Bereits in seinem dritten Jahrgang angekommen ist das 2016 gegründete, inhaltlich wie bibliographisch ambitiöse Schach-Print-Projekt „Caissa“. (Lesen Sie hier auch den Bericht des Glarean Magazins zum Start dieser neuen „Zeitschrift für Schach- und Brettspielgeschichte“).
Das aktuelle Heft 1 des Jahres 2018 wartet wie sein Vorgänger wiederum mit einer Fülle exquisiter Inhalte auf, die insbesondere die historisch und wissenschaftlich interessierten Leser unter den Schachfreunden ansprechen dürften.
Spielkultur inmitten der Barbarei
Grossen Raum nimmt diesmal der zweite Teil eines Reports „Schach im KL Buchenwald“ von Siegfried Schönle ein. Dieses deutsche Vernichtungslager der Nazis hat schrecklichste Kapitel der jüngeren Menschheitsgeschichte geschrieben – aber dass in all dem minutiös geplanten und systematisch vorangetriebenen Massenmord-Horror noch so etwas wie eine Schachkultur mit geheimen Privat-Turnieren, Schachbibliotheken und versteckten Korrespondenz-Partien entstehen konnte, grenzt ans Wunderbare.
Schach und Kunst inmitten des deutschen Konzentrationslager-Horrors: Das Musikstück „Hymne der Schachspieler in Buchenwald“, ein vierstimmiges Männerchor-Lied (Quelle: „Caissa“ 1/2018)
Jedenfalls wird in dem 32-seitigen, mit umfangreichem Anmerkungsapparat und Details-Anhang dokumentierten Artikel u.a. berichtet, dass das Schach immer wieder für tröstende Ablenkung bei den KL-Häftlingen gesorgt habe. Sogar eine „Hymne der Schachspieler in Buchenwald“ – ein vierstimmiges Männerchor-Lied – förderte die Nachkriegsforschung zutage, wie „Caissa“ zu berichten weiss.
Vielseitige schachhistorische Inhalte
„Dr. B. in Isolationshaft“: Gemälde von Elke Rehder in der Berliner Stefan-Zweig-Kunstausstellung „Die Schachnovelle“
Weitere Fokus-Artikel in „Caissa“ zum Thema Schachgeschichte sind diesmal u.a. das Wiener Duell zwischen Steinitz und Harrwitz (Peter Anderberg), Becketts Roman „Murphy“ und die „schachspielenden Schimpansen“ (Reinhard Krüger), der Kongress der „British Chess Association London“ von 1866 (Robert Hübner) sowie „Der Rösselsprung – Ein bunter Hund der Kulturgeschichte“ (Maria Schetelich). Erwähnenswert ist schliesslich noch der Beitrag von Raymund Stolze zum 75. Jubiläum der berühmten „Schachnovelle“ von Stefan Zweig, woran eine Kunst-Ausstellung in der Berliner Anna-Ditzen-Bibliothek erinnert mit Bildern der Hamburger Malerin, Graphikerin und Büchkünstlerin Elke Rehder. ♦
Entgegen der landläufigen Meinung gehört das spekulative Spiel zum Wesenskern des Schachs. Schliesslich kommt bereits der Ausgangsstellung ein spieltheoretischer Wert (also 1–0,½–½ oder 0–1) zu, der sich unweigerlich einstellen würde, wenn beide Seiten stets der (glücklicherweise niemandem bekannten) Linie perfekten Spiels folgten. Sollte etwa die Grundposition für eine der Parteien gewonnen sein, so bleibt zumindest der anderen Partei gar nichts anderes übrig, als auf spekulatives Spiel zu setzen… Die folgende kleine Philosophie „Too clever is dumb“ geht ein paar (computer-)schachlichen und kulturellen Implikationen des Schwindelns nach.
In einer frühen Computerschachpartie zwischen dem amerikanischen Programm Duchess und seinem berühmten sowjetrussischen Rivalen Kaissa, die auf der Second World Computer Chess Championship 1977 in Toronto aufeinander trafen, trug sich Unerwartetes zu, das die Programmierteams und das Fachpublikum gleichermassen elektrisierte:
Duchess-Caissa – Toronto 1977 – Schwarz am Zug
In dieser Stellung spielte Kaissa den Zug 34… Te8 und stellte damit seinen Turm en prise, anstelle mit dem nahe liegenden und von jedermann antizipierten 34…Kg7 zu antworten. Ein Programmierfehler? Ein Übermittlungsfehler? Oder doch eine grundlegende konzeptionelle Schwäche des noch experimentellen Schachalgorithmus? Zunächst konnte sich keiner der anwesenden Experten, zu denen immerhin Michael Botwinnik, Eduard Lasker und Hans Berliner gehörten, diesen vermeintlichen Missgriff erklären. Mit einem Minusturm kämpfte Kaissa in aussichtsloser Lage noch 14 Züge weiter, um sich schliesslich geschlagen zu geben.
Der vermeintliche Patzer
Erst die Post-Mortem-Analyse brachte ans Licht, dass Kaissa mit 34…Te8 nicht wirklich falsch, ja sogar in formalem Sinne goldrichtig lag. Nachdem dessen Entwickler zunächst noch geraume Zeit nach einer technischen Ursache des vermeintlichen Patzers fahndeten, kam schliesslich jemand auf die Idee, in der kritischen Stellung einfach einmal die nahe liegende Entgegnung 34…Kg7 zu spielen und Kaissa nach der besten weissen Fortsetzung zu befragen. Und siehe da: Nach kurzem Nachdenken brachte das Programm das herrliche Damenopfer 35.Df8+!! und kündigte ein Matt in 5 Zügen an: 35…Kxf8 36. Lh6+ Lg7 37. Tc8+ Dd8 38. Txd8+ Te8 39. Txe8#.
Aus technischer Sicht funktionierte Kaissa also bestens: Mit dem Turmopfer 34…Te8 verschaffte es der weissen Dame die Kontrolle über das Feld f8 und wendete somit das Matt vorerst ab. Das Programm tat genau das, was von ihm zu erwarten war – dies sogar so gut, dass es selbst den Schachexperten zunächst entging.
Dennoch bleibt ein schaler Beigeschmack, der uns davon Abstand nehmen lässt, den Zug 34…Te8 mit einem Ausrufezeichen zu versehen. Vermutlich hätten es die meisten starken Schachspieler dennoch mit der unter Anlegung technischer Massstäbe inkorrekten Fortsetzung 34…Kg7!? versucht – dies selbst dann, wenn sie selbst bereits die versteckt in der Stellung liegende Ressource gesehen haben, denn es besteht die berechtigte Hoffnung, dass der Gegner das Matt nicht sieht und eine andere Fortsetzung als 35.Df8+ wählt. Mit anderen Worten: Die Stellung bietet die perfekte Gelegenheit zu einem Erfolg versprechenden Schwindelversuch bzw. – etwas gewählter ausgedrückt – zu spekulativem Spiel. Denn viel ist hier wirklich nicht zu verlieren, da die nach 34…Te8 entstehende Stellung ja ebenfalls bereits aufgabereif ist. Und letztendlich spielt es keine Rolle, ob wir nach 35 oder 48 Zügen kapitulieren müssen.
