Geschichte ist narrativ zu berichten, sagt der gesunde Menschenverstand spätestens seit der Bibel. Aber auch von dem, was tatsächlich geschehen ist und wobei man nicht selbst gewesen ist, kann nicht objektiv berichtet werden. Und wenn, dann ist es ebenfalls durch die subjektiven Augen eines einzigen Zeitzeugen betrachtet und registriert worden. Dem Verhältnis von Literatur und Geschichte hat die „Neue Rundschau“ nun unter dem Titel „Jenseits der Erzählung“ eine essayistische Anthologie gewidmet.
Anschaulich in stilistischer Eleganz erzählte Geschichtsschreibung ist ein grosses Leseerlebnis. Das belegen die Bestseller historischer Romane in jüngster Zeit erneut. Oder wie es Theodor Mommsen formulierte, es gehe um „Vergegenwärtigung“. Wegen der gelungenen „Mischung aus bildhafter Erzählkunst und klugen Schlussfolgerungen“ war er für seine „Römische Geschichte“ 1902 als erster Deutscher und zweiter Autor überhaupt mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden. Eben diese Erkenntnisse sind einmal mehr zu verdeutlichen und zu versachlichen, um die Geschichtsschreibung einzuordnen in ein machbares und dennoch hilfreiches und wichtiges Instrumentarium menschlicher Erkennungsmöglichkeiten und möglichen Erkenntnisgewinns.
Wie aber belegen es akademische Historiker oder historisierende Literaten? Den Fragen, die hinter diesem Interesse stehen, hatten sich beim 51. Historikertag 2016 in Hamburg die Historiker Dirk van Laak aus Leipzig, der Berliner Michael Wildt, die Augsburger Silvia Serena Tschopp, die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch, der Literat Per Leo sowie der Historiker und Publizist Gustav Seibt gewidmet. Die „Neue Rundschau“ hat in ihrer neuesten Ausgabe (129. Jahrgang 2018, Heft 3) jenes Thema „Jenseits der Erzählung“ zum Schwerpunkt gewählt und die (vorläufigen) Ergebnisse gesammelt.
Recherchierte Befunde mit literarischer Finesse präsentiert
Dirk van Laak beginnt mit der titelgebenden Frage nach der Form in Literatur und Geschichte. Er weist darauf hin, dass die beiden Begriffe „Geschichten und Geschichte“ nicht nur sprachlich nahe beisammen seien, sondern auch in ihrer Absicht auf Erkenntnis. Die Grenze liege dort, wo das Faktische zu blosser Narration oder zu Fake News wird. Ansonsten werde der Historiker keineswegs daran gehindert seine gut recherchierten Befunde mit „literarischer Finesse“ zu präsentieren.
Dass aktuell keine „mittelalterliche Finsternis“ bei den Funktionen anschaulicher Details im historischen Erzählen vorherrsche, schildert Gustav Seibt in seinem Beitrag.
Literarischer Historiker und historisierender Literat: Per Leo (Geb. 1972)
Der „literarisierende Historiker und historisierende Literat“ (laut Eigencharakteristik) Per Leo überschreibt seinen Kommentar „Leos Kreuzgang“ und untertitelt „Die Schlacht zwischen literarisierender Historie und historisierender Literatur“. Er legt darin als Paradigmen für die Schnittstelle zwischen Literatur und Geschichte die „Kämpfe um Troja für die Epik Homers“ wie die „Perserkriege und der Peloponnesische Krieg für die Geschichtsschreibung von Herodot und Thukydides“ vor. Sowohl der archaische Mythos wie die klassisches Chronik hätten somit zu neuen Formen sprachlichen Ausdrucks gefunden. Sein Beitrag ist ein lebhaftes sprachliches Dokument für die erörterten Thesen.
Geschichte als Referenz
Die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch betont im Interview mit Michael Wildt, ihren Unterschied zu den akademischen Historikern. Für sie sei die „Geschichte als Referenz wichtig“, weil sie interessiere, „wie sich die Dinge entwickelt“ hätten. Und das nicht lediglich aus „Loyalität gegenüber den Fakten“, sondern weil ihre Denkweise mit „rationaler Auseinandersetzung“ zu tun habe.
Im Abschnitt „Lyrikradar“ zeigen die Lyriker Durs Grünbein, Brenda Hillman und W. S. Merwin in komplexen und formal individuell gestalteten Gedichten ihre Art Ereignisse der zeitlichen Gegenwart zu poetisieren. Das ist teils sehr gegenständlich gestaltet und teils auch sehr sachlich ausgedrückt wie bei Merwin in „Der Fluss der Bienen“: „Aber wir sind nicht hier um zu überleben / Zu leben genügt“.
Demonstrationen experimenteller Lesart
FAZIT: Die Aufforderung Friedrich Nietzsches in „Unzeitgemässe Betrachtungen“, dass die „Geschichte zu bewachen“ sei, „dass nichts aus ihr herauskomme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen!“, haben sich alle Autoren, die in der „Neuen Rundschau“ Diskussionsbeiträge und teils Ergebnisse des 51. Historikertags von 2016 in Hamburg unter dem Titel „Jenseits der Erzählung“ (Heft 2018-3) veröffentlicht haben, hinter die Gedanken geschrieben und in jeweils fachspezifischem Blickwinkel entfaltet. Sie waren bemüht wahrhaftig gegen sich und andere und zu den Fakten zu sein.
Über die Fachwissenschaft hinaus an alle Leser richten sich die von einer Kulturwissenschaftlergruppe „historisch-spekulativ“ kommentierten drei behandelten Kapitel 19, 46 und 50 des Melville-Romans „Moby Dick“. Ihnen geht es um „Präsentation einer wichtigen Quelle zum Verständnis“ ebenso wie darum, eine „experimentelle Lesart“ zu demonstrieren.
Der Romanautor Thomas von Steinaecker exemplifiziert im Abschnitt „Unvollendetes“ Arbeitsweise und Wesen eines Künstlers am „unabsichtlich unvollendeten Kunstwerk“ in der Musik, indem er die Frage zu beantworten versucht: Die Neunte (Sinfonie) ein Fluch? Wie in einem Szenario eines „Mystery-Krimis“ kommt er zu erstaunlich mysteriös klingenden Erkenntnissen, wenn er das Schönberg-Diktum „Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe“ auf seine Faktizität hin untersucht. Als Filmbeispiel hat er Stanley Kubricks „Napoleon“ ausgewählt.
„Carte Blanche“ mit literarischen Überraschungen
Die „leeren Seiten“ (Carte Blanche) füllen unterschiedliche literarische Überraschungen: Texte von Silvia Bovenschen „1968“, Katharina Sophie Brauer mit „Fliehkraft“, Rüdiger Görner „Als K. Hamlet sah und hörte“ sowie der Maler Michael Triegel mit seinem „beglückten“ Versuch „Der göttliche Blick“ bei seiner Leipziger Poetikvorlesung nebst Josef Haslingers dazugehöriger Einleitung.
P.S: Der beiliegende Folder ist textlich gesehen genial und auch optisch optimal umgesetzt. In 13 Zeilen nennt María Cecilia Barbetta die Technik des Schriftstellers und stellt sie auf dem gefalteten Papier vor Augen. Nur wer von hinten und von vorne –– liest, versteht das Ganze, das Gesamte. In einer Richtung betrachtet ergäbe sich das Gegenteil… ♦
Es ist unzweifelhaft ein geradezu epochaler „Bewusstseinsschub der Menschheit“ erforderlich, wenn es gelingen soll, die entfesselte globale Wirtschaftsdynamik in eine sinnvolle und legitime supranationale Ordnung sich wechselseitig achtender und anerkennender Welt-(Wirtschafts-)Bürger einzubinden. Doch es ist eine alternativlose Herausforderung, sofern wir das Projekt der kulturellen und gesellschaftlichen Moderne, die Emanzipation der Menschen aus Abhängigkeiten und Zwangen aller Art, auch aus ideologischen Denkzwängen, nicht preisgeben wollen. Das wird noch reichliche wirtschaftsethische Aufklärungsarbeit an der bis anhin herrschenden Metaphysik des Weltmarktes erfordern.
Wirtschaftsethiker Peter Ulrich
Gegen den ökonomistischen Zeitgeist ein ethisch orientiertes, ,,zivilisiertes“ Verständnis von nationaler und supranationaler Ordnungspolitik zu vertreten, braucht vorerst noch ziemlichen Mut. Aber es geht um eine attraktive, ja vielleicht um die einzige hoffnungsvolle menschheitsgeschichtliche Zukunftsvision – die Vision einer vitalpolitisch eingebundenen Globalisierung, die allen Menschen auf diesem Planeten die Voraussetzungen für ein gutes, menschenwürdiges Leben in realer Freiheit und vernünftigem, d. h. International und intergenerationell verallgemeinerungsfähigem Wohlstand gewahrt. ♦
Von den Deckmäntelchen „Modernisierung“ und Flexiblisierung“
Die meisten Berufe im privaten Dienstleistungssektor sind (mehr oder weniger) von der Digitalisierung betroffen. Dabei handelt es sich häufig um kontinuierliche Prozesse, die seit Längerem am Laufen sind, sich aber in gewissen Branchen und Berufen beschleunigen. Wie wir gezeigt haben, sind Frauen stärker vom Jobverlust und von einem Anpassungsbedarf durch berufliche Qualifizierung und Weiterbildung betroffen als Männer. Das hängt unter anderem zusammen mit ihrer Untervertretung in boomenden Branchen (ICT-Branchen) und mit ihrer Übervertretung in Berufen des Dienstleistungsbereiches, die unter Druck geraten (u.a. Kassiererinnen, Verkauf, allg. Sekretariatskräfte, Bürokräfte im Finanz- und Rechnungswesen). Dies vor dem Hintergrund, dass die Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt immer noch ungleich ist und die Lohndifferenz zwischen Frauen- und Männerlöhnen seit Jahren hartnäckig 19.5 Prozent beträgt.
Die Scheinlösung der Digitalisierung
Jahrbuch Denknetz 2017: Technisierte Gesellschaft – Bestandsaufnahmen und kritische Analyse eines Hypes
Die Merkmale der Zeit- und Ortsunabhängigkeit, die viele digitalisierte Berufe mit sich bringen, sollen nun den Frauen neue Chancen für eine bessere Integration in den Arbeitsmarkt bringen. Hier zeigt sich deutlich, dass die bisherigen Analysen zur Digitalisierung der Arbeitswelt gender- und insbesondere auch careblind sind. Das Volumen der unbezahlten Arbeit übersteigt das Volumen der bezahlten Arbeit in der Schweiz, ebenso übersteigt das Volumen der bezahlten und unbezahlten Care-Arbeit (Pflege-, Betreuungs- und Haushaltsarbeit) den Umfang der industriellen und gewerblichen Produktion. Diese gesellschaftlich notwendige Care-Arbeit wird meist von Frauen erbracht und zeichnet sich durch ihre besondere Zeitstruktur (Betreuungsarbeit muss zu dem Zeitpunkt erbracht werden, wo sie anfällt, und dort, wo die zu betreuenden Personen sind) und ihre beschränkte Rationalisierbarkeit aus.
Deshalb sind einerseits traditionelle Frauenberufe wie die Pflegeberufe durch die Digitalisierung kaum gefährdet, andererseits ist es ein Trugschluss zu meinen, dass flexibilisierte Arbeitszeiten die Vereinbarkeitsproblematik von Frauen und von Personen mit Betreuungspflichten lösen. Sie müssen gleichzeitig zu Hause Essen kochen, den Kindern bei den Hausaufgaben helfen, Mails des Chefs beantworten oder einen Übersetzungsauftrag von der Crowdplattform herunterladen und zeitnah erledigen. Es handelt sich um eine Scheinlösung.
Doppelbelastung von Betreuenden durch die ständige Verfügbarkeit
Die zunehmende und einseitig verordnete Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die Intensivierung der Arbeit, die Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Familien- und Privatleben sowie die Erwartung an eine ständige Verfügbarkeit erhöhen die Doppelbelastung von Personen mit Betreuungspflichten und verstärken insbesondere in den Dienstleistungsbranchen den berufsbedingten Stress und die Burnout-Gefahr. Mit den sich aktuell wiederholenden Angriffen im Parlament auf das Schweizer Arbeitsgesetz sollen unter dem Deckmantel von „Flexibilisierung“ und „Modernisierung“ insbesondere die Arbeitszeiterfassung, aber auch die geltenden Höchstarbeits- und Ruhezeiten abgeschafft werden. Das Ziel sind noch flexibler einsetzbare Arbeitskräfte, die zu (z.B. saisonalen) Spitzenzeiten auch 70-Stunden-Wochen hinlegen können. Eine Diskriminierung von Personen mit Betreuungspflichten und daher eingeschränkter Zeitautonomie ist vorprogrammiert.
Wird also kein Gegensteuer gegeben, ist davon auszugehen, dass die Digitalisierung die Diskriminierung der Frauen in der Arbeitswelt und die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit unter den Geschlechtern verstärken wird. Der Druck für weitere Flexibilisierungen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen in den Dienstleistungsberufen wird steigen, wenn die neuen Arbeitsformen nicht aktiv gestaltet und reguliert werden. ♦
Aus Natalie Imboden & Christine Michel: Digitaler Graben – Gender und Dienstleistung 4.0; in Jahrbuch Denknetz 2017: Technisierte Gesellschaft – Bestandsaufnahmen und kritische Analyse eines Hypes; Hg: Hans Baumann, Martin Galluser, Roland Herzog, Ute Klotz, Christine Michel, Beat Ringger, Holger Schatz; Verlag edition 8, 248 Seiten, ISBN 978-3-85990-326-5
Als Beraterin für Opfer rassistischer Gewalt hat der Band „Antisexistische Awareness – Ein Handbuch“ von Ann Wiesental sofort mein Interesse geweckt. In einer Zeit, in der ein Konzept wie „Political Correctness“ von vielen BürgerInnen als eine Art um sich greifende Seuche betrachtet wird, ist Awareness im Sinne von Bewusstsein sehr wichtig.
