Volker Kutscher: Olympia (Kriminal-Roman)

Weg in den Abgrund

von Isabelle Klein

Die guten alten Zeiten sind nun endgültig vorbei. Mit „Olympia“ nimmt Volker Kutschers achter Gereon-Rath-Roman an Fahrt auf und knüpft – wenngleich inzwischen ein weiteres Jahr ins Land gegangen ist – mehr oder minder nahtlos an „Marlow“ (2018) an. Eine Abwendung vom klassischen Krimi mithin, wie wir ihn seit „Der nasse Fisch“ (2008) kennen.

„Wie kann ein Mensch zum Unmensch werden, das höchste Gut mit Füßen treten?“ So die Band PUR in ihrem Lied „Leben“ (Abenteuerland, 1998).
Thrillerqualitäten schreibt Kutscher bereits seit „Marlow“ groß. Man gewinnt den Eindruck, dass Kutscher im vorliegenden Band – mit dem er langsam, aber sicher an das Ende seiner Serie gelangt (wenn ich nicht irre, hatte er von geplanten neun Teilen gesprochen) – versucht, die Entwicklung von ganz normalen Menschen zu Bestien in Uniform zu zeigen. Und dies unvermittelt, im Kleinen wie im Großen und dadurch umso eindringlicher, auswegloser und beklemmender.

Archetypisches Figuren-Inventar

Da gibt es den Prototyp des Sadisten in Gestalt des uns seit „Akte Vaterland“ bekannten SS-Mann Sebastian Tornow, dessen Natur seine Stellung im Sicherheitsdienst widerspiegelt. Des weiteren: Gräf, der alte Freund, der exemplarisch für den guten Kerl, der sich – irgendwo und irgendwie zum Mitläufer mutiert – trotzdem einen Hauch von Menschlichkeit bewahrt. Er verliert allerdings im Vergleich zu den Anfängen, die acht Jahre zurück in Gennats Mordinspektion liegen, deutlich an Sympathie und Menschsein.
Gereon Rath, ebenso archetypisch den Mitläufer repräsentierend, muss sich hingegen eingestehen, dass die Ausübung der Berufung eben nicht mehr problemlos zu rechtfertigen ist, wenn er für den Sicherheitsdienst tätig ist. Und er muss letztlich einsehen, dass Charly in ihrer gefährlichen Arbeit gegen das Regime das Richtige tut. Denn irgendwann kann man auch mit der richtigen Einstellung formal nicht mehr mit dem Strom schwimmen.

Falsches Bild vom Status quo der Welt

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Dichotomie: Das weiße, strahlend helle Olympia-Ereignis, die perfekte Selbstinszenierung, wie man sie aus den Filmen von Leni Riefenstahl kennt, bildet den Rahmen für ein Deutschland, das ein vollkommen falsches Bild vom Status Quo der Welt vermittelt. Mittendrin ist Fritze, inzwischen von seinen Adoptiveltern getrennt, für den Jugendehrendienst tätig. Und während ihm alles möglich scheint und er sich im Glanz des Dritten Reiches sonnt, werden die Schattenseiten auch für ihn immer offensichtlicher: Als er Zeuge des Todes eines US-Sportfunktionärs wird, sticht er in ein Wespennest, in dessen Folge sich die Leben seiner Lieben dramatisch verändern werden.

Am Scheitelpunkt eines verkorksten Lebens

Volker Kutscher - Schriftsteller - Glarean Magazin
Lieferte mit dem Roman „Der nasse Fisch“ die Krimi-Vorlage für den Film-Hit „Babylon Berlin“: Volker Kutscher

Und so ist Kommisar Rath acht Jahre nach seinem unglamourösen Debüt in „Der nasse Fisch“ am Scheitelpunkt seines inzwischen ziemlich verkorksten Lebens angelangt.
Großer Pluspunkt von „Olympia“: Man taucht noch tiefer in die unauslotbaren Tiefen der Rath’schen Welt ein, in seinen Alltag und in seine ganz normalen Ehe-Sorgen und Nöte. Dies gelingt nicht zuletzt durch eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit, die Kutscher in der ihm eigenen Dichte äußerst glaubwürdig zu vermitteln vermag, ohne einen Hauch von Pathos.
Nachteil des achten Teils, gegenüber den klassischen Kriminalfällen, die Rath und Co. unter Gennat aufklären: Ein in sich nicht wirklich geschlossener Fall, zwei Todesfälle (das ist nur der Anfang), die eben nicht zusammenhängen, und die schließlich zur Katstrophe führen. Dazu eine Erpressung, die im 7. Fall begründet liegt (ehrlich gesagt hab ich mich nur schwerlich erinnert).