Dem Computerschachexperten Peter Jansen (1990) folgend, mag man in Bezug auf spekulatives Spiel noch feiner unterscheiden zwischen Schwindeln (Konfrontation des Gegners mit einer Stellung, in der der beste Zug nicht nahe liegend ist) und dem Stellen einer Falle (Konfrontation des Gegners mit einer Stellung, in der der nahe liegende Zug nicht der beste ist). Das konstitutive Merkmal spekulativen Spiels ist es, dass wir im Allgemeinen einen gewissen Einsatz leisten, indem wir von der Linie des optimalen Spiels abweichen, um eine Stellung herbeizuführen, in der wir darauf spekulieren, dass der Gegner fehlgreift und wir letztendlich doch profitieren.
Die Moral von der Geschicht’ ist bemerkenswert: Im Schach gilt, dass man sich bisweilen um Chancen bringt, wenn man von seinem Mehrwissen unreflektiert Gebrauch macht. Wie das Beispiel gezeigt hat, sollte man in bestimmten Situationen auch den Wahrnehmungshorizont der Gegenseite beachten, um seine Erfolgsaussichten zu maximieren. Die Devise lautet: Kenne Deinen Gegner! Natürlich sind stets auch die Rahmenbedingungen zu beachten. Die Erfolgsaussichten spekulativen Spiels sind umso höher, je schwächer die Spielstärke des Gegners ist, je weniger Restzeit sich noch auf dessen Uhr befindet und – insofern wir gegen einen Menschen spielen – je länger die Partie bereits andauert. Ferner: Stehen wir ohnehin bereits auf Verlust? Müssen wir unbedingt gewinnen oder wenigstens remisieren? Selbst Schachmotoren der Spitzenklasse sind derlei Abwägungen fremd: In der obigen Partie die schwarzen Steine führend, sehen sie die Ressource 35.Df8+ in Millisekunden und verschwenden deshalb keine weitere Suchzeit an die unter der Massgabe beiderseitig optimalen Spiels unsinnige Fortsetzung 34…Kg7.
Maximierung der Gesamtausbeute
Wir befinden uns also in einer paradoxen Situation: Der prinzipiell segensreiche Zustand der relativen Erleuchtung erlegt uns die zusätzliche Bürde auf, sorgfältig abzuwägen, wie wir von unserem Wissensvorsprung situationsabhängig am besten Gebrauch machen, um den Gesamterfolg nicht unnötig zu schmälern. Nota bene: Insofern dieser Wissensvorsprung existiert – denn falls unser Gegner ebenfalls den Durchblick hat, können wir uns das Spekulieren natürlich ersparen. Positiv gewendet: Je genauer wir wissen, wer unser Gegenüber ist und wie sich die Gesamtsituation darstellt, desto höher natürlich auch unsere Erfolgsaussichten, passgenaue Gelegenheiten zu spekulativem Spiel zu finden, um so die erwartete Gesamtausbeute zu maximieren.
Algorithmisches Schwindeln
Was heisst dies nun für das Computerschach? Die elementare Lektion ist die, dass wir mit formell optimalem Spiel, wie es in den Standardalgorithmen des Computerschachs angelegt ist, womöglich nicht das optimale Ergebnis erzielen. Zwar gewinnt man bisweilen den Eindruck, als beherrschten Schachmotoren bereits die Technik des Schwindelns.
So spielte etwa in der folgenden Stellung (aus einer Partie der Turnierserie CCRL 40/40 – 2015)
das Programm Fischerle 57…Txg4 anstelle des näher liegenden 57…Kf6xg6, um nach 58.h5? vermöge 58…Txg5! 59.fxg5 Kxg5 ½–½ in ein Remis (Randbauer und Läufer der falschen Farbe) abzuwickeln. Jedoch handelt es sich bei 57…Txg4 nicht um einen Schwindelversuch im engeren Sinne, da Fischerle diesen Zug nur deshalb spielt, weil er in der Ausgangsstellung die Gefahr, die von den drei verbundenen Freibauern ausgeht, bereits als zentral einschätzt. Tatsächlich rechnete das Programm hier mit dem Läuferrückzug 58.Lb1, d. h. es setzte nicht gezielt auf den Fehlgriff 58.h5? des Gegners, wie es bei echtem spekulativem Spiel der Fall gewesen wäre. Und bei dem anschliessenden 58…Txg5! handelt es sich schlichtweg um die Wahrnehmung einer elementaren Endspielressource.
Vermutete Schwächen des Gegners bewirtschaften
Per definitionem ist spekulatives Spiel im engeren Sinne somit dadurch gekennzeichnet, dass man bewusst von der Linie optimalen Spiels abweicht (also einen Einsatz leistet), jedoch darauf hofft, dass der Gegner die widerlegende optimale Fortsetzung nicht findet und insgesamt draufzahlt. Wir unternehmen hierbei den Versuch, bekannte oder vermutete Schwächen des spezifischen Gegners zu bewirtschaften. Das entsprechende Wissen, auf das wir uns stützen, kann generischer (die gesamte Gegnerklasse betreffende) oder spezifischer (den einzelnen Opponenten betreffende) Natur sein. Eine Schachengine könnte etwa in Matches gegen Menschen dynamische, ausgeprägt taktische Stellungen mit vielen nicht stillen Zugmöglichkeiten anstreben; in umgekehrter Richtung entspricht dem die bekannte Strategie menschlichen Anti-Computer-Schachs, wo geschlossene, positionelle Systeme bevorzugt werden, in denen die Fähigkeit zur längerfristigen Planung erfolgskritisch ist.
Spekulatives Spiel gegen Schachmotoren
Auch gegen die Klasse der maschinellen Gegner gehört also spekulatives Spiel zum kleinen Einmaleins. Weiters kann hier auf opponentenspezifisches Wissen zurückgegriffen werden. Zwar basieren die heutigen Spitzenengines auf einer Menge gemeinsamer Kerntechniken der effizienten Spielbaumsuche, die diese in jedem Falle zu taktischen Riesen machen. Andererseits unterscheiden sich die Schachmotoren noch immer hinsichtlich der individuellen Suchhorizonte, die in spezifischen Positionen erreicht werden: Welche Varianten werden besonders tief untersucht? Welche Varianten werden nur mit eingeschränkter Suchtiefe betrachtet? Technisch ausgedrückt: Es kommen unterschiedliche Kombinationen von Sucherweiterungen und Suchreduktionen zum Einsatz. Mischung und Feinabstimmung dieser Techniken der variablen Suchtiefe bestimmen nun entscheidend den Spielstil und somit mittelbar die spezifischen Stärken und Schwächen eines Programms.
Die Konsequenz hieraus ist, dass auch in Matches zwischen Schachengines prinzipiell Chancen bestehen, per Rückgriff auf entsprechendes Detailwissen über das spezifische gegnerische Programm in Erfolg versprechender Weise spekulatives Spiel zu betreiben. Betrachten wir hierzu folgende Stellung (Position #213, Sammlung Win at Chess, Fred Reinfeld) mit Weiss am Zug:
Fred Reinfeld – Win at Chess – Position 213
Diese Position verkörpert ein zentrales Beispiel aus einer wissenschaftlichen Publikation zu Deep Thought, dem Vorgänger des Systems Deep Blue. Ausgestattet mit einer nach damaligen Massstäben einzigartigen Sucherweiterungstechnik namens Singular Extensions gelang es diesem System bereits 1989, das tief in der Stellung verborgene Matt in 18 Zügen1) (beginnend mit dem Turmopfer 1.Txh7!!) in 65 Sekunden zu finden. Insofern unser Schachmotor über diese aufwändige und heute nur von wenigen Programmen implementierte Strategie verfügen sollte, wird er diese siegreiche Zugfolge in wenigen Sekunden finden.