Unsere Sprache enthält viele diskriminierende Elemente, dessen sollten wir uns auf alle Fälle zumindest bewusst sein. In Ann Wiesentals Handbuch wird das sehr treffend zum Ausdruck gebracht: „Herrschaftsverhältnisse sind in unserer Gesellschaft vielfach verschränkt. Menschen werden in unterschiedlicher Weise privilegiert oder ausgegrenzt und abgewertet. Unterdrückung und Ausbeutung findet auf verschiedenen Ebenen und im Bezug auf verschiedenste Aspekte statt: Wer hat Zugang zu Ressourcen, zu Geld, Wohnraum, Mobilität, guter Ausbildung, Jobs, Karrieremöglichkeiten, wer kann eine Familie ernähren und Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen?“ (S.32 ff.) Diese Privilegierung bzw. Diskriminierung sollte möglichst vielen Menschen bewusst gemacht werden.
Arbeit von Awareness-Gruppen im Mittelpunkt
In diesem Handbuch geht es aber nicht so sehr darum, bei einem breiten Publikum ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was Sexismus überhaupt ist und wo er zu finden ist, sondern vor allem darum, wie Unterstützungsarbeit aussehen könnte. Die Arbeit von Awareness-Gruppen, die auf Partys, Festivals und politischen Kongressen von sexistischer Gewalt und Diskriminierung Betroffene unterstützen, steht dabei im Mittelpunkt. Mir persönlich ist das alles etwas zu szenebezogen. Sollte es nicht um mehr Bewusstsein im Alltag – also auch in Schule, Uni, Arbeit und persönlichem Umfeld usw. – gehen?
Der Band richtet sich also eher an ein Fachpublikum, namentlich „Unterstützer*innen, Awareness-Gruppen und Interessierte“. Wenngleich der Klappentext auch „Betroffene von sexualisierter Gewalt“ als Zielgruppe angibt, sollte klargestellt werden, dass es sich an Betroffene richtet, die selbst tiefer in die Materie einsteigen und sich ausführlich damit beschäftigen wollen. Es ist kein Ratgeber im klassischen Sinne, sondern eben ein Handbuch, das vor allem UnterstützerInnen Anregungen und Tipps an die Hand gibt.
Tipps zur Schulung von UnterstützerInnen
Sehr gelungen finde ich dabei die umfangreiche Einleitung sowie den historischen Hintergrund. Hier wird erklärt, worum es geht und wie sich die Frauenbewegung entwickelt hat. Im Praxisteil sind zahlreiche Tipps zu finden, wie Betroffenen geholfen werden kann. Als Opferberaterin frage ich mich natürlich, inwiefern UnterstützerInnen geschult werden. Die Lektüre dieses Handbuches ist sicher nicht hinreichend, wobei hier viele Tipps zu finden sind, wie eine Schulung erfolgen kann (z.B. mit Rollenspielen etc.). Allerdings sollten UnterstützerInnen stets professionell angeleitet werden, da sonst schnell eine Überforderung eintreten kann, was auch für die Betroffenen ganz und gar nicht hilfreich ist.
Überblick auf potenzielle Probleme
Alles in allem ist Ann Wiesentals Handbuch „Antisexistische Awareness“ eine hilfreiche Lektüre für UnterstützerInnen, kann aber natürlich eine Ausbildung nicht ersetzen. Das Buch liefert auch zahlreiche Denkanstösse – hier hätte man sich allerdings einen etwas breiteren Publikumsbezug gewünscht. Jedenfalls bietet der Band viele Tipps zur Schulung von UnterstützerInnen und einen guten Überblick auf potenzielle Probleme.
Neben der konkreten Arbeit mit Betroffenen wird auch die „transformative Arbeit mit gewaltausübenden“ Personen thematisiert, weiterhin Intersektionalität, Definitionsmacht und Parteilichkeit und konsensuale Sexualität, bei der es um das gegenseitige Einverständnis geht. Natürlich wird auch das Thema „Trauma“ nicht ausgespart. Sehr gelungen und wichtig für UnterstützerInnen finde ich schliesslich den Abschnitt „Knackpunkte und Stolpersteine“, denn hier wird ein Überblick über potenziell auftretende Probleme gegeben und somit der Überforderung vorgebeugt.
Alles in allem ist Ann Wiesentals Handbuch eine hilfreiche Lektüre für UnterstützerInnen, kann aber natürlich eine Ausbildung nicht ersetzen. Das Buch liefert auch zahlreiche Denkanstösse – hier hätte ich mir allerdings einen etwas breiteren Publikumsbezug gewünscht.
„Musik ‚lebt‘ durch Emotionales, erst über Emotionen bekommen wir einen besonderen Zugang zur Musik. Für die Erfahrung von künstlerischen Qualitäten reicht es allerdings nicht aus, die Musikrezeption nur der emotionalen Wirkung zu überlassen. Erst wenn emotionale Anteile auch sprachlich reflektiert und bewertet werden können, gelangt man in seiner künstlerischen Wahrnehmung auf eine höhere Ebene.
In der Regel hat jede Musik eine emotionale Wirkung. Jede Musik beeinflusst Gefühle und setzt Empfindungen frei. Jeder Mensch empfindet sie anders und es ergibt sich ein Feld von individuellen Deutungen und Interpretationen, mit der Emotionen ausgedruckt werden können. Für die künstlerische Förderung von Schülern ist es wichtig, möglichst früh den Grundstein für eine Sensibilität dafür zu legen, eigene Gefühle und Empfindungen in die Musik zu tragen.
Nicolai Petrat
Musik wird zum grossen Teil von unseren Emotionen geleitet. So passiert es auch schnell, dass unser Körper emotional auf Musik reagiert, indem wir ‚Gänsehaut‘ bekommen, weil etwas besonders schön oder sehr schrecklich klingt. Jeder verbindet persönliche Erfahrungen mit Klängen, Farben und Melodien. Somit bleibt auch Musik, die wir selber spielen, ganz individuell und einzigartig, denn die eigenen Empfindungen werden von uns in die Musik gelegt. Um emotionale Eindrücke künstlerisch überzeugend auf dem Instrument wiedergeben zu können, sollte der Schüler seine persönliche Emotion zu dem Werk herausfinden und vor allem einmal versuchen, diese ausdrücklich zu beschreiben. Manches Phänomen kann man zwar kaum in Worte fassen. Aber bereits das Bemühen, dafür entsprechende Worte zu finden, verstärkt die künstlerische Aussage.
Künstlerische Wahrnehmung setzt eine besondere sinnliche Präsenz voraus. Durch Konzentration und Offenheit für Momente des Geschehenlassens gelangt man auf die Ebene des Intuitiven, wodurch viel Künstlerisches zum Vorschein kommen kann. Dazu gehört die Fähigkeit, sich (wieder) auf seine Intuition verlassen zu können, beispielsweise mit Musik improvisatorisch umzugehen, spontan zu bleiben, den Gesamtklang als anzustrebendes Ziel all unserer instrumentalen Aktionen zu betrachten.“ ♦
Die These, dass wir in der Musik vor allem eine Bestätigung unserer Erwartungen suchen, wird einige Musikfans vielleicht erst einmal erstaunen. Ist die Musikindustrie nicht geprägt von der Jagd nach dem immer Neuen? Nach neuen Stars und Sternchen, nach dem nächsten Hit? Sind die eingefleischtesten Enthusiasten nicht immer auf der Suche nach der heissesten Newcomer-Band, nach dem neuesten Sound?
Wohl wahr – aber der Zwang zur ständigen Rotation in den Hitparaden ist zunächst einmal ein wirtschaftlicher. Tatsächlich bieten die Plattenfirmen ihren Kunden zu 99 Prozent mehr von dem an, was sie schon mögen: die neue Platte des schon bekannten Sängers, der – Gott bewahre! – möglichst keine stilistischen Experimente macht, sondern die in ihn gesetzten Erwartungen bedient. Künstler wie Neil Young, Joni Mitchell oder Prince haben schon Ärger mit ihren Labels bekommen, weil ihre neuesten Aufnahmen nicht dem Stil entsprachen, den das Publikum angeblich erwartete. Die Radiosender spielen zunehmend nur noch „die grössten Hits der 8oer, 9oer (und das Beste von heute)“.
Die meisten Laien hören auch irgendwann auf, den neuesten Trends zu folgen, und richten sich in ihrem musikalischen Lieblingsgenre gemütlich ein. Und die Fans der klassischen Musik erfreuen sich an einem Kanon von Kompositionen, der in den letzten hundert Jahren kaum ergänzt worden ist.
Aber natürlich hat die Überraschung ihren Platz in der Musik. Wir wollen beim Training unseres Zukunftssinns ja auch herausgefordert werden. Musik, die alle Erwartungen zuverlässig bedient, ist langweilig und allenfalls als Fahrstuhl- oder „Ambient“-Musik einsetzbar.
Musiker haben unterschiedliche Mittel, für Überraschungen zu sorgen, ihnen stehen dazu alle Parameter der Musik zur Verfügung: Melodie, Rhythmus, Harmonie, Klangfarbe. Als Bob Dylan beim Newport Folk Festival 1965 seine akustische Gitarre gegen eine elektrische tauschte, vom Folk zum Rock wechselte und damit seinen Sound entscheidend veränderte, erregte das grosses Aufsehen, ein Teil seiner alten Fans wollte diese Abkehr vom Gewohnten nicht nachvollziehen und wandte sich von ihm ab. Die Beatles verletzen in ihren Songs ständig Konventionen: metrische in Yesterday (das Thema hat die krumme Zahl von sieben Takten), melodische (For No One endet nicht auf dem Grundton, sondern auf der 5. Stufe), harmonische (der Dur-Akkord der 4. Stufe wird häufig gegen einen Moll-Akkord ausgetauscht, etwa in Michelle). In der klassischen Musik ist der sogenannte Trugschluss ein beliebtes Mittel, den Hörer kurzfristig an der Nase herumzuführen: Statt zum Grundakkord führt die harmonische Wendung zum parallelen Moll-Akkord (zum Beispiel A-Moll statt C-Dur), das Stück kann damit noch nicht enden, und so folgt eine weitere Kadenz von Harmonien bis zum erlösenden Grundakkord.
Solche Kadenzen, also harmonische und melodische Wendungen, haben selbst die simpelsten Kompositionen. Jede Harmonie, die nicht dem Grundakkord entspricht, führt weg vom Gleichgewicht, sie macht deutlich: Hier kann das Stück nicht aufhören, es muss irgendwie weitergehen. Manche dieser Harmonien und manche Melodien erzeugen besonders stark das, was die Musiker „Spannung“ nennen, eine Situation, in der der Hörer sich nach einer Auflösung sehnt.
David Huron hat die Psychologie der Erwartung in eine Theorie gefasst, die er ITPRA nennt (von den englischen Wörtern imagination, tension, prediction, response und appraisal). Eine Theorie, die nicht nur für die Musik gilt, aber insbesondere dafür anwendbar ist:
I: In der lmaginationsphase stellen wir uns vor, wie eine Situation ausgehen könnte, imaginieren die Gefühle, die das bei uns auslösen würde, und die möglichen Reaktionen darauf.
T: Die Spannung steigt. Unser Körper bereitet sich auf mögliche Reaktionen vor (Flucht? Angriff?), die Muskeln werden angespannt, allgemein steigt unsere Aufmerksamkeit.
P: Nachdem das Ereignis eingetreten ist, bewerten wir unsere Vorhersage: War sie korrekt, oder ist alles ganz anders gekommen? Entsprechend ist die emotionale Antwort positiv oder negativ.
R: Nun gilt es zu reagieren. Die erste Reaktion ist spontan und unbewusst, also zum Beispiel das Aufstellen der Nackenhaare oder ein Fluchtreflex. Wir können sie nicht steuern, und es ist sehr schwierig, einmal gelernte Reflexe wieder abzulegen.
A: Erst mit einer gewissen Verzögerung bewerten wir die Situation und kommen zum Beispiel zu der Einschätzung, dass eigentlich alles ein blinder Alarm und der Fluchtreflex völlig überzogen war. In dieser Phase lernen wir auch für die Zukunft, sie bestimmt letztlich, wie wir das gesamte Ereignis emotional bewerten.
So können wir zum Beispiel eine Achterbahnfahrt, während der wir tausend Ängste auszustehen hatten, letztlich als lustvoll beurteilen – „Nochmal!“ ruft das Kind. Und natürlich gilt für die Musik praktisch immer, dass das Hörerlebnis im Nachhinein als aufregend, aber ungefährlich bewertet wird.
Was folgt aus der Theorie der Erwartung für Musiker und Komponisten? Dass sie gut daran tun, die Mechanismen zu verstehen, die sie bei ihren Hörern auslösen. Es muss ja nicht das Ziel der Musik sein, „gute“ Gefühle zu erzeugen. Ein grosser Teil der Musik des 20. Jahrhunderts war, nicht zuletzt durch die katastrophalen Erfahrungen zweier Weltkriege, auch darauf gerichtet, ein gewisses Unwohlsein auszulösen, „negative“ Emotionen, unaufgelöste Spannungen. Das darf Kunst natürlich – sie darf schocken, ängstigen, sogar beleidigen. Und natürlich sind die Erwartungen des Publikums nichts Statisches: allein dadurch, dass man gewissen Klängen ausgesetzt ist, fügt man sie seinem inneren „musikalischen Lexikon“ hinzu, und beim nächsten Hören sind sie schon gar nicht mehr so fremd.