Verzeihliche Schwächen im Plot

Willkommene PR-Bühne für Nazi-Deutschland: Die Berliner Sommer-Olympiade 1936 (Einmarsch zur Eröffnungsfeier, im Vordergrund Hitler, links IOC-Präsident Baillet-Latour, rechts OK-Präsident Theodor Lewald)
Willkommene PR-Bühne für Nazi-Deutschland: Die Berliner Sommer-Olympiade 1936 (Einmarsch zur Eröffnungsfeier, im Vordergrund Hitler, links IOC-Präsident Baillet-Latour, rechts OK-Präsident Theodor Lewald)

Trotzdem verzeiht man gewisse Schwächen im Plot und dessen Aufbau als eingefleischter Rath- bzw. Kutscher-Fan quasi sofort. Und so bleibt am Ende, nach einem viel zu kurzem Leseerlebnis nur die Hoffnung auf einen weiteren Teil 2022, der den gnadenlos fiesen Cliffhanger hoffentlich zur Freude des Lesers aufklärt – und falls nicht, die losen Fäden der anderen Figuren zum Abschluss bringt.
Was für mich den Reiz der Serie ausmacht, ist definitiv die Figur des Gereon Rath: Schwer zu fassen, oft mit sich selbst im Unreinen, wandert er zwischen den Welten und verstrickt sich in Machenschaften, die ihn letztlich spätestens in „Marlow“ zum Verhängnis werden und im vorliegenden Buch zum unumkehrbaren Wendepunkt führen. Kurzum profitiert Kutschers Serie von der Rath’schen Vielschichtigkeit, die es uns eben verbietet, ihn in ein Korsett aus gut oder böse, aufrecht oder opportun zu stecken. Das Leben ist eben selten schwarzweiß, stattdessen nuanciert, über hell- bis dunkelgrau.

Durch leise Töne eindringlich

Und so überrascht es keineswegs, dass „Olympia“ in einem Knall endet – im wahrsten Sinne des Wortes. Und den Prolog, der bereits zu Beginn Böses ahnen lässt, um ein vielfaches steigert. Wo andere recht brav und bieder ihren Kommissar ermitteln lassen im Glanz einer längst vergangen Zeit, testet Kutscher Spielräume aus, lässt seinen Antihelden Fehler über Fehler begehen und ihn dabei trotzdem immer wieder als Held erscheinen. Und ganz im Gegensatz zu Tykwers fürchterlich überzogenem Mainstream-Machwerk „Babylon Berlin„, in dem Exzesse und ein Bilderrausch ungeahnten Ausmaßes das eigentliche (und viel spannendere) Geschehen vollkommen in den Hintergrund treten lassen, ist die Vorlage zwar leiser und unaufgeregter, weniger farbenprächtig, dafür aber ungleich spannender und durch die leisen Töne umso eindringlicher. ♦

Volker Kutscher: Olympia – Kriminal-Roman, 544 Seiten, Piper Verlag, ISBN 978-3492070591

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Antifaschistische Roman-Literatur auch über Oskar Maria Graf: Unruhe um einen Friedfertigen

… sowie zum Thema Zeitgeschichtlicher Krimi über Susanne Goga: Der Ballhaus-Mörder

Christian Berkel: Ada (Roman)

Die Allgegenwart des Schweigens

von Sigrid Grün

Die Unsicherheit und die Angst wohnen oft in einem Zwischenraum, in dem Ungewissheit herrscht, weil zu vieles ungesagt bleibt. Der deutsche Schauspieler und Autor Christian Berkel erzählt in „Ada“, dem Nachfolger seines ersten durch die eigene Familiengeschichte inspirierten Romans „Der Apfelbaum“ eine Geschichte, in der es um das Schweigen einer ganzen Generation geht – und darum, wie die Nachfolgegeneration damit umgeht.

Februar 1945. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird in Leipzig ein Mädchen geboren, das Ada heißt. Ihre Mutter ist Jüdin, der Arzt, der das Kind zur Welt bringt, ein alter Naziprofessor. Nach Kriegsende emigrieren Mutter und Kind nach Argentinien, wo sie einige Jahre leben, bevor sie nach Deutschland zurückkehren.

Christian Berkel - Ada - Roman - Ullstein VerlagDas Mädchen weigert sich zunächst lange Zeit, zu sprechen, was ihre Mutter frustriert: „Ich entpuppte mich von Anfang an als eine Enttäuschung, eine Blamage, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Ich, als Kind einer unvorstellbar großen Liebe, einer Liebe, die kein Krieg, kein Gott, ja nicht einmal der kleine österreichische Maler kleingekriegt hatte, der Gefreite mit dem neckischen Oberlippenbart, der Hitler eben. Dieses Kind, also ich, konnte oder wollte nicht sprechen. Ich hatte mich scheinbar entschieden, nicht mitzumachen.“
Das Gefühl, von der Mutter nicht wirklich akzeptiert zu werden, wird sie ihr ganzes Leben lang begleiten.

Suche nach Orientierung

Christian Berkel - Schauspieler - Autor - Roman-Schriftsteller - Glarean Magazin
Schauspieler, Autor, Romancier: Christian Berkel (*1957)

Ada wächst zunächst vaterlos auf. Erst nach ihrer Rückkehr nach West-Berlin nimmt ihre Mutter Sala doch wieder Kontakt zu dem Mann auf, der Adas Vater sein soll. Otto ist Arzt und schenkt dem Mädchen ein Fahrrad, wofür es ihn liebt. Doch die Vaterschaft ist nicht endgültig geklärt. Im Leben der Mutter gab es nämlich einen zweiten Mann, Hannes, den sie nie vergessen hat.

Die Ungewissheit in Bezug auf den Vater ist aber nicht die einzige Unsicherheit in Adas Leben. Auch die Vergangenheit ihrer Mutter bleibt lange Zeit ein Geheimnis. Als Mopp, eine langjährige Freundin der Mutter sich um Ada kümmert, weil Sala nach Argentinien gereist ist, erfährt das Mädchen, dass ihre Mutter Jüdin ist und in Gurs interniert war. Niemand spricht offen über die Vergangenheit. Es sind immer nur Fragmente, die Ada in Erfahrung bringen kann. Diese vergebliche Suche nach Orientierung macht sie wütend. Sie begehrt gegen die Elterngeneration auf, so wie es die Nachkriegsgeneration eben getan hat.