Qualität des Wissens über den Gegner entscheidet
New York 1989: Human-Weltmeister Garry Kasparov spielt gegen Computer-Weltmeister Deep Thought. Das Programm spielte mit der Sucherweiterungstechnik „Singular Extensions“
Stellen wir uns nun andererseits vor, dass wir in einer hypothetischen Vorgängerstellung mit der schwarzen Dame auf b3 und einem weissem Springer auf b1 die schwarzen Steine führen. Die Singular Extensions ermöglichen es uns, recht rasch zu sehen, dass Weiss nach 0…Dxb1 über die genannte Gewinnkombination verfügt. Ausgestattet mit dem Wissen, dass unser Gegner über keine vergleichbare Technik verfügt, könnten wir jedoch darauf setzen, dass Weiss das Matt nicht sehen wird, und spekulativ 0…Dxb1 spielen. (Dieses Beispiel ist zugegebenermassen etwas künstlich, denn Schwarz stünde hier auch nach dem nichtspekulativen 0…Td7 exzellent. Zudem kann sich Weiss in der Diagrammstellung beginnend mit 1.Txh7! auch in ein relativ leicht zu sehendes Dauerschach retten.)
Entscheidend ist nun also die Qualität unseres Wissens über den jeweiligen Gegner: Je genauer wir dessen blinde Flecken kennen, desto eher wird es uns gelingen, ihn passgenau zu beschwindeln. Und genau an dieser Stelle wird es aus technischer Sicht interessant: Es stellen sich neue Herausforderungen jenseits einer weiteren Detailoptimierung der üblichen, bereits hochperformanten Schachalgorithmen.
Möglichkeiten und Grenzen algorithmischen Schwindelns
Der chinesische Philosoph und General Sunzi (5. Jh. v. Chr.): „Du musst deinen Feind kennen, um ihn besiegen zu können“
In der Wissenschaft der Spieltheorie ist das Bewusstsein für die oben herausgearbeiteten Feinheiten natürlich längst gegeben. Bereits seit Jahrzehnten beschäftigen sich volkswirtschaftliche Forschung und auch die mit der Beratung und Ausbildung hochrangiger politischer und militärischer Entscheidungsträger betrauten Institutionen mit derlei Problemen. Die Quintessenz war bereits den alten Chinesen bekannt: „Du musst deinen Feind kennen, um ihn besiegen zu können“, so schrieb bereits um 500 vor Christus der chinesische General und Philosoph Sunzi in seinem Klassiker der Militärstrategie „Die Kunst des Krieges“. Jedoch erweist es sich als gar nicht so einfach, diese grundlegende Erkenntnis in ein formales mathematisches Modell zu giessen, das sich Erfolg versprechend in der Schachprogrammierung operationalisieren lässt. Die meisten Schachprogramme begnügen sich deshalb mit der klassischen symmetrischen, also auf beiderseitig optimales Spiel ausgerichteten Spielbaumsuche.
Der Schwindel-Modus der Schach-Engines
Einer der berühmtesten „Schwindler“ und Bluffer der Schach-Geschichte war der amerikanische Spitzenspieler Frank Marshall, der oft in seinen Partien höchst gewagte Opfer anbrachte, die seine Gegnerschaft verwirrten und dann fehlgreifen liessen…
Einige Top-Engines können in einem Schwindelmodus betrieben werden. Oftmals heisst dies jedoch lediglich, dass das Programm auch dann noch auf Sieg bzw. Remis spielt, wenn ein elementares Endspiel vorliegt, das laut Datenbank bei beiderseitig optimalem Spiel eigentlich remis bzw. verloren ist. Spekulation ist hier etwa dahingehend möglich, dass wir diejenige Fortsetzung wählen, unter der der Gegner bei perfektem Spiel die meisten Züge brauchen wird, um den Gewinn zu realisieren. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass wir solche Fortsetzungen wählen, in denen der Gegner sehr präzise spielen muss – etwa indem wir Stellungen anstreben, in denen dem Gegner möglichst wenige korrekte, den Sieg bzw. das Remis wahrende Züge zur Verfügung stehen und deshalb die Gefahr eines Fehlgriffs (vermutlich) hoch ist; insofern wir hierbei etwa vom längstmöglichen Weg zum Verlust abweichten – also einen Einsatz leisteten –, ergäbe sich spekulatives Spiel im engeren Sinne.
Gegen eine Schachmaschine, die ebenfalls über perfekte Information verfügt, stellen derlei Anstrengungen vergebene Liebesmüh’ dar, nicht jedoch gegen einen Menschen, dem es am Brett womöglich nicht gelingen wird, ein bei bestem Spiel in 40 Zügen gewinnbares Endspiel König und Läuferpaar gegen König und Springer innerhalb der 50-Züge-Grenze siegreich zu beenden.
Algorithmisches Schwindeln im Mittelspiel
Eine erheblich grössere Herausforderung stellt es hingegen dar, die Strategie des algorithmischen Schwindelns auf Mittelspielstellungen zu verallgemeinern. Peter Jansen, der auch Mitglied des Deep-Thought-Entwicklerteams war, befasste sich bereits in den frühen 90er Jahren in seiner Dissertation (Jansen 1992) mit dem anspruchsvollen Thema des spekulativen Spiels bzw. der hiermit eng verbundenen Frage der sog. Opponenten-Modellierung in der Spielbaumsuche und im Computerschach. Damals sah Jansen Chancen für erfolgreiches algorithmisches spekulatives Spiel in erster Linie in Matches gegen menschliche Gegner; andererseits identifizierte er eine Reihe zentraler, vornehmlich effizienzbezogener Probleme betreffend die Integration entsprechender Techniken in die Algorithmen der klassischen Spielbaumsuche – Herausforderungen, die vermutlich auch heute noch nicht zufrieden stellend gelöst sind. Letztendlich aber ist dies auch eine gute Nachricht: für den Menschen, weil sich damit zeigt, dass Schachalgorithmen zumindest in bestimmten Aspekten noch immer nicht mit der humanen Schachvirtuosität mithalten können; andererseits jedoch auch für die Protagonisten schachlichen Motorsports, weil dies impliziert, dass sich technische Herausforderungen selbst heute noch stellen, da die Top-Engines vermutlich längst die (virtuelle) 3000-Elo-Marke menschlicher Schachexzellenz geknackt haben.
Philosophische und literarische Querbezüge
Mark Taimanov: „Ich würde lieber aufgeben, als einen solchen Zug zu spielen“
Wie in der Welt, so gilt also auch im doch eigentlich so rational-aufgeklärten Schach bisweilen die charmante Weisheit: „Too clever is dumb!“ (Zitat Ogden Nash) Insofern wir von unseren tiefen Einsichten in unreflektiert-mechanischer Manier Gebrauch machen, wirken wir auf unsere Mitmenschen bzw. Spielpartner bisweilen hölzern und womöglich ganz und gar nicht so schlau, wie es unserer Selbstwahrnehmung entsprechen mag. Und selbst wenn wir in der Sache prinzipiell recht haben: So falsch liegen unsere Zeitgenossen ja doch nicht, wenn sie den Kopf darüber schütteln, insofern wir in der eingangs besprochenen Position das theoretisch optimale 34…Te8 spielen sollten. Letztendlich eine selbst erfüllende Prophezeiung, denn falls unsere Gegenspieler vornehmlich weniger tief schürfende Zeitgenossen sein sollten, so würden wir auf Dauer tatsächlich unseren Erfolg schmälern, wenn wir auf die Chancen spekulativen Handelns leichtfertig verzichteten.