Die Vorstellung allerdings, man könne das Publikum musikalisch umerziehen und dazu bringen, Zwölftonmusik auf der Strasse zu pfeifen, muss irrig bleiben, dazu ist unsere biologische Sucht nach der Erfüllung unserer Erwartungen einfach zu gross. ♦
Aus Christoph Drösser: Hast du Töne? – Warum wir alle musikalisch sind, Rowohlt Verlag 2009
„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben; sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur und Sprache zu erhalten.“ Worte eines frustrierten Lehrers, werden Sie jetzt vielleicht denken. Weit gefehlt. Das ist nicht die Klage eines Zeitgenossen; die Klage findet sich vielmehr auf einer rund 3000 Jahre alten babylonischen Tontafel.
Warum führe ich das an? Aus dem ganz einfachen Grunde, weil die ältere Generation zu allen Zeiten über den Zustand der jüngeren geklagt hat. Uralt schon ist dieses Reden vom Sprachzerfall, und hätte es zu jeder Zeit zugetroffen, so würden uns heute fast gänzlich die Worte fehlen und unsere Kommunikation wäre wohl nur noch auf ein Stammeln, ein Grunzen oder Pfeifen reduziert.
Stimmt es aber, dass die sprachlichen Fähigkeiten unserer Jugendlichen derart zurückgegangen sind, wie man immer wieder hören kann? Um es gleich vorwegzunehmen: Die Antwort auf diese Frage wird nicht ein Ja oder Nein, sondern ein differenziertes Urteil sein.
Jugendliche schreiben heute mehr als früher
Jugendliche schreiben heute mehr als je zuvor: Young Ladies beim Konsultieren ihres Lieblingsspielzeuges
Beginnen wir mit einem vielgehörten Vorurteil, das da lautet, Jugendliche würden ausserhalb der Schule kaum noch schreiben; sie sässen in ihrer Freizeit vielmehr vor dem PC, den sie vor allem für Spiele und für das Surfen auf Unterhaltungsseiten im Internet nutzten. Ein Vorurteil, das so nicht stimmt, denn die Fakten sprechen eine andere Sprache: Jugendliche schreiben heute mehr als je zuvor. Ob sie mit Klassenkameraden chatten, E-Mails verfassen, Mitteilungen über SMS machen, sich an Online-Spielen beteiligen, ihr Profil auf Facebook aktualisieren oder einen Kommentar in einem Blog veröffentlichen: Sie schreiben. Selbst das Handy dient Jugendlichen, anders als das Telefon früher, vorzugsweise zum Schreiben, nicht zum Sprechen. Ja, es wird im privaten Raum heute derart viel geschrieben, dass wir Germanisten geradezu von einer „neuen Schriftlichkeit“ sprechen. Nur ist es ein etwas anderes Schreiben, als es sich besorgte Eltern, Lehrer und Arbeitgeber wünschen – ein Schreiben, das von ihnen häufig als defizitär bezeichnet wird. Doch wie sieht dieses Schreiben unserer heutigen Jugendlichen konkret aus?
Aneinanderreihung von Hauptsätzen
Bevor ich diese Frage beantworten kann, gilt es, darauf hinweisen, dass frühere Generationen ihr Schwergewicht zum einen auf die geschriebene Sprache legten und zum andern diese geschriebene Sprache häufig mit der hohen Sprache der Dichtung gleichgesetzt haben. Im Schüleraufsatz eines 16-jährigen Jugendlichen aus den 1950er Jahren tönte das dann, recht abgehoben, etwa so:
Dann betraten sie das kühle, dämmerige, kerzenerleuchtete Kirchenschiff. Wärme zog ein in ihre erkalteten Herzen und verbreitete den heissen ersehnten inneren Frieden.
Ganz anders ein paar Sätze aus einem 2015 entstandenen Aufsatz zum Thema „Eifersucht“ einer ebenfalls sechzehnjährigen Schülerin:
Wir sind umgezogen und ich kam in eine neue Schule, es war mir peinlich als Frau Schmidt (die Direktorin) mich der Klasse vorstellte, sie sagte: „So, das ist die neue Schülerin Vanessa“! Ich kam mir echt blöd vor, dann sagte Frau Schmidt zu mir, das ich mich zu Kevin setzen soll, das ist ein Junge mit blauen Augen und blonde Igelhaare, er hätte auch super coole Klamotten an, er sah echt süss aus. In der ersten Woche waren alle auch sehr nett zu mir, vor allem Kevin. In der Pause hängte ich immer mit Kevin rum.[…]
Hat Pause, wenn es bei Jugendlichen um genauen Ausdruck und korrekten Satzbau geht: Der Duden
Das ist, wie man sofort bemerkt, nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich ein ganz anderer Text. Was an diesem Text, neben den Orthografie- und Grammatikfehlern, sofort auffällt, die fast ausnahmslose Aneinanderreihung von Hauptsätzen, die jeweils weder durch ein Satzschlusszeichen abgeschlossen noch ausreichend kausallogisch miteinander verknüpft werden. Man beachte beispielsweise nur schon den ersten Satz „Wir sind umgezogen und ich kam in eine neue Schule“, der kausallogisch korrekt folgendermassen heissen müsste: „Weil wir umgezogen waren, kam ich in eine neue Schule.“ Auch die beiden Sätze „Ich kam mir echt blöd vor“ und „dann sagte Frau Schmidt zu mir […]“ sind unsauber miteinander verknüpft: „dann“ ist eine temporale Partikel; zwischen den beiden Sätzen besteht aber kein temporaler Bezug.
Merkmale des Sprechens in die Schriftsprache transferiert
Und noch etwas muss uns aufgefallen sein, die Tatsache nämlich, dass der Text der Schülerin typische Merkmale der gesprochenen Sprache aufweist. Beachten wir nur, wie die einzelnen Aussagen und Sätze weniger einer grammatischen Logik als vielmehr einem vagen Assoziieren folgen, so wie sich die Gedanken der Schreiberin im Augenblick gerade ergeben. Besonders schön zeigt sich dies in den beiden bereits vorhin genannten Sätzen „Wir sind umgezogen und ich kam in eine neue Schule“ und „Ich kam mir echt blöd vor, dann sagte Frau Schmidt zu mir usw.“, die nicht durch logische Konjunktionen, sondern rein assoziativ miteinander verbunden sind. Überhaupt fehlen im Text die Konjunktionen, die ja eine Art Scharnier zwischen den einzelnen Aussagen bilden, fast ganz. Sehen wir uns dazu beispielsweise die folgenden drei Sätze an, die durch keinerlei Scharniere miteinander verknüpft, nebeneinander stehen: „das ist ein Junge mit blauen Augen und blonde Igelhaare, er hätte auch super coole Klamotten an, er sah echt süss aus.“ Kausallogisch sauber verbunden, könnten die drei Sätze etwa folgendermassen lauten: „Das ist ein Junge mit blauen Augen und blonden Igelhaaren, der super coole Klamotten trug, so dass er echt süss aussah.“
Zur mehr assoziativen als logischen Schreibweise unserer Schülerin tritt aber noch etwas Weiteres: Warum wohl sagt die Schreiberin „er hätte auch super coole Klamotten an“ und nicht „er trug super coole Klamotten“? Ganz einfach deshalb, weil es in unserer Mundart auch heisst „Er hett super cooli Klamotte a“. Die Schülerin gleicht also den hochdeutschen Satz an die Mundart, unser mündliches Sprechen an. Ganz ähnlich verfährt sie mit dem Satz „In der Pause hängte ich immer mit Kevin rum.“ Das ist eine dem Dialekt angenäherte Umgangssprache, welche die Schülerin anstelle des hochsprachlich formulierten Satzes „In der Pause halte ich mich zum blossen Zeitvertreib mit Kevin auf“ wählt.
Unlogische Konjunktionen zwischen zwei Aussagen
Was wir im Text unserer Schülerin vorfinden, ist eine Schreibweise, wie wir sie in vielen Texten Jugendlicher antreffen. Sie zeigt sich vor allem in fehlenden oder unlogischen Konjunktionen zwischen zwei Aussagen, in einem häufig unlogischen Gedankengang, in langen Sätzen mit wenig gliedernder Interpunktion, in einem vagen Assoziieren, in einer oftmals ungenügenden äusseren Gliederung und nicht zuletzt in einer gewissen Geschwätzigkeit. Fassen wir diese Ergebnisse zusammen, so lässt sich sagen, dass sich bei unsern Jugendlichen eine zunehmende Angleichung der geschriebenen Sprache an die gesprochene Sprache vollzieht, in der wir ja in der Regel auch nicht stringent logisch, sondern vielmehr assoziativ argumentieren, indem wir immer wieder von einem Gedanken zum andern springen. Die Germanistik bezeichnet diese Tendenz zur Vermündlichung der Sprache, die übrigens nicht nur bei jugendlichen Schreibern, bei diesen aber besonders ausgeprägt, feststellbar ist, mit dem Begriff „Parlando“ – einem Begriff, der aus der Musiktheorie stammt und dort eine musikalische Vortragsweise meint, die das natürliche Sprechen nachzuahmen versucht.
Unter Jugendlichen gibt es mit Blick auf ihre Parlando-Texte so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, das aus folgenden vier Schreibanweisungen besteht:
Nimm das einzelne Wort, den einzelnen Satz nicht allzu wichtig. Schreib weiter.
Gehe davon aus, dass der Leser das, was Du schreibst, auch so versteht wie Du.
Rechne mit dem gesunden Menschenverstand des Lesers; vermeide unnötige Differenzierungen.
Nimm den Inhalt wichtiger als die Form.
Inhalt wichtiger als die Form
Beeinflussen wesentlich das Sprachverhalten der Jugend: Das Handy und die Social Media
Diese letzte Anweisung „Nimm den Inhalt wichtiger als die Form“ ist dabei die wichtigste dieser vier Schreibanweisungen. Sie ist ganz wesentlich verantwortlich für den häufig sorglosen Umgang mit den Normen und Ansprüchen der geschriebenen Sprache, wie das Erwachsene, vor allem Eltern, Lehrer und Arbeitgeber, bei den heutigen Jugendlichen mit einem gewissen Entsetzen feststellen. So machen Schüler heute, wie der Vergleich von Schulaufsätzen aus drei Jahrzehnten gezeigt hat, doppelt so viele Rechtschreib- und vor allem Interpunktionsfehler als noch vor vierzig Jahren, wobei die Mädchen statistisch immer noch besser abschneiden als die Jungen. Und so hapert es denn auch bei der Grammatik, der Stilistik und der Sprachlogik zum Teil gewaltig, so dass wir in Schulaufsätzen beispielsweise Sätze wie die folgenden zu lesen bekommen:
Der Blitz hat uns erschrocken.
Er hing die Bilder an die Wand, aber sie hängten schief.
Graubünden ist ein gebirgiges Volk, das sich vorwiegend von Touristen ernährt.
Unsere Welt nimmt in erschreckendem Masse zu.
Fünf Prüfungstage mit weichen Knien sind abgeschlossen.
Sorglosigkeit der Sprache gegenüber
Bemerkenswert ist dabei, dass all diese Fehler weniger mit mangelnder Sprachbeherrschung zusammenhängen als vielmehr mit einer gewissen Sorglosigkeit der Sprache gegenüber. Besonders schön zeigt sich das an den auffallend vielen Rechtschreibfehlern in Wörtern, die eher einfach zu schreiben sind: Ich fant die Läute gemein.
Wie erklärt sich diese Vernachlässigung der sprachlichen Form, wie wir sie in Parlando-Texten unserer Jugendlichen, geradezu gehäuft vorfinden? Dafür gibt es selbstverständlich verschiedene Gründe; die drei wichtigsten möchte ich kurz nennen:
Der erste Grund – wie könnte es anders sein – ergibt sich aus dem Aufkommen neuer, elektronischer Medien wie E-Mail, SMS, Chat, Facebook, Whatsapp usw., wo das ungeschriebene Gesetz der Sprachökonomie gilt, d.h., wo alles möglichst schnell, kurz und der mündlichen Redesituation angepasst sein muss. So tippen Jugendliche in ihren Mails beispielsweise nur das Kürzel gn8, wenn sie dem Freund „Gute Nacht“ wünschen, oder OMG (oh my god), wenn für sie etwas furchtbar ist oder hdgdl, wenn sie jemandem sagen wollen: „hab dich ganz doll lieb“. Und gegrüsst wird nur noch mit Kürzungen wie LG (liebe Grüsse) oder „hegrü“, falls man sich überhaupt noch Zeit für einen Gruss lässt. Kommas lässt man selbstverständlich möglichst weg; sie kosten ja auch nur Zeit. Schliesslich schreiben Jugendliche etwa beim Chatten konsequent klein; das geht schneller, als wenn sie zwischen gross- und Kleinbuchstaben abwechseln müssen.
Persönliche Erfahrung als Massstab des Schreibens
Dass dieses informelle, verkürzte Schreiben in den neuen Medien das Schreiben in den übrigen Texten, etwa in Schulaufsätzen, beeinflusst, steht ausser Frage, auch wenn dieser Einfluss, wie neuere linguistische Studien gezeigt haben, nicht überschätzt werden darf. Es gibt da nämlich noch ein weiteres wichtiges Moment, das sich auf die Schreibweise unserer heutigen Jugendlichen auswirkt. Wurde früher, etwa in Schulaufsätzen an der Oberstufe die Darstellung schulischer Inhalte gefordert, lautete ein Thema etwa „Der Freiheitsbegriff in der Schweizerischen Bundesverfassung“, so wird heute eine stärker eigenständige Auseinandersetzung mit Themen verlangt. So z.B. „Welchen Wert hat der Sport für mich?“. Persönliche Erfahrungen werden für die Jugendlichen so vermehrt zum Massstab ihres Schreibens. Sie äussern sich in der Formulierung einer Ich-Perspektive, zeigen sich im Anspruch der Jugendlichen, authentisch zu sein, was dazu führt, dass sich ihr Schreiben der gesprochenen Sprache stark annähert. Das hat einerseits zur Folge, dass die Texte spontaner, ja lebendiger wirken, dass andererseits aber ihre formale Korrektheit abnimmt, was Grammatik, Rechtschreibung und vor allem die Interpunktion betrifft.