Kluft zwischen zwei Generationen

Konzert der Rolling Stones - Waldbühne Berlin 1965 - Glarean Magazin
Ausgelassenheit mit Zigarette: Jugendliche am Konzert der Rolling Stones in der Berliner „Waldbühne“ 1965

Als Jugendliche liebt sie leidenschaftlich und unvorsichtig. Ihren viele Jahre jüngeren Bruder, der von allen nur Sputnik genannt wird, bringt sie versehentlich fast um. Und die Kluft zwischen ihr und den Eltern wird immer größer. Zur depressiven Mutter hat sie nie ein wirklich gutes Verhältnis, und auch ihr Vater, der seine traditionellen Werte hochhält, bleibt ihr fremd.
In einer Hippie-Kommune sammelt sie erste Erfahrungen mit Drogen und mit der freien Liebe. Im September 1965 erlebt sie die Randale beim Stones-Konzert auf der „Waldbühne“. Auch bei dieser gewaltsamen Auseinandersetzung geht es um die Kluft, die sich zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration aufgetan hat.
Bei ihrem Großvater und dessen Lebensgefährtin, die in der DDR leben, lernt sie doch noch so etwas wie Geborgenheit kennen und erfährt etwas über ihre eigene Geburt…

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„Ada“ ist eine spannende Auseinandersetzung mit einer interessanten Zeit. Christian Berkel ist ein großartiger Erzähler. Ihm ist eine sehr einfühlsam geschriebene Geschichte um eine junge Frau gelungen, die ihren Platz in der Welt sucht. Es wird noch einen dritten Band geben, in dem die Familiengeschichte weiter erzählt werden wird. Man darf also gespannt sein! ♦

Christian Berkel: Ada – Roman, 400 Seiten, Ullstein Verlag, ISBN 978-3550200465

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Nachkriegszeit auch über den Roman von Anke Gebert: Die Summe der Stunden

… sowie über die Erzählung von Michel Bergmann: Alles was war

Boris Gelfand: Decision Making In Major Piece Endings (Schach)

Endspiel-Kost auf hohem Niveau

von Thomas Binder

Weltklassespieler Boris Gelfand ergänzt seine Serie „Decision Making“ um das vierte Werk: „Decision making in major piece endings“. Diesmal geht es also um Schwerfiguren-Endspiele. Passend zum Titel ist das auch „schwere Kost“ für Schachfreunde auf gehobenem Spielniveau. Gelfand präsentiert breite Analysen ausgewählter Partien mit Hintergrundinformationen und zuweilen durchaus unterhaltsamen Einschüben.

Den Weltklassespieler Boris Gelfand muss man dem geneigten (Schach-)Leser nicht vorstellen. Auch als Autor hat der frühere WM-Kandidat Gelfand bereits sichtbare Spuren hinterlassen.

Boris Gelfand - Decision Making In Major Piece EndingsAls sein Hauptwerk kann wohl die mittlerweile vierbändige Reihe „Decision Making“ aus dem Hause Quality Chess gelten. Dem Autor und dem Verlag ist gelungen, hoch qualitative Schachbücher in einheitlicher Aufmachung inhaltlich aus einem Guss vorzulegen. Insofern kann vieles aus dieser Rezension auf die Schwesterwerke übertragen werden. Fortsetzung erwünscht!
Ob man freilich jemals eine deutsche Übersetzung in Händen halten wird, sei dahingestellt. Allzu klein scheint wohl den Verlegern der hiesige Markt, als dass man Bücher für Spieler gehobener Spielstärke gewinnbringend produzieren könnte.

Analysen gewürzt mit Plaudereien

Der israelische Weltklasse-Schachgrossmeister Boris Gelfand (geb. 1968)
Der russisch-israelische Weltklasse-Schachgrossmeister Boris Gelfand (geb. 1968)

Boris Gelfands Bücher heben sich in vielen Details von anderen Werken dieses Niveaus ab. So fällt als erstes auf, dass die Akteure oft in Fotos vorgestellt werden, zuweilen sogar passend zur Zeit der kommentierten Partie. Auch ein paar Zeilen zur Einordnung der Spieler und zur Bedeutung des Wettkampfes sind meist vorangestellt.
Im Text würzt Gelfand seine ernsthaften Analysen hin und wieder mit Einschüben im Plauderton. Das setzt dann zwar gute Fremdsprachenkenntnisse voraus, diese werden aber reich belohnt. Kostprobe gefällig? „Subsequently attempts were made to improve on my play … it is also possible that the players were trying to copy me, but could not remember what I had played.“ („In der Folge wurden Versuche unternommen, mein Spiel zu verbessern … Es ist auch möglich, dass die Spieler versucht haben, mich zu kopieren, sich aber nicht erinnern konnten, was ich gespielt hatte“.)

Anschauliche Gliederung der Varianten

Die Gestaltung des Werkes orientiert sich ansonsten am aktuellen Standard mit anschaulicher Gliederung auch bei komplexen Varianten und gerade hinreichender Visualisierung durch Diagramme, so dass der Leser den Anmerkungen mit einiger Anstrengung folgen kann. Leider ist an einigen Stellen der Fettdruck der Hauptvariante verloren gegangen, was dann den Fluss sehr behindert. Das lässt sich natürlich leicht korrigieren.