Grenzen der Spekulation im sozialen Kontext
Das Kaissa-Schachparadoxon als literarische „Umsetzung“ im Theaterstück „Die Befristeten“ von Elias Canetti
Andererseits gibt es natürlich Grenzen, die uns durch den jeweiligen sozialen Kontext gesetzt werden: So würde man vermutlich Spott ernten, wenn man in einer Partie gegen eine Spitzenspielerin darauf spekulierte, per Schwindel einem elementaren zweizügigen Matt entrinnen zu können. Dass derlei psychologische Kräfte im Hintergrund menschlichen Spiels walten, lässt sich etwa anhand eines Kommentars von Mark Taimanov zum legendären positionell-spekulativen Springeropfer Spasskis in der Partie Awerbach–Spasski (Leningrad 1956) aufzeigen: „Ich würde lieber aufgeben, als einen solchen Zug zu spielen.“ Einem Schachmotor kann dies jedoch vermutlich egal sein – dieser wird sich auch weiterhin an die Tartakower’sche Devise halten, dass durch Aufgabe noch keine Partie gewonnen wurde.
Auch in der Bühnenliteratur werden wir fündig. In seinem Theaterstück „Die Befristeten“ skizziert Elias Canetti eine Welt, in der jedem Bewohner von Geburt an und für jeden ersichtlich der Tag des Ablebens zugeschrieben ist. Die Folgen für das Zusammenleben sind fatal, und die Individuen sehen sich vor die besondere, kaum zu meisternde Herausforderung gestellt, mit diesem unerbetenen Extrawissen in verantwortungsvoller Manier umzugehen. Der Zusammenhang mit dem eingangs am Beispiel von Kaissa herausgearbeiteten schachlichen Paradoxon erscheint offensichtlich.
Spekulation als Wesenskern des Schachs
Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass spekulatives Spiel ohnehin zum Wesenskern des Schachs gehört und immer gehören wird. Schliesslich kommt bereits der Ausgangsstellung ein spieltheoretischer Wert (also 1–0,½–½ oder 0–1) zu, der sich unweigerlich einstellen würde, wenn beide Seiten stets der (glücklicherweise niemandem bekannten) Linie perfekten Spiels folgten. Sollte etwa die Grundposition für eine der Parteien gewonnen sein, so bleibt zumindest der anderen Partei gar nichts anderes übrig, als auf spekulatives Spiel zu setzen. Sich in den Fatalismus eines „Ich gebe auf!“ bereits in der Ausgangsstellung zu flüchten, hiesse im Prinzip nichts anderes, als den eingangs beschriebenen Kaissa’schen Quasi-Fatalismus 34…Te8 auf die Spitze zu treiben. Womit sich die Dystopie Canettis in der Welt des Schachs manifestieren würde.
Interdisziplinäre Fragestellungen
Auch das Computerschach steht damit im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts weiterhin vor faszinierenden Herausforderungen. Und vielleicht noch spannender stellen sich die unerwarteten Querbeziehungen dar, die vom spekulativen Spiel im Schach zu Themenfeldern weit jenseits der vierundsechzig Felder bestehen. Vermutlich haben also die Erkenntnisse, die sich aus der Erforschung entsprechender Modelle und Technologien im (Computer-)Schach ergeben, Implikationen auch für diese auf den ersten Blick entfernten Gebiete. In jedem Falle handelt es sich um dezidiert interdisziplinäre Fragestellungen, die den virtuosen Schachspieler (als Künstler), den Informatiker, den Spieltheoretiker und den Philosophen gleichermassen betreffen. ♦
Thomas Anantharaman, Murray S. Campbell, and Feng-hsiung Hsu (1990). Singular extensions: Adding Selectivity to Brute-Force Searching. Artificial Intelligence, Vol. 43, No. 1, 99–109
Peter Jansen (1990). Problematic Positions and Speculative Play In: Marsland / Schaeffer (Eds.): Computers, Chess, and Cognition, Springer Verlag, 169–181
Peter Jansen (1992). Using Knowledge about the Opponent in Game-Tree Search. Ph.D. thesis, Carnegie Mellon University
Fred Reinfeld (2001). Win at Chess (New Algebraic Edition). Dover Publications, New York
Sunzi (um 500 v. Chr.). Die Kunst des Krieges. (Deutsch von Volker Klöpsch) Insel Verlag 2009
Geb. 1964, Studium der Informatik sowie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 1991 Diplom in Informatik, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für die GMD-Forschungszentrum Informationstechnik Darmstadt, Forschung in den Bereichen Computerlinguistik und Natural Language Engineering, 2000 Promotion mit einer Arbeit zur Algorithmischen Textinhaltsanalyse, Tätigkeit als Berater und Leiter einschlägiger Software- und Forschungsprojekte in der Medien- und Internetbranche, seit 2011 Entwicklung des Schachmotors Fischerle, lebt und arbeitet in Frankfurt/Main
Über 5’000 Votes verzeichnete die grosse Schach-Umfrage, welche das „Glarean Magazin“ anfangs Oktober letzten Jahres gestartet hatte. Nun steht fest, welches aktuell die beliebtesten Schachprogramme sind.
Der zweimonatige, anonym durchgeführte Poll thematisierte dabei die vier Aspekte:
A) „Meine 3 Lieblings-Schach-Programme sind…“
B) „Ich benütze meine Schach-Software hauptsächlich für…“
C) „Meine 3 Lieblings-Schach-Oberflächen sind…“
D) „Ein Schachprogramm darf kosten…“
Dank einerseits verschiedener nationaler sowie zahlreicher regionaler Schach-Verbände, welche auf diese User-Befragung hinwiesen – wodurch weite Kreise des „Vereins-Schachs“ in Deutschland, Österreich und der Schweiz angesprochen werden konnten -, aber auch zweitens aufgrund des hohen Interesses in der einschlägigen (Computer-)Schach-Szene im Internet erreichte diese „Schach-Volksabstimmung“ dabei nicht nur internationale Verbreitung weit über den deutschsprachigen Raum hinaus, sondern auch einen recht guten „Profile-Mix“ der teilnehmenden Schachspieler. Insofern dürfen die Ergebnisse der Befragung einige Repräsentanz beanspruchen, jedenfalls aber ist sie die zurzeit einzige Anwender-Konsultation mit dieser Thematik, die bislang mit solchem Umfang und in dieser Differenziertheit innerhalb der aktiven Schachwelt organisiert wurde.
Stichworte und Trens
Das „Arena“-Interface von Martin Blume
Die folgenden Infos verstehen sich nicht als detaillierte Analyse, sondern beschränken sich auf ein paar Stichworte und auf die Trends, wie sie sich in den vier „Rankings“ zeigen. Darüber hinaus ist wie jede Umfrage auch diese viel zu grob, um ein differenziertes Bild der mittlerweile so unübersehbaren wie buntschillernden Computerschach-Welt zu zeichnen – ganz abgesehen von den veralteten und hier ausgeklammerten, aber in Nischen noch immer nostalgisch gepflegten Urahnen der Szene, nämlich den eigentlichen Schachcomputern.
Darüber hinaus ist sich der Autor natürlich bewusst, dass neben den zahlreichen gestellten Fragen noch viele andere Aspekte des Themas – Internet-Schach-Clients, Pocket-Programme, Anzahl Prozessoren u.a. – hätten integriert werden können, doch es galt, einigermassen die Balance zwischen der Geduld der Votierenden einerseits und dem Anspruch auf Vollständigkeit andererseits zu finden…
An dieser Stelle sei nochmals ausdrücklich allen Schachspielern gedankt, die sich die Zeit nahmen, durch die vier Poll-Rubriken zu klicken!
