H.-J. Neumann / H. Eberle: War Hitler krank? (Befund)

Das Urteil: Vollumfänglich schuldfähiger Verbrecher

von Walter Eigenmann

Lange Jahre stand, angesichts von Millionen Kriegs- und Mord-Toten während des deutschen „Dritten Reiches“, für viele fest: Nur ein Wahnsinniger, nur ein hoffnungslos kranker Psychopath konnte solche Zerstörung, solch kollektives Leid, solch abgrundtiefe Unmenschlichkeit über die ganze Welt ausbreiten, und schon lange vor Kriegsende, also vor dem totalen Zusammenbruch der Deutschen und ihrer Hitlerei, fragten sich die ob solch unfassbarer Barbarei Entsetzten öffentlich oder insgeheim: War Adolf Hitler krank? Wurde die weltweit wütende Wehrmacht von einem Drogenabhängigen geführt? Hat ein krankes Hirn die Abschlachtung von Millionen Menschen befohlen? War Auschwitz womöglich „nur“ die Ausgeburt eines perversen Morbiden, der für seinen wahnhaften Zustand „eigentlich gar nichts konnte?“

Hans-Joachim Neumann - Henrik Eberle: War Hitler krank? Ein abschliessender Bericht - Lübbe VerlagDieser Frage gehen nun, nach einigen bisherigen anderen, thematisch ähnlich gelagerten Publikationen, die beiden deutschen Autoren Prof. Dr. Hans-Joachim Neumann (Medizinhistoriker & Pathograph) und Prof. Dr. Henrik Eberle (Historiker) in einem „abschliessenden Befund“ unter dem Titel „War Hitler krank?“ nach.
Auf über 300 Seiten breiten dabei die zwei Wissenschaftler Zeit- und aktuell recherchierte Dokumente aus: Medizinische Gutachten, pharmakologische Analysen, Zeitzeugen-Gespräche, Tagebücher, Befehls-Unterlagen, Arzt-Berichte, u.v.a. Und Seite um Seite demontieren die Autoren den ebenso langlebigen wie allen betroffenen Schuldigen zupassekommenden Mythos von Hitler als einem hinfälligen Psychopathen im Bunker der Reichskanzlei, der von seinem Leibarzt Morell „kaputtgespritzt“ worden sei.

Keine schuldmindernden Erkrankungen

Unmittelbar nach Kriegsende exhumierten sowjetische Offiziere Hitlers verbrannte Überreste und stellten die Echtheit anhand seiner Zähne fest.
Unmittelbar nach Kriegsende exhumierten sowjetische Offiziere Hitlers verbrannte Überreste und stellten die Echtheit anhand seiner Zähne fest.

Denn zwar bestreiten Neumann und Eberle natürlich nicht, dass dieser vom Rassismus zerfressene „Führer“ unter verschiedenen Erkrankungen litt (u.a. Augen- und Hals-/Nasen-Probleme, psychosomatische Verdauungs-Beschwerden, Bluthochdruck, Koronarsklerose, später Parkinson,  evtl. Medikamenten-Missbrauch), aber die wegweisenden Entscheidungen traf Hitler schon früh, als gesunder Mensch, und krankheitsbedingt war, wie die Buchautoren nachweisen, kein einziger seiner zahllosen destruktiven Befehle. Auch für eine schuldmindernde Beeinträchtigung infolge psychopathologischer Erkrankungen fehlt jeder wissenschaftlich haltbare Beweis, wie Neumann und Eberle dokumentieren.

Die beiden Pathographen wörtlich: „Die Konstellation seiner Familiengeschichte teilten Millionen Deutsche. Ein dominierender, möglicherweise gewaltätiger Vater und eine überfürsorgliche, vielleicht zu sehr liebende Mutter waren der Normalfall in einem Haushalt der vorletzten Jahrhunderte. Alle anderen exogenen, also von aussen verursachten seelischen Beeinträchtigungen gehören in das Reich der Mythologie und der vorsätzlichen Lüge. […]

Fast das gesamte deutsche Volk jubelte seinem Führer begeistert zu (Video-Dokument:
Fast das gesamte deutsche Volk jubelte seinem Führer begeistert zu (Video-Dokument: „Adolf Hitler spricht im Berliner Sportpalast“)

Hitler hasste zwar, war aber immer in der Lage, seinen Wunsch nach Vernichtung der Juden mit den Vorstellungen der Gesellschaft zu synchronisieren. Gerade die zahlreichen taktischen Wendungen – etwa der Hitler-Stalin-Pakt mit der jüdisch-bolschewistischen Sowjetunion – zeigen die zynische Flexibilität seines Handelns.

Ursachen von Hitlers Verbrechen in der deutschen Gesellschaft

Hitler im März 1945 an der Ostfront in einer Lagebesprechung. Er war gezeichnet von seiner Parkinson-Krankheit und konnte nicht mehr länger als eine halbe Stunde stehen; die zitternde linke Hand ist unter dem Kartentisch verborgen. Neumann&Eberle:
Adolf Hitler im März 1945 an der Ostfront in einer Lagebesprechung. Er war gezeichnet von seiner Parkinson-Krankheit und konnte nicht mehr länger als eine halbe Stunde stehen; die zitternde linke Hand ist unter dem Kartentisch verborgen. Neumann&Eberle: „Seine geistigen Fähigkeiten wurden durch die Krankheit nicht beeinträchtigt.“

So zynisch es klingt: Alle Verbrechen, die er anordnete und ermöglichte, der Völkermord an den Juden, die Ermordung von Sinti und Roma, Massentötungen von Geisteskranken, sind durch sein Agieren in den gesellschaftlichen Handlungs-Spielräumen erklärbar. […] Die wirklichen Ursachen für diese Verbrechen sind in der deutschen Gesellschaft zu suchen, in ihrer Geistesgeschichte und den sozialen Zusammenhängen.“

Neumann und Eberle kommen nach ihrem 320-seitigen Report denn auch zu einem eindeutigen Urteil, ihr Befund ist ernüchternd: „Der Krieg wurde nicht geführt, und die Juden wurden nicht vernichtet, weil Hitler krank war, sondern weil die meisten Deutschen seine Überzeugungen teilten, ihn zu ihrem Führer machten und ihm folgten.“ ♦

Hans-Joachim Neumann & Henrik Eberle, War Hitler krank? – Ein abschliessender Befund, Lübbe Verlag, 320 Seiten, ISBN 978-3-7857-2386-9

Leseprobe

Leseprobe 1: War Hitler krank? (Lübbe Verlag)
Leseprobe: War Hitler krank? (Lübbe Verlag)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Rassismus auch von Peter Fahr: Rassismus in der Schweiz

… sowie zum Thema Kultur in Nazi-Deutschland über die Biographie von Thomas O. Kaiser: Klaus Mann – Ein Schriftsteller in den Fluten der Zeit

Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur

Moderne Literatur entschlüsselt

von Franziska Metzger

Wie lässt sich literarische Modernität festmachen, und wie lässt sie sich erklären? Welches sind die Strukturmerkmale moderner Literatur? Über was für Konzepte lassen sich diese verankern, und wie werden Texte dadurch interpretierbar? Wo zeigen sich Transformationen in den Strukturmerkmalen moderner Literatur des 20. Jahrhunderts? Dies sind Fragen, welche der Schweizer Germanist Mario Andreotti in seinem Werk „Die Struktur der modernen Literatur“ auf systematische Weise reflektiert und über eine Reihe miteinander verschränkter theoretischer Sichtachsen – mit Blick auf Figuren- und Wirklichkeitsgestaltung, auf das Erzählen und damit auf Sprache, auf die Erfassung von Momenten der Verfremdung – angeht, um ein Instrumentarium für eine systematische Tiefenanalyse (moderner) Literatur zu präsentieren.

Bei der vierten Auflage von Mario Andreottis Band zur Struktur der modernen Literatur handelt es sich um die vollständig überarbeitete und in Analyse und Textbeispielen bis in die unmittelbare Gegenwartsliteratur weitergeführte Ausgabe des 1983 erstmals erschienenen Standardwerkes. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der modernen Erzählprosa und Lyrik. Zur Struktur des modernen Dramas hat Mario Andreotti einen eigenen Band mit dem Titel „Traditionelles und modernes Drama“ verfasst, der 1996 beim Haupt Verlag erschienen ist und der für einen vergleichenden Zugang auf die traditionelle und moderne Literatur mit Blick auf Begrifflichkeiten, Analyseraster, Fragen von Kontinuität und Diskontinuität sowie für textbasierte Detailanalysen mit grossem Gewinn beigezogen werden kann.

Analytisch klare Abgrenzungen der Gattungsbegriffe

Mario Andreotti - Struktur der modernen Literatur - Haupt Verlag - CoverMario Andreottis auf einem semiotischen Ansatz basierendes Werk besticht zum einen durch die klare Erläuterung komplexer Begrifflichkeiten und Kategorien und von deren Verhältnis zu einander, welche einer tiefenstrukturellen Analyse von Literatur zugrunde gelegt werden können. Zum anderen überzeugt es durch die präzise und bis ins Detail reflektierte Anwendung der theoretischen Grundlagen auf eine Vielzahl konkreter Textbeispiele.

Prof. Dr. Mario Andreotti
Prof. Dr. Mario Andreotti

Dem von Mario Andreotti vertretenen Ansatz liegen verschiedene Dekonstruktionen zugrunde. So ist dem Autor der Hinweis auf die Grenzen der Gattungsbegriffe wichtig. Diese zeigen sich in Bezug auf die moderne Literatur in potenzierter Weise. Die entsprechende Komplexität und die Verschränkungsbeziehungen verschiedener Genres kommen in mehreren schematischen Darstellungen gut zum Ausdruck (S. 148-149). Aufgelöst wird weiter besonders der Inhalt-Form-Gegensatz – Andreottis Analyseraster sind allesamt Ausdruck davon. Dies geschieht über den Blick auf Gestaltungselemente – Erzähler, lyrisches Ich etc. – eines literarischen Textes als nicht nur etwas Formales sondern, darüber hinaus, als Konkretisierung von Inhalten (siehe S. 21). In diesem Anliegen spiegelt sich die Frage nach dem Wie – wissenschaftstheoretisch gesprochen eine zentrale Frage eines konstruktivistischen Ansatzes –, wie sie sich besonders in der Perspektive auf Strukturelemente literarischer Texte konkretisiert. Mario Andreotti versteht Struktur dabei als „ein System textinterner Beziehungen“ (S. 22); der Strukturbegriff verbindet Form und Inhalt. Figuren- und Wirklichkeitsgestaltung, Sprache und Wirkungsabsicht stehen im Fokus einer solchen Strukturanalyse (S. 47).

Gegenüberstellung von traditioneller und moderner Prosa in Bezug auf die Erzähler-…

Schauen wir auf einige Sichtachsen und Konzepte. Den strukturellen Wandel der modernen Epik fasst Mario Andreotti mit Blick auf die Erzähler- und Figurengestaltung, die narrative Struktur sowie die Darstellungsform in sechs Strukturmerkmalen: in der „Auflösung der festen Erzählposition“, in der „Absage an das traditionelle, individualistische Entwicklungsprinzip“ und damit im Shift von einer als fest konzipierten hin zu einer entpersönlichten Figur, in der Preisgabe eines „mimetischen Kunstprinzips“, der „Auflösung des reinen Erzählberichts“, der „Entpersönlichung der erzählten Figur“, vor allem des Helden, sowie im „Abbau der traditionellen Symbolik“.

…und in Bezug auf die Figurengestaltung

Die Verschiebung von festem Ich und kohärenter Gesamtsicht der Wirklichkeit hin zu Dissoziation in Einzelbilder sieht der Autor im diskontinuierlichen Erzählen, wie es sich in der Textmontage manifestiert und auch in der modernen Lyrik ihr Pendant hat, in der Auflösung des festen, persönlichen Erzählers, wie sie in erlebter Rede und innerem Monolog ebenso wie in der Entpersönlichung des lyrischen Ich zum Ausdruck kommt sowie in einer gestischen Figurengestaltung bis hin zur Gestusmontage. Auf der Ebene der Sprache erachtet er den Transfer von Mimesis hin zur Sichtbarmachung der Fiktionalität sowie den Transfer von einer auf das Symbolische konzentrierten Sprache auf eine paradigmatisch-syntagmatisch konzipierte Sprache als entscheidend. Dies kommt besonders in der Verlagerung des Akzents vom Erzählten auf das Erzählen selber und in einer Auflösung der festen Sprache im modernen Gedicht zum Ausdruck.

Moderne Strukturmerkmale im Verhältnis zur traditionellen Literatur

Sehr gut gelingt es dem Autor in Bezug auf die Erzählprosa wie in Bezug auf die Lyrik, die Strukturmerkmale moderner im Verhältnis zu traditioneller Literatur zu verankern und plausibel zu erklären, wobei er immer wieder auch auf Kontinuitäten verweist. Zugleich schafft er es die innere Ausdifferenzierung dessen, was global als „moderne“ Literatur bezeichnet werden kann, in Klassische Moderne, Neue Subjektivität, Postmoderne sowie Zweite Moderne theoretisch zu fundieren (siehe die Zusammenführung im Schema auf S. 94). So zeigt er etwa in Bezug auf die Lyrik der „Zweiten Moderne“ (seit den 1990er Jahren) schön auf, wie eine Abkehr von der Formtradition der Postmoderne eine Tendenzwende hervorbrachte, in welcher „Subjekt- und Sprachkritik, Experiment und Hermetismus“ (S. 304), wie sie für die Lyrik der späten 1950er und 1960er Jahre kennzeichnend waren, wieder zurück gekehrt seien. Durch die Verschränkung einer diachronen und einer auf die Parallelität verschiedener Genres gerichteten synchronen Betrachtungsebene erstellt Mario Andreotti ein theoretisch komplexes und zugleich historisch differenzierendes Modell, auf dessen Grundlage eine semiotische Analyse literarischer Texte vorgenommen werden kann. Sehr gut kommt damit die Vielschichtigkeit einer entsprechenden Tiefenanalyse zum Ausdruck.

Spezifische Gestik der modernen politischen Lyrik

Textvisualisierung in der Moderne: Konkrete Poesie (Timm Ulrichs:
Textvisualisierung in der Moderne: Konkrete Poesie (Timm Ulrichs: „ordnung – unordnung, 1978)

Zur Veranschaulichung des Blicks auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten seien zwei diachron-transversale Beispiele herausgegriffen, die politische Lyrik und die experimentelle Literatur. Moderne politische Lyrik bezeichnet Mario Andreotti als „spezifisch gestisch“ (S. 337), was er an Brechts dialektischer Lyrik ebenso wie an ideologiekritischen Gedichten (etwa am Beispiel Erich Frieds), an der Agitations- und Protestlyrik seit Mitte der 1960er Jahre, an der parodistischen bis hin zur Subkultur- und Avantgardelyrik der sich durch Performativität und Oralität auszeichnenden Genres Pop, Social Beat, Rap und Slam Poetry aufzeigt. Als entscheidendes Charakteristikum experimenteller Literatur sieht der Autor den Grundgestus des Zeigens. Nicht mehr der Bezug auf eine aussersprachliche Wirklichkeit, sondern die Sprache selbst als eigenständige Realität steht im Zentrum. Dies demonstriert er an Beispielen, die vom dadaistischen Montagegedicht bis zur Textcollage und konkreten Poesie reichen, in welcher das Sprachzeichen „auf seine materiale Funktion“ (384) reduziert wird.

Semiotischer Ansatz in die kulturgeschichtliche Sichtweise eingebunden

In den verschiedenen Tabellen, etwa den Synopsen mit den Epochenbegriffen und ihren literarischen Tendenzen, verbindet Mario Andreotti seinen semiotischen Ansatz immer wieder mit einer kontextualistischen breiteren kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Sichtweise und damit mit einer für andere Ansätze anschlussfähigen Sprache eines Zugangs auf Literatur, der im weiteren Sinne als konstruktivistisch bezeichnet werden kann, indem er auf Wirklichkeitskonstruktionen, Konstruktionen des Selbst und des anderen sowie Selbstreflexion blickt. Dies ist gerade für Wissenschaftstheoretiker und -historiker von Interesse. So wäre Andreottis Buch etwa für eine interdisziplinäre Herangehensweise an Themen von gesellschaftlicher Modernisierung, gesteigerter Selbstreflexion und deren Spiegelung in den Wissenschaften um die Jahrhundertwende von 1900 inspirierend. Hierzu gehört auch der wiederholte Blick auf die literaturtheoretische Selbstreflexion einer entsprechenden Zeit, welche den Ansatz unterstützt, der moderne Texte immer auch als Auseinandersetzung mit traditionellen literarischen Texten liest.

Dadaistische Lautpoesie in der modernen
Dadaistische Lautpoesie in der modernen „Slam Poetry“: Anfang von „Nittigritti“ von Wehwalt Koslovsky (2002)

Etwas stärker hätte die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Philosophie, Religion, Psychologie, Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaft sowie der Kunst, d.h. Musik und Malerei auf der einen und Literatur auf der anderen Seite betont werden können (S. 99-138). Was in Mario Andreottis Werk im kulturgeschichtlichen Zusammenhang wie auch in Bezug auf die strukturelle Ebene offen bleibt und für eine weiterführende Diskussion von Interesse wäre, ist eine stärkere Einbettung der deutschen „Moderne“ im europäischen literarischen Kontext, sowohl hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung als auch in Bezug auf die zentralen Charakteristika und Ausdrucksweisen moderner Literatur. Wie sind diesbezügliche Differenzen und Akzentverschiebungen vor dem Hintergrund historisch-politischer Kontexte zu verstehen? Auch die räumliche Ebene schiene in dieser Hinsicht interessant zu sein: Welche Rolle spielten Metropolen wie Wien, Berlin, Paris für die „Klassische“ Moderne? Inwiefern liesse sich bezüglich der auf die „Klassische Moderne“ folgenden Perioden allenfalls von einer Dezentralisierung sprechen? Auch die Schweiz wurde ja besonders in den 1960er und 1970er Jahren zu einem wichtigen Ort literarischer Moderne.