Verwischung der Sprachebenen
Für sprachbewusste Erwachsene bloss Fragezeichen, für inhaltsbewusste Jugendliche no problem: „Hey Kellner, schwing mal a cold one rüber.“
Schliesslich gibt es da noch einen dritten Grund für den häufig sehr sorglosen Umgang unserer Jugendlichen mit der Sprache. Er besteht in einer gewissen Demokratisierung der Sprache. Was ist damit gemeint? Ich sage es: In der deutschen Sprache haben Normen in der Grammatik, vor allem aber in der Rechtschreibung, anders als etwa im Englischen, einen sehr hohen Stellenwert, weil wir ihre Beherrschung als Zeichen für Intelligenz und schulischer Bildung nehmen. Machen wir die Probe aufs Exempel: Ich frage meine Leserinnen und Leser: Würden Sie als Arbeitgeber jemanden für einen verantwortungsvollen Posten einstellen, der in seinem Bewerbungsschreiben Grammatik- oder gar Orthografiefehler macht? Höchstwahrscheinlich nicht. Zu wichtig sind Ihnen nämlich sprachliche Normen. Und genau gegen diese Normen, die sie als elitär empfinden, rebellieren viele unserer Jugendlichen. Sie neigen zu einer Sprache, die nicht mehr grammatisch korrekt, stilistisch rein sein will, sondern in der sich verschiedene Sprachebenen gewissermassen verwischen, die – mit einem Wort – demokratisch ist. Das zeigt sich zum einen in ihrem häufig spielerischen und sorglosen Umgang mit der geschriebenen Sprache, und dies alles mit einer starken Orientierung an der Mündlichkeit, und zum andern in einem zunehmenden Einbezug der Mundart. Ohne die geringsten sprachlichen Skrupel können sie dann beispielsweise „I bi xi“ anstatt hochdeutsch „Ich bin gewesen“ schreiben. Das schafft für sie offenbar Nähe.
Unterschied zwischen Hochsprache und Dialekt verwischt
Bei Jugendlichen läuft der private schriftliche Austausch – per SMS, Chat, Mail, Whatsapp usw., aber auch in vielen nichtelektronischen Texten – heute fast ausschliesslich in der Mundart ab; für sie existiert der Unterschied zwischen Hochsprache und Dialekt nicht mehr, so dass die Linguisten längst von einem „Schriftdialekt“ sprechen. Interessant ist dabei, dass diese Tendenz zur Dialektisierung der Hochsprache zunehmend auch junge Erwachsene erfasst. Als unsere Tochter Flavia, die Lehrerin ist, für ihre beruflichen Leistungen vom Schulrat mit einer Prämie belohnt wurde, gratulierte ihr unser 28jähriger Sohn Fabio, der Jurist ist, mit folgender Mail:
Sehr geilö Flav
gratuliere vu herze
lg Fab (Herzchen)
Was an dieser Mail auffällt, sind nicht nur die Mundart und die Kürzung lg für „Liebe Grüsse“, sondern auch der typisch jugendliche Ausdruck „geilö“, der hier nichts weiter meint, als dass man etwas gut findet, und das Herzchen am Schluss, das nicht fehlen darf. Denn Jugendliche empfinden eine Nachricht als unvollständig, wenn nicht mindestens ein Smiley oder ein Herzchen gesetzt wird. Die Linguisten sprechen inzwischen gar von einer „Gefühlsstenografie“. Zu ihr gehört auch, ganz nach amerikanischem Vorbild, die informelle, stark emotional gefärbte Anrede, die inzwischen mehr und mehr auch von Erwachsenen, ja selbst von Unternehmen praktiziert wird, wie das folgende Beispiel zeigt, das übrigens meine Frau in St. Gallen entdeckt hat:
„Informelle und stark emotional gefärbte Anrede“: An Jugendliche gerichtete Plakat-Sprache
Man beachte in dieser etwas kumpelhaften Anwerbung nicht nur die typische Jugendsprache, sondern auch die mit ihr zusammenhängenden Anglizismen „hey“ und „cool“. Dass englische Wörter unsere deutsche Sprache zunehmend vereinnahmen, ist längst eine Tatsache. Dass sie bei Jugendlichen besonders beliebt sind, hängt unter anderem damit zusammen, sich als Gruppe von den Erwachsenen abgrenzen zu können. Dazu kommt das hohe Prestige des Englischen, wirkt es doch so modern, so snappy, so sexy, wie es Deutsch offenbar nicht kann. „Tschau Simon, see you later“ verabschieden sich Jugendliche untereinander heute. Und wenn sie etwas essen, dann „fooden“ sie, und wenn sie beim Essen ein Bier bestellen, dann rufen sie nicht einfach nach einem Bier, sondern dann heisst es „Hey Kellner, schwing mal a cold one rüber.“ Und wenn sie schliesslich etwas nicht hinbekommen, dann sagen sie nicht „Scheisse“, sondern „Shit“.
Jugendliche schreiben heute informeller als noch vor 30 Jahren, machen z.T. auch deutlich mehr grammatische und orthografische Fehler. Das ist wahr. Dafür schreiben sie aber auch viel kreativer, wie neuere Studien gezeigt haben. Zudem können sie sehr wohl unterscheiden, ob sie eine SMS oder einen Deutschaufsatz schreiben. Sie passen ihre Sprache der Situation an. Und vergessen wir zum Schluss nicht: Die sprachlichen Anforderungen sind heute in einem Masse gestiegen, dessen wir uns erst allmählich bewusst werden. Was früher nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung sprachlich zu leisten war, wird heute von vielen gefordert. Daher kommt dem Auf- und Ausbau der Sprachfähigkeit unserer Jugendlichen in der Schule, aber auch später eine fundamentale Rolle zu. ♦
Geb. 1947, Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich, 1975 Promotion über Jeremias Gotthelf, 1977 Diplom des höheren Lehramtes, danach Lehrtätigkeit am Gymnasium und als Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, langjähriger Referent in der Fortbildung für die Mittelschul-Lehrkräfte und Leiter von Schriftstellerseminarien, seit 1996 Dozent für Literatur und Literaturtheorie an der Zürcher Fachhochschule für Angewandte Linguistik; Verfasser mehrerer Publikationen und zahlreicher Beiträge zur modernen Dichtung, darunter das Standardwerk: Die Struktur der modernen Literatur; Mario Andreotti lebt in Eggersriet/CH
Lesen Sie im Glarean Magazin auch von Mario Andreotti:
Dominik Riedo hat ein Buch geschrieben. Schriftsteller tun bisweilen und mit Vorliebe ebensolches – sie schreiben über fiktive Figuren, die sich Gedanken machen, die etwas erleben, etwas zu verarbeiten, die etwas verbrochen und gut zu machen haben. Schriftsteller schreiben auch Biographien und Autobiografien, und manchmal brechen sie mit ihren Geschichten ein Schweigen und ein Tabu. In seinem Buch „Nur das Leben war dann anders“ schreibt Dominik Riedo über seinen Vater und dessen Geheimnis, dessen Anders-Sein. Er schreibt darüber, was es mit einem Sohn macht, wenn er auf den Spuren eines Verzweifelten wandelt, um zu verstehen, was da geschehen ist.
Gemeinschaften – schutzbietende, denn dazu sind es Gemeinschaften – dulden und sichern ein gewisses Mass an Anderssein in ihrer Mitte. Wird jedoch dieses Mass nur um einen winzigen Schritt überschritten, kippt die Duldung, und der Einzelne, der für diesen Übertritt als zuständig ausgeschaut wird, wird als Gefahr bezeichnet. Es gilt ihn auszuschalten. Dieser Einzelne – eben noch ermutigt, seine Besonderheit, sein Anderssein zu leben – findet sich ausgeschlossen wieder. Und versteht die Welt nicht mehr. Gemeinschaft ist Gemeinschaft eben auch dadurch, dass sie geschlossen ist und mithin statisch. Offene Gemeinschaften sind dagegen instabil, sie müssen immer wieder für diese Offenheit und gegen ihre Feinde kämpfen. Das ist unbequem. Freiheit ist unbequem. Im Kleinen ist das nicht anders als im Grossen: Karl Popper wäre in diesem Jahr 114 Jahre alt geworden – und hat verstanden, warum Menschen bis zur Unmenschlichkeit gegen die offene Gesellschaft kämpfen.
Transgenerationelle Übertragungen in der Literatur
Familien sind die Elementarzelle unserer Gemeinschaft – in ihnen gelten Gesetze und Regeln, jede Familie hat ihre geschriebenen und ungeschriebenen Glaubenssätze und Haltungen, die sie von anderen Familien unterscheidet. Und in nicht wenigen Familien scheint es etwas wie einen Fluch zu geben. Über Familien und ihre Geschichten gibt es reichlich Literatur. Transgenerationelle Übertragungen, lese ich, spielen in der Literatur traditionell eine ganz grosse Rolle. Man könnte sogar sagen, dass die Literatur fast auf dieses Phänomen spezialisiert ist. Seit der Antike werden Geschlechterfolgen, Generationen, Familienflüche, Weitergabe von Schicksal, von Verbrechen durch die Generationen hindurch in der Literatur thematisiert, und das in ganz unterschiedlicher Form.
Die Verschwiegenheit gehört zu diesem Komplex – es darf nicht darüber geredet werden, denn es könnte die ganze Familie in Verruf geraten. Das, worüber nicht gesprochen wird, wirkt jedoch im Leben dieser (zunächst kindlichen) Nachkömmlinge weiter und kann für seine Erfahrungen und seine Wahrnehmungen bestimmend werden.
Heinrich Böll schrieb 1959 mit „Billard um halb zehn“ einen Generationen-umspannenden Roman, der die NS-Zeit reflektierte. Spätere Familienromane griffen die mangelhafte Kommunikation über die Naziherrschaft und die eigene Verstrickung auf. In vielen deutschen Familien geistern noch immer Geheimnisse, über die die heimkehrenden Männer nie sprachen. Inzwischen sind die Enkel ins Leben entlassen und haben Fragen über Fragen, weil irgendetwas immer nicht zu gelingen scheint… An diesem Punkt beginnen viele, in der Vergangenheit zu suchen – und neben der Suche nach dem Ursprung wird die Frage nach Umwelt und Anlage laut.
Sucht hat mit Suchen zu tun
Die vom Vater wieder und wieder gestellte Frage („Warum müssen Menschen eine Veranlagung haben, die nicht akzeptiert wird?“) nach Anlage oder Umwelt bleibt offen bzw. führt, wie im Falle auch von Dominik Riedos Vater dazu, dass er sich überall nach Orientierung umschaut: Bei Astrologen, in der Esoterik, bei Kartenlegern, in buddhistischen Weisheiten, bei Mystikern und noch vielem anderen.
Ein Schlüsselerlebnis – und dies im wahrsten Sinne des Wortes – fällt dem Sohn ein, während er sich mit Prozessakten, Presseartikeln und Tagebucheinträgen in Fragmenten auseinandersetzt: Ein Blick durchs Schlüsselloch auf seinen Vater, der im Schmerz über sich selbst und der Sucht ausgeliefert, in seinem Zimmer wütet und Gegenstände zerstört. Wer es nicht kennt, kann nicht annähernd nachempfinden, was da aus einem Menschen heraus will, wie es heraus bricht als kaum noch menschlicher Ton. Verstörend, einen Menschen in einem solchen Zustand zu sehen – als Sohn noch mehr, denn den Menschen, der einem doch Schutz bieten soll, dem man ausgeliefert ist, so derart hilflos zu sehen – macht Angst. Sucht hat immer (auch wenn es trivial und weit her geholt als Wortspiel daherkommt) mit Suchen zu tun. Egal welche Sucht es ist: ihr nicht zu entkommen, sie nicht in den Griff zu bekommen, sie jeden Tag wieder in sich hochsteigen zu spüren – erodiert und treibt schwächere Menschen nicht selten in den Wahnsinn und in den Selbstmord. Und was machen stärkere Menschen?
Ob es eine Anlage ist, bzw. was „es“ ist, wenn es keine Veranlagung ist, bleibt zunächst unbeantwortet – ist aber eben das Thema schlechthin in diesem Buch. Doch worum geht es nun genau? Was ist dieses ES, das den Sohn dazu bringt, einen Nekrolog auf seinen Vater zu schreiben? Die Bezeichnung, die die Gesellschaft seiner Veranlagung gibt, ist Pädophilie.
Die zentralen Warum-Fragen
In unseren offenen Gesellschaften, die gleichgeschlechtliche Liebe inzwischen legalisiert (ob inzwischen auch in der Schweiz entzieht sich gerade meiner Kenntnis) und damit von den Rändern in die Mitte der Gesellschaft geholt haben, gilt die erotische Liebe zu Kindern, der Sex mit Jungen bis kurz vor der Pubertät, als Verbrechen. So wurde denn der Vater behandelt und angesehen: als Verbrecher, der einer Strafe zugeführt werden muss. Dass diese dann doch vergleichsweise mild ausfiel, half dem Vater wenig. Nachdem er in Thailand einem Partner, der ihn nach Strich und Faden ausnahm und ihn um sein Altersgeld brachte, aufgesessen war, empfand er vielmehr dies als „seine gerechte Strafe“. – An dieser und an anderen Stellen fragt er sich: „…warum fast alles, was ich gut gemeint tue, aufbaue und zu vollenden versuche, mir meistens Unheil bringt.“ Die Warum-Fragen sind die zentralen Fragen in diesem Zusammenhang.