A) Das Lieblingsprogramm: Rybka
Ein Viertel aller Voten entfiel bei der Frage nach den drei Lieblings-Schachprogrammen auf die Engine „Rybka“. Damit verdrängte, allerdings nur hauchdünn, diese zurzeit spielstärkste Software überraschend den jahrelang unumstrittenen Liebling der internationalen Schachszene, nämlich „Fritz“, auf den zweiten Rang. Ziemlich beliebt ist aber auch bzw. nach wie vor der Drittplatzierte „Shredder“.
Hinter diesem mittlerweile schon lange etablierten Triumvirat bereits deutlich abgeschlagen rangiert mit „Hiarcs“ das vierte kommerziell vertriebene Programm.
An der Spitze aller Freeware-Programme steht „Glaurung/Stockfish“, das sich sogar vor die beiden in der Computerschach-Szene seit Jahren bekannten und eher im englischsprachigen Raum verbreiteten, seinerzeit aber auch hierzulande vielgesehenen kommerziellen Engines „Zappa“ und „Chessmaster“ schieben konnte.
Keine Rolle mehr im sich schnell drehenden Engine-Zirkus spielen offenbar solche einst klangvollen Namen wie „Spike“, „Pro Deo“, „Loop“, „Sjeng“ oder „Chess Tiger“. Andererseits kann sich ein Winboard-Dinosaurier wie „Crafty“ noch immer recht gut halten in der Gunst der schachspielenden Anwenderschaft.
Die Analyse von eigenen Partien als wichtigster Verwendungszweck von Schachsoftware wurde von der überwältigenden Mehrheit (fast einem Drittel der insgesamt 1’505 Votes in dieser Rubrik) genannt – ein Umfrage-Ergebnis, das nicht erstaunt. Weit weniger häufig werden „Rybka“&Co. zur Begutachtung fremder Games eingesetzt (13%). Am dritthäufigsten trifft man das Spiel im Internet mittels Schachsoftware an.
Erstaunlich ist, dass zahlreiche Schachspieler noch immer persönlich gegen die 3000-Elo-Taktik-Aliens antreten (10%), während die relativ häufige Zuhilfenahme von Software beim Fernschach-Spielen nicht überrascht (9%).
Verwendungszweck Votes Prozent
01. Analyse eigener Partien 450 30%
02. Analyse fremder Partien 199 13%
03. Spielen im Internet 195 13%
04. Spielen gegen den Computer 143 10%
05. Fernschach-Spielen 140 9%
06. Lösen von Schachproblemen 91 6%
07. Schachturniere unter Programmen 79 5%
08. Schachlernen oder -lehren 78 5%
09. Schachwissenschaftliche Zwecke 38 3%
10. Spielen auf dem Handy 33 2%
11. Schachhistorische Zwecke 26 2%
12. Schachturniere unter Menschen 20 1%.
Das „Scid“-Interface von Shane Hudson/Pascal Georges
Mit deutlichem Vorsprung erkürten die Abstimmer „Fritz“ zu ihrem Lieblings-Interface; über ein Drittel aller Votes hier vereinte das Chessbase-Flaggschiff auf sich. Am zweithäufigsten mit immer noch stattlichem Anteil von fast 20% wurde „Shredder“ gewählt, den dritten Rang nimmt die Freeware-Oberfläche „Arena“ ein.
Beachtlich ist, dass sich das noch relativ junge Schach-GUI „Aquarium“ von Convekta noch vor dem langjährigen und kostenlosen „Scid“ platziert, während der ebenso traditions- wie Feature-reiche „ChessAssistant“ offenbar nur eine marginale Rolle spielt; kaum mehr benutzt werden auch die kostenlos downloadbaren Interfaces „José“ und „Winboard“. Endgültig von der Bildfläche der Praxis verschwunden sind inzwischen GUIs wie „Chesspartner“/Lokasoft oder „ChessGenius“.
Auf die Frage, wie viel ein Schachprogramm kosten darf, ergab sich überraschenderweise ein recht hoher Anteil von Schachspielern, die relativ viel für solche Software zu investieren bereit sind, und etwa jedem siebten User ist der Preis egal, solange das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Als ungefährer Richtwert kann aber offenbar wohl von einem breit akzeptierten Preis eines Schachprogrammes von ca. 50 Euro ausgegangen werden. Nicht berücksichtigt wurde dabei die Frage des Preisunterschiedes von Single- und Multi-Prozessoren-Software.
Preis Votes Prozent
01. 40-70 Euro 227 36%
02. 20-40 Euro 165 26%
03. Egal (bei gutem Preis-
Leistungs-Verhältnis) 86 14%
04. 70-120 Euro 52 8%
05. 10-20 Euro 43 7%
06. 0 Euro 36 6%
07. Über 120 Euro 12 2%
(Weitere Nennungen: Bis 50 Euro, 1CPU=50 Euro, u.a.)
Das Schachspiel als universelles Bildungs- und Entwicklungsgut
von Walter Eigenmann
„Während es einen nahezu unübersehbaren Schatz an kommentierten Partien, Turnierbulletins und technischen Schachbüchern gibt, die, interessiert an der Herausbildung von Theorie und Praxis des Schachspiels an sich, Erfahrungen über Eröffnungen, Mittel- und Endspiel enthalten sowie verhältnismässig viele Werke, die Lehrweisen und Trainingsmethoden propagieren, fehlt es vollständig an einem profunden interdisziplinären Überblickwerk zu den wissenschaftlich gesicherten Fakten, was das Schach bewirkt; was es bedeutet, warum es über die Jahrhunderte hinweg Menschen aus aller Welt fasziniert und nicht zuletzt, welche Erziehungs- und Bildungswerte es birgt.“
Diese weiträumige spielkulturelle und soziopädagogische Fragestellung nimmt die deutsche Schach-Psychologin und Mentaltrainerin Dr. Marion Bönsch-Kauke zum Ausgangspunkt ihrer grossangelegten Meta-Studie: „Klüger durch Schach“ präsentiert thematisch breit und methodisch sehr differenziert eine Fülle von „Forschungen zu den Werten des Schachspiels“; der 400-seitige Band fasst den gesamten aktuellen wissenschaftlichen Diskurs zum weltweiten Kulturphänomen „Schach“ zusammen.
Schätzungsweise 550 Millionen Menschen kennen die Schach-Regeln
Marion Bönsch-Kauke: Klüger durch Schach – Wissenschaftliche Forschungen zu den Werten des Schachspiels
Dass dem Schach in der riesigen Arena menschlicher Sport- bzw. Freizeit-Aktivitäten eine nur höchst marginale Bedeutung zukommt, darüber macht sich die Autorin Bönsch-Kauke keinerlei Illusionen, und dass schätzungweise 550 Millionen Menschen zumindest die Regeln des „Königlichen Spiels“ kennen, abermillionen ihm organisiert frönen, könne nicht darüber hinwegtäuschen, „dass Schach zu den Randsportarten gehört und aus Mangel an visueller Show kein Publikumsmagnet“ sei. Doch dieser Marginalität steht, wie Bönsch-Krauke detailliert anhand zahlreicher wissenschaftlicher, historischer wie experimentalpsychologischer Untersuchungen bzw. Studien nachweist, eine mittlerweile kaum mehr überblickbare Fülle an primär- wie sekundärwissenschaftlicher Literatur zu allen denkbaren kulturellen, pädagogischen, philosophischen, neurowissenschaftlichen, sportmedizinischen, kunstästhetischen und sozialpsychologischen Aspekten dieses Spiels gegenüber.