Literarische Transformationen illustrativ sichtbar gemacht

Mario Andreottis profunde Kenntnis der deutschen Literatur bis in die diversen Genres der letzten Jahrzehnte – von Pop über Rap hin zu Slam Poetry – liegt der reflektierten, paradigmatischen, Auswahl an proportional zu den theoretisch-konzeptionellen Passagen geschickt verteilten Beispielen zu Grunde, an welchen der Autor seine tiefenanalytisch-semiotische Herangehensweise veranschaulicht und illustrativ Transformationen von der traditionellen zur modernen, aber auch innerhalb der modernen Literatur aufzuzeigen vermag. Gerade in diesen Beispielen zeigt sich, was eine auf den Text bezogene Strukturanalyse leisten kann. Dabei ist zudem positiv hervorzuheben, dass dem Leser keine allzu homogenen, andere Möglichkeiten ausschliessenden Interpretationen vorgelegt werden, sondern vielmehr eine systematische Fokussierung auf zentrale Ebenen im (modernen) Text und auf deren begrifflich-stringente Verarbeitung, auf deren Grundlage auch unterschiedliche Interpretationen fundiert und plausibilisiert werden können. Für Studierende sehr hilfreich sind die aus Textbeispielen bestehenden Aufgaben am Ende jedes Teils des Buches. Gut führen zudem zahlreiche grafische Darstellungen die Konzepte und ihre Beziehungen untereinander zusammen, so dass sich ein plastisches, einprägsames und klares Analyseraster ergibt. Zusammen mit dem über 100-seitigen Glossar mit literaturwissenschaftlichen, linguistischen und philosophischen Begriffen bieten diese Grafiken didaktisch geschickt präsentierte Stützen. Für Literaturwissenschafter, die mit dem semiotischen Zugang vertraut sind, wird der Band dadurch auch zu einem durchdachten Nachschlagewerk. ♦

Mario Andreotti, Die Struktur der modernen Literatur – Neue Wege in der Textinterpretation: Erzählprosa und Lyrik (Mit einem Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen), UTB Bd. 1127 (4. vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage), Haupt Verlag, 488 Seiten, ISBN 978-3-8252-1127-1


Franziska MetzgerProf. Dr. Franziska Metzger

Geb. 1974 in St. Gallen, Historikerin und Anglistin, Lektorin am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Fribourg, Dissertation „Religion, Geschichte, Nation. Katholische Geschichtsschreibung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert – Kommunikations-Theoretische Perspektiven“ (2010), Forschungstätigkeit und Publikationen zu Themen der Religions- und Kulturgeschichte, Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie und Methodologie.

Lesen Sie im Glarean Magazin auch den Aufsatz von Mario Andreotti: Ist Dichten lernbar?

… sowie zum Thema „Wozu Literatur?“ den Essay von Arnold Leifert: Der literarische Text als Geschehnis

Zum Thema Verlage lesen Sie über Österreichs vielfältige Literaturlandschaft im Literatur-Katalog 2019 der IG Autorinnen Autoren

William Duggan: Geistesblitze (Psychologie)

„Strategische Intuition“ als kreative Denkmethode

von Walter Eigenmann

William Duggan, Professor an der Columbia Business School, ist überzeugt, dass die Geniestreiche grosser Persönlichkeiten der Weltgeschichte nicht als zufällige Eingebungen aus heiterem Himmel herniederstürzen, sondern dass allen herausragenden menschlichen Leistungen ein gemeinsamer Wirkmechanismus zugrundeliegt. Diesen Wirkmechanismus nennt Duggan „Strategische Intuition“, und in seinem neuesten, jetzt ins Deutsche übersetzten Buch „Geistesblitze“ spürt er anhand der Biographien bedeutender Köpfe von Kopernikus und Napoleon über Picasso bis hin zu J.F. Kennedy und Bill Gates einigen historisch einschneidenden Momenten als Resultate eben dieser „Strategischen Intuition“ nach.

Die durchschlagende Fähigkeit des „Geistesblitzes“ im „Aha-Erlebnis“

William Duggan: Geistesblitze - Wie wir Intuition zur Strategie machen können Lübbe VerlagDer Denkansatz Duggans ist ein umfassender, auf Teilgebieten gar „revolutionärer“, wie der Business-Professor schon eingangs seiner 270-seitigen Abhandlung unmissverständlich deklariert: „Die gängigen Affassungen in den einzelnen Bereichen – Strategieplanung, Wissenschaftsmethodik, Kreativität, Ideenfindung, rationale Entscheidungsfindung, Teamarbeit, Unternehmensführung und Innovation – entstanden allesamt zu einer Zeit, bevor die Neurowissenschaft imstande war zu zeigen, was beim Denken im Gehirn passiert. Kein Wunder also, dass all diese Theorien nur zwei Arten von geistiger Aktivität kennen: den rationalen Gedanken und die kreative Vorstellungskraft.“ Doch gemäss Duggan sind diese beiden Pole aufzuheben in einer dritten, dann durchschlagenden Fähigkeit: im „Geistesblitz“, im „Aha-Erlebnis“ – Schlüsselelemente als Resultate eben „Strategischer Intuition“.

Logisch-analytische und kreativ-intuitive Denkweisen verbunden

Barry Gordon
Barry Gordon

Duggan referiert damit auf entspr. neurologische Forschungen z.B. von Barry Gordon (2003), der den Begriff „Intelligentes Gedächtnis“ in die wissenschaftliche Diskussion einführte: „Das intelligente Gedächtnis gleicht einer Malvorlage, bei der man einzelne Punkte miteinander verbindet, damit ein Bild entsteht. Die Punkte stehen für die Einzelteile oder Ideen, die Linien dazwischen sind die Verbindungen oder Assoziationen. Die Linien können ineinanderfliessen, sich zu grösseren Fragmenten verbinden und zu einem klaren Gedanken verschmelzen. Dieser klare Gedanke kann ein visuelles Bild sein, ein kleiner Erkenntnisgewinn, eine Idee oder sogar eine Lösung für ein Problem.“ Darauf basierend führt Autor Duggan sein Denkmotiv der „Strategischen Intuition“ weiter aus: „Das intelligente Gedächtnis vermag beide Denkweisen – das logisch-analytische und das kreativ-intuitive – in einem einzigen Denk-Modus zu vereinen.“ Während frühere Hirnforschungen seit der Entdeckung der beiden Hirnhälften das intuitive Denken gleichwertig neben das logisch-analytische stellten, geht die Theorie vom „intelligenten Gedächtnis“ noch einen Schritt weiter; gemäss Duggan macht sie die Intuition zum kreativen Bestandteil aller Gedanken, einschliesslich der logisch-analytischen: „Strategische Intuition entwickelt mithilfe des intelligenten Gedächtnisses aus dem Vorwissen, das im Gedächtnis verankert ist, gangbare Handlungsschritte für die Zukunft“.

Kreativität ist planbar

William Duggan - Glarean Magazin
William Duggan

In der Folge entwickelt nun der Autor anhand völlig heterogener Lebensläufe berühmter Persönlichkeiten bzw. deren bahnbrechenden Entdeckungen oder Erkenntnisse seine These, dass Eingebung nichts mit Genialität zu tun hat, dass vielmehr Kreativität quasi „planbar“ und die „Strategische Intuition“ auch keineswegs eine hochkomplexe Sache ist, sondern grundsätzlich nach einem überraschend einfachen Muster abläuft, mithin auch dem einfachen „Mann auf der Strasse“ erreichbar ist. Denn der „Genieblitz“ wirkt zwar wie ein scheinbar völlig unvermittelter Ideen-Sprung des Hirns, ist aber tatsächlich das Resultat der kreativen Verquickung von Erfahrung und bewusst unorthodoxem Denken. Duggan zitiert hierzu den berühmten Apple-Gründer Jobs, einen der kreativsten Köpfe weltweit in der Computerbranche: „Kreativität bedeutet, Dinge einfach miteinander zu verbinden. Fragt man einen kreativen Menschen, wie er dies oder das gemacht hat, erntet man nur einen etwas verlegenen Blick, denn eigentlich hat nicht er es gemacht, es hat sich irgendwie von selbst gemacht, und er hat es nur entdeckt. Und das erschien ihm nach einer Weile ganz selbstverständlich. Das liegt daran, dass kreative Menschen über die Fähigkeit verfügen, Erfahrungen aus der Vergangenheit miteinander in Verbindung zu bringen und daraus neue Dinge zu bilden.“

Vorgefasste Meinungen vermeiden

Eine in der Realität wichtige Bedingung, dass „Geistesblitze“ aufgrund von Erfahrung und mithilfe von „Strategischer Intuition“ überhaupt „zünden“ können, ist nach Duggan die „Geistesgegenwart“: „Der Geist muss von vorgefassten Meinungen über das Problem, die Lösung und die Zielsetzung frei sein. Und das passiert deshalb unter der Dusche, weil man geistig entspannt ist. Diesen Zustand bewusst herbeizuführen ist sehr schwierig“. Doch auch dies führt noch nicht zum endgültigen Durchbruch, wenn nicht ein letztes Element hinzutritt, nämlich die Entscheidung, der Entschluss, „der Wille zur Handlung“. Duggan: „Man sagt sich nicht: Ach, jetzt verstehe ich, jetzt weiss ich, was ich tun muss. Sondern man sagt: Ich weiss, was zu tun ist, und ich will es auch tun.“

William Duggan, Geistesblitze – Wie wir Intuition zur Strategie machen können, Gustav Lübbe Verlag (Übersetzung: Regina Schneider), 270 Seiten, ISBN 978-3785723821

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neurowissenschaften auch über
H.J. Neumann & H. Eberle: War Hitler krank?

Duden: Neues Wörterbuch der Szenesprachen

Sprache zwischen Mitteilung und Beziehung

von Walter Eigenmann

Der allgemeine Sprachgebrauch reflektiert bekanntlich gesellschaftliche Veränderungen sehr nachhaltig, und am unmittelbarsten, für ein konventionelles Sprachverständnis möglicherweise am provokativsten dokumentiert sich dieser Wandel in den (zumal jugend-)sprachlichen Mainstreams des Internets. Typische Web-2.0-Ausprägungen wie „Twitter“ oder „Facebook“, als Social-Networks englisch-global und omnipräsent, schaffen hier nicht nur einen Zwang zur Verknappung des Ausdrucks, sondern auch zur Individualisierung, gleichzeitig Plakativierung von Sprache. Nicht mehr Reflexion bzw. Information im herkömmlichen Sinne stehen hier an erster Stelle, sondern Codierung, verbunden mit maximaler Subjektivität.

Sprache als Identitätsstifterin und Abgrenzungsmöglichkeit

Duden - Das neue Wörterbuch der SzenesprachenDoch noch immer, unabhängig von Stil und Grammatik, stiftet Sprache vor allem Identität, eigentlich auch Abgrenzung – bei Gruppen, bei überregionalen Zusammenschlüssen, bei ganzen Bevölkerungsschichten. In dieser Situation einer gewissen Hermetik der verschiedenen „Social Lifes“ und einer die Kommunikation der Generationen behindernden, teils radikalen Heterogenität des Wortschatzes kommen „Übersetzungshilfen“ wie das jüngst erschienene „DUDEN-Wörterbuch der Szenesprachen“ gerade recht.

Wer als über Vierzigjähriger und damit oft der „angesagten“ Slangs völlig Unkundiger quasi den semantischen Anschluss sucht, kriegt damit nun ein Wörterbuch in die Hand, das ihn zwar auch nicht jünger, aber vielleicht aufgeschlossener macht… Basis dieses neuen Szene-Dictionaires aus dem Hause DUDEN bildet ein auf der deutschen Plattform Szenesprachenwiki.de interaktiv erstelltes und suksessive angehäuftes Online-Wörterbuch. In Zusammenarbeit mit dem „Trendbüro“ hat man nun das Begriffsmaterial in ein handliches Taschenbuch gegossen und es dabei sechs gesellschaftlichen „Scenes“ zugeordnet: „Social Life“, „Techlife“, „Nightlife“, „Stylelife“, „Serious Life“ und „Medialife“.

Authenzität und Vielfalt

„OVERCHICKED: Wenn das it-Girl den Schmacko links liegen lässt und mit dem Hässlo ausgeht, ist Letzterer definitiv overchicked.“

Die beiden herausgebenden Organisationen schlugen dabei einen neuen, durchaus einleuchtenden Weg der redaktionellen Aufbereitung ein: Die Benutzerinnen und Benutzer (prägnant-moderner: „User“…) hatten die Möglichkeit, mit ihren persönlichen Wortfavoriten bzw. Kommentaren direkten Einfluss auf die Entstehung des Wörterbuches zu nehmen. Bei diesem Vorgehen garantiert der Band natürlich ein Höchstmass an Authenzität und Vielfalt, wenngleich nicht zwangsläufig auch Verbindlichkeit und Repräsentanz. Sicher aber ist damit eine ganz spezielle Facette von „Wörterbuch“ entstanden, deren Unterhaltungs- den Informationswert fast noch übersteigt: Das Buch dokumentiert eine sprachbildnerische Vielfalt, eine kreative Wort-Phantasie, eine Lebendigkeit der Sprachemotionalität und eine Assimiliationsfähigkeit v.a. des Anglikanischen, die den Unvorbereiteten erst befremden mag, dann aber zunehmend fasziniert (siehe die Leseproben im Anhang). Die Lektüre gerät so zum unterweisenden Nachschlagewerk, aber auch zur sprachlich lustvollen Horizonterweiterung. Sehr nützlich, sehr amüsant! „Out-Of-The-Box“, sozusagen… ♦

DUDEN & Trendbüro, Das neue Wörterbuch der Szenesprachen, Dudenverlag Mannheim, 208 Seiten, ISBN 978-3411710928

Leseproben

Leseprobe 2 aus: Duden - Wörterbuch der Szenesprache
Leseprobe aus: Duden – Wörterbuch der Szenesprachen

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Sprache auch
über den neuen DUDEN: Rechtschreibung

… sowie über Pierangelo Maset: Wörterbuch des technokratischen Unmenschen

Oruç Güvenç: Heilende Musik aus dem Orient

Harmonisierung von Körper und Geist

von Walter Eigenmann

Alternative therapeutische Verfahren wie beispielsweise die (bei uns kaum bekannte) sog. „Altorientalische Musiktherapie“ (AOM) subsumiert der westliche Rationalist oft, wenn er wohlwollend ist, unter „Ethno“, vielleicht auch naserümpfend unter „Esoterik“ – oder überhaupt gleich unter „Scharlatenerie“. Wissenschaftlich gestützte Musiktherapie ja – aber Schamanen-Gesänge, Uighurische Tänze, Wassermurmeln und Trommelrhythmen?

Die Erfolge der alternativen Heilmethoden

Oruç Güvenç: Heilende Musik aus dem Orient - Vom traditionellen Wissen der Schamanen und Sullis zur Anwendung altorientalischer MusiktherapieWenn da bloss nicht die unleugbaren Erfolge der alternativen Heilmethoden wären – und das Votum zahlreicher, sehr wohl ernst zu nehmender Wissenschaftler wie beispielsweise des Direktors des Instituts für Medizinische Psychologie am Klinikum der Universität Heidelberg Rolf Verres. Er schreibt (Zitat):

„In der wissenschaftlich fundierten Heilkunde Mitteleuropas wollen sich die Menschen darauf verlassen können, dass das, was man Therapie nennt, nachweislich wirkt. Man will wissen, bei welchen gesundheitlichen Störungen welche Interventionen die Heilung fördern. Dazu werden eine differenzierte Diagnostik und Versuchspläne gefordert, die es ermöglichen, die spezifischen Wirkungen therapeutischer Interventionen im Vergleich zu unbehandelten Kontrollgruppen herauszufinden. […] Meiner Meinung nach ist es bei den Bemühungen um medizinische Exaktheit sinnvoll, zwischen eher körperlichen und eher seelischen Wirkungen von Musik zu unterscheiden, auch wenn man das letztlich nicht voneinander trennen kan. Ich werde skeptisch, wenn mir Musik auf Tonträgern angeboten wird, die spezifisch auf Gelenke, Entzündungen, Eingeweide, Geschlechtsteile oder Kopf und Augen wirken soll. […] Etwas anderes ist das Anliegen der Heilung im seelischen Bereich zu bewerten. Zuversicht, Lebensfreude, Entspannung, das Erleben von Demut oder innerem Frieden gehören in jedem Falle zur Heilung und zur Lebensqualität – und zwar unabhängig davon, was im Körper krank ist und vielleicht auch krank bleibt.“

Vergangenes Wissen in die Gegenwart geholt

Diese Sätze Verres‘ leiten eine neue AOM-Publikation mit dem Titel „Heilende Musik aus dem Orient“ ein. Autor ist der Istanbuler Psychologe, Musiktherapeut und Sufi-Meister Dr. Oruç Güvenç, der gemeinsam mit seiner Frau, der deutschen Ergotherapeutin Andrea Güvenç – sie amtiert im Buch als Autorin wie als Türkisch-Übersetzerin – einen üppig ausgestatteten Text- und Bildband (mit Compact-Disc) in Sachen Altorientalische Musiktherapie (AOM) präsentiert.

Oruç Güvenç mit dem schamanischen Kilkopuz, Andrea-Azize Güvenç mit der altorientalischen Kopuz
Oruç Güvenç mit dem schamanischen Kilkopuz, Andrea-Azize Güvenç mit der altorientalischen Kopuz

Die klang-, tanz- und farbbeseelte Wellness-Reise des Ehepaares Güvenç beginnt tief in der Vergangenheit, bei 14’000 Jahre alten Felszeichnungen im Aserbaidschanischen Gobustan, wo tanzende Figuren auf die uralte Tradition heilender Bewegungsrituale hinweisen. Ein anderer wichtiger „urzeitlicher“, noch heute sprudelnder Quell uralter Heilsysteme sind – nach Autor Güvenç – die Schamanen Zentralasiens, die Baksi: „Bei ihren Ritualen imitieren die Baksi mit der eigenen Stimme oder Instrumenten Tierstimmen und andere Klänge aus der Natur. Zudem ahmen sie die Gebärden, Haltungen und Bewegungen der Tiere nach. Dabei verwenden sie Instrumente wie Trommeln, Kilkopuz, Dombra und andere, die sie aus Naturmaterialien herstellen.“

Mit der „Reise nach innen“ zum therapeutischen Erfolg

Eines der Hauptinstrumente der Altorientalischen Medizin (AOM): Die türkische Kudüm-Trommel
Eines der Hauptinstrumente der Altorientalischen Medizin (AOM): Die türkische Kudüm-Trommel

Ausgehend von solchen Ur-Heilritualen erarbeitete sich die AOM ihre eigenen, Rhythmus-, Ton- und Bewegungs-gestützten musiktherapeutischen Verfahren. Dabei basiert die Methode von Güvenç und anderen schamanisch orientierten „Heilern“ auf einigen zentralen, meistenteils durchaus auch für westliche „Ohren“ (mittlerweile) nachvollziehbaren Axiomen. Dazu Güvenç: „Die AOM versteht sich nicht als direkter schamanischer Heilweg, wenngleich Elemente und Ideen aus schamanischen Praktiken Zentralasiens angewendet werden. Beispielsweise: a) Der Glaube, dass sich frühe ‚Techniken‘ wie Klänge, Melodien, Rhythmen und Improvisationen über Jahrtausende bewährt haben und auch heute noch ihre Wirkung entfalten; b) Die Bewertung des inneren Erlebens, der inneren Erfahrung, als Ergänzung zur äusseren Welt; c) Die Vorstellung, dass es neben den technologischen Fähigkeiten auch ein nicht-technologisches Wissen des menschlichen Geistes gibt; d) Die Annahme, dass der Mensch von den Pflanzen, Steinen und Tieren lernen kann“. In solchen spirituellen Ansätzen trifft sich offensichtlich das orientalische Denken mit jenem aus dem fernöstlichen Kulturraum; Die „Reise nach innen“ ist grundlegende Voraussetzung beider Konzepte.