Zu einem Monster macht keiner sich selbst – die Gesellschaft macht ihn dazu, indem sie mit dem Finger auf ihn zeigt. Dass etwas nicht „in Ordnung“ ist, hat der Träger des entsprechenden Stigmas längst selbst bemerkt. In John Steinbecks „East of Eden“ sind die Verwerfungslinien zwischen dem Guten und dem Bösen, dem nicht nur Bösen und dem nicht nur Guten eindrucksvoll beschrieben. In „Jenseits von Eden“ wird Cathy Ames, Antagonistin zu Adam Trask, als dämonisches Monster beschrieben – als ein „psychic monster“ with a „malformed soul“. Physisch eher zierlich, blond, hübsch, sind ihre Augen kalt und ohne Emotionen. Charismatisch ist sie – von klein an hat sie Wirkung auf Menschen, die, wenn sie naiv genug sind, sich auf sie einlassen. Dass sie Prostituierte wird und schliesslich die Leiterin eines Etablissements, ist wenig überraschend. Kate ist der Satan in Person.
Aber sie ist auch eine Pandora: Wohin immer sie geht, und was immer sie tut – sie tut nicht, was ihr gesagt wird, sondern öffnet die Büchse, sie setzt das Böse in die Welt, das Unheil. Nun ist Kate alias Cathy seelisch grausam gegen die, die sich auf sie einlassen – womit ich jetzt eintrete in eine Art Psychogramm. Sarah Aguiar schreibt in „No Sanctuary“, Kates Verhalten sei einer Perversion menschlicher Werte zuzuschreiben, sie sei kindlich-egozentrisch, sehr bedürftig und wolle sich selbst auf Kosten anderer schützen – ja, sie rächt sich für den Mangel an Liebe und Aufmerksamkeit in ihrem Leben, um nicht zu sagen: in ihrer Kindheit.
Psychogramm eines pädophilen Menschen
Dominik Riedo
Warum diese ausführliche Herleitung? In Dominik Riedos Nachruf auf den Vater geht es eben auch um das Psychogramm eines (pädophilen) Menschen. Nicht der Sohn stellt es, sondern er nimmt uns mit in die Gutachten, die seinem Vater zu drei verschiedenen Lebenszeiten gestellt wurden. In den drei „Sexgutachten“ im Buch mag der Leser nachlesen, was in unterschiedlichen Zeitepochen beobachtet und gewichtet wurde. Zum Beispiel: „…der Pädophilie liegt eine ausgeprägte neurotische Fehlentwicklung mit starker Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls zugrunde…“, „…der Explorand bleibt in seiner narzissistisch selbstbezogenen Welt gefangen und vermag als Erwachsener keine reifen partnerschaftlichen Beziehungen einzugehen“, „…Er weicht auf Knaben aus, denen er körperlich wie intellektuell überlegen ist…“, „…ist nicht in der Lage, aggressive Gefühle zu reifer Verarbeitung zu führen.“
Würde ich gefragt, ich würde sofort antworten: derlei „Gutachten“ sind Beschreibungen von etwas, das ja offensichtlich ist – wir sehen es doch bereits, und die schriftliche Fixierung derselben ist alles andere als eine Therapie. Eine Therapie – als Verhaltensänderung (denn das sind Therapien immer) – ist aber nicht möglich. Ein hoffnungsloser Fall? Zumindest haben wir einen Menschen vor uns, der schon bei seiner Geburt ein Gezeichneter ist. – Auch das schildert der Sohn: den Weg, den sein Vater über das Waisenhaus zu den vielen verschiedenen Interessen und Berufsentwürfen nahm, ein begabter junger Mann, fleissig, beflissen, mit guten Manieren und nicht unangenehmem Auftreten – wo viel Licht ist, ist viel Schatten?! Nun ist hier einer mit vielen Begabungen – aber sie alle wiegen offensichtlich nicht den einen Schatten auf, den er zu tragen hat. Daran konnte auch Sylvia Tanner (Gründerin der Schweizer Beratungsstelle für Pädophile ITP-Arcados mit Internet-Präsenz, im Oktober 2010 verstorben) nicht wirklich helfen. Von ihr stammt u.a. der Satz: „Der junge Pädophile muss verstehen lernen, dass das Kind ihn lieben kann – es sich aber in der Regel nicht verliebt und kein erwachsenenähnliches Begehren zum Tragen kommt.“
Sinnsuche als Rückkehr zum Punkt Null
Die Kindheit ist enorm wichtig. Jede Sinnsuche – bei Schwierigkeiten im eigenen Leben – fängt damit an, dass man an den Punkt Null – und wenn es gar sehr ernst wird – sogar vor den Punkt Null zurückgeht. Ich kenne das von mir selbst – ich kenne es von etlichen anderen. Die Phänomene sind alle unterschiedlich, die Fragen meistens dieselben: Wer bin ich? Und: Bin ich das, was meine Eltern sind? Auf dem Weg zu sich selbst liegt die totale Verweigerung wie eben auch die schrittweise Annäherung an die Eltern. Wohl dem, der Eltern hat, die dabei helfen, indem sie als Zeugen von einer von uns als Kind unbewusst erlebten Zeit berichten. Natürlich sucht Dominik Riedo als jüngerer wie auch als älter werdender Mann stellvertretend für seinen Vater und in eigener Sache den Faden zum Ursprung. Im Kapitel „Ordnungen und Störungen“ durchforstet er das Familienleben auf Hinweise – hat die Suche seines Vaters auch auf ihn einen Einfluss? Die Mutter kommt nicht davon – ja, auch eine Mutter ist im Leben eines heranwachsenden Jungen wichtig.
Sobald klar wird – und im Laufe des Lebens und zwangsläufig in der Auseinandersetzung mit einer unheilbaren Krankheit, die einen selbst erwischt, wird es klar -, dass man nicht das Schicksal eines der beiden oder sogar beider Elternteile nachleben muss, sondern dass das eigene Schicksal darin besteht, sein eigenes Leben zu leben. Die geschlagenen Wunden sind nicht von den Eltern geschlagen – und es ist eben auch nicht so, dass wir in der falschen Zeit oder in der falschen Kultur leben.
Unerfülltes Bedürfnis nach Klärung
Bevor ich das letzte Kapitel lese und hier reflektiere, etwas zum Stil, zum Erzählstil des Buches. Der Leser muss sich an ihn gewöhnen (andererseits nicht, denn es ist ein typischer „Riedo“), fügt sich doch hier Ebene an Ebene, Schicht an Schicht, kenntlich gemacht in Kursiv- und Normalschrift. Mal spricht der Vater, dann der Sohn, da führt der Sohn Selbstgespräche oder richtet sich an den Leser. Mir geht bei etwa Seite 178 ein wenig die Geduld aus – noch einmal eine Runde gehen, noch einmal eine Betrachtung. Mir will scheinen, das Bedürfnis der Klärung ist für den Autor noch nicht erfüllt, während ich mir einbilde, schon ein Bild zu haben – aus je eigener Erfahrung im Durchschreiten von Unterwelten und Höllen. Ich will die nochmalige Tour nicht mitgehen. Manche Wunden heilen nicht, weil sie immer wieder aufgekratzt werden. Aber so ist das, wenn man Antworten sucht – aus Sucht. Das Thema ist eben kein geschmeidiges, das schon mal überhaupt nicht. Wenn man sich einlässt, dann führt uns Dominik Riedo hier in Abgründe, deren es im Menschen eben viele gibt. „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (Friedrich Nietzsche)
Keine Abrechnung mit dem pädophilen Vater
Und was meint Dominik Riedo abschliessend? Wofür dieses Buch? Denk er, es könnte eine Heilung geben? Unter anderem nennt er diesen Punkt: „Es könnte bei einigen Fällen tatsächlich so sein, dass man die Pädophilie ‚heilen‘ kann.“ Und wenn nicht? Sollte man eventuell die emotionale Unreife und/oder die narzisstisch bedingte, zu selbstbezogene Persönlichkeitsstruktur verändern? Sollte man das Schutzalter senken, oder das anerzogene Objekt der Lust ändern, d.h. eine Objektverschiebung vornehmen? Kastration? Sollte man die Gesellschaftsordnung ändern? – „So oder so müsste sich die Gesellschaft einmal ernsthaft und ganz bewusst durch den Kopf gehen lassen, dass die Stärke eines Tabus oft dem unbewussten Bedürfnis der Verbietenden entspricht, der damit Triebregungen abwehrt.“
Nein, dieses Buch ist keine Abrechnung mit dem Vater, es schildert uns einen Menschen mit Schattenseiten. Auch den guten Seiten ist Raum eingeräumt – allerdings unter dem drückenden Fanal der Tragik. Das Ziehen von Bilanzen beginnt zu verschiedenen Zeiten im Leben, nicht erst wenn jemand gestorben ist.
Auch ich bin ein Kind von Eltern – bin jetzt in einem Alter, in dem ich mich mit ihren Verfehlungen auseinandersetze. Ich wiederum bin Mutter, und ich werde Fehler gemacht haben, die mir die Kinder früher oder später vorwerfen werden. An beidem werde ich milde: Keiner ist ganz schlecht, niemand ist 100 % gut. Das lese ich auch aus Riedos Zeilen heraus.
Der Sohn fragt sich gegen Ende seines Gewaltmarschs: „Wie wäre ich, wenn mein Vater nicht mein Vater gewesen wäre? Es folgt der Blick in den Spiegel – den Kinder tun – wenn sie sich abgrenzen wollen und doch auch eine durchgängige Linie von sich zu ihren Vorvorderen suchen. Und? „Was bleibt?“
Unsere Gesellschaften sind frei, solange wir konform sind, aber schon bei der kleinsten „Andersartigkeit“ (die in ihrer guten Ausführung auf Esoterikforen und auf Affirmationskärtchen der selbsternannten aquarianischen Weltretter als unbedingt nötig beschworen wird) umschlägt.
Was bleibt, wenn Familien einen Schandfleck aufweisen – ein Naziverbrechen, eine Vergewaltigung, einen Mord, um nur einige zu nennen – und sie schweigen müssen? Was bleibt, wenn das Geheimnis gelüftet wird, und man sich als Kind, das man immer ist und bleibt, ausliefert? Das Buch von Dominik Riedo ist keine Rechtfertigung der Pädophilie – es ist eine mutige Konfrontation eines Sohnes mit dem So-Sein seines Vaters, und wenn man so will: seiner Herkunft. Die Auseinandersetzung mit dem, wo man her kommt, ist wichtig. Nur dann hat man Perspektiven für den Weg nach vorne. ♦
„Wörterbuch des technokratischen Unmenschen“ – der Titel lässt aufhorchen. Ein Desiderat, denkt man, die längst fällige Fortschreibung der Tradition von Victor Klemperers „Lingua tertii imperii“, Karl Korns „Die Sprache in der verwalteten Welt“ und dem Gemeinschaftswerk „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ von Gerhard Storz, Wilhelm E. Süskind und Dolf Sternberger, den in Heidelberg zu hören der Rezensent das Glück hatte. Doch um es vorwegzunehmen: der Leser wird ein wenig enttäuscht.
Dem Technokraten, ein generalisierender Begriff, wird Unmenschlichkeit unterstellt. Niemand wird bestreiten wollen, dass ungebremstes Gewinnstreben und oft unreflektierter technologischer Fortschritt eine sichtbare Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen, aber daraus über den Titel eine Assoziation zum totalitären System des Nationalsozialismus herzustellen, geht über das Ziel hinaus.
Dazu einzelne Stichwörter.
– alternativlos: Das kann phantasielos sein, denkfaul, unmenschlich ist es gewiss nicht.
– Benchmarking: Am Anglizismus mag man sich stören, auch daran, dass Objektivität oft nur vorgetäuscht ist, überzogen die Schlussfolgerung: Für den technokratischen Unmenschen hingegen ist das „Benchmarking“ ein wunderbares Instrument „zur Optimierung der von ihm erstrebten Herrschaftsform“ (S. 35).
– Engagement: Es bedarf schon einiger Gedankenwindungen, um diesen Begriff ins Unmenschenwörterbuch zu befördern. Dass mit einiger Mühe jeder Begriff ins Negative gewendet werden kann, beweist der Autor auch hier. „Engagement“ wird dann nämlich zu einem Instrument, das „Ausfallerscheinungen in Staat und Gesellschaft kostengünstig korrigieren soll“. (S. 59) Über diesen Satz kann man diskutieren, man sollte es, dennoch gehört „Engagement“ nicht in dieses Wörterbuch.
Gründliche Überarbeitung nötig
Die Liste liesse sich leicht fortsetzen, wir wollen aber nur zwei gelungene Beispiele vorstellen.
– Audit: Ein furchtbares Wort, das zu Recht dem Unmenschen zugeschrieben werden kann.
– Beratung/Consulting: Ein camouflierender Begriff, unmenschlich wäre auch hier zu stark. „McKinsey und Konsorten haben den Umbau der Gesellschaft mitbewirkt und sehr viel Geld aus Behörden und Unternehmen herausgezogen, die nicht selten nach einer ‚Beratung‘ am Boden liegen“ (S. 37). Dem ist nichts hinzuzufügen.
Wäre nicht der fatale „Unmensch“ in den Titel geraten, man hätte Pierangelo Masets neues „Wörterbuch des technokratischen Unmenschen“ mit ganz anderen Augen gelesen, denn den meisten kritischen Bemerkungen des Autors ist zuzustimmen. Ein schmales Buch, das manches erhellt, dem aber zu wünschen wäre, dass es für die zweite Auflage gründlich überarbeitet würde.