Und mag der König fast so gross sein wie man selber: Kein Kind zu klein, eine Schachspielerin zu sein…
Die vom Deutschen Schachbund initiierte und herausgegebene Metaexpertise der Psychologin gründet sich auf mehr als 100 umfangreiche Pilotstudien, Grossfeldversuche, Stammuntersuchungen, Quer- und Längsschnittprojekte und Originalexperimente, ihre Recherche bezog neben hunderten bekannter Publikationen auch aktuellste Dissertationen, wissenschaftliche Qualifikations-, Diplom-, Magister- und Seminararbeiten sowie zahlreiche eigene schachrelevante Untersuchungen ein. (Hier das komplette Inhaltsverzeichnis von „Klüger durch Schach“).
Bönsch-Kaukes fulminante Tour d’horizont durch die wissenschaftliche Schach-Literatur belässt es dabei nicht bei westeuropäischen und amerikanischen Publikationen, sondern repliziert besonders aufschlussreiche, bislang hierzulande kaum beachtete, teils auch schwer zugängliche Forschungsergebnisse aus der Sowjetunion und der ehemaligen DDR, aber auch aus Ungarn und Tschechien – aus Ländern also, die bekanntlich dem Schachspiel als Spitzen- und als Volkssport einen ausserordentlichen Stellenwert einräumten, und in denen Schach – teils auch als staatlich verordneten propagandistischen Gründen – schon seit Jahrzehnten Gegenstand systematischer, auch interdisziplinärer Forschung war und ist.
Leseprobe 1
Leseprobe 1 – Schach und Kreativitätsentwicklung
Angesichts der Fülle des Materials – die nur schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis des Bandes dokumentiert – ist es hier natürlich unmöglich, in dem Masse auf auch nur einzelne der gewichtigsten Studien bzw. Ergebnisse in „Klüger durch Schach“ einzugehen, das ihrer Bedeutung angemessen wäre. Stattdessen beschränke ich mich fokussierend im Folgenden auf die grundlegendsten, durch vielfache und weltweite Forschung verifizierten „Thesen“, wie sie die Autorin im Schlusskapitel dieser ihrer beeindruckenden, auch mit zahlreichen Illustrationen erläuternden Meta-Studie formuliert, wobei Bönsch-Kauke von der Zielsetzung geleitet wurde, diese „Thesen“ könnten ihrerseits „zum Kern einer Meta-Schachtheorie werden, falls ihre Inhalte geistreiche Forscher anregen, wissenschaftliche Beweise für die Tragkraft dieser Thesen beizusteuern.“
1. „Schach ist zutiefst lebensnah!“
Schach als reguläres Schulfach mit Unterstützung durch erfahrene Lehrkräfte
Schach symbolisiere, so die Autorin, „was uns im Leben widerfährt“: Im Kern seien es Entwicklungsaufgaben von wiedersprüchlicher Art, und es sei zu eng, im Schach nur Problemlösen sehen zu wollen: „Wir sind vor die Wahl gestellt, unsere Ansprüche aufzugeben oder uns der Aufgabe zu stellen, zu kämpfen auch um selbstkritische Einsichten und nicht zu resignieren.“
2. „Das Schachspiel gleicht dem Lebenskampf!“
Für Marion Bönsch-Kauke fungiert das Schachspiel als Problemrepräsentant für Entwicklungsaufgaben, die kompromisslos zu lösen sind, und die uns vor Situationen stellten, die zwar „neu, ungewiss, kompliziert und problemträchtig“ seien, sich aber nicht zu (unlösbaren) Problemen auswachsen müssten: „Gewissermassen aus spieltheoretischer Sicht gilt das Schachspiel als ein Zwei-Personen-Nullsummenspiel. Es ist für jene Lebenslagen gültig, in denen eine Seite verliert, was die andere gewinnt.“
Diese These habe, wie die Wissenschaftlerin ausführt, Fragen der „Lebensplanung“ wie beispielsweise: „Was droht? Was tun? Wo soll es hingehen? Was ist der nächste Schritt?“ zur Grundlage, und dabei bürge das Schachmodell für stichhaltigen Rat: „Schach kann zurückgreifen auf 2’500 Jahre Erfahrung, wie Ziele gegen Widerstände zu erreichen sind. […] Aus schachlicher Symbolsprache ist zu erfahren, wie Menschen […] dachten und wie sich das Wollen und Denken kulturgeschichtlich entfaltete zu immer wirksameren Strategemen.“ Dabei wären die besten Strategien, nach Bönsch-Kauke, im Kampf der Charaktere in der Kulturgeschichte des Schachs ausgefiltert worden und würden nun als bewährte „Orientierungsgrundlagen für erfolgreiche differentielle Entwicklungen von sozialen Beziehungen, Charakteren und kulturellen Werken im Lebenslauf“ zur Verfügung stehen.
4. „Schach macht klug!“
Kann das Schachspielen bei älteren Menschen sogar Demenz-präventiv wirken? Senioren-Schach ist im Vormarsch.
Der Autorin vierte, bereits im Buchtitel apodiktisch vorweggenommene These ist die schulpädagogisch bzw. -psychologisch brisanteste, wenngleich hier natürlich nicht zum ersten Mal gehörte Zusammenfassung zahlreicher diesbezüglicher Forschungen. Das Kernergebnis der von Bönsch-Kauke recherchierten, teils sehr umfangreichen internationalen Studien: „Für Schach muss man nicht mit überdurchschnittlicher Intelligenz starten, jedoch ist mit fortgesetzter Ausübung ein beträchtlicher Zuwachs im Rahmen des intellektuellen Potentials zu erwarten.“ Wie die einschlägigen Experimente nachwiesen, sei für hohe und höchste Spitzenleistungen im Schachspiel eine grosse Bandbreite von kognitiven Erkenntnisprozessen gefragt: „Exaktes Wahrnehmen, Vorstellungsvermögen, Gedächtnis, Problemlösen, schlussfolgerndes, kritisches und kreatives Denken.“ Und auch hier wieder schlägt die Sozialpsychologin eine Brücke von der Theorie zur Praxis: „Analoge Aktionen, die sich in Schachpositionen bewährten, können als Verhaltenspotentiale auf Bewährungssituationen im Leben mit ähnlichen Merkmalen übertragen werden und das Hinzulernen erleichternd stimulieren.“
5. „Schachspielen fördert schöpferisches Denken!“
Wird durch regelmässigen Schachunterricht die Konzentrationsfähigkeit gesteigert?