Boris Gelfand - Decision Making in Major Piece Endings - Quality Chess Leseprobe - Chess Review Glarean Magazin
Leseprobe aus Boris Gelfand: „Decision Making in Major Piece Endings“ (Quality Chess Verlag)

Was er mit dem Buch erreichen möchte, führt Boris Gelfand im einleitenden Kapitel sehr gut aus. Seine Werke sind keine vorgefertigten Rezepte, wie man sie naturgemäß gerade in der Endspielliteratur findet, sondern Hilfestellungen zur Entscheidungsfindung, ganz dem Titel entsprechend. Ausgehend davon, dass man sicher nicht genau die eine Stellung aus dem Buch in seiner eigenen Partie wiederfinden wird, postuliert er, dass eben tiefes Verständnis einer Stellung ganz allgemein die Spielstärke hebt.

Umfangreiches Analyse-Material

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Die vom Autor ausgewählten Partien stammen entweder aus seiner eigenen Spielpraxis oder aus seiner Arbeit als Trainer. Beides garantiert sehr ausführliche Analysen und zum Teil auch kritische Auseinandersetzung mit anderen Arbeiten zur gleichen Partie. In offenbar sehr fruchtbarer Zusammenarbeit mit dem dänischen Großmeister Jacob Aagaard legt Gelfand Analysen vor, wie ich sie in dieser Tiefe und Ausführlichkeit noch nie gesehen habe. Weit über 20 Seiten für eine einzige Partie – genau genommen ja nur für deren Endspiel – sind keine Seltenheit. Den Rekord hält die mit dem Blick des Laien völlig unspektakuläre Remis-Partie Gelfand – Kasimdzhanov (Baku, 2014), die auf 40 Seiten ausgebreitet wird. Keine einzige Seite ist zu viel.

Besonders gehaltvolle Endspiele

Inhaltlich geht es, wie der Titel sagt, um Schwerfigurenendspiele. Nach einem eher kurzweiligen Einleitungskapitel widmet sich Gelfand dem Grundsatz „do not hurry“, dem er als Junior erstmals im großartigen Endspiel-Strategiebuch seines Landsmanns Shereshevsky begegnete – schöne Erinnerung für den Rezensenten, dem es damals genauso erging…

Boris Gelfand - Serie Decision Making in Chess - Quality Chess Cover - Schach-Rezensionen Glarean Magazin
Bereits vier Bände umfasst Boris Gelfands Serie „Decision Making in Chess“ im Quality Chess Verlag

Es folgen mehrere Kapitel mit sehr intensiv analysierten Turmendspielen, wobei nur stellenweise eine inhaltliche Strukturierung gegeben ist. Viel wichtiger scheint es Boris Gelfand zu sein, besonders gehaltvolle Endspiele zu präsentieren und sich dabei nicht einem Korsett thematischer Vorgaben zu unterwerfen. Das Grundwissen über Turmendspiele hat der Leser gewiss schon früher erworben. Hier sind wir auf einem ganz anderen Level.

Die „vierte Partiephase“

Nach den Turmendspielen folgen einige Kapitel zu Damenendspielen. Gelfand stellt zunächst das Endspiel „Dame + Bauer gegen Dame“ mit Bauern am oder in der Nähe des Randes heraus. Dann widmet er sich Endspielen mit mehr als zwei Damen. Auch Überlegungen zur Überleitung in die „vierte Partiephase“ kommen nicht zu kurz – jene Phase also, wenn sich durch den Wechsel vom Bauern- zum Damenendspiel der Charakter der Partie noch einmal grundlegend wandelt. Nach einigen Studien folgt noch ein kurzer Abschnitt mit Aufgaben und Lösungen zu Turmendspielen. Wer sich der Herausforderung zum selbständigen Lösen stellen möchte, mag das tun. Ansonsten kann man natürlich auch dieses Kapitel ganz normal als Lehrtext lesen.

Unumgänglich: Disziplin und Konzentration

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Es dürfte bereits mehrfach angeklungen sein: Dieses Buch verlangt dem Leser Disziplin und Aufmerksamkeit ab. Eine Partieanalyse wie jene 40 Seiten über die Kasimdzhanov-Partie liest man nicht eben mal auf dem Heimweg in der S-Bahn. Wer über den durchaus vorhandenen reinen Lese-Genuss hinaus etwas mitnehmen möchte, muss sich sehr tief in die Analysen hineindenken. Die Sprachbarriere darf dabei kein Hindernis sein. Schließlich setzt Gelfand bei seinem Leser einen hohen Level schachlicher Vorkenntnisse und entsprechenden Urteilsvermögens voraus. Erst ab einer Spielstärke von ca. 1800 Elo-Punkten wird man wenigstens den größten Teil des vermittelten Wissens – nein, besser des Könnens – vollständig aufnehmen und in eigene Entscheidungsfindung am Schachbrett umsetzen können. ♦

Boris Gelfand: Decision making in major piece endings, 316 Seiten (engl.), Quality Chess UK Ltd., ISBN 978-1784831400

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Endspiele auch über Karsten Müller: Endspiele der Weltmeister (Schach-DVD)

… sowie zum Thema Schachtheorie über Andrew Soltis: Schwindeln im Schach (How To Swindle in Chess)


English Translation

Endgame food on a high level

World-class player Boris Gelfand adds his fourth work to his „Decision Making“ series: „Decision making in major piece endings“. So this time it is about „heavy“ piece endings. Matching the title, this is also „heavy fare“ for chess friends on a higher playing level. Gelfand presents broad analyses of selected games with background information and sometimes quite entertaining inserts.