Wäre also nicht der fatale „Unmensch“ in den Titel geraten, man hätte mit ganz anderen Augen gelesen, denn den meisten kritischen Bemerkungen des Autors ist zuzustimmen. Gelungene Beispiele sollen genannt werden:
Beschulung, Corporate Identity/Corporate Design, Eindringtiefe, Humankapital, Kreativität/Kreativwirtschaft, Philosophie, Update/Upgrade.
Trotz aller Kritik: Ein schmales Buch, das manches erhellt, dem aber zu wünschen wäre, dass es für die zweite Auflage gründlich überarbeitet würde. ♦
Schon bevor der deutsche Psychiater und Rechtsmediziner Richard von Krafft-Ebing den Begriff des Masochismus, der sich auf den österreichischen Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch bezieht, in den wissenschaftlichen Diskurs einführte, beschrieben zahlreiche Autoren Frauen, die eine gewisse Lust an der Unterwerfung und am Leiden in der Liebe empfanden. Sowohl Goethe als auch die Geschwister Bronte oder Nathaniel Hawthorne beschrieben solche Figuren. Eine neue Untersuchung „Ohnmachtsrausch und Liebeswahn“ von Regine U. Schricker widmet sich explizit dem weiblichen Masochismus in Literatur und Film.
Besonders populär wurde die Darstellung der in Leid umgeschlagenen Leidenschaft im 20. und 21. Jahrhundert. Dies hat nicht zuletzt mit der „pornographication of the mainstream“ zu tun, die Brian McNair und Susan Sontag Mitte der 1990er Jahre postulierten. In einer Zeit, in der Sexualität nicht „glücklich, sondern allenfalls süchtig“ macht (Georg Seesslen) und die mediale Darstellung nackter Körper nicht mehr ungewöhnlich, sondern ganz alltäglich ist, erscheint der Sadomasochismus als interessantes „Lusterlebnis“.
Kulturelle Besetzung der weiblichen Unterwerfung
Die Autorin Regine U. Schricker nähert sich in ihrer Dissertation „Ohnmachtsrausch und Liebeswahn“ dem Thema „Weiblichkeit und Masochismus“ an, wobei sie der Frage nachspürt, wie „weibliche Unterwerfung kulturell besetzt ist“, und wie die mediale Inszenierung vonstatten geht. Dabei analysiert sie fiktionale literarische und filmische Texte des 20. und 21. Jahrhunderts (aus den Jahren 1954-2004). Vor allem nordamerikanische, französische und deutschsprachige Texte werden herangezogen. Den Textanalysen stellt die Autorin einen einleitenden Teil voran, in dem sie zunächst ein Theoriegebäude entwirft, in dem psychoanalytische, literarische, feministische und rezeptionstheoretisch ausgerichtete Diskurse berücksichtigt werden. Ausgehend von Ricahrd von Krafft-Ebings, Sigmund Freuds und Theodor Reiks psychonalytischen Arbeiten zeigt die Autorin auf, wie Masochismus und Weiblichkeit in Relation zueinander gestellt werden können.
„Venus im Pelz“: Sado-masochistische Illustration von Franz von Bayros
Sehr interessant ist auch die Analyse von „Venus im Pelz“, Leopold von Sacher-Masochs Novelle, in der ein männlicher Masochist im Zentrum der Darstellung steht. Schliesslich geht Regine Schricker der Frage nach, ob der Masochismus eine spezifisch weibliche Angelegenheit sei, wie es etwa die Konzepte der Psychoanalytikerinnen Helene Deutsch, Marie Bonaparte und Jeanne Lampl-de Groot nahe legen. Welche Positionen sind im feministischen Diskurs vorherrschend? Und welche Rolle spielt der weibliche Masochismus in der feministischen Film- und Literaturtheorie?
Der weibliche Masochismus im Feminismus
Im Hauptteil der Arbeit widmet sich die Autorin dann ausführlich elf literarischen und filmischen Texten, die sie nach unterschiedlichen Kriterien zusammenfasst. Luis Bunuels Film „Belle de jour“ aus dem Jahre 1967 und Rainer Werner Fassbinders Fernsehfilm „Martha“ aus dem Jahr 1974 etwa setzen sich intensiv mit dem Bürgertum und seinen Abgründen auseinander. Der voyeuristische weibliche Blick wird anhand von David Lynchs Film „Blue Velvet“ (1986) und Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ (1983) thematisiert.
„Geschichte der O“: Inszenierung der Zerstörung weiblicher Körper
In den Analysen von Elizabeth McNeills Erzählung „Nine and a Half Weeks“ von 1978 (später sehr erfolgreich von Adrian Lynes mit Kim Basinger in der Hauptrolle verfilmt) und von Ingeborg Bachmanns 1971 erschienenem Roman „Malina“ wird schliesslich der Zusammenhang von Sprachlosigkeit und Begehren in den Mittelpunkt gestellt. Wie weibliche (zerstörte) Körper inszeniert werden, kann man gut anhand von Pauline Reages Roman „Geschichte der O“ (1954) und Marina de Vans Film „In My Skin“ (2002) nachvollziehen. Religiöse Opfer stehen in Lars von Triers „Breaking the Waves“ (1996) und in M. Night Shyamalans „The Village“ (2004) im Mittelpunkt. Zuletzt geht es um den Coming-out-Film einer Masochistin, Steven Shainbergs „Secretary“ von 2002.
Gut gegliederte Untersuchung
Die neue Studie „Ohnmachtsrausch und Liebenswahn“ von Regine Schricker bietet fundierte Analysen zahlreicher literarischer und filmischer Texte, die man nach der Lektüre dieses Buches neu lesen kann. Mit ihrer Arbeit sensibilisiert sie für ein Thema, das in den Medien eine immer wichtigere Rolle spielt. Sprachlich klar und inhaltlich gehaltvoll bietet die Autorin dem Leser eine sehr gute Möglichkeit, sich ausführlich mit einem spannenden Thema auseinander zu setzen.
Regine U. Schricker geht dem Phänomen des weiblichen Masochismus in der Literatur und im Film sehr eingehend nach und zeigt fundiert die verschiedenen Ansätze auf, die hinter der Deutung des Zusammenhanges von Weiblichkeit und Masochismus stecken. Welche Rolle spielt eine labile Persönlichkeitsstruktur? Was bedeutet die Darstellung des weiblichen Masochismus für die weibliche Identität? Regine Schrickers Buch ist sehr gut gegliedert, und ihren wissenschaftlichen Ausführungen lässt sich hervorragend folgen. ♦
Man kann sich ihrer Faszination nicht entziehen, auch wenn man sie zunächst wahrnehmen, ja erst gewahren muss als ein isoliertes Ereignis. Denn tauchen sie auf, umgibt sie sogleich die Hülle eines ganzen Kosmos’, der reich an unterschiedlichen Assoziationen ist. Man muss nicht erst künstlich versessen sein auf die menschliche Stimme, deren Klang und Wirkung, um die durchdringende Aura dieser ganz besonderen Stimmen zu erkennen. Möglich, dass eine anachronistische Veranlagung oder die Erwartung, in einer Stimmfarbe zugleich auch auf einen vollen Körper zu treffen, dazu verleiten, reife Männerstimmen, von denen hier die Rede ist, als mehr als einen zufriedenstellenden Hörgenuss zu deklarieren.
Was ist der Körper schöner Stimmen?
Was aber ist der Körper dieser Stimmen, aus was setzt er sich zusammen, so dass die Sympathie beim Hörer alsbald hergestellt ist und die Anziehungskraft ihre Wirkung nicht verfehlt? Die Auslegung der Fragen in psychoanalytische Einzelteile oder gar die Annäherung an ödipale Konflikte würde die Betrachtungsweise verfehlen, weil sie allzu sehr auf die einzelnen Subjekte eingehen würde und die Stimme nichts weiter als ein Schlüssel diente, um die Charaktere beziehungsweise Beziehungen der Protagonisten offenzulegen. Von einer solchen Analyse ist man jedoch weit entfernt, wenn man vor allem untersuchen möchte, aus was sich die erquickende Wirkung speist, die eine solche Stimme auf den Hörer hat. 1)
Stimmritze und Stimmbänder des Menschen
Zunächst ist da der reine Klang. Ein Klang, der mindestens einem harmonischen Dreiklang gleichkommt, oder der ist wie ein guter Duft, welcher eine Basis-, eine Herz- und eine Kopfnote einschliesst. Die menschliche Männerstimme ist mit einer Reife belegt, die das hörende Gemüt im Nu besänftigt. Die Stimme wirkt erfahren, doch ist dies kaum der Hauptgrund, weshalb sie vertrauenerweckend scheint. Ohne genau lokalisieren zu können, woher die Überzeugung herrührt, schreiben wir dieser stimmlichen Reife eine innere Reife zu, die uns ermöglicht, uns hineinzubegeben ins richtige Hören, sprich, ins Zuhören hinein. Dieses Zuhören findet auf einer tieferen Ebene statt als das rein akustische Wahrnehmen, das an das thematische Interesse gekoppelt ist. Zuhören aus einem vertrauten Punkt heraus bedeutet in erster Linie zu glauben, was der andere sagt, und es meint zudem, Vorbehalte abzubauen, sich nicht dagegen anzulehnen, was gesagt wird/werden könnte, dem wir uns mit unserer Meinung entgegensetzen könnten oder möchten.
Umgeben mit einer Aura der Sympathie
Dies soll nicht bedeuten, dass wir durch diese reifen Männerstimmen sang- und klanglos manipuliert werden wollen, oder dass wir etwa unbewusst einem Mechanismus zum Opfer fallen, der unser eigenes Denken lähmt. Der kritische Punkt wird in der Konstellation des Zuhörens einer reifen Stimme allemal – und ist zunächst abhängig von einem selbst und nicht von der Person ausserhalb –, wohl aber etwas verzögert erreicht. Durch die gegebene Chronologie: 1. Vertrauen, 2. (mögliche) Kritik entsteht jedoch ein Denken, das von einem konzentrierten Punkt her stattfindet und erst noch aus einer entspannten, womöglich eher aus einer emotionalen denn einer kognitiven Haltung heraus. Eine von Anfang an misstrauische, kritische Haltung, zum Beispiel gegenüber einer weniger überzeugenden Stimme, beschäftigt das Gehirn von vornherein, was einerseits zu einer zusätzlichen Aktivität und somit Belastung, also auf Kosten der Konzentration geht, andererseits das Denken unnötig in eine vom Misstrauen, nicht aber vom Thema bestimmte Richtung lenkt. Das Naturell des Spielerischen und Kreativen ist jedoch in ein entkrampftes Umfeld zu betten. Nur so ist ein solches Denken flexibel und offen für jene anderen Einflüsse ausserhalb, die sich aus diesem Prozess erst ergeben.
Sympathie-/Empathie-Organ: Das menschliche Ohr
Die stimmliche Reife überdies erweckt das Vertrauen des Zuhörers auch deshalb, weil sie zweifellos eine Aura von Sympathie umgibt, die wiederum nicht auf einer sympathisch klingenden Stimmfarbe, sondern in allererster Linie auf Empathie aufbaut. Jener Empathie nämlich, sozusagen als „Voraus-Bonus“ gegenüber dem Zuhörer, die der noch zu entstehenden Sympathie zugrunde liegt. Der vermittelte Inhalt geht mit dem Sprechenden auf dieser zeitlich nur gering und nur unbewusst verschobenen Grundlage entspannt und harmonisch einher und bewirkt, dass das Gesagte glaubwürdig daherkommt. Zweifelsohne gibt es auch andere, unreifere Stimmen, die überzeugend wirken können, uns zum Kern des Themas transportieren und unsere Reflexion vorbehaltlos ankurbeln. Der Unterschied liegt vermutlich darin, dass die reifen Männerstimmen auch dank dem Vorteil der Empathie immer ein Stück weit authentischer wirken und uns daher das Gefühl vermitteln, das Gesagte und Erzählte wirklich selbst erlebt zu haben.
Zwischen Empathie und Authenzizität
Unsere Gesellschaft ist nicht darauf ausgerichtet, sich in erster Linie mit älteren Menschen zu identifizieren, noch weniger darauf, sie sich zum Vorbild zu machen. Ob junge Männer – insbesondere solche, die Berufe ausüben, in denen die Stimme ein wichtiges Element, ja auch Teil eines Erfolges ist – solchen reifen Stimmen (und nicht nur klangschönen, stimmgewaltigen) nacheifern, ist schwer zu beurteilen. Kann, wenn er es möchte, ein guter Schauspieler nicht auch eine Authentizität durch reine Arbeit erreichen? Er kann es bedingt. Empathie ist gewissermassen auch technisch herzustellen, indem man sich das Gegenüber vorstellt auf der einen Seite, und andererseits, indem man sich als Vortragender in den Text mit Frische, Begeisterung und einem Stück Reflexion auf das eigene Subjekt hin bezogen, das eben spricht, hineinbegibt. Ein ordentlich guter Schauspieler, der nicht mit der besagten reifen Männerstimme ausgestattet ist, hat durchaus die Aussicht, uns durch seine Kunst zu verführen, uns mit ihm fühlen zu lassen, ihn als Schauspieler vergessen zu machen, und er kann uns für sich gewinnen, indem wir ihm Glauben schenken, mit ihm sympathisieren usw. Doch wird er es sehr schwer haben, die Empathie, die er uns gegenüber hat, durch Bewusstsein, Absicht, Willen und Handwerk grundlegend und vom ersten Ton an herzustellen. Denn die Empathie der reifen Männerstimme dem Zuhörer gegenüber baut nicht nur zeitlich rascher, sondern auf einer universellen Sprache auf und meint nicht zwei einzelne Menschen – den Sprechenden und Zuhörenden plus den Inhalt -, sondern zwei Menschen, die sich erst durch die Menschheit, ja Menschlichkeit grundlegend definieren und auf diese Weise ganz ausserhalb des vermittelten Inhaltes zueinander finden.