Ein in der Sekundärliteratur ebenfalls immer wieder gelesener bzw. vielfältig verifizierter Denkansatz ist Bönsch-Kaukes fünfte These, wonach das Schach die Konzentrationsausdauer und das schöpferisch-originelle Denken fordere und fördere. Hier seien drei „Basiskomponenten“ im Blick zu behalten: „Organisation der Kräfte, Angriff und Verteidigung“, wobei die Autorin auf das schachphilosophische Werk des Weltmeisters Emanuel Lasker und seine „überschachliche Lehre“ referiert. „Einfälle, die stichhaltig sind, und Pläne, die aufgehen, sind rar in unserem modernen Leben der firmierenden Global Players und gefragten Schlüsselqualifikationen. Geistige Güter sind zu akkumulieren, um Innovatinsdefizite zu überwinden.“
6. „Schach mobilisiert Innovationen und Change-Management!“
Bönsch-Kauke: „Aus Biographien zahlreicher weltbekannter Gelehrter, Philosophen, Dichter, Schriftsteller, Manager, einflussreicher Politiker, Regisseure, Schauspieler, Entertainer, Journalisten, Trainer und Athleten erhellt, dass sie sich auf das Schachspiel verstanden und es schätzten.“ Aber nicht nur einen „Kreis Auserwählter“ vermöge das Spiel „von der Person zur Persönlichkeit zu profilieren“; Frühförderung und Anreicherung der geistigen Herausforderung für hochbegabte Kinder sei schachspielerisch möglich: „Ein Schachtest für Hochbegabte als Screening-Verfahren erscheint aussichtsreich. Mehr noch rücken die Möglichkeiten des Schachs für gegenwärtig erschreckend viele hyperaktive, im Lesen, Schreiben und Rechnen schwache oder schulverdrossene Kinder als spielerisches Faszinosum ins Blickfeld von Schulverantwortlichen.“
7. „Schach stärkt die Anstrengungsbereitschaft!“
Als Metasportart berge, führt die Verfasserin weiter aus, das schachliche Modell wertvolle Grundlagen „für eine allgemeine Kampftheorie“: „Schach stärkt den Kampf- und Siegeswillen“, weil durch findiges strategisches und taktisches Denken „die schwersten Kämpfe des Lebens zu gewinnen“ seien. Dabei erlangten theoretisch-geistige Konzepte im Trainingsprozess und Wettkampf angesichts der zunehmenden Intellektualisierung des Sports eine verstärkte Bedeutung. „Immer mehr spielen sich planbare Aktionen vorher modellartig im Kopf des Aktiven ab. In diesem Sinne bewährt sich Schach als strategisch-taktische Leitsportart.“
8. „Schachliches Können verschafft Wettbewerbsvorteile!“
Bönsch-Kaukes achtes Forschungsergebnis: „Wie es gelingt, Positionen nicht nur zu verbessern, sondern die anstrebenswerte Stellung wirklich zu erobern, lehrt das königliche Spiel diejenigen, die sich bemühen, meisterliches Können für Spitzenpositionen zu erwerben. Im welchselseitigen Herausfordern und intellektuellen Kräftemessen werden anspruchsvolle Lebensziele und Selbstbehauptungen wahr. Situationsgerechte Pläne bleiben keine visionäre Utopie.“
9. „Schach ist ein universelles Bildungs- und Entwicklungsgut!“
Das Projekt „Schach im Kindergarten“
Eine weitere These der Wissenschaftlerin zielt auf den vielfach und breit nachgewiesenen pädagogischen Nutzen in der Schule einerseits und andererseits auf die moderne Schlüsselqualifikation „Medienkompetenz“ ab. Während die Tatsache, dass methodisch gelehrtes Schach ein breites Spektrum von positiven Persönlichkeitskomponenten wie „Konzentriertheit, Geduld, Beharrlichkeit, emotionale Stabilität, Risikofreudigkeit, Objektivität, Leistungsmotivation“ inzwischen in ein breiteres Bewusstsein der schulpädagogischen Entscheidungsträger gedrungen ist, dürfte die von Bönsch-Kauke angesprochene „Medienkompetenz“ bisher ein weitgehend unberücksichtigter, aber wesentlicher Aspekt der Diskussion sein: „Ein bedeutsames gesellschaftliches- und bildungspolitisches Ziel ist die Befähigung, die Vorzüge neuer Informations- und Kommunikationstechniken gezielt nutzen zu können.“
10. „Schach trainiert psychische Stabilität!“
Auf ihrem ureigenen Gebiet, der Psychologie, kommt die Autorin zum Schluss: „Schach befriedigt grundlegende Bedürfnisse, sich im anderen Wesen zu spiegeln, ernst genommen und zuverlässig begleitet zu fühlen und sich wesenseigen im Spiel selbst zu fördern. […] Schachspielen ermutigt, Angst in energiereiche Aktionen zu verwandeln, Verlustärger zielgerecht einzusetzen.“ Wie dabei die Psychoanalyse zeige, entwickle Schach „eine Art realistischerer Abwehrmechanismen durch selbstkritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, mit eigenen Fehlern und Stärken“.
Leseprobe 2
Leseprobe 2 – Schach und lernschwache Schüler
11. „Schach hält geistig beweglich!“
Ins Zentrum des elften Teil-Fazits gerückt wird das Schach als Denktraining, das bis ins hohe Alter fortgesetzt werden könne: „Keine andere Sportart ermöglicht eine solche fortdauernde Wettkampfzeit, lebenslanges Lernen und leistungssportliche Betätigung auf hohem Niveau.“ Bönsch-Kauke zitiert in diesem Zusammenhang neuromedizinische Resultate, wonach sich durch „spielaktive Denkbeweglichkeit“ bis zu 74% dem Risiko eines altersbedingten Abbaus des Hirns (Demenz) vorbeugen lässt: „Speziell gegen die Alzheimer-Erkrankung mit der klinischen Symptomatik: hochgradige Merkschwäche, zeitliche und räumliche Orientierungsstörungen, Sprachzerfall und Verwirrtheit lassen sich durch Schach sogar neue ‚graue Zellen‘ bilden.“
12. „Schach im Internet fördert weltweite Kommunikation!“
Die zwölfte und letzte These widmet sich dem aktuell modernsten Aspekt des Schachspiels: seiner inzwischen fulminanten und noch immer wachsenen Präsenz im Internet: „Nicht nur das hochentwickelte Computerschach, auch das Spielen im Internet brachte ungeahnte Dimensionen mit sich. So spielen nach Angaben von Chessbase 2007 auf ihrem Server täglich über 5’000 Aktive und Schachliebhber ca. 200’000 Partien. […] Diese Zahlen demonstrieren einen völlig neuen Zugang des strategischen Brettspiels in die moderne kommunikative und technisierte Spielwelt.“ Hervorzuheben sei dies nicht zuletzt deshalb, weil es unwichtig sei, ob der „auf der anderen Seite sitzende Gegner jung oder alt, gesund oder krank, versiert oder ungeübt“ sei. Denn zwar sei Altern ein soziales Schicksal, aber: „Durch das Schach im Internet bieten sich immer interessante Spiel- und Geistesgefährten an, zu denen nach Wunsch auch direkter Kontakt mit allen Sinnen aufgenommen werden kann.“
Zwölf fruchtbare Denkanstösse
Wie weiland Luther seine „ketzerischen“ Thesen an die Kirchenpforten schlug, so ruft also die deutsche Schachpsychologin in ihrem aufregenden „Thesen-Papier“ ein Dutzend durchaus irritierende bis provozierende Denkanstösse in den Schach-Alltag, die allerdings nichts mit Glauben, dafür sehr viel mit Wissen zu tun haben. Denn im Gegensatz zu einschlägigen populärwissenschaftlichen (um nicht zu sagen: populistischen), oft mit gutgemeint-rosaroter Brille verfassten Verlautbarungen in Sachen „Schach und Pädagogik“ basieren die Thesen von Marion Bönsch-Kauke auf wissenschaftlich verifizierbarer Grundlagenforschung unabhängiger Wissenschaftler und Institute.