Trance als Grundfähigkeit des Menschen

Das Element Wasser: Emotionaler Träger von Spiritualität und Beruhigung, gleichzeitig Reinigungsritual
Das Element Wasser: Emotionaler Träger von Spiritualität und Beruhigung, gleichzeitig Reinigungsritual

Ein paar Ingredienzien der AOM sind zentral in der musiktherapeutischen Arbeit Güvençs: Der physische und „musikalische“ Einsatz des Wassers; der Einbezug der menschlichen Stimme; die uralte Sufi-Instrumentalkultur; der Ausdruckstanz. Der kombinierte Einsatz dieser vier individuell vermittelten und erfahrenen, gezielt unter Begleitung des AOM-Leiters eingesetzten Praktiken kann laut Ehepaar Güvenç durchaus zu Trance und Ekstase führen: „Diese Trancezustände waren den Menschen in der östlichen Kultur durchaus vertraut. Sie waren gelebter Bestandteil der Riten und Rituale im Schamanen- und Sufiturm. […] Die heutige Wissenschaft sagt, dass Bewusstseinsveränderung und Trance zu den Grundfähigkeiten des Menschen gehören. Die Medizin des Orients kennt ihre heilige und heilende Wirkung schon seit langem. Erst nach und nach erkennt auch die moderne Medizin, wie sie sich diese Mechanismen zunutze machen kann, um Schmerzen zu lindern und Heilungsprozesse zu fördern.“

Der Körper als Instrument: Aufnahme von einem Sema-Ritual im Jahre 2008. Das Ritual dauerte 40 Tage und Nächte.
Der Körper als Instrument: Aufnahme von einem Sema-Ritual im Jahre 2008. Das Ritual dauerte 40 Tage und Nächte.

Mit solchen Erkenntnissen aus der eigenen musiktherapeutischen Arbeit schlägt das Ehepaar Güvenç eine Brücke zur nach wie vor kognitiv dominierten (Apparate-)Medizin des Westens. Ihr Buch wird eingefleischte Rationalisten nicht überzeugen, sondern bestenfalls in der Schublade „Interessant, aber unbewiesen“ versorgt werden, denn der „Glaubensfaktor“ als individuell zu erbringende, betont „imaginitive“ Leistung des „Kranken“ spielt in der AOM wie in vielen anderen therapeutischen Ansätzen (ganz gleich welcher geographischen Couleur) bekanntlich eine zentrale Rolle. Andererseits ist nicht einzusehen, warum intelligentes Therapieren neben dem ganzen okzidentalen medizinischen „Arsenal“ nicht auch (nachweislich erfolgreiche) alternative Praktiken integrieren soll; hier bekäme „Ganzheitlicheit“ nochmals einen neuen interessanten Bedeutungsaspekt.

Zurück zum paradiesischen Ursprung der Musik

Jenseits aller Theorie bekommt der Leser mit „Heilende Musik aus dem Orient“ jedenfalls auch gleich den praktischen Selbstversuch inklusive detaillierte Anleitung mitgeliefert: Der reichhaltig bebilderte, bibliographisch schön gestaltete Band enthält eine 60-minütige Audio-CD der türkischen Gruppe „Tümata“ (Abk. = „Türkische Musik in wissenschaftlicher Erforschung und Präsentation“) mit einer Auswahl orientalischer Musik, vom schamanischen Tanz bis zu Sufi-Gesängen. Damit gerät des Ehepaars Güvenç‘ „Heilende Musik aus dem Orient“ zu einer sinn-lichen, seine Thematik sehr attraktiv präsentierenden Reise durch „alle Zeiten und Räume“ hin zum „paradiesischen Ursprung der Musik“ (Güvenç). Literaturhinweise, Sach- und Namensregister sowie ein Anhang mit Kontaktadressen und Hinweisen zu Institutionen und Ausbildungsmöglichkeiten runden den Band ab. ♦

Andrea und Oruç Güvenç: Heilende Musik aus dem Orient – Vom traditionellen Wissen der Schamanen und Sufis zur praktischen Anwendung altorientalischer Musiktherapie, mit Audio-CD, 148 Seiten, Südwest Verlag, ISBN 978-3-517-08535-7

Leseprobe

Gesundheitliche Effekte des Gesangs: "In der AOM singen wir für den Patienten, um ihn anzuregen, ihn zu beruhigen, ihn aufzumuntern oder ihn zu stärken."
Gesundheitliche Effekte des Gesangs: „In der AOM singen wir für den Patienten, um ihn anzuregen, ihn zu beruhigen, ihn aufzumuntern oder ihn zu stärken.“

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Lutz Jäncke: Macht Musik schlau? (Hirnforschung)

… sowie zum Thema Psychologie und Kreativität über
William Duggan: Geistesblitze – Wie wir Intuition zur Strategie machen können

Christoph Drösser: Hast du Töne? (Musikpsychologie)

Warum wir alle musikalisch sind

von Walter Eigenmann

Gleich im frühesten Vorwort seiner neuen Veröffentlichung „Hast du Töne? – Warum wir alle musikalisch sind“ steckt der Hamburger Wissenschaftsjournalist Christoph Drösser einen fulminanten Claim ab: „In diesem Buch schreibe ich selten über konkrete Musik, sondern vor allem über das, was man in den letzten Jahren über Musik herausgefunden hat. Die meisten Erkenntnisse, die ich zitiere, sind nach dem Jahr 2000 veröffentlicht worden, und das zeigt, dass hier ein Forschungsgebiet geradezu explodiert, und die Resultate insbesondere der Hirnforscher erschüttern so manche alte Überzeugungen. Vor allem die, dass die meisten Menschen unmusikalisch wären.

Christoph Drösser: Hast du Töne? - Warum wir alle musikalisch sind - Rowohlt VerlagMusikalität ist vielmehr eine Eigenschaft, die praktisch jeder von uns besitzt. Trotzdem hören wir zwar immer mehr Musik, aber wir musizieren immer weniger. Ich würde gern ein bisschen dazu beitragen, dass sich das ändert.“
Provokativ und therapeutisch zugleich also geht der 51-jährige studierte Mathematiker und Amateur-Sänger Drössel ans Werk – und ums vorwegzunehmen: mit Erfolg bei wohl so ziemlich jeder Art von Leserschaft.

Vergnügliche Aufbereitung komplizierter Forschung

Dass der Autor, als thematisch breit tätiger TV-Redakteur, -Journalist und Print-Kolumnist, vom populärwissenschaftlichen Feuilleton herkommt, merkt man seiner Monographie auf Schritt und Buchstabe an, und seine dezidiert journalistische, nonstop vergnügliche Aufbereitung kompliziertester Forschungsergebnisse – bereits bekannt u.a. aus seinen Büchern „Der Mathematikverführer“ (2007) oder „Wenn die Röcke kürzer werden, wächst die Wirtschaft“ (2008) – feiert auch in „Hast du Töne?“ amüsante, aber eben gleichzeitig informative Urständ.

Christoph Drösser - Glarean Magazin
Christoph Drösser (geb. 1958)

Dabei hat er’s nicht leicht mit einem Forschungsgebiet, welches in der Tat während der vergangenen Jahre dank vielfältiger technischer Hochrüstung enormen Erkenntniszuwachs präsentieren konnte (siehe hierzu u.a. im „Glarean Magazin“: „Macht Musik schlau?“). In zehn Kapiteln muss Drössel denn eine beeindruckende Menge und Vielfalt an musikwissenschaftlichen Zahlen, Fakten und Einsichten resümmieren, für die drei mal hundert Buchseiten eigentlich allenfalls bloss die Ouvertüre liefern können.

Musikalität ist keine Göttergabe

Des Autors Tour d’horizont beginnt mit der Widerlegung alter Vorurteile wie dem bereits erwähnten, dass Musikalität eine Göttergabe sei, über die nur Ausnahmebegabungen verfügten, und in diesem Zusammenhang auch, dass Hans nimmermehr könne, was Hänschen nicht gelernt hat; dass also „in puncto Musik der grösste Teil der Menschen zum Zuhören veruteilt“ sei. (Bei dieser Gelegenheit kriegen übrigens solche TV-Quotenhämmer wie „Deutschland sucht den Superstar“ von Drössel ihr kräftig Stück Fett weg, aber ebenso die Haydn-Mozart-Beethoven-Anbeter mit ihrem unreflektierten „Genie-Kult“).

Sind Sie musikalisch? Wenn man diese Frage Studenten stellt (die meisten psychologischen Studien werden an Studenten durchgeführt), dann antworten 60 Prozent mit "Nein". Heute sind alle Menschen vor allem Musikhörexperten. Jeder von uns hat in seinem Leben mehr Musik gehört als Mozart, Bach und Beethoven zusammen. "Angst ist die dominierende Emotion bei Profimusikern" (Prof. Dr. Eckart Altenmüller, Musikmediziner) Keine Frage, Musik, insbesondere Popmusik, hat diese sexuelle Komponente. Man muss nur ein paar Stunden MTV schauen - in den meisten Videoclips geht es nur um das Eine. Kinder sind von Geburt an sehr empfänglich für Musik. Sie kommen offenbar schon mit einem Gespür für "richtige" Harmonien auf die Welt. Man kann vermuten, dass die Neandertaler das absolute Gehör lebenslänglich hatten und es in ihrem Singsang auch zur Differenzierung von Bedeutungen einsetzten. (Aus Christoph Drösser: "Hast du Töne?", Rowohlt Verlag)
Sind Sie musikalisch? Wenn man diese Frage Studenten stellt (die meisten psychologischen Studien werden an Studenten durchgeführt), dann antworten 60 Prozent mit „Nein“.  ♦ Heute sind alle Menschen vor allem Musikhörexperten. Jeder von uns hat in seinem Leben mehr Musik gehört als Mozart, Bach und Beethoven zusammen. ♦ „Angst ist die dominierende Emotion bei Profimusikern“ (Prof. Dr. Eckart Altenmüller, Musikmediziner) ♦ Keine Frage, Musik, insbesondere Popmusik, hat diese sexuelle Komponente. Man muss nur ein paar Stunden MTV schauen – in den meisten Videoclips geht es nur um das Eine. ♦ Kinder sind von Geburt an sehr empfänglich für Musik. Sie kommen offenbar schon mit einem Gespür für „richtige“ Harmonien auf die Welt. ♦ Man kann vermuten, dass die Neandertaler das absolute Gehör lebenslänglich hatten und es in ihrem Singsang auch zur Differenzierung von Bedeutungen einsetzten. (Aus Christoph Drösser: „Hast du Töne?“, Rowohlt Verlag)

Mit Fragen wie „Gibt es einen evolutionären Nutzen der Musik?“ leitet Autor Drösser dann über zu grundlegenden Untersuchungen über die (prä)-historischen Ursprünge und Entwicklungen der menschlichen Musik, über ihre neurophysiologischen Determinanten, über den Anteil der Sozialisation am überdurchschnittlichen Musiziervermögen, oder auch über spezifisch Musikpsychologisches wie der „Grammatik der Musik“ und der individuellen musikalischen Präferenzen. Weitere faszinierende, teils „klassische“, teils moderne Gebiete streift Drösser mit Forschungsgegenständen wie: „Neue Musik“, „Universeller Chill“, „Amusie“, „Ton-Farben“, „Musik&Emotion“, „Schulmusik“, „Computermusik“ oder „Musik&Autismus“, um natürlich nur einige zu nennen.

Hörhinweise im Buch – Internet inklusive

Wer unter der musikinteressierten Leserschaft nach statistischem Zahlenmaterial, nach wissenschaftlichen Fall-Studien oder nach apparatemedizinischer Grafik sucht, wird in Drössers „Hast du Töne?“ nur sehr unterschwellig fündig. Wer sich aber eine ebenso vergnügliche wie breitest dokumentierte, dabei sehr flüssig und gleichzeitig spannend zu lesende Auseinandersetzung mit ein paar der bahnbrechenden Entwicklungen innerhalb der modernen Musikforschung gönnen will, der kommt hier, ob nun Musik-Hörender oder Musik-Ausführender, mit einer höchst anregenden Lektüre auf seine Kosten.

Mehr noch: Drösser, ganz Medien-Experte, begnügt sich nicht mit Wörtern, sondern bezieht, maximal am Gegenstand orientiert, auch das Ohr mit ein: Im Buch eingestreut finden sich immer wieder Hörhinweise, denen man auf einer zugeordneten textbezogenen Internet-Seite direkt nachgehen kann.

Christoph Drösser - Total berechenbar? - Wenn Algorithmen für uns entscheiden - Hanser Verlag
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Christoph Drösser evoziert damit ein ausgesprochen abgerundetes Lektüre-Vergnügen, das neben viel Abstraktem eine gehörige Portion „Sinnliches“ zugesellt. Ganz abgesehen davon, dass der mit Eloquenz plaudernde Autor immer mal wieder autobiographische Subjektivitäten seines eigenen, offensichtlich amüsanten Musiklebens einstreut und damit doppelte wissenschaftliche Authenzität (quasi im Selbstversuch) herstellt.  Kurzum: Musikfreundinnen und -freunde aller Couleur und Bildung stellen diesen seinen Band ohne Zweifel mit Gewinn ins private Bücherregal. ♦

Christoph Drösser: Hast du Töne? – Warum wir alle musikalisch sind, 320 Seiten, Rowohlt Verlag, ISBN 978-3498013288

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musik und Gehirn auch über
Lutz Jäncke: Macht Musik schlau?
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Mathias Löffler: Rock & Jazz Harmony

Duden: Die deutsche Rechtschreibung

„Wie schreibt man…“ in der 25. Auflage

von Walter Eigenmann

Den klassischen DUDEN mit seinen zwölf Bänden gibt’s (vorläufig) immer noch, aber längst haben die Mannheimer Verantwortlichen des nach wie vor prestigeträchtigsten deutschen Sprach-Regelwerks die Online-Zeichen der Zeit verstanden und offerieren nun ihre renommierte Sprachkunde in einem auch preislich sehr attraktiven kompakten Duett, genannt „Medienpaket“, bestehend aus der gewohnten „Deutschen Rechtschreibung“ sowie zusätzlich gratis der CD „Korrektor“. Erstere ist der berühmte 1’200-seitige Nachschlage-Wälzer mit 135’000 Stichwörtern und einer halben Million Beispielen zu Bedeutung, Trennung, Aussprache, Grammatik, Stilebenen und Etymologie der Wörter, während der „Korrektor“ die Software-Lösung für den Büro-Standard „Office“ von Microsoft darstellt und das digitale On-the-fly-Korrigieren direkt in den Anwendungen erlaubt. (In einer weiteren Version ist die „Rechtschreibung“ auch als reine Software-Lösung zum digitalen Nachschlagen erhältlich.)

Duden - Die deutsche Rechtschreibung - MedienpaketDieser „Korrektor“ – mittlerweile in der 6. Version – mit seiner recht weit gediehenen Automatisierung des Korrigierens während des Schreibens dürfte in unseren Pisa-Zeiten der zunehmenden Sprach-Inkompetenz mehr denn je willkommen sein. Seine Installation klinkt sich in die Menü-Leisten z.B. von „Word“ ein, steht dann in einstellbaren Graden und Parametern beim Tippen zur Verfügung und ersetzt damit die zumeist schlechtere interne Standard-Rechtschreibung der Programme.

Verbreitung in allen Bildungsinstitutionen

Konrad Duden (1829-1911)
Konrad Duden (1829-1911)

Ungeachtet aller Unkenrufe, dem DUDEN-Konzept gehe es in unseren Internet-Zeiten schon bald an den Kragen – der Untergang des anderen berühmten Klassikers Brockhaus ist ja noch in jüngster Erinnerung -, und ausserdem sei er von seinen diversen Konkurrenz-Produkten ohnehin mindestens eingeholt worden, dürfte der DUDEN seine in praktisch allen Bildungsinstitutionen omnipräsente Verbreitung noch eine ganze Weile behalten, mindestens in Form seiner zahlreichen elektronischen Derivate.
Allerdings müssten gerade deren entsprechenden Redaktionen und technischen Realisateure – sprich das deutsche Bibliographische Institut – ein paar immer lauter geäusserten Kritik-Punkten, angemeldet aus breitester Anwenderschaft (endlich mal) Gehör schenken. Denn der elektronische DUDEN (gleich welcher Form) verlangsamt (nach wie vor) empfindlich das System, vor allem aber unterstützt er die div. Freeware-OpenOffice-Anwendungen – längst bei einem riesigen Segment der User in Betrieb – nur sehr mangelhaft bzw. offeriert hier empfindlich schlechtere Lieferkonditionen.
Stellt man diese Defizite in der nächsten Ausgabe endlich ab, dürfte Konrad Dudens Lebenswerk auch in den kommenden Jahren allgegenwärtiger Ratgeber in Schule, Lehre und Forschung bleiben. Denn der Frage „Wie schreibt man…“ wird zukünftig noch grössere Bedeutung zukommen als jetzt schon in diesen Zeiten der Reformen und ständigen Sprach-Evolutionen – hier sind schnelle und professionelle Referenz-Ratgeber unverzichtbar.♦

DUDEN-Medienpaket, Die neue Rechtschreibung + Korrektor (Buch + CD), ISBN 978-3-411-70425-5

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über den neuen
DUDEN: Bedeutungswörterbuch

… sowie über das Duden-Wörterbuch: Wer hats gesagt? (Zitate)

Alexandra Türk-Espitalier: Musiker in Bewegung

100 Übungen gegen Musiker-Erkrankungen

von Walter Eigenmann

Zahlreiche musikmedizinische Studien bzw. statistische Erhebungen legen nahe: Bei (zumal professionellen) Musikern werden die gesundheitlichen Berufsrisiken je länger desto mehr zu einem ernsthaften Problem. Die Gründe hierzu sind von Instrumentalist zu Instrumentalist (bzw. Fach) verschieden und reichen vom Musizieren unter erhöhtem Zeitdruck und Termin-Überlastung über exorbitante schulfachliche Prüfungs-Anforderungen bis hin zu den bekannten Aufführungs-Stressoren wie „Lampenfieber“ und „Versagensangst“ oder den langjährigen individuellen Haltungsfehlern auf dem täglichen Übungsstuhl.
Dementsprechend ist die Zahl fachwissenschaftlicher Untersuchungen zum Problemkreis „Musiker-Erkrankung“ mittlerweile (und erfreulicherweise) in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Darunter sind allerdings die „theorielastigen“, im musikalischen Alltag wenig praktikablen Publikationen in der Überzahl, und noch seltener finden sich fundierte Anleitungen, die instrumentalspezifisch präventiv wirken können.