There is no need to introduce the world class player Boris Gelfand to the inclined (chess) reader. Also as an author, the former World Cup candidate Gelfand has already left visible traces.
His main work is probably the meanwhile four-volume series „Decision Making“ from Quality Chess. The author and the publishing house have succeeded in presenting high quality chess books in a uniform presentation, all of a piece. In this respect much of this review can be transferred to the sister works. Continuation desired!
Whether one will ever hold a German translation in one’s hands remains to be seen. The local market seems to be too small for publishers to produce books for players of high skill level.

Analyses spiced with chats

Boris Gelfand’s books stand out in many details from other works of this level. The first thing that stands out is that the actors are often introduced in photographs, sometimes even matching the time of the commented game. Also a few lines on the classification of the players and the meaning of the competition are usually placed in front.
In the text, Gelfand spices up his serious analyses with occasional insertions in a conversational tone. This requires good foreign language skills, but these are richly rewarded. Want a taste? „Subsequently attempts were made to improve on my play … it is also possible that the players were trying to copy me, but could not remember what I had played. („Subsequently attempts were made to improve my play … It is also possible that the players were trying to copy me, but could not remember what I had played“)

Clear structure of the variants

The design of the work is otherwise based on the current standard with a clear structure even for complex variants and just sufficient visualization by means of diagrams, so that the reader can follow the notes with some effort. Unfortunately, the bold print of the main variant has been lost in some places, which then hinders the flow very much. This can of course be easily corrected.

Boris Gelfand explains very well what he wants to achieve with the book in the introductory chapter. His works are not ready-made recipes, as one naturally finds them in endgame literature, but rather aids to decision-making, in keeping with the title. Based on the assumption that one will certainly not find exactly one position from the book in one’s own game, he postulates that a deep understanding of a position generally enhances the playing strength.

Extensive analysis material

The games selected by the author are either from his own playing practice or from his work as a coach. Both guarantee very detailed analyses and in part also critical examination of other works on the same game. In an obviously very fruitful collaboration with the Danish grandmaster Jacob Aagaard, Gelfand presents analyses that I have never seen before in such depth and detail. Far more than 20 pages for a single game – in fact only for its endgame – are not uncommon. The record is held by the draw Gelfand – Kasimdzhanov (Baku, 2014), which is completely unspectacular in layman’s terms, and is spread over 40 pages. No single page is too much.

Especially rich endgames

In terms of content, as the title suggests, the focus is on „heavy“-figure endgames. After a rather entertaining introductory chapter, Gelfand devotes himself to the principle „do not hurry“, which he first encountered as a junior in the great endgame strategy book of his compatriot Shereshevsky – a nice memory for the reviewer, who had the same fate back then…

There follow several chapters with very intensively analyzed tower end games, whereby only in places a content structure is given. Boris Gelfand seems to be much more important to present particularly rich endgames and not to subject himself to a corset of thematic guidelines. The reader has certainly already acquired the basic knowledge of tower endgames. Here we are on a completely different level.

The „fourth game phase“

After the rook end games there are some chapters on queen end games. Gelfand first points out the endgame „Queen + Pawn against Queen“ with pawns at or near the edge. Then he devotes himself to endgames with more than two queens. He also considers the transition to the „fourth phase of the game“ – the phase when the character of the game is fundamentally changed by the change from the pawn endgame to the queen’s endgame. After some studies, a short section with tasks and solutions for rook end games follows. If you want to take up the challenge to solve them independently, you may do so. Otherwise, you can of course read this chapter as a normal teaching text.

Indispensable: Discipline and concentration

It has probably already been mentioned several times: This book demands discipline and attention from the reader. A game analysis such as the 40 pages about the Kasimdzhanov game is not something you read on the way home on the suburban train… If you want to take something with you beyond the pure reading pleasure that is certainly present, you have to think very deeply into the analyses. The language barrier should not be an obstacle. After all, Gelfand requires a high level of chess knowledge and judgement from his readers. Only from a playing strength of approx. 1800 Elo points on will one be able to take in at least the largest part of the knowledge – no, better of the skill – completely and convert it into own decision making on the chess board. ♦

Gedicht des Tages von Minamoto Yorizane (Tanka-Literatur)

Wenn das Herbstlaub fällt

Das japanische Kurzgedicht Tanka ist eine über 1’300 Jahre alte, reimlose Lyrik-Form mit 31 gewichteten Silben (Moren) im Rhythmus 5-7-5 (Oberstollen) und 7-7 (Unterstollen).

Unser Herbst-Gedicht des Tages „Wenn das Herbstlaub fällt“ stammt von dem japanischen Lyriker Minamoto Yorizane. Er war ein Dichter der Haian-Zeit und lebte von 1015 bis 1044. ♦


Lyrik-Literatur - Tanka-Gedicht - Wenn das Herbstlaub fällt - Minamato Yorizane - Glarean Magazin     Wenn das Herbstlaub fällt,

kannst du im Haus die Nächte

    nicht unterscheiden:

ob in leisem Geriesel

Regen sie sprühen, oder nicht.