Gewiss, Bönsch-Kaukesche Denkmotive wie z.B. „Schach als Problemrepräsentant für Entwicklungsaufgaben“; „Schach als strategisch-taktische Leitsportart“ oder „Schach als Demenz-Prävention“ regen bei erstem Lesen zum Widerspruch an. Aber nur so lange, wie man der Autorin akribische Recherchen zur Thematik nicht en détail kennt. Denn der 400-seitige, ein umfangreiches Literaturverzeichnis zuzüglich Psychologie-Glossar sowie Personen- und Sachregister beinhaltende Band belegt eindrücklich, wie weit die moderne Schachforschung in allen Disziplinen bereits fortgeschritten ist. Jedenfalls dürfte „Klüger durch Schach“ als der zurzeit umfassendste Überblick auf die gesamte einschlägige Forschung für die nächsten Jahre die Referenz-Publikation in Sachen Schach-Metastudien bilden und die wissenschaftliche Diskussion massgeblich mitbestimmen bzw. befruchten. Eine äusserst verdienstvolle Veröffentlichung des Deutschen Schachbundes und der Deutschen Schachstiftung – sowie ein nicht nur für Schach-Enthusiasten faszinierendes Kompendium, dem weiteste Verbreitung in allen involvierten „Schach-Schichten“, von den Verbänden bis hinein in die Volksschulstuben weit über Deutschland hinaus zu wünschen ist. ♦
Schachspieler benützen welche Programme wie und wann?
von Walter Eigenmann
Die Geschichte der Schachcomputer bzw. des Computerschachs ist eine ebenso wechselhafte wie faszinierende. Am Anfang, im Jahre 1941, stand eine primitive, aber doch erste einsatzfähige, programmgesteuerte Rechenanlage von Konrad Zuse. Heute, fast 60 Jahre später, nennen die privaten Haushalte leistungsfähigste Multiprozessor-Rechner ihr eigen, deren Schach-Software jeden Meisterspieler der Welt schlagen kann. Doch wozu eigentlich nutzt die breite Anwenderschaft ihre Maschinen? Hier in der Rubrik Computerschach: Die grosse Umfrage.
Von Konrad Zuses „Z3“-Maschine bis hin zur modern-handlichen Spitzen-Software: Die Computerschach-Geschichte ist ebenso wechselhaft wie faszinierend.
Seinen Traum vom „eigenen Grossmeister zuhause“, der sowohl als Sparringpartner als auch als Kommentator eigener Partien Tag und Nacht verfügbar ist, kann sich heutzutage grundsätzlich jeder (und durchaus erschwinglich) erfüllen, und jüngere Vereinsspieler ohne mindestens ein Schachprogramm auf dem heimischen Rechner dürften – zumal in der westlichen Hemisphäre – überhaupt nicht mehr anzutreffen sein.
Die Qual der riesigen Auswahl
Doch mittlerweile haben die Anhänger des Königlichen Spiels die Qual der riesigen Auswahl. Ein ganzes Heer von Freeware- und kommerziellen Schachprogrammen („Programm“ hier in der Bedeutung der sog. „Engine“ verwendet, dem eigentlich rechnenden Herzstück von Schachsoftware) bzw. von entsprechenden grafischen Benutzeroberflächen (GUI) steht dem interessierten Schachfreund zur Verfügung.
Höchste Zeit also, mal genauer nachzufragen, welche Programme denn eigentlich aktuell so die Lieblinge auf den Rechnern der Caissa-Jünger weltweit sind, und zu welchen Zwecken diese Programme hauptsächlich genützt werden.
Je drei Antworten
Die nachfolgende einfache Umfrage richtet sich an jede/n Schachspieler/in, die/der sporadisch, regelmässig oder ständig im privaten Rahmen mindestens ein Schachprogramm benützt. Es können in den ersten drei Rubriken jeweils max. drei Antworten angekreuzt werden, in der vierten eine. Selbstverständlich ist alles völlig anonym, es interessiert ausschliesslich der statistische Aspekt, und das Ergebnis ist jederzeit einsehbar.
Da nicht nur in der internationalen Computerschach-Szene des Internets abgestimmt werden kann, sondern auch bei zahlreichen Schachvereinen direkt nachgefragt wird, darf schliesslich das Endergebnis dieser Umfrage einige Repräsentanz für sich beanspruchen. Um ein möglichst umfangreiches Voting zu erreichen, würde es uns in diesem Zusammenhang natürlich freuen, wenn Sie die Abstimmung auch in Ihrem privaten Schachkreis bekanntmachten.
Abgestimmt werden kann zwei Monate lang (Oktober&November 2009) ♦
Kanadische Forscher haben ein unbesiegbares Computerprogramm für das Brettspiel Dame geschaffen. Kein Gegner könne mehr als ein Unentschieden gegen das Programm namens Chinook erreichen, berichteten Jonathan Schaeffer und Kollegen von der Universität von Alberta in Edmonton im April 2007. In mehr als 18 Jahren haben die Informatiker über 39 Billionen Spielstellungen durchgerechnet und bewiesen, dass Dame immer auf ein Remis hinausläuft, wenn beide Seiten fehlerfrei spielen. Tag und Nacht waren dafür im Schnitt rund 50 Computer im Einsatz. Mit diesem Ergebnis sei das Brettspiel gelöst, erläuterten Schaeffer und Kollegen im US-Fachjournal „Science“.
Während der Schach-Olympiade 2008 in Dresden organisierte die Technische Universität Dresden am 21. und 22. 11. 2008 einen Schach- und Mathematik-Workshop. In einem visionären Vortrag behauptete der niederländische Informatiker und Professor für Computerwissenschaften Jaap van den Herik (61) von der Universität Tilburg, dass das Schachspiel im Jahr 2035 komplett ausgerechnet und gelöst sein wird.
Schach zu lösen scheint unmöglich…
Jaap van den Herik
Es ist im Moment noch unvorstellbar, dass man jede Stellung komplett lösen kann. Schach ist ja bekanntlich eines der komplexesten Brettspiele der Welt. Die Zahl der möglichen Schachstellungen übersteigt die Zahl der Atome im Universum um ein Vielfaches. Bereits nach zwei Zügen können 72’084 verschiedene Stellungen entstehen. Die Zahl der möglichen Spielverläufe ist noch einmal um ein Vielfaches grösser. Schon für die ersten 40 Züge belaufen sich die Schätzungen auf etwa 10’115 bis 10’120 verschiedene Spielverläufe. Es scheint also unmöglich zu sein das Spiel zu lösen.
Anhand der sich immer noch rasant entwickelnden Computer-Hardware und den Forschungsergebnissen aus Checkers, Go und Schach prognostizierte Van den Herik allerdings, dass es nur noch ein Frage der Zeit ist, bis auch Schach gelöst sein wird. Der niederländische Professor, der sich bereits seit Jahrzehnten mit intelligenten Brettspielen und künstlicher Intelligenz (KI) beschäftigt, zeigte in Dresden, dass der Termin für die fehlerfreie Schachpartie näher ist, als wir alle vermuten.
Und wie geht das perfekte Spiel dann aus, wollen Sie noch gerne wissen, gewinnt Weiss oder Schwarz? „Ich vermute, dass das Spiel, genauso wie bei Dame, dann Unentschieden ausgehen wird“, beendete Van den Herik sein Referat. ♦
Eric van Reem Geb. 1967 in Deventer/NL; Englisch-, Philosophie- und Literatur-Studium an der Hogeschool Holland (Amsterdam); seit 2000 umfangreiche schachjournalistische Tätigkeit; lebt als Star Alliance Controller der Lufthansa in Dietzenbach/Frankfurt