Aus der Praxis für die Praxis

Alexandra Türk-Espitalier - Musiker in Bewegung - 100 Übungen mit und ohne Instrument - Zimmermann Verlag FrankfurtUmso willkommener ist denn ein solches Buch, wie es nun die Frankfurter Physioprophylaktikerin und Diplom-Flötistin Alexandra Türk-Espitalier mit „Musiker in Bewegung – 100 Übungen“ vorlegt. „Aus der Praxis für die Praxis“ war offensichtlich das Motto der Autorin, denn zwar grundiert sie ihre zahlreichen Bewegungs-Exerzitien mit einer guten theoretischen Einführung in die „Ursachen“ von Musiker-Erkrankungen und die (falschen) „Gewohnheiten“ am Arbeitsplatz, doch im Zentrum des Bandes stehen ihre 100 gezielten „Bewegungsübungen“, die sehr präzise und effizient die Problemzonen des/der Musiker/in angehen.

Vom Grob- bis zum Feinmotorischen

Das thematische Spektrum ist dabei gross: Vom Grob- bis zum Feinmotorischen, von der Atmung bis zum Fingergelenk, vom Auf- bis zum Abwärmen, von der Motivation bis zur Mobilisation und vom Hals- bis zum Lendenwirbel reichen die Stichwörter des Trainingsvokabulars. (Wussten Sie übrigens, dass man „bei Augenbewegungen eine dezente Muskelbewegung in der Tiefe des oberen Nackens wahrnehmen“ kann? Ich nicht. Man schaut einfach, nicht wahr… )

Leseprobe 1 aus "Musiker in Bewegung": "Chromatische Wahrnehmung"
Leseprobe 1 aus „Musiker in Bewegung“: „Chromatische Wahrnehmung“

„Musiker in Bewegung“ richtet sich an aktiv Musizierende aller Instrumentalfraktionen, und nicht nur Berufs-, sondern auch (wohl sogar gerade) Amateurmusiker dürften von diesem (layouterisch sehr geschmackvoll präsentierten) Band profitieren.

Denn eines der Hauptziele muss das allgemeine Wohlbefinden am Instrument sein, und dies kann nur durch körperliche Unversehrtheit erreicht werden. Hierzu ist der weite Begriff von „Prävention“, wie er als tägliche Praxis von der Autorin propagiert wird, ein Schlüsselbegriff. Eine sehr nützliche Broschüre! ♦

Alexandra Türk-Espitalier, Musiker in Bewegung, 100 Übungen mit und ohne Instrument, 144 Seiten, Zimmermann Musikverlag Frankfurt/Main, ISBN 978-3-940105-13-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Musikforschung“ auch über Lutz Jäncke: Macht Musik schlau?

Lutz Jäncke: Macht Musik schlau? (Hirnforschung)

Das Gehirn und die Musik

von Walter Eigenmann

Im Anfang war Mozart. Genauer: Der sog. „Mozart-Effekt“. Denn im Jahre 1993 sorgte ein Artikel in der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift „Nature“ für weltweite Furore, wonach durch das passive Hören klassischer Musik, insbesondere der Werke des berühmten Salzburger Genies, sich das räumliche Vorstellungsvermögen signifikant verbessern soll. Ausgangspunkt der entsprechenden Studien war ein Experiment des US-amerikanischen Physikers Gordon Shaw und der Psychologin Frances Rauscher, welches mit 36 Probanden durchgeführt wurde, die nach dem Anhören verschiedener Musikstücke Aufgaben aus IQ-Tests lösen mussten. Dabei erzielte die Gruppe, die Mozarts Klaviersonate in D-Dur / KV 448 gehört hatte, ein signifikant besseres Ergebnis. In der Folge erhitzte sich die Pro-Kontra-Diskussion ob diesem berühmt-berüchtigten „Mozart-Effekt“ weit über die Natur- und Geisteswissenschaften hinaus bis tief in die Schulpädagogik, ja gar Bildungspolitik hinein  – ein Mythos war geboren.

Doch was ist wirklich dran an der (wohlfeilen, eigentlich doch wieder revolutionären) Hoffnung, Musik verhelfe dem Menschen zu mehr intellektueller Kompetenz? Welche Auswirkungen  haben überhaupt Musikmachen und Musikhören auf den Menschen, seine Kognition, seine Psyche? Und: Lernt man schneller/besser mit Musik-Unterstützung? Oder: Wie wirken Töne therapeutisch auf Demenzerkrankte? Grundsätzlich: Wie geht das menschliche Gehirn mit dem komplexen Phänomen „Musik“ eigentlich um?

Neuester Stand der neuropsychologischen Musikforschung

Lutz Jäncke: Macht Musik schlau? - Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaftn und der kognitiven Psychologie - Huber VerlagDiesen und einer Reihe weiterer Fragen geht nun umfangreich die jüngste Publikation eines der renommiertesten deutschsprachigen Neurophysiologen nach, des Zürcher Gehirnforschers Prof. Dr. Lutz Jäncke. In seinem Buch „Macht Musik schlau? – Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie“ breitet er in 13 Kapiteln den aktuellen Stand der neuropsychologischen und -physiologischen Diskussion aus. Dabei fördert der gebürtige Bochumer Ordinarius an der Universität Zürich eine ganze Reihe von interessanten, ja spektakulären Befunden und Erkenntnissen aus seinem Fach zutage – aufsehenerregend keineswegs nur für den Laien: Jänckes Forschungsergebnisse gerade auf dem Gebiete der Musik-Neurowissenschaften stossen mittlerweile in den angesehendsten Peer-Reviewed-Zeitschriften auf grosses Interesse und beeinflussen damit prägend die aktuelle Diskussion.

Komplexe Forschungsinhalte unkompliziert aufbereitet

Lutz Jäncke - Glarean Magazin
Einer der führenden Neuro-Wissenschaftler: Lutz Jäncke

Hierzu trägt sicher nicht nur die wissenschaftliche bzw. methodische Kompetenz des Autors bei, sondern auch seine Fähigkeit, komplexe Forschungsinhalte mit geradezu „leichter“ Sprachstilistik, zuweilen gar mit unverhohlen-humorvoller Fabulierlust zu servieren. Sein „Macht Musik schlau?“ liest sich, wiewohl mit naturwissenschaftlichen, statistischen, methodischen und analytischen Details geradezu vollgestopft, überraschend unkompliziert, ja erfrischend spannend – Populärwissenschaft im allerbesten Sinne. Sein Vorwort-Verfasser, der Hannoveraner Berufskollege Eckart Altenmüller attestiert ihm denn auch zurecht, er erziehe „den Leser zur kritischen Analyse der Fakten, ohne als Oberlehrer aufzutreten“.

Nachfolgend seien die wesentlichsten wissenschaftlichen Erkenntnisse von „Macht Musik schlau?“ repliziert – teils zitierend, teils zusammenfassend, Jänckes eigenem Aufbau der Buch-Abschnitte folgend. Selbstverständlich kann es sich dabei allenfalls um eine sträfliche Verknappung der umfangreichen und vielfältigen Inhalte handeln, um einen groben Überblick auf eine Veröffentlichung, welche mit Sicherheit den wissenschaftlichen Diskurs auf diesem Gebiet für eine längere nächste Zeit wesentlich mitbestimmen dürfte. (Copyright aller wissenschaftlichen Abbildungen&Tabellen: L.Jäncke & Huber-Verlag Bern).

1. Der Mozart-Effekt

Zwar schliesst Jäncke nicht aus, dass sich bei Versuchspersonen nach dem Hören von Mozart-Musik „ein Hirnaktivierungsmuster einstellt“, welches eine „optimale Grundlage für die später zu bearbeitenden räumlichen Aufgaben bietet“. Ein spezifischer Effekt des kurzzeitigen Hörens von Mozart-Musik auf räumliche Fertigkeiten könne hingegen „nicht zweifelsfrei nachgewiesen“ werden: „Sofern Effekte vorliegen, treten sie immer in Bezug zu Ruhe- und Entspannungsbedingungen auf“.

2. Einfluss des Musikunterrichts auf schulische Leistungen

Wunderkind Mozart:
Wunderkind Mozart: „War Mozart ein Genie? Wie sind seine musikalischen Leistungen wirklich entstanden? Gibt es überhaupt Genies?“ (Lutz Jäncke)

Jäncke hat zahlreiche sog. „Längsschnitt-Untersuchungen“ internationaler Forschergruppen herangezogen und analysiert bzw. kritisch gewürdigt – besonders populär hierzulande: die deutschsprachige „Bastian-Studie“, die laut Jäncke allerdings aus methodischen Gründen „unbrauchbar“ sei -, wobei grundsätzlich alle diese Forschungen thematisierten, „dass zusätzlicher Musikunterricht einen günstigen Einfluss auf schulische Leistungen, verschiedene kognitive Funktionen (insbesondere das sprachliche Gedächtnis) oder auf verschiedene Intelligenzmasse“ haben könne.
Trotzdem bleibt der Buch-Autor skeptisch: Die meisten dieser Studien wiesen „methodische Mängel auf, die es nicht erlauben, die spezifische Wirkung des Musikunterrichts zu belegen“. Gleichzeitig blendet aber Jäncke nicht aus, dass chinesische Untersuchungen überzeugend zeigten: Kinder mit Musikunterricht erbringen bereits nach einem Jahr „bessere verbale Gedächtnisleistungen“. Jänckes Theorie hierzu: „Der Grund ist, dass die chinesische Sprache als tonale Sprache im Hinblick auf die auditorischen Verarbeitungsgrundlagen viele Ähnlichkeiten mit der auditorischen Verarbeitung der Musik aufweist.“
Insgesamt bedauert der Autor, dass „kaum eine Studie derzeit die Dauerhaftigkeit möglicher günstiger Effekte des Musikunterrichts“ thematisiere. Und kritisch fragt er schliesslich, welchen Zweck Musiktraining oder Musikerziehung eigentlich haben sollen: „Ist es eher zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit geeignet, oder ist es vielmehr eine wunderschöne Kulturtätigkeit, die Freude und Befriedigung unabhängig von schulischen Leistungsaspekten schenken kann?“

3. Musiker kontra Nicht-Musiker

Aufgrund „gut kontrollierter Querschnitt-Untersuchungen“ zeigen sich gemäss Autor „konsistent bessere verbale Gedächtnisleistungen bei Musikern“ gegenüber Nicht-Musikern. Ausserdem gebe es Hinweise, dass bei Musikern auch das visuelle Gedächtnis besser sei.

Statistisch signifikante Unterschiede der Gedächntisleistungen von Musikern und Nicht-Musikern
Statistisch signifikante Unterschiede der Gedächntisleistungen von Musikern und Nicht-Musikern

Belegt sei weiters, dass Musiker bzw. Personen mit Musikerfahrung bessere Leistungen in visuell-räumlichen Tests aufweisen. Dies hänge wahrscheinlich damit zusammen, dass „verschiedene Aspekte der Musik in unserem Gehirn räumlich repräsentiert sind. Durch das Musizieren werden diese visuell-räumlichen Funktionen offenbar häufig traniert.“ Insofern sei es durchaus plausibel, dass diese Funktionen auch für andere, nichtmusikalische Leistungen genutzt werden können.
Da das Rechnen, der Umgang mit Zahlen stark von diesen angesprochenen „visuell-räumlichen Fertigkeiten abhängt, bestehe ausserdem ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Musizieren und verschiedenen Rechenleistungen. Jäncke: „Einige Untersuchungen unterstützen die Hypothese, dass Musizieren und Musikbegabung die Rechenleistung fördern“.

4. Musikhören und Lernen

Die Frage, ob (und wenn ja: welche) Musik beim Lernen hilfreich sei, wurde und wird stets umstritten diskutiert. Diesbezüglich analysiert Jäncke einige mehr oder weniger anerkannte Thesen bzw. Verfahren wie z.B. die Suggestopädie und verwandte Richtungen, welche eine positive Wirkung des passiven Hintergrundmusik-Hörens propagieren. Wiederum schliesst Forscher Jäncke eine „Evozierung bestimmter Hirnaktivierungsmuster“, die für das Lernen besonders günstig sind, auch hier nicht aus. Die arbeitspsychologischen Untersuchungen bzw. Experimente haben indes sowohl „positive wie negative Einflüsse von HIntergrundmusik auf verschiedene Leistungsmasse“ belegt, so dass auf diesem Gebiet weitere Forschungen notwendig seien.

5. Musik und Emotionen

Die Erfahrung ist alltäglich: Wenn man angenehme Musik hört, wird die psychische Leistungsfähigkeit gesteigert. Mehr noch: „Wir lernen, bestimmte Musikstücke zu mögen oder nicht zu mögen. Insofern sind auch an der Entwicklung von Musikpräferenzen Lernprozesse beteiligt“ (Jäncke). Der Autor geht hier Problemfeldern nach wie: Was sind die Ursachen dafür, dass wir bestimmte Musik zu mögen scheinen und andere Musik ablehnen? Gibt es so etwas wie eine universell bevorzugte Musik? Wann hören wir welche Musik? Wie hören wir diese Musik, und vor allem: Wer hört welche Musik?

Stärkere Durchblutung der Hirngebiete beim Hören "sehr angenehmer Musik"
Stärkere Durchblutung der Hirngebiete beim Hören „sehr angenehmer Musik“

Bei solchen Fragestellungen werden die Befunde Jänckes besonders interessant, reichen sie doch womöglich an das musikkulturelle Selbstverständnis ganzer Gesellschaften heran, bzw. müssen musiksoziologische und musikästhetische Revisionen vorgenommen werden im Zusammenhang mit der hörpsychologischen Konsonanz-Dissonanz-Problematik. So hinterfragt Neurophysiologe Jäncke einerseits, ob die „Konsonanz-Dissonanz-Unterscheidung wirklich mit angeborenen emotionalen Präferenzen verbunden“ ist, oder ob nicht jene Musikwissenschaftler recht haben, welche argumentieren, dass „die Präferenz für konsonante Musik, Klänge und Intervalle eher durch häufiges Hören dieser Art von Musik und Klängen bestimmt wird.“
Fest steht gemäss verschiedenen Studien, dass schon bei vier Monate alten Babys Präferenzen für konsonante Klänge und Intervalle vorliegen – gemäss Lutz Jäncke aber nicht das schlagende Argument dafür, dass dabei „ausschliesslich genetisch bestimmte Mechanismen“ zum Tragen kommen: „Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Babys schon häufig konsonante Musik gehört und bereits unbewusst eine Vorliebe für diese Art der Musik entwickelt haben“. Denn grundsätzlich, so die Erkenntnis des Neurophysiologen: „Wir mögen, was wir häufig hören“. Und weiter: „Obwohl insbesondere in der westlichen Kultur konsonante Musikelemente eher angenehme Reaktionen hervorrufen, darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass gerade die menschliche Lernfähigkeit es ermöglicht, auch Dissonanz als angenehm zu erleben.“ Schliesslich: „Emotionale Musik stimuliert das limbische System. Angenehme Musik kann ein ‚Gäsenhautgefühl‘ hervorrufen, dem ein Aktivierungsmuster des Gehirns zugrunde liegt, das auch bei Verstärkungen, bei der Befriedigung von Süchten und beim Lernen zu messen ist. […] Insbesondere die Entwicklung von musikalischen Vorlieben wird wahrscheinlich über das Belohnungssystem vermittelt.“

6. Wie verarbeitet das Gehirn Musik?

Wichtige Erkenntnisse gewann Jäncke durch die rasante apparatetechnische bzw. computergesteuerte Entwicklung z.B. auf den Gebieten der Elektro- und der Magnetenzephalographie, welche neuropsychologisch eine „präzise zeitliche Charakterisierung“ auch der menschlichen Ton- bzw. Musikwahrnehmung erlaubt. Hier verweist der Wissenschaftler zusammenfassend auf den wichtigen Befund, dass während des Musikhörens „weite Teile des Gehirns im Sinne eines Netzwerkes aktiviert werden. Es besteht also die Möglichkeit, dass man mit musikalischen Reizen eine räumlich ausgedehnte Hirnaktivierung erreichen kann.“ Insofern ist im Gehirn – ganz im Gegensatz zu Spekulationen in früheren Jahrhunderten – kein typisches „Musikwahrnehmungsareal“ zu identifizieren – einfach deswegen, weil bei Musik schlicht besonders zahlreiche Hirnregionen involviert sind, woraus diverse positive „Transfer-Effekte“ resultieren.

7. Die Musik und die zwei Hirnhemisphären

Das menschliche Gehirn - Schnitt durch die beiden Hemissphären
Das menschliche Gehirn – Schnitt durch die beiden Hemissphären

Jäncke: „Bei Musikern kann häufig festgestellt werden, dass sie Musik auch in jenen Hirngebieten verarbeiten, die eigentlich mit der Sprachverarbeitung betraut sind“. Dementsprechend können bei Musikern sog. Amusien – hier ‚Motorische Amusie‘: Störungen in der Produktion von Musikstücken; oder ‚Sensorische Aumusie‘: Störungen in der Wahrnehmung von Musikstücken – auch auftreten, wenn Hirngebiete geschädigt sind, die bei Nichtmusikern nicht an der Kontrolle von Musikverarbeitungen beteiligt sind.

8. Wie produziert das Gehirn Musik?

Wenn man Musikstücke spielt, sind gemäss Jänckes Untersuchungen vielfältige Gedächtnisinformationen nötig: „Diese Informationen reichen von Tönen, Rhythmen und Melodien bis hin zu Erinnerungen an Episoden, Personen und Emotionen, die mit dem zu spielenden Musikstück assoziiert sind.“ In diesem Zusammenhang geht der Autor auch auf die Tatsache ein, dass zahlreiche Musiker unter „erheblichen Ängsten und Sorgen hinsichtlich ihrer Spielleistung“ leiden: „Sie sind teilweise derart gehemmt, dass sie nicht oder nur selten frei und locker ihren Spielfluss finden.“ Kernspintomographische oder EEG-Messungen solcher Personen im Labor hätten ergeben, dass bei derartigen Blockaden insbesondere eine starke Aktivierung „frontaler Hirnstrukturen“ feststellbar sei, was darauf hinweise, dass diese Hirngebiete „viel zu starke hemmende Einflüsse auf die anderen für die Musikproduktion ebenfalls wichtigen Hirngebiete ausüben“. Aufgrund dieser Erkenntnis arbeite nun die Wissenschaft weiter an spezifischen Hirntrainingsmethoden für verbesserte Musikleistungen (Stichworte: „Neurofeedback“, „Brain-Computer-Interface-Technik“ u.a.)