Reife Stimmen – z.B. Domingo, Reincke, Kohlund
Unverwechselbare Reife der Stimme: Placido Domingo, Heinz Reincke, Christian Kohlund
Diese voller Wohlwollen empfundene Empathie örtlich aufzuspüren ist ebenso sinnlos, wie es unmöglich ist, die Worte zwischen den Zeilen ausfindig zu machen. Wie auch immer diese Stimmen entstehen und reifen: mit bewusst erlebtem, reich gelebtem Leben gefüllt scheinen sie allemal. Die pure Freude der zuweilen zarten, märchenhaft anmutenden Erzählweise des mit dieser Stimme Sprechenden schwingt immer über die Vermittlung des Textes, über den Sprechenden und über den Hörenden hinaus. Sie schwingt, glüht, steckt an. Sie ist gebend, auch wenn wir nicht erfassen können, was genau wir bekommen. Sie lässt einem gewiss die Freiheit und doch kaum die Wahl, sich irgendwie lebendig, substanziell zu fühlen, in dem Moment, wo sie zu uns spricht und etwas bei uns erreicht oder in uns bewirkt.
Die Empfänglichkeit für diesen Schwung und die Begeisterung für diese reifen Männerstimmen hat wohl kaum ihren Ursprung darin, dass wir in diese Stimmen das Organ des Wunschgrossvaters oder Vaters projizieren. Die Anziehungskraft des Fremden und doch stets so Vertrauten kann bisweilen bis zu den erotischen Gefilden führen, auch wenn diese Form von Erotik wohl weniger die Leidenschaft weckt, als dass sie ihr (künftiges, vergangenes, hier wie dort oder in der Menschheit selber verankertes) Vorhandensein unprätentiös und verständnisvoll offenbart.
Charakteristische Stimmen vom Aussterben bedroht?
Am Ende bleibt die fahle Befangenheit, dass diese Art von reifen Männerstimmen ausstirbt, da sie einer Männerart angehört, die es so bald nicht mehr gibt. Möglicherweise waren, salopp ausgedrückt, Menschen diesen Schlags schon immer rar, aber immerhin gab es genug derer, die diesen Stimmen einen festen Platz in der Gesellschaft einräumten, sie wertschätzten und sie für Tonaufnahmen, sei es in Hörspielen, Hörbüchern, Radiosendungen oder für Vertonungen von Dokumentar- oder anderen Filmproduktionen engagierten. Die Tonträger und ein paar nostalgische Zeugen werden bleiben, hoffentlich aber jene, die so zu leben verstehen, dass solche Stimmen überhaupt erst erzeugt und hervorgebracht werden können, sowie andere, die es verstehen diese zu fördern, um sie der Gesellschaft zugänglich zu machen. Mangels genügender Vorstellungsgabe ist es unmöglich, sich der in den Medien heute vertretenen Männerstimmen jene herauszupicken, die die Eigenschaften von dieser Art reifen Männerstimmen in gesetztem Alter erreichen könnten. ♦
1) Der Text ist im weitesten Sinne vielleicht eine persönliche Lobeshymne an die reifen Männerstimmen, kann jedoch durchaus auch als Beispiel für die reife menschliche Stimme und somit auch als Pendant mit dem Beispiel der weiblichen reifen Stimme gelesen werden. Um den Textfluss nicht unnötig mit Parallel-Beispielen aus der weiblichen Stimmwelt zu stören, wurde der Fokus einzig auf die maskuline Seite gelegt. Möglicherweise auch deswegen, weil mehr Beispiele unter Männern gefunden wurden.
Joanna Lisiak
Geb. 1971 in Poznan/Polen, Lyrik- und Prosa-Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften, schreibt auch Theaterstücke & Hörspiele, Mitglied u.a. des PEN, Jazz-Sängerin, lebt in Nürensdorf/Schweiz
Sprache ist nie neutral und kann nicht wirklich objektiv gebraucht werden. Man kann das, was man wie sagt, aktiv auswählen. Aussagen über Wirklichkeits- und Wertvorstellungen schwingen dabei immer mit. Diskriminierung geschieht nicht nur über Schimpfwörter oder offene Ausgrenzung, Diskriminierung entsteht im sprachlichen und im sozialen Kontext. Das überaus spannend zu lesende „Nachschlagewerk“ der beiden Herausgeber A. Nduka-Agwu & A. Hornscheidt: „Rassismus auf gut Deutsch“ nimmt den oft unterbewussten oder versteckten Rassismus in unserer alltäglichen Sprache unter die Lupe und hilft dabei ein entsprechendes Bewusstsein, nicht nur für offizielle Stellen oder für Menschen, die sich mit Text und gesprochenem Wort an eine grössere Öffentlichkeit wenden, zu schaffen.
Das Werk, das viele verschiedene Autoren aus einem wissenschaftlichen Zusammenhang versammelt, ermöglicht ein Überdenken der Benutzung von Sprache bis in den privaten Bereich hinein. Und: „Dieser Text kann v.a. durch Rassismus Privilegierte irritieren, verunsichern oder sogar ärgerlich machen, denn viele Personen werden beim Lesen feststellen, dass sie kontinuierlich in den eigenen sprachlichen Handlungen rassistisch sind.“ (S.12) So die einleitenden Worte der Herausgeberinnen.
Gedankenloser Sprachgebrauch im Alltag
Der Aufbau des Buches stellt sich folgendermassen dar: Nach der Einleitung, die vorweg schon über die Bedeutung von Begriffen wie „Rassismus“ oder „Weisssein“ aufklärt, stellt der zweite Teil „zentrale empowernde und strategisch signifizierende Begriffe und Konzepte“ (S.45) vor. Es geht um die Erläuterung von Begriffen wie Afrodeutsch, Diaspora, People of Color. Danach folgen Analyse und Reflexion rassistischer Begriffe – Leitfrage ist hier, wie rassistische Vorstellungen durch Sprache weitergegeben werden und welche Strategien für eine Vermeidung dieser Weitergabe herangezogen werden können. Beispielsweise geht es um Begriffe wie „Ausländer_in“, das Spiel „Ching-chang-chong“ (nämlich als Beispiel für eine abwertende Veralberung fremder Sprachen), „Entwicklungshilfe“, „Farbig“, „exotisch“. Hier wird eine Kulturgeschichte abwertender Begriffe gezeigt.
Man denkt im Sprachgebrauch über viele Dinge nicht nach, so z.B. beim zunächst wenig rassistisch scheinenden Begriffsfeld der „Tropenkrankheiten“, es scheint sich hierbei doch um eine rein geografische Herkunftsbezeichnung zu handeln, aber die Autorinnen machen gut begründet darauf aufmerksam, dass die „Tropen“ der einzige geografische Bereich sind, der sprachlich spezifische Krankheiten aufweist (es gibt keine gemässigten Zonen-Krankheiten o.ä.). Der Text zeigt, dass dieser Begriff sich kulturgeschichtlich eher auf die in den Tropen lebenden Menschen bezieht und ihre dort angenommene ungesunde Lebensweise, die hochgradig mit europäischer Angst besetzte Krankheiten hervorrufen muss.
Anfällig für rassistische Kontexte: „Integration“, „Ethnizität“, „Amerika“
In „Rassismus auf gut Deutsch“ geht es nicht um die Frage, was überhaupt sprachlich noch erlaubt sein soll, sondern hier steht eine wissenschaftlich-reflexive Sprachkritik im Vordergrund – und die Ermunterung, den „alltäglichen Rassismus“ in Wort und Schrift aufmerksam zu beobachten. Ein gelungenes Buch-Projekt, dem eine grosse Leserschaft zu wünschen ist.
Der vierte Teil klärt über die etwas komplizierteren Begriffe auf, die leicht in einen rassistischen Kontext hineingezogen werden können, wie z.B. „Integration“, „Ethnizität“, aber auch Begriffe wie „Amerika“. Dieser Begriff muss auch aus den Umständen seiner Entstehung heraus reflektiert werden, da er ja u.a. angenommene Besitzverhältnisse widerspiegelt.
Im fünften Teil finden sich schliesslich verschiedene Aufsätze, die den gegenwärtigen Rassismusdiskurs beleuchten – Konzepte und Modelle zur Analyse von Rassismus werden vorgestellt.
Keine einseitigen Verurteilungen
„Rassismus auf gut Deutsch“ will nicht einseitig verurteilen, sondern zum Nachdenken provozieren und das auch, indem es sich selbst sprachlichen Regelungen unterwirft, die beim Lesen zunächst seltsam anmuten, z.B. wenn Rezipienten konsequent als Les_erinnen angesprochen werden. Es geht dabei nicht um die Frage, was jetzt überhaupt sprachlich noch erlaubt sein soll, sondern hier steht eine wissenschaftlich-reflexive Sprachkritik im Vordergrund, eben die Ermunterung, das Alltägliche aufmerksam zu betrachten, andere Standpunkte zu probieren, wobei man nach Lektüre des Buches doch sagen kann, dass die (ernsthafte) Beschäftigung mit solchen Fragen letztlich doch in eine Form eigener (politischer) Aktivität münden muss. Ein gelungenes Projekt einer Sprachkritik, ein Buch dem viele Les_erinnen zu wünschen sind. ♦
Davon, was Sprache ist, warum die Menschen die Fähigkeit zu sprechen haben und was sie mit dieser anstellen, gibt es unzählige Bücher. Deshalb ist es von mir recht vermessen, in einem kleinen Essay skizzieren zu wollen, warum Sprachen untergehen, und wie sich dies und mit welchen Konsequenzen vollzieht.
Der Auslöser für dieses Unterfangen war die Beobachtung, dass Menschen um mich herum mehr als sorglos mit ihrer Sprache umgehen. Es ist selten der Fall, dass schon vor dem Schreiben eines Artikels der Titel feststeht. Ich schrieb ihn tatsächlich gleich so, wie er oben steht, auf.
Aber ich muss von vorne anfangen, bei zwei Männern, die in den 30er und 60er Jahren um Worte rangen, das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache aufzuzeichnen. Benjamin Lee Whorf und Edward Sapir waren nicht die ersten und nicht die letzten, die herausarbeiteten und beschrieben, dass das linguistische System (und mit ihm die Struktur, die Grammatik) jeder Sprache nicht nur ein reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken ist, sondern vielmehr selbst die Gedanken formt.
Sprache als Synthese der Vorstellungen
Welche Sprache Menschen auch sprechen – jede ist Schema und Anleitung für die geistige Aktivität des Individuums, für die Analyse seiner Eindrücke und für die Synthese dessen, was ihm an Vorstellungen zur Verfügung steht. Die Formulierung von Gedanken ist kein unabhängiger Vorgang, sondern er ist von der jeweiligen Struktur beeinflusst. Der Vorgang des Ausdrückens von Gedanken ist daher für verschiedene Grammatiken als mehr oder weniger verschieden anzunehmen.
Das Denken ist nicht bloss abhängig von der Sprache überhaupt, sondern bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten. (Wilhelm von Humboldt)
Als Sprachlehrerin, als die ich tätig bin, kann ich jeden Tag in meinem Unterricht beobachten, wie wirksam diese sprachliche Relativität ist. Wer Deutsch sprechen können will – und damit werden wir mit einer Sprache konkret -, muss Deutsch denken. Das bedeutet, dass er sich der Mittel, die das Deutsche zur Verfügung stellt, bedienen muss, um seine Gedanken oder Informationen so auszudrücken, dass er von anderen Deutsch-Sprechenden verstanden wird. Das gilt analog natürlich für jede Sprache, für Türkisch, Englisch, Japanisch, um nur drei Sprachen zu nennen. Kann der Sprecher dies nicht, findet der Angesprochene seine Welt nicht abgebildet. Wenn wir eine neue Sprache lernen, tun wir dies auf der Grundlage von bereits erworbenen Strukturen, die wir in den wenigsten Fällen hinterfragen, sondern eben einfach verwenden.
Grammatik – für viele Menschen mit unguten Erinnerungen behaftet – ist das System der Regelhaftigkeit einer Sprache. Regeln können in der einen so, in der anderen eben anders sein. Egal wie: beim Erlernen einer Sprache suchen wir nach Regeln bzw. immer wieder auftauchenden Mustern. Wenn wir sie entdecken, können wir sie anwenden, aber manchmal steht selbst dem noch etwas im Wege.
Grammatik ist nun nicht das einzige, was eine Sprache ausmacht – es geht auch um den Wortschatz, d.h. die Laute, die in einer bestimmten Abfolge artikuliert Ausdruck eines Inhalts sind, über den Übereinkunft besteht. Mehrere in bestimmter Reihenfolge geäusserte Laute erhalten eine Bedeutung, die ein Kenner derselben Laute versteht.
Sprache ist die Übereinkunft von Menschen und gewährleistet damit Kommunion.
Dinge, die in der Welt rund um eine (Sprach-)Gruppe herum vorkommen, wird diese alsbald benennen. Alles für den Alltag Relevante wird eine Bezeichnung bekommen. Jenes allerdings, was für den Alltag einer Sprachgemeinschaft – und von einer solchen sprechen wir hier – nicht relevant ist, wird weder benannt noch überhaupt gesehen.
Sprache ist immerwährende Tätigkeit
Verschwinden Dinge des Alltags aus dem Blickfeld, verschwindet mit ihnen das alte Wort. Er- scheinen neue Gegenstände, auf welchem Wege auch immer, dann wird dafür ein neues Wort geschaffen. Sprache ist weder unveränderlich noch statisch, sie ist kein Werk, sondern eine immerwährende Tätigkeit.
Menschen begegnen Menschen, Sprachen begegnen sich in ihnen. Es kommt zum Austausch und zur Übernahme von Wörtern, auch wenn die „fremden“ Wörter dasselbe Ding bezeichnen.