Lesen Sie im Glarean Magazin auch das Gedicht des Tages von Raoul Hausmann: Nichts

… sowie zum Thema Herbst das Gedicht des Tages von Otto Zur Linde: Herbstsonne – Wolken – Die Birke

Robert Johnson: Adolf Anderssen (Schach-Biographie)

Rückschau auf die Schach-Romantik

von Ralf Binnewirtz

Es mag wunderlich klingen, dass sich ein australischer Vollzeit-Schafzüchter hingebungsvoll einer deutschen Schachgröße des 19. Jahrhunderts widmet und die Ergebnisse seiner langjährigen Recherchen in Buchform vorlegt. Indes hat sich Robert Johnson hiermit einen Lebenstraum erfüllt, denn bereits als 11-Jähriger hatte er sich nachhaltig für Adolf Anderssen begeistert. 16 Jahre später, 1993, nahm Johnson die Arbeit an seinem Buch auf, die sich – unvorhersehbar – über ein gutes Vierteljahrhundert erstrecken sollte. Soweit zur Entstehungsgeschichte des „bislang besten australischen Schachbuchs“ (nach Bob Meadley), das in diesem Jahr im Selbstverlag des Autors erschienen ist: Adolf Anderssen – Combinative Chess Genius.

Eigentlich hätte dieser schmucke, großformatige und schwergewichtige Band zum 200. Geburtstag von Adolf Anderssen am 6. Juli 2018 das Licht der Schachwelt erblicken sollen, aber dies war dem Autor (und der Schachwelt) nicht vergönnt. Schauen wir uns näher an, wie Johnson sein Opus Magnum konzipiert und inhaltlich präpariert hat.

Adolf Anderssen - Combinative Chess Genius - Schach-Biographie Robert Johnson - Buch-Rezensionen Glarean MagazinAuf das Vorwort des Autors folgt mit zehn biografischen Kapiteln der Hauptteil des Werkes: Dem jeweiligen rein biografischen Part ist eine Auswahl kommentierter Partien nachgestellt, die dem behandelten Zeitraum oder Ereignis zugeordnet sind. Über das ganze Buch verteilt sind außerdem 36 große Bildtafeln (von Anderssen selbst bzw. den großen Meistern jener Zeit und von einzelnen Gebäuden, sowie drei in Farbe von Anderssens Grabstätte).

Ausnahmespieler mit menschlicher Größe

Der biografische Teil vermittelt die Fakten und Erkenntnisse, die der Autor zusammengetragen hat über den Gymnasialprofessor aus Breslau (in den Fächern Mathematik und Deutsch) und den zeitweilig stärksten Schachspieler der Welt (1851-57; 1860-66), der in London 1851 das erste Schachturnier der Neuzeit gewann und wie kein anderer die romantische Epoche des Schachs verkörpert und geprägt hat.

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In einem der Kapitel wird insbesondere der Mensch Anderssen beleuchtet, der keine eigene Familie gründete, aber in seinem beruflichen wie schachlichen Umfeld ein hohes Ansehen genoss und in Fairness, Charakter und Integrität seinesgleichen suchte. Das hier entworfene Bild Anderssens wird untermauert und vertieft durch zahlreiche in den Text eingestreute Zitate aus alten Quellen, die zum Lesegenuss erheblich beitragen.

Ein Schatz magischer Partien

Die im Buch reproduzierten 80 (nicht ausschließlich Gewinn-)Partien des virtuosen Kombinationskünstlers Anderssen sind weitgehend mit historischen Kommentaren und Analysen versehen, hin und wieder hat Johnson (ein langjähriger Fernschachspieler) eigene Anmerkungen beigesteuert. Sicherlich ist diese Kommentierung für die Mehrzahl der Leser völlig ausreichend. Wer einzelne Analysen vertiefen möchte, muss wohl oder übel die eigene Engine bemühen.1)

Adolf Anderssen - Combinative Chess Genius - Schach-Biographie Robert Johnson - Probeseite - Buch-Rezensionen Glarean Magazin
Probeseite aus Robert Johnson: Adolf Anderssen – Combinative Chess Genius

An ungewöhnlicher Stelle, direkt im Anschluss an das Frontispiz, finden sich zwei tabellarische Aufstellungen zu Anderssens Turnier- und Matchergebnissen (mit den Turnierplatzierungen sowie der Zahl der Gewinn-, Remis- und Verlustpartien). Die zugehörigen Turniertabellen wurden nicht ins Buch aufgenommen, gegebenenfalls sind diese vom Leser in anderen Quellen nachzuschlagen.
Apropos Anderssen-Partien: Adolf Anderssen ist bekanntlich der Gewinner der sog. Unsterblichen Partie, die im Jahre 1851 in London zwischen ihm und dem Schachmeister Lionel Kieseritzky ausgetragen wurde und ob ihres kombinatorischen Feuerwerks zur wohl berühmtesten Partie der Schachgeschichte avancierte.

Stiefmütterlich behandeltes Problemschaffen

Was mir indessen allzu kurz kommt, ist das Problemschaffen Adolf Anderssens – lediglich erwähnt wird im ersten Kapitel sein Büchlein Aufgaben für Schachspieler von 1842. Schließlich hat Anderssen auch auf dem Gebiet des künstlerischen Schachproblems eine beachtliche Pionierarbeit geleistet2), und eine kleine Auswahl seiner Kompositionen, fachkundig im Buch besprochen, hätte der Bedeutung dieser Leistung Rechnung getragen.