9. Verändert Musizieren das Gehirn?

Grösserer sensomotorischer Hirn-Kortex bei Musikern
Grösserer sensomotorischer Hirn-Kortex bei Musikern

Dieser Frage widmet Lutz Jäncke einen besonders interessanten Abschnitt seines Buches. Er dokumentiert die überraschende Fähigkeit des menschlichen Gehirns zur anatomischen Anpassung bzw. zu einer Zunahme der „Dichte der grauen Substanz“ (= u.a. Sitz der wichtigen „Synapsen“). Jäncke: „Intensives musikalisches Training ist mit erheblichen makroskopischen Veränderungen in Hirnbereichen gekoppelt, die besonders stark an der Kontrolle des Musizierens beteiligt sind. Diese anatomischen Veränderungen hängen offenbar von der Intensität und Häufigkeit des Musizierens ab. Je häufiger trainiert wird, desto ausgeprägter sind die Veränderungen“.

10. Musik und Sprache

Grössere Dichte der grauen Substanz (Zellen) bei Musikern
Grössere Dichte der grauen Substanz (Zellen) bei Musikern

Die neuere Erforschung des komplexen Beziehungsfeldes „Musik-Sprache“ hat nach Jäncke bisherige Auffassungen stark revidiert. So könne z.B. die strikte funktionale und anatomische Trennung zwischen Sprache und Musik nicht mehr aufrecht erhalten werden: „Die Wahrnehmung der Sprache und Musik wird von stark überlappenden Nervenzellnetzwerken bewerkstelligt. Wichtig dabei ist auch, dass an der Analyse von Sprache und Musik beide Hirnhälften beteiligt sind.“ Weiter: „Musik ist nach einem bestimmten Regelsystem aufgebaut. Dieses Regelsystem hat bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit dem Regelsystem der Sprache. Teilweise werden für die Analyse des Musikregelsystems gleiche Hirnstrukturen eingesetzt.“ Eine der Konsequenzen solcher Forschungsergebnisse sind medizinische Ansätze: „Musikalische Interventionen werden erfolgreich für die Therapie von Sprachstörungen eingesetzt“.

11. Musik und Alter

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Zum Abschluss seines „Parforcerittes durch die Welt der Musik, des Lernens und des Gehirns“ (Jäncke) kommt der Zürcher Wissenschaftler auf das je länger, desto intensiver thematisierte Problemfeld „Musik&Alter“ zu sprechen. Und auch Jänckes Forschungen brechen hier eine Lanze fürs Musizieren, gemäss dem bekannten Apodiktum „Use it or lose it“, indem er die grosse Bedeutung von besonders drei Hirn-intensiven Betätigungen konstatiert: „Längsschnitt-Studien haben ergeben, dass ältere Menschen, die bis ins hohe Alter Musizieren, Tanzen und Brettspiele spielen, selten im fortgeschrittenen Alter an Demenzen leiden. Hierbei zeigte sich, dass ein Betätigungsumfang in diesen drei Freizeitaktivitäten von ca. einmal pro Woche das Risiko, später eine Demenz zu entwickeln, um ca. 7 % senkte. Die intensive Ausübung dieser Freizeitaktivitäten scheint die ‚kognitive Reserve‘ im Alter zu steigern.“ Zusammengefasst: „Menschen, die bis ins hohe Alter musizieren, verfügen über einen geringeren oder keinen Abbau des Hirngewebes im Stirnhirn im Vergleich zu Personen, die nicht Musizieren.“ ♦

Lutz Jäncke, Macht Musik schlau? – Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie, 452 Seiten, Verlag Hans Huber/Hochgrefe, ISBN 978-3456845753

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Musik als Demenz-Prävention“ auch über Theo Hartogh: Musizieren im Alter

Probeseiten (verkleinert)

Leseprobe 1 aus Lutz Jäncke: "Macht Musik schlau"? - Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie - Huber Verlag
Leseprobe 1 aus Lutz Jäncke: „Macht Musik schlau“? – Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie – Huber Verlag
Leseprobe 2 aus Lutz Jäncke: "Macht Musik schlau"? - Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie - Huber Verlag
Leseprobe 2 aus Lutz Jäncke: „Macht Musik schlau“? – Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie – Huber Verlag

Buch-Inhalt

Vorwort (Eckart Altenmüller)                                     9
1. Einleitung                                                   11
Von Kognitionen, psychischen Funktionen und Genen               13
Transfer                                                        14
Wunderwelt der Neuroanatomie und Bildgebung                     16
Von Zeitschriften und Büchern                                   18
Die Geschichte dieses Buches                                    20
Abschliessende Bemerkungen                                       21
2. Der Mozart-Effekt - Beginn eines Mythos                      23
2.1  Der Beginn                                                 24
2.2  Die Folgen                                                 33
2.3  Replikationsversuche                                       35
2.4  Weiterführende Experimente                                 45
2.5  Der Einfluss der Stimmung und der Musikpräferenz           50
2.6  Zusammenfassung und kritische Würdigung                    57
3. Längsschnittstudien                                          59
3.1  Allgemeines                                                59
3.2  Internationale Längsschnittuntersuchungen                  61
3.3  Deutschsprachige Längsschnittstudien                       74
3.4  Zusammenfassung und kritische Würdigung                    90
4. Querschnittuntersuchungen                                    95
4.1  Musik und Gedächtnis                                       96
4.2  Musikgedächtnis                                           105
4.3  Visuell-räumliche Leistungen                              113
4.4  Rechenleistungen                                          138
4.5  Spielen vom Notenblatt                                    147
4.6  Motorische Leistungen                                     150
4.7  Musikwahrnehmung                                          157
4.8  Musiker und Nichtmusiker                                  192
4.9  Zusammenfassung und kritische Würdigung                   194
5. Lernen und passives Musikhören                              197
5.1  Suggestopädie                                             201
5.2  Ergebnisse aus dem Journal of the Society
     for Accelerative Learning and Teaching                    207
5.3  Ergebnisse aus Zeitschriften, die von Fachleuten
     begutachtet werden                                        210
5.4  Zusammenfassung und kritische Würdigung                   233
6. Musik und Emotionen                                         237
6.1  Preparedness                                              240
6.2  Wir mögen, was wir häufig hören                           246
6.3  Heute "hü" morgen "hott" -
     wechselnde emotionale Musikwirkungen                      249
6.4  Hirnaktivität und emotionale Musik                        258
6.5  Emotionen bei Profimusikern                               271
6.6  Zusammenfassung und kritische Würdigung                   274
7. Wie verarbeitet das Gehirn Musik?                           277
7.1  Zusammenfassung                                           292
8. Musik und Hemisphärenspezialisierung                        295
8.1  Amusie                                                    300
8.2  Amusien bei Musikern                                      302
8.3  Zusammenfassung                                           304
9. Wie produziert das Gehirn Musik?                            307
9.1  Motorische Kontrolle                                      308
9.2  Sequenzierung                                             311
9.3  Gedächtnis                                                314
9.4  Aufmerksamkeit                                            315
9.5  Musizieren - Kreativität                                  317
9.6  Zusammenfassung und kritische Würdigung                   325
10. Verändert Musizieren das Gehirn?                           327
10.1 Wiederholen ist die Mutter des Lernens                    329
10.2 Expertise - Üben, Üben, Üben                              334
10.3 Gehirne wie Knetmasse                                     335
10.4 Reifung und Hirnplastizität                               347
10.5 Plastizität nicht nur bei Musikern                        349
10.6 Zusammenfassung                                           355
11. Musik und Sprache                                          357
11.1 Funktionen und Module                                     359
11.2 Von Tönen und Sprache                                     361
11.3 Fremdsprachen und Musik                                   365
11.4 Syntax und Semantik                                       367
11.5 Klingt Musik französisch, deutsch oder englisch?          375
11.6 Musik und Lesen                                           376
11.7 Musik und Sprachstörungen                                 381
11.8 Zusammenfassung                                           387
12. Musik und Alter                                            391
12.1 Zusammenfassung                                           399
13. Schlussfolgerungen                                         401
Macht das Hören von Mozart-Musik schlau?                       402
Hat Musikunterricht einen günstigen Einfluss
auf Schulleistungen und kognitive Funktionen?                  403
Worin unterscheiden sich Musiker von Nichtmusikern?            404
Lernt man besser, wenn man gleichzeitig Musik hört?            405
Beeinflusst Musik die Emotionen?                               407
Wird Musik in bestimmten Hirngebieten verarbeitet?             408
Wie produziert das Gehirn Musik?                               409
Verändert Musizieren das Gehirn?                               410
Besteht ein Zusammenhang zwischen Musik und Sprache?           411
Ist es gut, wenn man im fortgeschrittenen Alter musiziert?     412
Soll man in der Schule musizieren?                             413
14. Dank                                                       415
15. Literatur                                                  417
Sachwortregister                                               433
Personenregister                                               451

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musikpsychologie auch über Theo Hartogh: Musizieren im Alter


Ursula Petrik: Die Leiden der Neuen Musik

Unheilvolle Apotheose des Fortschritts

von Walter Eigenmann

In wahrscheinlich noch keiner Epoche der mehrtausendjährigen Musikgeschichte war eine solche Diskrepanz von Kunstmusik und Hörerschaft zu konstatieren, wie sie spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg breit bemerkbar und auch allmählich intensiver soziologisch, ästhetisch und musikhistorisch thematisiert wurde, und wie sie sich inzwischen – auch gerade in unserem Zeitalter der „postmodernen Beliebigkeit“ – zu einem regelrechten „Zerwürfnis“ zwischen originärem Komponieren und allgemeingesellschaftlichen Hörkonventionen ausgewachsen hat.

Akademisch gepflegte Nische

Ursula Petrik: Die Leiden der Neuen Musik
Ursula Petrik: Die Leiden der Neuen Musik

Die verhehrende Konsequenz dieses Driftings ist bekannt: Die sog. Neue Musik (=Avantgarde) ist existent, aber sie existiert nicht… Denn ihre Kompositionen, Komponisten und/oder Protagonisten fristen im „Kulturbewusstsein“ der Allgemeinheit – sofern diese überhaupt Kenntnis nimmt von mehr als „Unterhaltungsmusik“ – ein allenfalls akademisch gepflegtes Nischen-Dasein, ihre Aufführungen finden meist – trotz der üblichen „Sandwich“-Programmpraxis „Klassisches-Modernes-Klassisches“ – vor halbleeren Säälen statt, und kaum, dass ihre Schöpfer und Ausführenden überhaupt Verlage bzw. Notenmaterial für Ihre Produktionen finden und nicht vielmehr selbstausbeuterisch in völliger „eigenverantwortlicher“ Isolation arbeiten müssen.
Welche musikalischen Strömungen, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und individualkompositorischen Motive sind dafür verantwortlich, dass der „Neuen Musik“ seitens des Publikums kaum Beachtung, geschweige denn Zustimmung zuteil wird? Welche „Personalstile“ führen zu der Kluft zwischen aktueller „abendländischer Tonsprache“ und den Erwartungen bzw. Wünschen fast aller Hörerschichten der modernen Gesellschaften? Ist die konsequente Aufgabe aller Tonalität – wie sie z.B. in der Zwölfton-Musik Schönberg’scher Provenienz erstmals stil- und schulbildend und bis in unsere Tage quasi der „Minimalkonsens“ (fast) allen arrivierten Komponierens wurde – eine widernatürliche Ignoranz gegenüber hörphysiologischen bzw. -anthropologischen Gesetzmässigkeiten?

Preisgabe der Tonalität

Die Wiener Musikwissenschaftlerin Ursula Petrik geht diesen Fragen in ihrer jüngsten Publikation „Die Leiden der Neuen Musik“ nach, indem sie die massgeblichen Entwicklungszüge in den Mittelpunkt hebt, welche mit der sog. „Zweiten Wiener Schule“ sowie den berühmten bzw. bedeutsamen „Internationalen Ferienkursen für Neue Musik“ assoziiert werden.
Die Autorin selber über die Intentionen ihrer Arbeit: „Es wird davon ausgegangen, dass sich bereits im frühen 20. Jahrhundert eine Kluft zwischen den ästhetischen Vorstellungen der Komponisten und den Erwartungen und Wünschen der Hörer aufgetan hat, die bislang nicht überbrückt werden konnte.“ […] Als zweiter und wohl schwerwiegendster Faktor in diesem Prozess wird die Preisgabe der Tonalität geltend gemacht. Da das Phänomen „Tonalität“ innerhalb der Musikforschung ein bislang ungelöstes Problem darstellt, werden zunächst Tonalitätsbetrachtungen des 19., 20. und frühen 21. Jahrhunderts angeführt und diskutiert. Das Kapitel beinhaltet auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Atonalität Schönbergs, Weberns und Bergs, namentlich mit den verschiedentlichen Versuchen ihrer theoretischen Rechtfertigung, mit ihren musikalischen Konsequenzen sowie mit den dokumentierten Reaktionen seitens Musikkritik und Publikum auf ihre kompositorischen Ausformungen. Ferner werden die nicht atonalen Zwölftontheorien Josef Matthias Hauers und Othmar Steinbauers vorgestellt und in Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit Schönbergs Zwölftonmethode verglichen. Abschliessend wird ein Überblick über die Rezeption der Zwölftonmusik gegeben.

Progression des musikalischen Materials

Das Folgekapitel nennt als weitere Ursache für die Entfremdung zwischen Komponist und Hörer die rasante Progression auf Basis des musikalischen Materials. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf den Entwicklungen, die sich nach 1950 im Kontext mit den Darmstädter Ferienkursen ereigneten. In diesem Kontext wird auch der Einfluss von Theodor W. Adornos „Philosophie der neuen Musik“ auf das Musikdenken der Nachkriegs-Avantgarde näher beleuchtet.
Im letzten Kapitel wird die Absage der Komponisten des 20. Jahrhunderts an das Publikum als ursächlicher Faktor für die beiderseitigen Kontaktschwierigkeiten erörtert. Es wird hinterfragt, inwiefern das musikästhetische und -philosophische Schrifttum die soziale Isolation der Neuen Musik beeinflusste und welche Rolle die Massenmedien als deren Förderer dabei spielten.“

Eine praxisorientierte Bestandesaufnahme

Ursula Petriks „Die Leiden der Neuen Musik“ ist – in ihrer detailreichen Dokumentiertheit und gleichzeitig in ihrer durchdachten Fokussierung auf die sowohl musiktheoretisch wie -soziologisch prägenden „Mainstreams“ des extrem komplexen Phänomens „Neue Musik“ – eine ebenso willkommene wie eloquente Abhandlung, und zugleich eine durchaus praxisorientierte Bestandesaufnahme, die sich nicht beim historisierenden Befund bescheidet, sondern  die gesamte Vielfalt des Kontextes, also auch die ökonomischen, ideologischen bzw. kulturpolitischen Immanenzen berücksichtigt.
Schade nur, dass dieser hohen inhaltlichen Qualität des Bandes das drucktechnische Erscheinungsbild zuwiderläuft (was durch den angenehm tiefen Preis nicht wettgemacht wird): Teils lieblose Typographie und v.a. miserable Buchbindung sollten in einer (hoffentlich nötigen) zweiten Auflage unbedingt verbessert werden.
Davon aber abgesehen: Wer sich an der Diskussion über die sog. „Neue Musik“ beteiligen will (oder z.B. aus schulischen Gründen beteiligen muss), kommt an diesem hervorragenden, analytisch präzisen und kenntnisreich präsentierten Traktat Petriks nicht vorbei. Durchaus empfehlenswert auch für „Laien und Amateure“, welche sich eine minimale Offenheit gegenüber neuen musikkulturellen Entwicklungen bewahrt haben – und vielleicht mal den obligaten „Abend mit Mozart und Beethoven“ austauschen zugunsten der Neugier auf eine (erste?) Begegnung mit Schönberg&Co… ♦

Ursula Petrik, Die Leiden der Neuen Musik – Die problematische Rezeption der Musik seit etwa 1900, Edition Monochrom Wien, 164 Seiten, ISBN 978-3950237245

Inhalt

       Vorwort                                                                  7
       Danksagung                                                               9
I.     Die Entwicklung der bürgerlichen Musikkultur                            11
       und der Musikanschauung bis 1900
LI.    Zur gesellschaftlichen Situation der Musikschaffenden um 1800           11
1.2.   Rückwendung zur musikalischen Vergangenheit                             14
1.3.   Tradition wider Innovation                                              17
1.4.   Widerläufige ästhetische Konzepte                                       21
1.5.   Eskalationen im Zuschauerraum                                           26
1.6.   Auseinandertreten von Kunst- und Trivialmusik                           28
1.7.   Konsequenzen                                                            44
2.     Die Entfremdung zwischen Komponist und Hörer                            48
2.1.   Voraussetzungen: Das Ende der verbindlichen Tonsprache                  49
2.2.   Die Preisgabe der Tonalität                                             56
2.2.1. Die Rolle der Musiktheorie bei der „Auflösung der Tonalität"            58
2.2.2. Tonalitätsbetrachtungen des späteren 20. und frühen 21. Jahrhunderts    61
2.2.3. Schönbergs Konsonanz-Dissonanz-Betrachtung                              64
2.2.4. Musikalische Konsequenzen der Preisgabe der Tonalität                   66
2.2.5. Hypothesen zu einem „atonalen Tonsatz"                                  69
2.2.6. Reaktionen auf die frühe atonale Musik                                  70
2.2.7. Formprobleme der frei atonalen Musik                                    88
2.2.8. Restitution der Fasslichkeit durch Schönbergs Zwölftonmethode?          90
2.2.9. Andere Zwölftonschulen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede               107
2.2.1. Zur Rezeption der Zwölftonmusik 114 2.2.11. Schlussbetrachtung         119
2.3.   Die Apotheose des Fortschritts                                         121
2.4.   Absage an das Publikum                                                 142
       Schlussbetrachtung und Ausblick                                        152
       Literatur - eine Auswahl                                               155
       Personen- und Sachregister                                             157

Leseprobe

Ursula Petrik: Die Leiden der Neuen Musik (Leseprobe)
Ursula Petrik: Die Leiden der Neuen Musik (Leseprobe)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musik und Gesellschaft auch den Essay von
Frieder W. Bergner: Das U und das E in der Musik

… sowie zum Thema „Tonalität und Dissonanzen“ über
Lutz Jäncke: Macht Musik schlau? (Musik und Emotionen)

Eric Baumann: Einen Sommer noch (Autobiographie)

Leben mit der Diagnose Hirntumor

von Walter Eigenmann

Bücher mit einem ähnlichen Klappentext wie dem folgenden wurden und werden immer wieder publiziert, und liest man in der Buchhandlung solche Sätze wie auf der Rückseite von Eric Baumanns Buch „Einen Sommer noch“, denkt man „Armer Kerl!“ und stellt es mitfühlend-seufzend wieder ins Regal zurück:
„Er ist jung, erfolgreich, frisch verliebt – und auf dem Karrieresprung. Dem Journalisten Eric Baumann steht die Welt offen. Doch sein Körper spricht eine andere Sprache, schickt Kopfschmerzen, Sprachaussetzer, Sehstörungen. An seinem 34. Geburtstag erfährt Eric Baumann, dass er einen bösartigen Gehirntumor hat, der sofort operiert werden muss. Seine Überlebenschancen sind auch nach der Operation gleich null. Ab diesem Zeitpunkt steht über jedem schönen Augenblick die Frage: Werde ich das je wieder erleben? Dennoch gibt Eric Baumann auch in Momenten tiefster Verzweiflung nicht auf. Mit offenen Augen schaut er in die Welt und wehrt sich mit Lebensfreude und Mut nun schon mehr als drei Jahre gegen den sicheren Tod.“

Über jedem Augenblick die Frage: Werde ich das je wieder erleben?

