, sondern darum, den Gegner – gerne auch mit unerlaubten Griffen – von der Matte bzw. hier vom Brett zu werfen. Im Nu werden nämlich mit den angegebenen Varianten den Schachästheten die harmonischen Stellungen in unübersichtliche Figurenklumpen verwandelt.“ (André Schulz in einer Rezension des Werkes „Bastard-Indisch“ von Schlenker im März 2009).

Die Schacheröffnung Eselsohr-Verteidigung - Glarean Magazin
Quixotische Schacheröffnung à la Schlenker: Die „Eselsohr-Verteidigung“ (1.e4 h6)

Wir finden auch anno 2019 Spezialvarianten im Königsgambit, Skandinavisch oder Caro-Kann oder gleich Freistil-Eröffnungen wie die „USA-Eröffnung“ (1.e4 e5 2.Dh5 mit der Absicht, nach 3.Lc4 das berühmte Schäfermatt folgen zu lassen), die „Unserdeutsche Verteidigung“ (1.e4 g5 2.d4 d5) oder die überschriftgebenden „Eselsohr-Verteidigung“ (1.e4 h6) und „Ochsenfrosch-Gambit“ (1.Sc3 b5 – wie uns der Autor auf S. 98 belehrt, handelt es sich hierbei strenggenommen um das „West-Indische Ochsenfroschgambit“ im Gegensatz zu 1.Sf3 g5). Die Reihenfolge der Kapitel bzw. Varianten im Buch folgt übrigens keiner ersichtlichen Logik.

Amüsante Wege abseits der Theorie

Üblicherweise beginnt Schlenker einen Abschnitt mit einem kurzen einleitenden Text, gefolgt von einigen Beispielpartien, oft von ihm selbst gegen lokale Baden-Württembergische Schachspieler. Dass es sich sozusagen ausnahmslos um freie Partien in Cafés in Tübingen, Schwenningen, Donaueschingen handelt, erhöht nicht unbedingt das theoretische Gewicht dieser Partien. Aber geht es in diesem Buch wirklich um das „theoretisches Gewicht“ oder um „objektiven Wert“ von Varianten? Natürlich nicht! Schlenker zeigt dem staunenden Leser zahllose Wege abseits der „offiziellen Theorie“. Und in Zeiten, in denen ein Nakamura sogar in einer Turnierpartie gegen einen renommierten Grossmeister wie Sasikiran (Malmö/Kopenhagen 2005) und ein Carlsen bei einer Schnellschach-Weltmeisterschaft (gegen Vokhidov, St. Petersburg 2018) mit 1.e4 e5 2.Dh5 eröffnen können, verwischen sich die Grenzen zwischen den Welten immer mehr.

Mittelgegengambit unter der Lupe

Die Kernfrage eines Buches über Eröffnungsvarianten ist aber natürlich dennoch, wie stichhaltig die Analysen sind. Zu diesem Punkt führt Stiefel aus: „Schlenker hat seine Analysen ohne Computerhilfe angefertigt, doch nur wenige seiner Ideen waren schwer oder nicht haltbar. Natürlich wurden seine Manuskripte nochmals auf Computerbasis überprüft, die grundlegenden Ideen sind jedoch allesamt erhalten geblieben“. Das klingt vielversprechend: Sollten die exotischen Varianten, mit denen man vor 30 Jahren ratlose Kontrahenten überraschen konnte, auch im 21. Jahrhundert gegen computerbewehrte Gegnerschaft tragfähig sein?

Mittelgegengambit oder Elefantengambit oder Paulsengambit - Glarean Magazin
1.e4 e5 2.Sf3 d5 – Mittelgegengambit oder Elefantengambit oder Paulsengambit?

Ich habe mir exemplarisch das 14. Kapitel vorgenommen, da ich die dort besprochene Variante 1.e4 e5 2.Sf3 d5 vor langen Jahren selbst spielte. Schlenker führt aus, dass die verbreitete Bezeichnung „Elefantengambit“ missverständlich ist, da sie auch für 1.e4 f5 benutzt wird. Er bevorzugt die Bezeichnung „Mittelgegengambit“ in Anlehnung an die Zugfolge 1.e4 e5 2.d4 exd4 3.Dxd4 Sc6 4.De3, das „Mittelgambit“. Nur am Rande sei erwähnt, dass ich persönlich auch diese Bezeichnung für unglücklich halte, da Gambits nun einmal Bauernopfer beinhalten, und in der genannten Zugfolge weiss keinen Bauern opfert. (In meiner Monographie zu dieser Stellung aus dem Jahre 2010 versuchte ich die Bezeichnung „Paulsen-Eröffnung“ (nach dem deutschen Meisterspieler Wilfried Paulsen, der sie oft benutzte) zu etablieren.