Ergon ist die laut- und formbezogene Grammatik einschliesslich der Wortbildung, die als notwendiges Durchgangsstadium zu einer Energetischen Sprachauffassung angesehen werden kann.
In der deutschen Sprache gibt es eine Reihe neuer Wörter. Über die Flut der Anglizismen ist hinreichend geplärrt und es ist vor ihnen gewarnt worden. Die Anzahl nicht nur englischer Wörter in der Rahmensprache Deutsch nimmt stetig zu. Und die Übernahme von Wörtern hat natürlich eine Rückwirkung auf die Grammatik. Was für ein Prozess aber ist das, der immer tiefer in die Struktur des Deutschen eingreift?
Eine mir lieb gewordene Firma legte im letzten Monat ihren deutschen Namen ab und benennt sich nun Englisch. In der Computer-und in der Medienbranche tragen die technischen und medialen Errungenschaften englische Bezeichnungen. Berufsbezeichnungen (man schaue sich einmal die Stellenanzeigen an) und Studienabschlüsse sind angliziert. Versteht noch jemand, was damit eigentlich gemeint ist?
Nun gab es auch früher „Fremdwörter“; im Deutschen gibt es nicht wenige aus dem Französischen, aus dem Lateinischen, dem Griechischen – sie sind schon lange da und gehören „zu uns“. Ich persönlich stecke mein Geld ins Portemonnaie, sitze gerne auf der Couch, beim Arbeitsamt ziehe ich eine Nummer und bin total frustriert, wenn ich lange warten muss.
Das so englisch klingende Wort Mobbing gibt es im Englischen nicht, und schon mal gar nicht in der Bedeutung, die es im Deutschen hat. Fitness ein anderes Beispiel, Handy ein nächstes. Fussball wird bei der hiesigen WM zum public viewing-Ereignis.
Neben der Unsitte, englischklingende Wörter zu erschaffen – was beinahe schon wieder ulkig anmutet -, geschieht mit den und durch die nichtdeutschen Wörtern jedoch noch anderes. Wir haben es mit Bedeutungserweiterungen einerseits und mit Bedeutungsverengungen andererseits zu tun.
Die neuen Wörter – sofern es Substantive sind – benötigen im Deutschen einen Artikel. Die Artikelwörter sind das Trauma jedes Deutschlernenden, der aus einer Sprache kommt, in der es kein grammatisches Geschlecht gibt. Die Regelhaftigkeit erschliesst sich nur sehr schwer, da lernt man sie am besten gleich zusammen!
Welchen Artikel gibt man einem Fremdwort? Man hört die Mail und das Mail. Es ist auf Deutsch „die Post“ – daraus folgt, dass die Tendenz zum femininen Artikel gross ist. Andererseits gilt: Fremdwörter sind grundsätzlich „das“: das Automobil, das Handy, das Mobile…
Das Englische als Lehrmittel für das Deutsche
Weiterhin brauchen die neuen Wörter eine Pluralform. Im Deutschen gibt es – gewachsen aus der Sprachgeschichte – 8 Pluralformgruppen. „Typisch“ für das Deutsche ist die Stammvokaländerung, die auch an anderen Stellen wirksam wird.
Die neuen Wörter bekommen überwiegend ein Plural-s, oder verbleiben in der Form des Singulars (der Computer, die Computer – immerhin in der Anwendung einer Regelmässigkeit).
Verben sind ein nächster fruchtbarer Boden. Sie tragen im Deutschen im Infinitiv ein -en. to load down wird zunächst zu to download, (ist es ein trennbares Verb?), dann zu downloaden. Wohl dem, der der englischen Schriftkonvention mächtig ist, und das Wort englisch aussprechen kann, wenn er es liest.
Bei richtiger englischer Aussprache bleiben die neuen Wörter Fremdkörper im Deutschen: die offenkundig andere Aussprache passt sich nur störrisch in die deutsche Sprachmelodie ein, und was für ein Spagat, wenn dann auch noch ein Perfekt gebildet werden muss: das habe ich gedownloaded/ downgeloaded.
Der Einbruch des Englischen in das Deutsche ist gleichsam elitär gegenüber dem, was in anderen Teilen der Republik vor sich geht. Die Kanaksprak, Identifikationsmedium einer neuen Kultur, ist alles andere als lustig – sie ist ein Symptom. Wofür, fragen Sie?
Die englische Sprache ist der unseren vorausgegangen, und an ihr können wir etwas lernen. Englisch diente und dient als lingua franca und wurde in die entferntesten Winkel der Welt, als der Handel und nicht nur der begann, getragen. Englisch wird von weit mehr Menschen gesprochen als tatsächlich englische Muttersprachler sind. Es ist die zweite Sprache vieler Menschen, die sie lernen, um sie zu benutzen.
Von der der Lingua franca zu den Kreolsprachen
Das Stichwort hier lautet: benutzen. Eine lingua franca ist eine Verkehrssprache, die auf einzelnen Gebieten den Menschen den Verkehr miteinander ermöglicht.
Im Laufe der Kontakte und der Durchmischung mit immer anderen Muttersprachen wurde Englisch pidginiziert. Hervorstechendstes Kennzeichen von Pidginsprachen ist, dass sie eine reduzierte Sprachform darstellen. Als nächste Ausprägung haben wir es mit einer Kreolisierung zu tun:
Kreolsprachen sind Sprachen, die aus mehreren Sprachen entstanden sind. Dabei geht ein Grossteil des Wortschatzes der neuen Sprache auf eine der beteiligten Kontaktsprachen zurück.
In manchen Fällen entwickelt sich eine Kreolsprache durch einen Prozess des Sprachausbaus zu einer Standardsprache. Im Unterschied zu den Pidgin-Sprachen sind Kreolsprachen sogar Muttersprachen.
Vor allem die Grammatik, aber auch das Lautsystem der neuen Sprachen sind von jenen der beteiligten Ausgangssprachen deutlich verschieden. Der Prozess dauert lange, und wir sprechen hier abstrakt von „Sprachen“. Was macht es aber mit den Sprechern?
Sprache ist Heimat
Bestandsaufnahme:
1. Neue, fremde Wörter und Begriffe werden nicht adäquat angewendet; 2. Die Wörter verändern die Strukur der Rahmensprache, nicht selten gehen Strukturelemente verloren; 3. Stehen bestimmte Strukturen nicht mehr zur Verfügung, wird nicht mehr in ihnen gedacht; 4. Was nicht gedacht werden kann, weil die Strukturen fehlen, bleibt ungesagt; 5. Der genaue Ausdruck geht verloren; 6. Man trifft sich im Unsagbaren.
Menschen, die eine Sprache nur als Ruine bewohnen, können auch nur ruinenhaft denken.
Und so gerät die Herkunft ins Wanken, wenn das Bewusstsein nicht nachkommt. Sprache ist – und war es immer – Heimat. Und wenn man seine Sprache verliert, verliert man die Heimat, und wenn man seine Heimat verliert, ist es um die Sprache hart bestellt.
Das hat übrigens nichts mit Denken in Nationalstaaten (deren Etablierung sogar nachgerade Sprachzugehörigkeiten ignoriert) oder Intoleranz zu tun, sondern ist die Frage eines Standortes. Nur wenn man den hat, kann man Schritte in das Andere, Fremde, Neue nehmen, und den Fremden für das Eigene, für ihn Neue begeistern. Gibt man seinen Standort auf, steht man im Nichts. ♦
Geb. 1958 in der Eifel/D, Studium der Sprachwissenschaft, Finn-Ugristik und Psychologie, Promotion, zahlreiche belletristische und fachwissenschaftliche Publikationen, lebt in Bornheim/D
Es gibt Zitate und Redensarten, die kennt einfach jeder (oder sollte jeder kennen): Beispielsweise ist „Errare humanum est“ (Hieronymus: Briefe), „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ (Bibel: Matthäusevangelium), „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ (Nietzsche: Götzen-Dämmerung), „In vino veritas“ (Alkaios: Fragmente) „Liebe macht blind“ (Platon: Dialoge), „Wie sag ich’s meinem Kinde?“ (Deutscher Aufklärungsfilm 1970) oder „Es geht mir ein Licht auf“ (Hiob & Psalm 97) so häufig in aller Munde, dass buchstäblich vom „Volksmund“ geredet werden kann. Eine neue Duden-Ausgabe namens „Wer hats gesagt“ listet eine Fülle berühmter und ebenso seltener Redewendungen auf.
Weniger geläufig im Leben neuzeitlicher Gesellschaften sind Wendungen wie „Im Anfang war die Tat“ (Bibel: Johannesevangelium), „Kritik des Herzens“ (Wilhelm Busch: Gedichte), „Cogito ergo sum“ (Descartes: Principia philosophiae), „Getretner Quark wird breit, nicht stark“ (Goethe: Westöstlicher Diwan) oder „Non liquet“ (Cicero: Reden). Und vollends unbekannt sind heutzutage solche einst sehr gebräuchlichen Zitate wie „Es war die Nachtigall und nicht die Lerche“ (Shakespeare: Romeo und Julia), „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ (Rosa Luxemburg: Die Russische Revolution) oder „Hic Rhodus, hic salta!“ (Äsop: Fabeln).
Von Revolutionär Lenin bis zu Fussballtrainer Trapattoni
Eine Buch-Neuheit in der Reihe „Allgemeinbildung“, die 500 solcher berühmten Zitate und Redewendungen von Religionsstifter Jesus („Ich bin das A und O“) über Revolutionär Lenin („Die Wahrheit ist immer konkret“) bis hin zu Trainer Trapattoni („Ich habe fertig!“) versammelt, präsentiert nun die deutsche Duden-Redaktion. Unter dem Titel „Wer hats gesagt?“ klärt sie dabei Herkunft bzw. Quellen der Wendungen auf, erläutert ihren tradierten Gebrauch, geht nötigenfalls auf ihre weiterführende Bedeutung im modernen Alltag ein, streift auch etwaige semantische Transformationen im Laufe der Jahrhunderte.
Drei der wichtigsten Zitate-Lieferanten: Die Dichterfürsten Goethe, Schiller und Shakespeare
Über Details solcher Zusammenstellungen, zumal bei deren erklärtem Ziel, „Kluges und glaubwürdiges Zitieren“ zu erleichtern, lässt sich immer streiten, und ob beispielsweise die Sprachprobleme eines Fussballtrainers (s.o.) – so witzig und bekannt das ist – tatsächlich in den Olymp der „500 berühmten Zitate und Redewendungen“ eines renommierten Duden-Verlages gehievt werden sollen, ist Geschmacksache. Auch wünschte man dem immerhin 224-seitigen Band über seine simple alphabetische Reihung hinaus eine zumindest grobe thematische Gliederung. Und schliesslich hätte der lexikalischen „Bleiwüste“ dieses Buches die eine oder andere Illustration gut getan.
Aber das sind unterm Strich Marginalien, für die eine breite und abwechslungsreiche Zitaten-Palette, redaktionell sehr sorgfältig recherchierte sowie detailliert ausgearbeitete Definitionen, Quellenhinweise und semantische Verknüpfungen mehr als entschädigen. Wer also seine Allgemeinbildung in Sachen Zitate erweitern, die eine oder andere entfallene Wendung neu recherchieren oder einfach seinen bildungsbürgerlichen Wortschatz zwecks Angeberei etwas auf Vordermann bringen will, kommt mit dieser Duden-Novität voll auf seine Kosten. ♦
Bereits in vierter Auflage präsentiert die Mannheimer Duden-Redaktion ihr Bedeutungswörterbuch – eine fast 1’200-seitige Kanonisierung der deutschen Sprache in Sachen Wortschatz und Wortbildung. Erschienen als Band 10 der berühmten, mittlerweile in insgesamt zwölf Bänden vorliegenden Duden-Reihe, bildet diese stark überarbeitete und um 700 Neuaufnahmen erweiterte Ausgabe den Grundwortschatz der deutschen Sprache ab; insgesamt behandelt sie 20’000 Stichwörter und Wendungen.
Weiters enthält das neue Bedeutungswörterbuch rund 450 Artikel zu Wortbildungselementen, die anhand von Beispielen die Systematik der deutschen Wortbildung veranschaulichen sollen. Als hilfreich werden sowohl Mutter- wie Fremdsprachler dabei die rund 75 Infokästen einschätzen, welche leicht verwechselbare Wörter (beispielsweise anscheinend/scheinbar, effektiv/effizient, ideal/ideell, nutzen/benutzen u.ä.) näher erläutern. Darüber hinaus gibt das Wörterbuch zu allen Stichwörtern Aussprache- und Grammatikangaben, zu vielen Begriffen führt der Band zudem besondere Zusammensetzungen auf.
Dem traditionellen Bedeutungswörterbuch eine neue Qualität gegeben
Die Duden-Redaktion selber zu ihrem jüngsten Band: „Die Produktivität der Sprache liegt in der Wortbildung. Daher gehören die Wortbildungsmittel auch in ein Bedeutungswörterbuch; aber nicht nur, um Gegenwartstexte verstehbar zu machen, sondern auch, um sprachliche Kreativität zu fördern und anzuregen. Mit der ausführlichen Berücksichtigung der Wortbildung einerseits und mit der Einarbeitung des Ergänzungswortschatzes, der Synonyme und Zusammensetzungen, andererseits wurde in diesem Buch der Versuch unternommen, dem traditionellen Bedeutungswörterbuch eine neue Qualität zu geben und durch unmittelbare, lebendige Einblicke in die Vielfalt und Produktivität der Sprache die Lust an der Sprache und an eigener sprachlicher Gestaltung zu wecken“. ♦
Duden, Band 10: Bedeutungwörterbuch, Bibliographisches Institut Mannheim, 1’152 Seiten, ISBN 978-3-411-04104-6
Beispiel-Seite aus Duden: Das Bedeutungswörterbuch