Eric Baumann - Einen Sommer noch - Mein Leben mit der Diagnose Hirntumor - Lübbe Verlag - CoverNun, diesen Autobiographie-Band des Luzerner Wirtschaftsjournalisten Eric Baumann sollte man nicht wieder ins Regal zurückstellen. Sondern miterleben.
Gewiss, Baumann ist weder Poet, noch Literat, noch Wissenschaftler, noch Philosoph, noch Pfarrer, noch Märtyrer. Seine Sprache: Knapp, realistisch, voller Verben und Substantive, ohne alle Larmoyanz, streckenweise schier ohne Sentiment, doch wider Erwarten keineswegs humorlos – wie das alles gute Wirtschaftsredakteure durchaus können. Und überhaupt: „Um mich zu besinnen, muss ich nicht die Hände falten. Ich brauche auch keine Institution, die mir zu erklären versucht, was nach dem Tod passiert.“ Denn dieses „Einen Sommer noch“ impliziert zwar Hoffnung, es bilanziert gar irgendwie, obwohl es nur nach vorne blickt – aber vor allem sind diese knapp 260 Seiten ein in seiner detaillierten Intensität ungeheuer beeindruckendes, so noch nie gelesenes Stenogramm einer Heimsuchung.
Und deren menschlicher wie medizinischer Bewältigung. Baumann hat einen wahren Kosmos der inneren Monologe und und der äusseren (medizinischen) Dialoge, auch der sozialen Netze, der widersprüchlichen Therapie-Diskussionen, des Selbstbeobachtens und des Fremdbestimmtseins, bis hin zur Resignation und zur Resurrektion zwischen zwei Buchdeckel gelegt, seine Sätze voller „Ich“ und „ich“ und voller Namen von Menschen und Leuten und Sachen und Techniken vermitteln zwischen Chemotherapie und Anthroposophie, zwischen Glioblastom und Qigong, zwischen Misteln und Tomographen. Kein Zweifel, nachdenken und reden über eine Krankheit wie Krebs ist ihrer Bekämpfung enorm förderlich.

„Kampf gegen den Krebs“ aus dem Vokubular gestrichen

Eric Baumann - Einen Sommer noch - Mein Leben mit der Diagnose Hirntumor - Rezension Glarean Magazin
Eric Baumann (Anmerkung: Rund ein halbes Jahr nach Veröffentlichung dieser Rezension erfuhr die „Glarean“-Redaktion, dass Eric Baumann am 21. 08. 2009 nun seiner Tumor-Erkrankung erlegen und an einem Hirntumor-Rezidiv verstorben ist. (Siehe auch —> „Kommentar“)

Wiewohl Baumann differenziert: „Den Begriff ‚Kampf‘ für den Umgang mit dem Krebs streiche ich aus meinem Vokabular. Ich interpretiere meinen Weg eher als Prozess. […] Klar ist er ein Biest, dieser Tumor. Nach der Lektüre einiger Bücher wie dem von Simonton verstehe ich ihn aber immer mehr als einen Teil von mir, denn seine Zellen gehören zu meinem Zellenvolk. Wenn ich visualisiere, mag ich mir jedenfalls nicht einen Krieg von gegeneinander antretenden Zellen vorstellen, selbst wenn das der Realität entspricht. Das Putzteam ist mir sympathischer.“
„Einen Sommer noch“ ist das anrührend ehrliche, sensibel, doch ungeschönt notierende, in seiner intelligent sezierenden Präzision fast beängstigende, zwar subjektivst erlebte und erlittene, aber auch in grosse menschliche und medizinische Vorgänge eingebettete Protokollieren des Überlebens – von der ersten dringenden Hirnoperation bis zur jüngsten Nevada-Reise mit Partnerin Alice. Dazwischen liegen hoffnungsvolle Monate und Jahre – geschenkte Lebenszeit, gemäss Statistik.

„Es gibt ein Morgen“

Doch wie schreibt der inzwischen 38-jährige, noch immer an einem der schlimmsten, weil bösartigsten Hirntumore (= Grad IV der WHO) leidende Autor – alles Gute ihm auch von hier aus! – in seinem Buch-„Epilog“:
„Es ist Frühling, es ist warm. Wie vor einem Jahr sitze ich im Parkcafé, nippe an einer Apfelschorle. Vor mir liegt ein Manuskript, meine Geschichte. – Ich habe wieder einen Befund aus dem Spital erhalten. Es sieht gut aus. Die Chemomedizin muss ich aber weiterhin schlucken, es wäre fahrlässig, sie abzusetzen. – Ein Sonnenstrahl dringt durch eine Allee von Pappeln. Der Sommer steht vor der Tür. Noch einer. Was für ein schönes Leben! – Ich packe zusammen. Fertig für heute. Es gibt ein Morgen.“ ♦

Eric Baumann, Einen Sommer noch, Mein Leben mit der Diagnose Hirntumor, 268 Seiten, Lübbe Verlag, ISBN 978-3-7857-2355-5

Leseprobe

Ein Assistenzarzt zeigt mir die Bilder. Er wirkt desinteressiert,
sein Blick ist frustriert und müde. Was ich zu sehen bekomme,
schnürt mir die Kehle zu: Der Schatten ist viel deutlicher
zu sehen als auf der Computertomografie von gestern
Abend. Er dominiert den linken Schläfenlappen des Gehirns.
Um ihn herum hat sich eine enorme Schwellung gebildet. Sie
will mein Gehirn vor dem Eindringling schützen. Der Platz im
Kopf ist aber begrenzt, die Hirnmasse wird zur Seite gedrängt,
eingequetscht.
In der Mitte des Gehirns verläuft eine Linie. Normalerweise
ist sie gerade, meine aber hat derzeit eine Delle. „Midline-Shift
nach rechts“, heisst es im Spitalbericht. „Eindeutig Hirntumor“,
meint der Assistenzarzt. Also doch! Bestimmt wussten die Mediziner
in der Notfallstation gestern Abend bereits, dass es sich
nicht um eine Entzündung handelt. Vermutlich wollten sie
mir die Diagnose „Bösartiger Hirntumor“ noch nicht als einzig
mögliche Erklärung zumuten.
„Der Tumor“, so der Arzt, „hat einen Durchmesser von etwa
vier Zentimetern und zerfranst in verschiedene Richtungen.“
Vier Zentimeter? Das ist etwa die Grösse eines Pingpongballs!
Und zerfranst klingt nicht gut. „Harmlos ist er definitiv nicht“,
bestätigt der Assistenzarzt teilnahmslos. „Er muss weg. Wir
haben bereits einen Termin für Sie gefunden, die Operation findet
nächsten Montagmorgen statt, am dritten Januar.“ In vier
Tagen komme ich unters Messer!
Hirntumore werden von der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) in Kategorien eingeteilt, wie ich jetzt erfahre. I und II
sind gutartig, III und IV bösartig. Wucherungen aller Grade
beanspruchen Platz im Kopf. „Gutartig“ ist also ein verharmlosendes
Wort, denn selbst in so einem Fall kann ein Tumor
zum Tod führen, wenn er zu gross wird.
Tumore höheren Grades wachsen sogar ins Gehirn hinein,
verästeln sich, zerstören Zellen und setzen damit früher oder
später lebenswichtige Funktionen ausser Gefecht. In diesem
Fall gelten Hirntumore auch als Krebserkrankung. Gradmässig
geht es nur nach oben. Ein maligner Tumor – Mediziner-Slang
für „bösartig“ – kann sich nicht zu einem gutartigen zurückentwickeln.
„Genau wissen wir es erst nach der Operation. Vermutlich
handelt es sich um Grad III“, ergänzt der Assistenzarzt. Bestimmt
schlimm genug. Ich kann also nur noch hoffen, dass es
keine Nummer Vier ist. Sagt der Arzt die Wahrheit, oder ist die
Art, wie er seine Einschätzung formuliert, selbst bei ihm ein Akt
der Barmherzigkeit?
„Wie lange habe ich denn noch zu leben?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir wissen noch nicht
genug.“
„Bin ich dem Tod geweiht?“
„Nun, Sie müssen davon ausgehen, dass wir Sie nicht heilen
können. aber wir werden Ihnen eine zusätzliche beschwerdefreie
Zeit ermöglichen.“
Noch so ein Faustschlag. Das kann doch nicht sein. Ich,
sterben? Heute ist mein Geburtstag! Mir geht das alles viel
zu schnell. Wie soll ich als Vierunddreissigjähriger von einer
Stunde auf die nächste einen Plan für den Umgang mit der eigenen
Vergänglichkeit bereithalten? Dass mir in meinem Alter
schon der Tod blühen könnte, damit habe ich mich noch nie
auseinandergesetzt.[…]

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Medizin & Psychologie auch über Oruç Güvenç: Heilende Musik aus dem Orient

… und zum Thema Autobiographie über Dominik Riedo: Nur das Leben war dann anders

Internationales Musik-Symposium in Oldenburg

„Böse.Macht.Musik“ – Das klingend Diabolische

von Dr. Markus Gärtner

Ist es ein Wagnis, Verknüpfungen aufzeigen zu wollen zwischen der „unpolitischen“, „gefühlvollen“ oder wie auch sonst pseudoromantisch verklärten Musik und der Macht des Bösen? Womöglich, aber gerade angesichts der sich kontinuierlich wandelnden globalen Mediengesellschaft muss es der Wissenschaft umso mehr ein Anliegen sein, neue – auch sperrige – Sicht- und Denkweisen anzuregen. Dieser Aufgabe hat sich das studentische Organisationsteam des vom 10. bis zum 13. Oktober 2008 stattfindenden Oldenburger Symposiums gestellt, das interessierte Studierende, ausübende Musiker/innen, Doktorand/innen und junge Wissenschaftler/innen aus Musikwissenschaft und Nachbardisziplinen einlädt, über Fragestellungen nachzudenken, die mit dem Klischee einer semantisch ausschliesslich positiv besetzten Musik brechen.

Das Böse als zentraler Begriff der Ethik

Böse. Macht. Musik (Symposium Oldenburg)

Seit jeher kennt die philosophische Ethik das Böse als einen zentralen Begriff. Auffälligerweise jedoch sparen die zahlreichen Ansätze einer „Ästhetik des Bösen“ den musikalischen Bereich bisher aus. Das Thema „Böse.Macht.Musik“ eröffnet Anknüpfungspunkte zu verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen − von der Musikologie über die Philosophie bis hin zur Medien- und Politikwissenschaft. Denn das Böse ist nicht nur ein Grundbegriff zahlreicher Religionen, sondern es bildet seit jeher auch einen zentralen Terminus der philosophischen Ethik. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert etablierte es sich ausserdem als ästhetische Kategorie, welche von unmittelbar moralischen Aspekten losgelöst erscheint. Ob nun bei der Lektüre von Charles Baudelaires Gedichtzyklus „Les fleurs du mal“ oder bei medial vermittelter Kriegsberichterstattung: Das Böse hat eine ästhetische Anziehungskraft. Allerdings sparen die zahlreichen Ansätze einer „Ästhetik des Bösen“ den musikalischen Bereich bisher weitgehend aus. Das Symposium soll als Impuls dienen, diese Lücke zu schliessen.

Verbindungslinien zwischen dem Reich der Musik und der Macht des Bösen

Heroisch-schöne Wagner-Musik beim Massentöten – Szene aus F. Coppolas Kult-Film „Apocalypse Now“ („Ritt der Walküren“ – YouTube)

Vorsätzlich haben die Organisatoren ihr Thema sehr weiträumig aufgefasst. Das Symposium versteht sich als Forum, das einerseits den aktuellen Stand der Forschung widerspiegeln, darüber hinaus das „Böse“ als ästhetische Idee zu fassen bekommen möchte – ohne Scheuklappen vor unbequemen Antworten. Wo Verbindungslinien bestehen zwischen dem angeblich so lichten Reich der Musik und der Macht des Bösen, wo nach der Differenzierung von Karl Rosenkranz’ „Ästhetik des Hässlichen“ (1853) das Verbrecherische, das Gespenstische und das Diabolische zu klingen beginnen, dort werden junge Forscher tiefer bohren und tönende Materialisationen des Bösen genauer unter die Lupe nehmen.

Verschiedene nationale Denk- und Wissenschaftstraditionen

Durch die Beteiligung von Referenten aus unterschiedlichen Ländern wie Kanada, Serbien, Polen und den USA wird es möglich, verschiedene nationale Denk- und Wissenschaftstraditionen als Grundlage für die Beantwortung der skizzierten Fragen heran zu ziehen. So bietet das Symposium die Möglichkeit zum direkten Austausch von Wissenschaftlern, Studenten, Künstlern und Interessierten − und das auf internationaler Ebene. – Ein vollständiges Programm mit allen Vorträgen und künstlerischen Beiträgen kann im Internet abgerufen werden. (M. Gärtner, Teamleiter „Inhaltliche Konzeption“)

„Böse.Macht.Musik“ – Internationales studentisches Symposium vom 10.-13. Oktober 2008, Institut für Musik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Das Symposium findet unter Trägerschaft des DVSM e.V. – Dachverband der Studierenden der Musikwissenschaft – statt.)

Im Anschluss an das Symposium wurden dessen Beiträge in einer Publikation zusammengefasst:
Katharina Wisotzki & Sara R. Falke (Hrsg.): Böse Macht Musik – Zur Ästhetik des Bösen in der Musik, 226 Seiten, Transcript Verlag, ISBN 978-3-8376-1358-2

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Oruç Güvenç: Heilende Musik aus dem Orient

… sowie zum Thema Musik und Politik über
Stefan Hanheide: Pace – Musik zwischen Krieg und Frieden

Theo Hartogh: Musizieren im Alter (Forschung)

Musik-Anleitungen für Senioren

von Walter Eigenmann

Ganz allmählich – manche internationalen Betagten-Organisationen meinen: zu langsam – entdeckt auch die Gerontologie die Musik – aber auch die Musik die Alten. Dazu trägt einerseits die bekannte demographische Entwicklung bei, die nach gesellschaftlichen bzw. bildungs- und beschäftigungspolitischen Lösungsansätzen verlangt angesichts immer mehr rüstiger, ein breites Freizeit-Angebot nutzender und auch benötigender RentnerInnen – und andererseits die medizinische Forschung, welcher ein wissenschaftlicher Nachweis nach dem anderen gelingt, dass sowohl aktiv wie passiv genossene Musik teils frappante therapeutische Wirkung zu erzielen vermag.

Hierzu gleich ein Zitat aus „Musizieren im Alter“, einer von Theo Hartogh und Hans H. Wickel jetzt vorgelegten Studie, die neben vielen anderen Aspekten auch das Musizieren mit demenziell erkrankten Menschen untersucht:

Musizieren beugt Alzheimer-Erkrankungen vor

Theo Hartogh & Hans Hermann Wickel: Musizieren im Alter - Arbeitsfelder und Methoden - Schott Verlag
Theo Hartogh & Hans Hermann Wickel: Musizieren im Alter – Arbeitsfelder und Methoden – Schott Verlag

„Mit der Alterung der Weltbevölkerung geht eine stetige Zunahme demenzieller Erkrankungen einher. Forscher warnen bereits vor einer globalen Alzheimer-Epidemie und berechnen, dass sich die Zahl der derzeit ungefähr 26 Millionen Demenzerkrankten bis zum Jahre 2050 vervierfachen wird, sofern bis dahin keine geeigneten Medikamente entwickelt werden. […] Alzheimer-Patienten sind selbst im fortgeschrittenen Stadium durch Musik ansprechbar, da die Hörrinde neben dem motorischen System weitgehend frei bleibt von neuronalen Veränderungen. Auditive Reize wie Lachen, Schreien und emotionale Prosodie wie glückliche oder traurige Stimmen können unbeeinträchtigt erkannt werden, während auf visuelle Reize grösstenteils keine Reaktionen mehr gezeigt werden […] Aktives Musizieren und langjähriges kontinuierliches Üben auf einem Instrument scheinen jedoch eine präventive und verzögernde Wirkung zu haben. Ausserdem kann Musik ganz wesentlich dazu beitragen, dass demenziell erkrankte Menschen emotional angeregt werden und damit eine zumindest vorübergehende Steigerung ihrer Lebensqualität erzielen […] Musik kann etwas bei den Kranken bewirken, was kein Medikament und auch keine verbale Ansprache in dem Masse und in der Unmittelbarkeit erreicht.“ (Vergleiche hierzu auch u.a. „Hirnphysiologische Auswirkungen elementaren Musizierens in verschiedenen Lebensaltern“)

Emotionale Anregung durch Musik

Musik als Beitrag zur Lebensbewältigung: Senioren-Gruppe beim Spiel mit Rhythmus-Instrumenten
Musik als Beitrag zur Lebensbewältigung: Senioren-Gruppe beim Spiel mit Rhythmus-Instrumenten

Die präventive bzw. therapeutische Funktion von Musik ist wie erwähnt nur eines der zahlreichen musik-geragogischen Themata, welche die beiden Wissenschaftler als „Arbeitsfelder und Methoden“ in ihrem neuen Studien-Band behandeln. „Musizieren im Alter“ bietet eine weitgesteckte, alle wesentlichen Bereiche der Musikgeragogik umfassende Bestandesaufnahme aktueller musikalischer „Aktivitäten für und mit Menschen im dritten und vierten Lebensalter“. Die thematische Spannweite sei (in einem kleinen Auszug des Inhaltsverzeichnisses) hier stichwortartig gelistet:

„Alter als Bildungsherausforderung – Musik in jüngeren Lebensjahren als Ressource für das Alter – Wirkungen von Musik – Bedeutung von Musik für den älteren Menschen – Dialogische Orientierung – Intergenerative Orientierung – Musik und Gesundheit – Musik und Demenz -Präventionsaspekte – Musik in Lebens- und Alltagskrisen – Musik in der Sterbebegleitung – Institutionen – Stationäre und teilstationäre Einrichtungen – Seniorenorchester, -chöre, -ensembles und -bands – Musikschulen – Hochschulen – Musizieren in Alteneinrichtungen und Pflegeheimen – Musik und Bewegung – Musikeinsatz bei Prävention und Rehabilitation der Motorik – Musikunterricht im Alter – Musikbezogenes Lernen im Alter – Instrumental- und Gesangsunterricht – Anforderungen an den Instrumentallehrer“ u.v.a.