Beispielpartie à la Schlenker

Kapitel 14 bietet vier Partien zu der Variante: drei davon wurden von Schlenker gespielt, eine ist eine Simultanpartie des damaligen Weltmeisters Emanuel Lasker aus dem Jahre 1900. In allen Partien spielte Schwarz nach 1.e4 e5 2.Sf3 d5 3.exd5 den sofortigen Vorstoss 3… e4. Schlenker informiert den Leser darüber, dass 3…Ld6 heute „modern“ ist, da nach 3… e4 4.De2 als stärkste Antwort gelte. Etwas unlogisch erscheint es, dass ausgerechnet dieser Damenzug in keiner der Beispielpartien auftaucht, statt dessen aber 4.Sd4 und 4.Sg1. Ebenfalls nicht berücksichtigt wird 4.Se5, was laut Online-Datenbank von ChessBase nach 4.De2 und 4.Sd4 und noch vor dem etwas sonderbar aussehenden 4.Sg1 der dritthäufigste Zug an dieser Stelle ist.

Der Kommentar zum Kommentar

Walter Eigenmann: 100 brillante Schachzüge - Geniale Kombinationen, verblüffende Strategien
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Hier nun eine der Partien mit 4.Sd4 mit den Originalanmerkungen Schlenkers (durch Anführungszeichen kenntlich gemacht) und meinen Ergänzungen, für die ich selbstverständlich die Hilfe einer Engine (konkret: mit Houdini, der aktuellen Nummer Drei der Schachprogramme hinter Leela und Stockfish) in Anspruch genommen habe:
(Mausklicks in die Partiezüge bzw. -varianten öffnen Analysebretter und den Download als PGN-Datei)

Offenkundig sind die Anmerkungen Schlenkers im grossen und Ganzen zutreffend, könnten aber im Detail wesentlich genauer ausfallen.

Mutiges Freistilschach oder halbgares Gezocke?

Amüsantes Schach-Feuilleton und Motivation zum Eröffnungsexperiment: Beispielseite aus dem neuen Revival 2019 des legendären "Randspringer" (mit Karikaturen von Frank Steifel)
Amüsantes Schach-Feuilleton und Motivation zum Eröffnungsexperiment: Beispielseite aus dem neuen Revival 2019 des legendären „Randspringer“ von Rainer Schlenker (mit humorvollen Karikaturen von Frank „Fränk“ Stiefel)

Am „Randspringer“ werden sich auch 2019 die Geister scheiden: Kreatives Freistilschach mit Mut zum Risiko oder halbgares Gezocke? Das muss wohl jeder für sich selbst entscheiden. Klar ist, was das Buch nicht ist: Es ist keine theoretische Abhandlung, dazu weisen die einzelnen Kapitel viel zu viele Lücken selbst an wichtigen Stellen auf. Aber das will der „Randspringer“ auch gar nicht sein.

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Wie in seinen besten Zeiten bietet er „eine Fülle von originellen Ideen für das Eröffnungsspiel, besonders für die Partien in der eigenen Schachkarriere, in denen nicht ein Remis zum Turniersieg reicht“ (so A. Schulz in der bereits zitierten Rezension aus dem Jahr 2009). Er stellt somit eine Quelle der Inspiration dar und zeigt nachdrücklich, was im Schach alles möglich ist, wenn man bereit ist, ausgetretene Pfade zu verlassen.
Wie ein Motto klingt der Songtext der Band PUR, den Herbold in seinem Vorwort zitiert:
„Komm mit mir ins Abenteuerland / Auf deine eigene Reise / Komm mit mir ins Abenteuerland / Der Eintritt kostet den Verstand / Komm mit mir ins Abenteuerland / Und tu’s auf deine Weise / Deine Phantasie schenkt dir ein Land / Das Abenteuerland“ ♦

Rainer Schlenker: Randspringer – Quixotische Schacheröffnungen (Teil 1), 148 Seiten, Verlag Der Schachtherapeut, ISBN 978-3947648153

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach-Feuilleton & Schachtherapeut auch über
Manfred Herbold: Der Schachtherapeut 2 (Reloaded)

… sowie zum Thema Schacheröffnungen über
Ivan Sokolov: Gewinnen in d4-Bauernstrukturen

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