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Auch wenn diese Biografie kein reiner Bildband ist, so ist sie doch in ihrer hochwertigen Ausstattung einem coffee-table book vergleichbar. Insbesondere das ausnehmend attraktive Design des Vorderdeckels, die zahlreichen historischen Bilder und der Druck auf schwerem Glanzpapier werden das bibliophile Sammlerherz erfreuen. Eine nette Zugabe des Autors: für den Verkauf vorgesehene Exemplare der relativ kleinen Auflage (von 204 Stück) werden von ihm auf dem Vorsatz signiert und datiert.

Diskutable Typographie

An der typografischen Gestaltung werden sich vermutlich die Geister scheiden: Ist die Schrift in Gottschalls Anderssen-Biografie (1912) so winzig geraten, dass man bei längerem Lesen eine Schädigung seiner Augen befürchten muss, so hat Johnson mit der Wahl einer besonders großen (serifenlosen) Schrift das Gegenteil angestrebt – zumindest für sehschwache Leser ein Vorteil. Aber vornehmlich bei den Partien ergibt sich hieraus im Verein mit dem durchgängig verwendeten Flattersatz ein insgesamt wenig harmonisches Schriftbild, dem ich etwas ambivalent gegenüberstehe.
Die Farbgebung (hell- und mittelgraue Felder) bei den Diagrammen scheint mir ganz annehmbar, aber letztere wären ohne die rundum laufenden, m. E. entbehrlichen Brettkoordinaten fraglos ansehnlicher ausgefallen. Zudem führt die stattliche Größe der Diagramme manches Mal zum vorzeitigen Seitenumbruch (mit erheblichem Leerraum), wenn ein Diagramm nicht mehr unten auf die Seite passt. Zu den hier verwendeten Apronus-Diagrammen gibt es natürlich auch zufriedenstellende Alternativen.

Liebens- und lesenswerte Hommage

Adolf Anderssen - Combinative Chess Genius - Schach-Biographie Robert Johnson - Matt in sechs Zügen - Glarean Magazin
„Das Tor zur modernen Epoche des Schachproblems aufgestoßen“: Adolf Anderssen als Problemschach-Komponist: Weiss setzt in sechs Zügen matt!

Das Buch schließt mit einem Nachdruck von Steinitz‘ wortreichem Nekrolog auf Anderssen aus The Field 1879, einer nahezu 3-seitigen Bibliografie sowie den Indizes der Partiegegner und Eröffnungen. Nennenswerte Fehler sind mir kaum aufgefallen.3) Warum auf der inneren Titelseite diese Biografie als „autobiography“ bezeichnet wird, bleibt eine offene Frage. Ansonsten dürfte diese lesenswerte Hommage auf das deutsche Kombinationsgenie nicht nur im angloamerikanischen Sprachraum auf lebhaftes Interesse stoßen. Da – neben der erbaulichen Lektüre des biografischen Teils – auch die taktisch fulminanten Partien beste Unterhaltung garantieren, kann ich für dieses Werk eine klare Empfehlung aussprechen. In der deutschen Schachliteratur wird nach wie vor eine moderne und zugleich erschöpfende, d.h. die ultimative Anderssen-Biografie, vermisst – ob sie jemals erscheinen wird? ♦

1)Mir fiel auf, dass Johnson zwei deutsche Turnierbücher in seiner Bibliografie nicht berücksichtigt hat: Dr. Mario Ziegler: Das Schachturnier London 1851, St. Ingbert 2013 [mit computergestützten Analysen]; und Stefan Haas: Das Schachturnier zu Baden-Baden 1870 – Der unbekannte Schachmeister Adolf Stern, Ludwigshafen 2006.

2)„Dabei ist Anderssens Bedeutung für die Entwicklung der Problemkunst nicht weniger hoch einzuschätzen als seine Leistungen … im Kampf Mann gegen Mann … Er … ging in seinen Aufgaben weit über das hinaus, was Stamma und die Modenesen an taktischen Finessen aufzuweisen hatten; er verfeinerte und vertiefte den Inhalt, die ‚Kombination‘, verzichtete ihr zuliebe vielfach schon auf den äußeren Schein einer partiegemäßen Aufstellung und wagte es als erster, den ‚stillen‘, nicht schachbietenden Zug, der vor ihm allenfalls als Ruhe- und Höhepunkt im späteren Verlauf der Lösung Verwendung gefunden hatte, an den Anfang zu stellen. Damit war das Tor zur modernen Epoche des Schachproblems aufgestoßen.“ (Herbert Grasemann in Problemschach, Berlin 1955, S. 15)
Eine gänzlich umgearbeitete Zweitauflage von Anderssens Büchlein erschien 1852. Die Schwalbe-PDB enthält 85 Probleme Anderssens.

3)In Partie 18 muss es Herrmann Pollmächer heißen statt Hermann Pollmacher.