Die „Wiesbadener Erklärung“ des Deutschen Musikrates

Anfangs Juni letzten Jahres publizierte der Deutsche Musikrat, der „Spitzenverband des deutschen Musiklebens“, seine „Wiesbadener Erklärung“. In diesem Aufsehen erregenden Manifest unter dem Titel „Musizieren 50+ – im Alter mit Musik aktiv“, welches substantiell ohne weiteres auch auf die anderen europäischen Länder übertragen werden kann, sind zwölf Forderungen an Politik und Gesellschaft formuliert. Zentraler Kritik-Punkt ist dabei, dass „die gesellschaftspolitische Debatte und die damit einhergehende Bewusstseinsbildung um die Wirkungen von Musik im Hinblick auf die ‚Generationen 50+‘ bislang so gut wie gar nicht geführt wird.“
Wir zitieren nachfolgend dieses Dokument, das sowohl Standort-Bestimmungen als auch Zukunfts-Perspektiven umreisst, in seinem vollen Wortlaut:

„Die Potentiale des demographischen Wandels und seine Probleme wie die zunehmende Vereinsamung älterer Menschen sind gesellschaftspolitische Herausforderungen, die dringend neuer bzw. verstärkter Lösungsansätze bedürfen. Die Musik kann dabei Chancen eröffnen, die kreativen Potentiale älterer Menschen in viel stärkerem Masse als bisher zu entfalten und in die Gesellschaft einzubringen. Mit dem Bild einer human orientierten Gesellschaft verbindet sich die Überzeugung, dass die Erfahrung mit Musik um ihrer selbst Willen als elementarer Bestandteil in jedem Lebensalter ermöglicht werden muss.
Die Möglichkeiten zum Erfahren von und zur Beschäftigung mit Musik sind für die Älteren signifikant unterentwickelt. Die Barrieren auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene sind vorhanden, werden aber häufig nicht wahrgenommen. Dies überrascht umso mehr, als die gerontologische Forschung bereits seit einigen Jahren nachgewiesen hat, wie sehr die Musik auch prophylaktische und therapeutische Wirkungen hat und zur Wahrung von Identität beiträgt. Zudem hilft aktives Musizieren aus der Vereinsamung, indem es soziale Kontakte schafft und hilft Verluste zu verarbeiten.

Fehlende Musik-Angebote für ältere Menschen

Gehirn- und Finger-Jogging: Klavierspielen im Alter
Gehirn- und Finger-Jogging: Klavierspielen im Alter

So fehlen momentan in Deutschland fast durchgängig musikalische Angebote, die sich gezielt an ältere Menschen wenden. Zudem fehlt es meistens an geeigneten Bedingungen für musikalische Betätigungen in den Alteneinrichtungen. Der Deutsche Musikrat kann – angesichts der schon heute vorhandenen Altersarmut – nicht akzeptieren, dass zukünftig breite Bevölkerungsschichten, insbesondere im dritten und vierten Lebensalter von der kulturellen Teilhabe ausgeschlossen werden. Angesichts dieser Erkenntnisse ist es ein gravierendes Versäumnis, dass die gesellschaftspolitische Debatte und die damit einhergehende Bewusstseinsbildung um die Wirkungen von Musik im Hinblick auf die Generationen 50+ bislang so gut wie gar nicht geführt wird. Der Deutsche Musikrat fordert daher alle Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden auf, einen Masterplan ‚Musizieren 50+‘ zu entwerfen, der die nachstehenden Eckpunkte umfassen sollte. Dabei muss die Umsetzung der Forderungen im Hinblick auf die Menschen mit Migrationshintergrund unter Berücksichtigung Ihrer kulturellen Wurzeln erfolgen.

Politische Verankerung von Kultur-Angeboten für Senioren

  1. Der Deutsche Musikrat fordert Parlamente, Regierungen und Parteien auf, in ihren Programmen und Handlungsfeldern die Notwendigkeit kultureller Angebote für alte Menschen zu verankern.
  2. Damit sich das aktive Musizieren im höheren Lebensalter besonders wirksam entfalten kann, bedarf es einer qualifizierten und kontinuierlichen musikalischen Bildung im jüngeren Lebensalter.
  3. Die Musik muss in der Altenpflege, der sozialen Altenarbeit, der Rehabilitation und der Therapie verstärkt eingesetzt werden. Dazu bedarf es einer qualifizierten Aus- und Fortbildung in der Musikgeragogik (Musik mit alten Menschen).
  4. Die Hochschulen und Universitäten müssen die Studierenden gezielt auch für die fachspezifischen Anforderungen der Arbeit mit älteren Menschen qualifizieren. Die Fachdidaktik bedarf einer verstärkten Forschung.
  5. Die Musikvereinigungen des Laienmusizierens im weltlichen wie kirchlichen Bereich sollten verstärkt Angebote für alle Altersgruppen – Generationen übergreifend –bereitstellen, die finanziell gefördert werden müssen.
  6. Die Musikschulen müssen strukturell und finanziell in die Lage versetzt werden, Angebote für ältere Menschen bedarfsgerecht bereitstellen zu können. Dazu gehört eine Erweiterung des Angebotes, um auch bei denen die Motivation zum Musizieren zu wecken, denen bisher musikalische Erfahrungen vorenthalten wurden.
  7. Die Möglichkeiten des individuellen und gemeinsamen Musizierens in allen Wohnbereichen, somit auch in Einrichtungen für ältere Menschen und Krankenhäusern, müssen geschaffen bzw. schon bei der Bauplanung berücksichtigt werden.
  8. Die Bundesregierung ist aufgefordert, durch Pilotprojekte das Musizieren im höheren Lebensalter zu befördern. Dazu gehört auch der Dialog der Generationen, zum Beispiel durch die konzeptionelle Einbindung qualifizierter musikalischer Angebote in das Projekt der Mehrgenerationenhäuser.
  9. Der Deutsche Musikrat und die Landesmusikräte sind aufgefordert, ihre Projekte im Hinblick auf die stärkere Gewichtung Generationen übergreifender Aspekte zu überprüfen und ggf. zu modifizieren durch die Einführung von Fördermassnahmen für das Familienmusizieren.
  10. Die Landes- und Bundesakademien sind aufgefordert, im Bereich der Musikvermittlung Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote für das Musizieren im höheren Lebensalter und Generationen übergreifenden Musizierens zu entwickeln.
  11. Die Kultureinrichtungen müssen ihre Angebote stärker auf die Bedürfnisse alter Menschen ausrichten. Hierbei soll auch dem Aspekt zunehmender Altersarmut Rechnung getragen werden.
  12. Der Deutsche Musikrat ist aufgefordert, die Einrichtung eines Netzwerkes ‚Musik im Alter‘ gemeinsam mit den musikalischen und sozialen Fachverbänden, sowie den politisch Verantwortlichen zu prüfen. Ziel des Netzwerkes muss es sein, flächendeckend älteren Menschen das eigene Musizieren und die Teilhabe am Musikleben zu ermöglichen und dafür eine bürgerschaftlich gestützte Infrastruktur zu schaffen, um sie in Ihrem Lebensumfeld zu erreichen.“

Wertvolle Anregungen für alle Beteiligten

„Musizieren im Alter“ ist eine die aktuelle wissenschaftliche Diskussion ausgewogen resümierende, dabei in manchen musik-pädagogischen bzw. -theoretischen und lern-psychologischen Aspekten durchaus methodisch-konkret werdende Abhandlung. Das Buch bietet weiten Teilen der Musik-Institutionen und -Lehrerschaften, dem Altenpflege-Personal bis hin zu den betreuenden Angehörigen wertvolle Informationen, Anregungen und praktische musikalische Tipps für den (Musik-)Alltag mit alten, oft auch pflegebedürftigen Menschen.

„Musizieren im Alter“ ist eine die aktuelle wissenschaftliche Diskussion ausgewogen resümierende, dabei in manchen musik-pädagogischen bzw. -theoretischen und lern-psychologischen Aspekten durchaus methodisch-konkret werdende Abhandlung. Das Buch bietet weiten Teilen der Musik-Institutionen und -Lehrerschaften, dem Altenpflege-Personal bis hin zu den betreuenden Angehörigen wertvolle Informationen, Anregungen und praktische musikalische Tipps für den (Musik-)Alltag mit alten, oft auch pflegebedürftigen Menschen.

Für ein vertiefendes Studium fügte man dem Band ein umfangreiches Literatur-Verzeichnis an, erläuternd illustriert wird er mit zahlreichen Noten-Beispielen und anderem Bild-Material. Alles in allem eine äusserst verdienstvolle, fundierte Publikation des Schott-Verlages, die durchaus auch als Grundlagen-Lektüre dienen kann für den Einstieg in einen psychosozialen Bereich, dem inskünftig eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die ganze Gesellschaft zukommen dürfte. ♦

Theo Hartogh & Hans H. Wickel: Musizieren im Alter, Arbeitsfelder und Methoden, Schott Verlag, 160 Seiten, ISBN 978-3-7957-8733-2

Probeseite (verkleinert)

Musizieren in Alters- und Pflegeheimen: Bewegungsschulung, Liedersingen, Gespräche
Musizieren in Alters- und Pflegeheimen: Bewegungsschulung, Liedersingen, Gespräche

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musikpsychologie auch über
Christoph Drösser: Warum wir alle musikalisch sind

Arnold Leifert: Wozu Literatur? (Essay)

Der literarische Text als Geschehnis

Arnold Leifert

„Wozu Literatur?“- Was denn versteht der Fragende unter „Literatur“?1) Und selbst wenn mit dem Stichwort „Belletristik“ geantwortet wird – dies ist beruhigend, denn für alle andere, primär und nur unterhaltende, vielleicht auch triviale Literatur beantwortet sich die Frage selbst, – „Belletristik“ also, poetische und prosaische Literatur: Der Roman, die Novelle, die kurzen Formen der modernen Prosa, das Drama, das Hörspiel, das Gedicht…
Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, für die verschiedenen Gattungen auch verschiedene Antworten finden zu wollen. Allein: in der deutschen Literatur von 1945 bis heute verweigern sich alle Gattungen dieser Frage, und bekennen sich zugleich ebenso alle zu dieser Frage: „Wozu?“

Wonach aber fragt diese Frage? Nach dem Selbstverständnis des Autors, im Sinne einer ihn treibenden Zielsetzung, Intention, gar Absicht der (Welt-)Veränderung? Oder ist sie gestellt aus der Überschau-Sicht des Historikers und Literatur-Theoretikers, der die Wirkungsgeschichte einzelner Werke oder Epochen im nachhinein und de facto versucht aufzuspüren?

„Ich schreibe für mich selbst!“

Arnold Leifert: "Literatur – mit ihrem Sitz genau zwischen Denken und Fühlen – geschieht als vielleicht höchste Form der sprachlichen Kommunikation"
Arnold Leifert: „Literatur – mit ihrem Sitz genau zwischen Denken und Fühlen – geschieht als vielleicht höchste Form der sprachlichen Kommunikation“

Wozu Literatur? – Grammatikalisch suggeriert dies eine Auskunft über den „Zweck“ dieses etwas „verdächtig nutzlosen Unterfangens“ namens Literatur. Und heute diese Frage zu stellen, in einer Zeit pervers auf die Spitze getriebenen, technokratischen wie materialistischen Zweckansinnens an alles menschliche Tun, scheint tatsächlich provokant notwendig. Die Zyniker unter den „Realisten“ und Machern in unserer heutigen literarischen Welt haben die Frage längst in ihrem merkantilen Sinne beantwortet: Der Literaturbetrieb, die grossen Verlage leben von der „grossen Auflage“; ein Buch, das sich eignet, wird „gemacht“, die Kasse stimmt, der „Zweck“ ist erfüllt. Eine nicht zu unterschätzende Entwicklung; denn schon heute beginnt dieser marktorientierte Umgang mit Literatur das eigentliche Bild unserer literarischen Jahre nachhaltig zu verzerren und zu verschleiern.
Immer wieder kann man in Interviews, Gesprächen, poetologischen Exkursen usw. erleben, dass – und es sind wahrscheinlich die meisten von ihnen – die Autoren aller Gattungen, wenn sie gefragt werden: „Zu welchem Zweck schreiben Sie? Glauben Sie, mit Literatur gesellschaftlich etwas verändern zu können?“, diese Frage verneinen: „Zunächst schreibe ich für mich selbst! Über die Wirkungslosigkeit von Literatur mache ich mir keine Illusionen!“
Dass bei diesen Antworten dennoch auch heutigen Autoren diese Frage immer wieder gestellt wird, erklärt sich wahrscheinlich aus der Entwicklung der deutschen Nachkriegsliteratur selbst. Sah es in ihr – und einige kurze Jahre sogar ganz entschieden – doch eigentlich so aus, als gingen eine ganze Reihe von Literaten durchaus von so etwas wie einer politischen Intention beim Schreiben aus.

Literatur als Tendenz, in die Zeit zu wirken

Erst Zeitschrift für Dichtung, dann Zeitschrift für Literatur: Hans Benders "Akzente"
Erst Zeitschrift für Dichtung, dann Zeitschrift für Literatur: Hans Benders „Akzente

Sicherlich ist es nicht zufällig, dass ausgerechnet im Jahr 1968 der von da an alleinige Herausgeber der wichtigsten deutschen Literaturzeitschrift, Hans Bender, den „Akzenten“ einen neuen Untertitel gab. Hatte sie von ihrer Gründung 1954 bis 6/67 „Zeitschrift für Dichtung“ geheissen, hiess sie nun „Zeitschrift für Literatur“. Bender formulierte als Begründung u.a.: „Literatur ist […] der weitere Begriff […] Weiter, weil Literatur die Tendenz, in die Zeit wirken zu wollen, nicht verneint, sondern bejaht“ (Hans Bender: An die Leser, Akzente 1/68).
Fünf Jahre später sieht Bender sich in der Einschätzung dieser Tendenz bestätigt und schreibt im ersten Heft des 20. Jahrgangs: „Heute gibt es kaum noch einen Widerspruch, wenn nachgewiesen wird, wodurch die westdeutsche Literatur in den letzten Jahren mehr Beachtung und Wirksamkeit erzielt hat. Vor allem doch durch die Mitsprache in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung“ (H. Bender: Von der Dichtung zur Literatur, Akzente 1-2/73).
Gemeint waren damit sicherlich nicht allein, aber vor allem die Autoren der ersten Generation der „Gruppe 47“. Themen und Stoffe der Auseinandersetzung mit erlebtem Faschismus und Krieg, dann aber zunehmend Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung der neuen Republik. Wichtig in unserm Zusammenhang: Die neuen deutschen Autoren hatten ihren Weg gefunden von der apolitischen, zurückgezogenen Dichtungstradition hin zur Literatur der politischen Einmischung.

Das gesellschaftspolitisch orientierte „Wozu Literatur?“

Ein deutlich erkennbares, gesellschaftspolitisch orientiertes „Wozu?“ war Bekenntnis für literarisches Arbeiten. Heinz Ludwig Arnold pointiert: „So war die Gruppe 47 auch eine moralische Institution, nicht nur eine literarische Clique“ (H. L. Arnold: Die drei Sprünge der westdeutschen Literatur, Akzente 1-2/1993). Breite Übereinstimmung im Selbst-Verständnis und in der Formu-lierung neuer Aufgaben zeiteingebundener Literatur. Hans Magnus Enzensberger 1962: „Deshalb halte ich dafür, dass die kritische Position unteilbar ist. Sie hat nicht Bewältigung oder Aggression im Sinn; Kritik, wie sie hier versucht wird, will ihre Gegenstände nicht abfertigen oder liquidieren, sondern dem zweiten Blick aussetzen: Revision, nicht Revolution ist ihre Absicht“ (H. M. Enzensberger: Einzelheiten, Frankfurt/Main 1962).
Die radikalste Zuspitzung allerdings erfuhr dieses Wozu?-Bekenntnis schon weitere fünf Jahre später, als der gleiche H. M. Enzensberger mit Beginn der Studentenproteste gerade diesen revisionistischen Ansatz geisselt und als Gebot der Stunde 1967 formuliert: „Tatsächlich sind wir heute nicht dem Kommunismus konfrontiert, sondern der Revolution. Das politische System in der Bundesrepublik lässt sich nicht mehr reparieren. Wir können ihm zustimmen, oder wir müssen es durch ein neues System ersetzen. Tertium non dabitur. Nicht die Schriftsteller haben die Alternative auf dieses Extrem begrenzt; im Gegenteil, seit 20 Jahren bemühen sie sich, das zu vermeiden. Die Macht des Staates selbst sorgt dafür, dass die Revolution nicht nur notwendig wird (sie wäre 1945 notwendig gewesen), sondern auch denkbar“ (H. M. Enzensberger: Schriftsteller und Politik, Times Literary Supplement, 1967).

Von der Gruppe 61 bis zur Wiener Schule

"Eine zivilisatorische Notwendigkeit": Die Studenten-Revolte von 1968
„Eine zivilisatorische Notwendigkeit“ (Enzensberger): Die Studenten-Revolte von 1968

Eine ganze Generation damals beginnender junger Autoren – nicht zuletzt im Kreis auch um Erich Fried – nahm diesen Aufruf zum eigenen Programm: Literatur musste vor allem politisch relevant sein! Eine fast unübersehbare Menge – auch kleiner und kleinster – Literaturzeitschriften aus dieser Zeit zeugt davon. Und es entstand eine Tradition politischer Literatur, die – bei allen noch so unterschiedlichen formalen und inhaltlichen Ausformungen – bis heute angehalten hat. Von der „Gruppe 61“ über Werkkreis-Literatur, Reportage-Literatur, die politische Lyrik mit ihrem breiten Spektrum, das politische Lied, das Drama, bis zur Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Problematik bei DDR- und BRD-Autoren und hin zu den jüngsten Jahren literarischer Arbeiten über die beiden deutschen Gesellschaften und ihre Wiedervereinigung. Dass daneben gerade auch seit „68“ eine zweite literarische Strömung – apolitischer, formalistischer, bis hin zu konkreter Poesie und Wiener Schule – entsteht und an Bedeutung gewinnt, sei hier nur angemerkt.
Das anfangs gefragte „Wozu?“, somit von seiten der „Autorenintention“ beantwortet, – in der gleichen geschichtlichen Entwicklung beginnt auch die Antwort auf die Frage nach dem „Wozu?“ im Sinne einer tatsächlichen „Wirkung“ von Literatur, findet sich hier doch – zumindest für die deutsche Nachkriegsgeschichte – ein kaum widersprochenes Beispiel für die gesellschaftliche Wirkung (auch) von Literatur.

Literatur-Revolte als gedroschene Phrasen

Hans-Dieter Gelfert: Was ist gute Literatur? - Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet - beck'sche reihe
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Noch einmal sei H. M. Enzensberger zitiert. Denn wenn er auch 1995 im Gespräch mit André Müller seine eigenen Aufrufe von 1968 als „gedroschene Phrasen“ entlarvt, ein historisches Ergebnis der damaligen emanzipatorischen Bewegung bleibt ihm: „Die Studentenrevolte war zivilisatorisch eine Notwendigkeit […] Sie können doch nicht wegdiskutieren, dass die Menschen in diesem Lande heute ein ganz anderes Selbstbewusstsein als damals haben. […] Die fünfziger Jahre […] muffig, reaktionär. Nichts hat sich bewegt […] 1968 ging es darum, eine autoritätsfixierte Gesellschaft in eine mehr demokratische zu verwandeln. […] Die Bundesrepublik, wie wir sie heute kennen, ist doch damals überhaupt erst entstanden […] Der Obrigkeitsstaat existiert nicht mehr. Den hatten wir aber.“ (H. M. Enzensberger / A. Müller, Die Zeit Nr. 4/20, 1995).
Man mag Enzensberger in dieser Wertung zustimmen oder nicht, die Veränderung – insbesondere im Umgang mit Autorität – ist nicht zu leugnen. Und so, wie die studentische Revolte nicht zu trennen ist von der sie begleitenden, mit vorwärts treibenden, ihr kulturelles Fundament gebenden und sie fortführenden verschiedenartigsten Literatur, so ist ebenso kaum zu erforschen, welchen Anteil an diesem Emanzipationsschub (in Kopf und Herzen der Menschen) nun Demonstrationen und Aktionen und welchen die Literatur hatte und hat, mit ihren mannigfaltigen Erscheinungs- und Veranstaltungsformen. Dass Literatur mit-verändert hat, wird nicht zu widerlegen sein.


Exkurs: Das Lyrische Ich

Aber vielleicht sollten wir von sogenannter „politischer Literatur“ einmal ganz absehen:

DU

am Morgen danach
hüpfe ich
von Pflasterstein
zu Pflasterstein
und keiner sieht es

Die Frage „Wozu Literatur?“ wurde an das vorstehende, über jede politische Absicht erhabene, kleine Gedicht niemals gestellt. Wohl aber sehr viele andere, verschiedenste Fragen wurden seinetwegen an den Autor gerichtet, bei den unterschiedlichsten Anlässen. Fragen, die, indem sie von Zuhörern und Lesern gestellt wurden, auch dem Autor dieses auffällig kleingeratene Kind seiner selbst von Mal zu Mal näherbrachten.
Ursprünglich wegen Zwergwuchses und vielleicht doch zu auffälligen Untergewichts gar nicht erst ins Manuskript eines neuen Lyrikbandes aufgenommen, tauchte es ganz plötzlich aus der Sendung an den Literaturredakteur einer Zeitschrift wieder auf, wurde brieflich gestreichelt und fand so Eingang in die neue Sammlung. Dann schliesslich, von dem Literaturwissenschaftler Thomas Bleicher in einem öffentlichen Vortrag als „eines der wenigen positiven Liebesgedichte der 80er Jahre“ bezeichnet, behauptete es sich schnell im Kanon des Bandes wie bei Lesungen. „Sie sollten’s als Postkarte drucken, damit man’s schnell bei der Hand hat, schnell verschicken kann, wenn die Nacht so war und der Morgen so ist!“, schlug man dem Autor vor.
„Aber sagen Sie mal: Ich habe das gestern abend noch mal gelesen, habe mir heut die Pflastersteine auf der Strasse angesehen, die liegen doch recht eng beieinander!“ Auf die etwas hilflose Gegenfrage des Autors: „Hätte ich ’von Platte zu Platte’ sagen sollen?“, hilft ein Zuhörer: „Na also, dann überspringt er eben mehrere Pflastersteine dazwischen; wie viele, das hängt dann davon ab, was in der Nacht geschah! In jedem Fall ist etwas Schönes passiert. Das Gedicht strahlt Freude aus!“
„Heimliche Freude!? Es ist so etwas heimlich Verschmitztes darin. Ich kann mir beides vorstellen: Also der (oder eigentlich auch die) auf dem Heimweg am Morgen ist allein auf seinem Weg und hüpft wirklich, wie ein Tanzen aus Freude, oder er/sie geht zwischen vielen Menschen zum Bahnhof z.B. und hüpft innerlich, ‚und keiner sieht es‘.“
„Ist Ihnen das so passiert? Es hat so etwas ungeheuer Vitales, fast ein Platzen vor Freude!“
„Das geht mir zu weit. Ihr scheint alle nur von dem einen auszugehen: eine schöne erotische Nacht, zwischen einem Mann (er hat’s ja geschrieben) und einer Frau oder auch umgekehrt (doch, ich kann’s mir auch vorstellen als Liebesbrief an meinen Freund, sagt das junge Mädchen), nein nein, meinetwegen zwei Frauen nach einer Liebesnacht, zwei Männer, aber muss es denn die Erotik sein, sexuell, könnte es nicht einfach nur ein schönes Gespräch gewesen sein, zwischen wem auch immer; ein Gespräch, so nah, so alles, dass man am Morgen die ganze Welt umarmen könnte?!“
„Es ist einfach nur ein Du! Und du kannst dir dein Du einsetzen! Das Erlebte auch!“
„Aber es ist auch ein kleines bisschen Trauer darin. Es ist eine Ansprache, ein Brief fast an ein Du. Aber schon in der ersten Zeile: ‚am Morgen danach’…, es ist eben schon ‚danach‘; der schöne Augenblick ist schon vorbei; ein Rückblick, schon fast Erinnerung! Eine bestimmte Art von Glück hält zwar noch an, er hüpft ja noch, aber das, was dieses Glück ausgelöst hat, das eigentliche Geschehen ist längst vorbei; das Glück der Nähe z.B. ist längst wieder, zumindest räumlich, Ferne. Da ist auch etwas Trauriges in dem Gedicht!“
„Aber ist das nicht gerade typisch für uns Menschen? Ist es nicht oft so, oder vielleicht immer, dass wir das Besondere eines erlebten Augenblicks oder einer erlebten Zeit, die ganze Bedeutung, Intensität und Wucht erst im nachhinein, erst in der Erinnerung so richtig spüren!?“ – „Das scheint mir einfach zum Menschen zu gehören. Das macht doch auch seine spezifisch menschliche Tragik immer wieder aus, das hängt mit der Fähigkeit des Bewusstseins zusammen, dass Liebe und Schmerz, Freude und Trauer, Leben und Tod nicht voneinander zu trennen sind. Das macht ihn geradezu erst zum Menschen, dass er dazu verdammt ist, bei jedem schönen gelebten Augenblick sofort auch immer dessen Endlichkeit im Bewusstsein mitleben zu müssen.“
„Bei allem, was jetzt über mitschwingende Trauer gesagt worden ist, und ich finde es schön, dass das auch drin ist in diesem kleinen Gedicht: das dominierende Gefühl bleibt für mich die Freude, und durch den Titel wird doch demjenigen, der das Glück ausgelöst oder gegeben hat, genau dieses Glück wieder zurückgegeben.“
Wir wollen hier abbrechen; es liesse sich noch mehr aus den Gesprächen berichten.


Das Gedicht als Selbstverständigung zwischen Sprache und Realität

Immer wieder aufregend an ihnen ist zu erleben, wie sich das Ich des Autors und das Ich des Lesers begegnen im lyrischen Ich des Gedichts. „Die Poesie ist eine Möglichkeit, über Dinge zu sprechen, über die man eigentlich nicht sprechen kann.“ (ebd.) Dies ist doppeldeutig: Entweder der Autor mag über Bestimmtes, z.B. sich selbst, nicht sprechen, höchstens im Gedicht (und Enzensberger meint genau dies im zitierten Gespräch) oder: er kann es nicht; der gewohnte Umgang mit Sprache reicht nicht aus.

Günter Kunert - Lyriker Schriftsteller - Glarean Magazin
Günter Kunert: „Im Gedicht muss sich der Leser mit sich selber befassen“

Heinrich Vormweg beschreibt 1990 das heutige Gedicht „als die pure menschliche Selbstverständigung zwischen Sprache und Realität“ (H. Vormweg: Verteidigung des Gedichts, Göttinger Sudelblätter, 1990). So, im Prozess des Schreibens selbst ein Suchender, entlässt der Autor sein Gedicht an den Leser, und ein wechselseitiger Austausch beginnt; dazu Günter Kunert: „Der Zweck des Gedichts, glaube ich, ist sein Leser, der, indem er sich mit dem Gedicht befasst, sich mit sich selber zu befassen genötigt wird: in einem dialektischen Vorgang, im gleichen, den ihm das Gedicht vorschreibt und vorexerziert. Das spannungsträchtige lyrische Ich und das Leser-Ich werden während des Lesens identisch und gleichzeitig nicht identisch; das eine verfremdet das andere und deckt es doch gleichzeitig. Das Gedicht färbt die Psyche des Lesers, er wiederum färbt nach seinem Ebenbild das Gedicht“ (G. Kunert: Warum schreiben, München 1976).

„Ein echter Text musste geschrieben werden“

Danilo Kis - Schriftsteller Lyriker - Glarean Magazin
Danilo Kis: „Ein echter Text ist ein solcher, der geschrieben wurde, weil er geschrieben werden musste“

Nehmen wir nun noch, um von der scheinbaren Eingrenzung unserer Betrachtung auf die Lyrik wegzukommen, ein kurzes poetologisches Credo des jugoslawischen Romanciers und Essayisten Danilo Kis. Auf die Frage: „Was ist der schwerste Fehler, den ein Schriftsteller begehen kann?“, antwortet er: „Über etwas zu schreiben, was ihn nicht im Innersten berührt. […] Ein echter Text ist ein solcher, der geschrieben wurde, weil er geschrieben werden musste. Das ist aus dem Text zu spüren. Ist es die Wahrheit deines Wesens, die sich im Text ausdrückt, oder stammt dieser Text von einem gewandten und belesenen Vielschreiber? Darin liegt der Unterschied zwischen guten und schlechten Autoren […] Ein echter Text entsteht nicht aus handwerklicher Fertigkeit, sondern aus Zwängen und Empfindungen, die den Autor zum Schreiben getrieben haben“ (D. Kis: Homo poeticus, München 1994).
Wenn im vorigen die Begegnung zwischen dem Ich des Autors, dem lyrischen und dem lesenden Ich auch bewusst an einem möglichst kleinen, überschaubaren, unpolitischen Liebesgedicht dargestellt wurde, so lässt sich nach dieser Prosapoetologie von D. Kis die Frage „Wozu Literatur?“ abschliessend vielleicht doch etwas allgemeiner beantworten:

Das „Geschehen“ eines Textes verändert Schreiber und Leser

Ein „echter Text“ (Kis) – und zwar in allen Gattungen – wird nicht geschrieben unter dem Postulat eines klar umrissenen Zwecks („Wozu?“), sondern er geschieht, als existentielle Antwort und Frage des Autors an die Welt und die Scheinbarkeit ihrer Realität. Literatur geschieht – und das zweimal: Einmal durch den Autor, der schreibend sich selbst begegnet, und ein zweites Mal durch den Leser, der lesend sich selbst (und möglicherweise auch dem Autor) begegnet.
Sehen wir einmal ab von anderen nonverbalen Formen der Kommunikation, die wir – viel zuverlässiger und effizienter als die Sprache – bei allen höherentwickelten Lebewesen heute erst langsam zu akzeptieren und zu sehen bereit sind: Literatur – mit ihrem Sitz genau zwischen Denken und Fühlen – geschieht als vielleicht höchste Form der sprachlichen Kommunikation, und zwar mit sich selbst und dem anderen. Und ein solcher Text verändert beide, Autor wie Leser; keiner von beiden ist nach dem „Geschehen“ des Textes – ob nun Schreiben oder Lesen – noch ganz der gleiche, der er vor diesem „Geschehen“ war. ♦

1)Der Autor beantwortet in diesem Essay eine Frage, die der Glarean-Herausgeber vor einigen Jahren im Zuge einer geplanten Buch-Anthologie an verschiedene deutschsprachige SchriftstellerInnen richtete


Arnold Leifert

Geb. 1940 in Soest/D, Studium der Germanistik, Philosophie und Evangelischen Theologie, ab 1970 Religionslehrer, seit 2000 pensioniert; zahlreiche Publikationen in Büchern und Zeitschriften, in Rundfunk und TV, Träger verschiedener Literatur-Preise, seit 1994 Organisation und Moderation der Lesereihe „Siegburger Literaturforum“; lebte auf einem Bauernhof im Bergischen Land in Much-Hohn; gestorben am 6. September 2012

Lesen Sie im Glarean Magazin auch den Essay von Richard Albrecht: Die Funktions-Kompetenzen der Literatur

… sowie den sprachwissenschaftlichen Beitrag: Jüngste Ergebnisse der neurobiologischen Sprachforschung

Ruprecht Skasa-Weiss: Weitere fünf Minuten Deutsch

Wider den allgemeinen Sprach-Murks

von Walter Eigenmann

Man kann beim öffentlichen Anprangern von Sprach-Übeln, Grammatik-Verstössen, Moden-Blödsinn, Begriffs-Unsicherheiten und anderer Deutsch-Stümperei grundsätzlich auf zwei Arten zugange sein: Entweder man stellt den Unsinn wissenschaftlich korrekt-sachlich-lexikalisch-langweilig in den Senkel, womöglich mit oberlehrerhaft erhobenem Zeigefinger – oder wie beispielsweise Ruprecht Skasa-Weiss in seiner neuen Sprach-Monographie „Weitere fünf Minuten Deutsch“.

Weitere fünf Minuten Deutsch - Ruprecht Skasa-Weiss - Klett-Cotta VerlagDer Germanist und Philosoph begann im Herbst 2003 in einer samstäglichen Kolumne der Stuttgarter Zeitung mit betont unterhaltsamem, durchaus informativem, aber wirklich pointiertem „kritischem Beäugen von Schlampereien“ – weil „alles knapper wird in der Welt, das Öl, der Regenwald, die Menge der fortpflanzungsfreudigen Deutschen“, hingegen der „modische Murks in der Sprache der Medien“ uns „täglich reicher zu Gebote“ stehe. Das Verlagshaus Klett-Cotta sammelte Skasa-Weiss‘ jeweils unter dem Titel „Fünf Minuten Deutsch“ erschienenen StZ-Glossen  – und gibt mittlerweile bereits seinen zweiten Band mit vergnüglich-lehrreichen Aufsätzchen zur „vermurksten Gegenwartssprache“ heraus.

Süffisant und maliziös Gericht haltend

Die jüngste „Sprachlehre in Plauderform“ des 72-jährigen einstigen Feuilleton-Redakteurs, Bavaria-Atelier-Dramaturgs und Korrektors beim A.-Springer-Verlag hält dabei süffisant, oft maliziös, zuweilen sarkastisch Gericht über eine Vielzahl modischer oder „denglischer Packpapierformulierungen“, wie sie das „verholzte Deutsch unserer Nachrichtenmedien“ massenhaft zumutet. Ein Blick auf ein paar Inhalte der insgesamt 88 thematisch sehr vielfältigen, dabei den Vorgänger-Band erweiternden bzw. ergänzenden „Deutsch-Minuten“:
„Macht, was Macher machen, Sinn? – Effektiv Fremdes, lapidar beurteilt – Na, heut schon was runtergebrochen? – Ist unakzeptabel inakzeptabel? Das Darstellbare, deutlich realisiert – Unsere Liebl.-Abkz. Kita und Soli – Gehen Studierende über Studenten? – Wem oder wes gegenüber? – Bringen wir’s mal auf den Eckpunkt – Gammellager der Umgangssprache – Wir, die schweigende Mehrzahl – Auf Augenhöhe mit der Augenhöhe – Fahren lassen und fahren gelassen – Hautpsache, kein Nebensatz – Das Stattgefundene, hier findet’s statt – Gesucht: Verfechter für den Genitiv – Zweifel zweifelsfrei in Abrede gestellt – Erschreckte ich Sie, wär‘ ich erschrocken“.

Be-lesener Sprachbeobachter

So manche der gerade im deutschsprachigen Blätterwald üppig spriessenden Sprach-Blüten und viele der in diesem Band genüsslich-informativ „vorgeführten“ Dummheiten der Massenmedien finden ihre Behandlung durchaus auch bei einem berühmten Kollegen von Skasa-Weiss, nämlich bei Bastian Sick und dessen Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Aber Ruprecht Skasa-Weiss schreibt meines Erachtens – natürlich auch unter der strengen Form-Fuchtel der Zeitungskolumne – weniger langatmig, formuliert witziger, plastischer, bringt seine Sache(n) immer sofort auf den (meist humorigen) Punkt. Der Autor ist ein scharfer, buchstäblich umfassend be-lesener Sprachbeobachter, der zitiert, was das Zeug hält – zur Untermauerung seiner Kritik, und der Leserschaft zum reinsten Lektüre-Spass. Jenseits aller Duden-Hörigkeit also eine rundum vergnügliche (und sichtlich vergnügte), dabei keineswegs nur von Sprach-Laien mit Nutzen zu lesende „kleine Fibel“, welche tatsächlich – der Klappentext verspricht nicht zuviel – geeignet ist, „in vielen Zweifelsfällen Orientierung zu geben“. ♦

Ruprecht Skasa-Weiss, Weitere Fünf Minuten Deutsch, Die vermurkste Gegenwartssprache, Klett-Cotta Verlag, 208 Seiten, ISBN 978-3-608-94512-6

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Sprache auch von Karin Afshar: Der Verlust der Herkunft