Robert Johnson: Adolf Anderssen – Combinative Chess Genius, 353 Seiten, Clark & Mackay Self Publishing, Brisbane (Australia), ISBN 978-0-646-81614-2 – Vertrieb: Tony Peterson

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Schach-Biographien auch über Alexander Münninghoff: Heiner Donner


Musik-Psychologie: Klang und Timing (Studie)

Das rhythmische Zentrum des Klangs

von Walter Eigenmann

„Für unseren Gesamteindruck von Musik ist es sehr wichtig, dass die Details stimmen“, sagt die Musikwissenschaftlerin Anne Danielsen vom RITMO-Zentrum für interdisziplinäre Studien über Rhythmus, Zeit und Bewegung an der Universität Oslo. Gemeinsam mit ihrem Forscherkollegen Guilherme Schmidt Câmara sucht sie in ihrem Forschungsprojekt „Timing und Sound“ nach Antworten auf diese Details: „In Bezug auf Klang und Timing gibt es einige Grundregeln, an die sich die meisten Musikschaffenden halten. Nur wenige wissen jedoch, was sie rhythmisch tatsächlich tun, um es richtig klingen zu lassen“.

„Wenn wir mit Musikern und Produzenten sprechen, wird klar, dass sie die Klänge einfach automatisch anpassen, um das richtige Timing zu erreichen – das ist eine Form von implizitem Wissen“, sagt Câmara. Um nun dieses Wissen expliziter zu machen, haben die Forscher die Faktoren untersucht, die beeinflussen, wann wir ein Klanggeschehen wahrnehmen. Sie haben ein Muster gefunden und festgestellt, dass unsere Wahrnehmung des Timings eng mit der Qualität des Klangs zusammenhängt – ob er nun weich oder scharf, kurz oder lang und wackelig ist oder nicht.

Wann „geschieht“ ein Ton?

Anne Danielsen und Guilherme Schmidt Camara - Musikwissenschaftler Oslo Norway - Glarean Magazin
Prof. Dr. Anne Danielsen und Guilherme Schmidt Camara

Es ist wichtig, die Klänge aller Instrumente so zu timen, dass die Musik gut klingt, aber die verschiedenen Töne werden nicht unbedingt gespielt, wenn man sie hört. „Wissenschaftler sind bisher davon ausgegangen, dass wir das Timing zu Beginn eines Klangs wahrnehmen, haben aber nicht kritisch darüber reflektiert, was passiert, wenn die Klänge unterschiedliche Formen haben“, sagt Danielsen. Denn ein Klang habe ein rhythmisches Zentrum: „Wenn Sie sich eine Schallwelle vorstellen, befindet sich dieses Zentrum in der Nähe der Spitze der Welle, und Ihre Wahrnehmung, wo sich der Schall zeitlich befindet, ist tatsächlich dort oben, und nicht dort, wo er beginnt.

Rhythmische Zentren verschiedener Klänge

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„Wenn der Ton scharf ist, fällt der Anfang mit diesem rhythmischen Zentrum zusammen. Bei einem längeren und wackeligeren Klang nehmen wir wahr, dass sich das Zentrum lange nach dem eigentlichen Beginn des Klangs befindet.
Um einen Takt zu schlagen oder zusammen in einer Band zu spielen, müssen sich die Musiker aufeinander einstimmen, um es richtig zu machen: „Wenn man einen leisen Klang hat und möchte, dass er genau auf dem Schlag zu hören ist, dann muss man ihn etwas früher platzieren, damit man ihn auch so erleben kann“, sagt Danielsen.

Experimente zu den Strategien der Musiker

Um dies zu untersuchen, hat Câmara kontrollierte Experimente mit erfahrenen Gitarristen, Bassisten und Schlagzeugern durchgeführt. Ihnen allen wurde eine rhythmische Referenz gegeben, ein einfaches Groove-Pattern, das in vielen Genres zu finden ist. Dann wurden sie gebeten, auf drei verschiedene Arten mitzuspielen: Entweder direkt im Takt, ein wenig hinter oder ein wenig vor dem Takt“, erklärt sie. Auf diese Weise konnte sie testen, wie sie das Timing der verschiedenen Klänge wahrnehmen und wie sie spielen, um die Klänge auf einen Takt zu timen. Nach den Experimenten fragten sie die Musiker, was sie versucht hatten.

Klang dem Timing angepasst

Musikwissenschaft - Studie Klang und Timing 2020 - Orchester-Streicher-Gruppe - Glarean Magazin
Ob Samba, Sinfonik oder Hip-Hop: „Jedes Genre hat sein charakteristisches mikrorhythmisches Profil und seine grundlegenden psychoakustischen Regeln“

Diese benutzten ihre eigenen Worte, indem sie sagen, dass sie „langsamer“ oder „stärker“ spielen, wenn sie nach dem Takt zielen. „Dies passt gut zu dem, was wir als ein Muster der Beeinflussung des Klangs und nicht nur seines Orts sehen“, meint Danielsen. Sie weist darauf hin, dass das Timing des eigenen Spiels nach einem Takt etwas ist, das alle Musiker üben, also etwas, worüber jeder nachdenkt. „Sie sind sich jedoch viel weniger bewusst, wie sie den Klang nutzen, um Timing-Unterschiede zu kommunizieren“.

Musiker manipulieren Klang und Zeit

Die Forscher glauben, dass unsere Wahrnehmung von Schall in der Zeit auf grundlegenden psychoakustischen Regeln beruht, also darauf, wie das Gehirn Schallsignale wahrnimmt. Alle Musiker berücksichtigen diese mehr oder weniger festgelegten Regeln, aber wie sie das tun, hängt davon ab, in welches Genre ihr Spiel fällt.
„Jedes Genre hat ein charakteristisches mikrorhythmisches Profil. Samba hat sein eigenes, EDM hat sein eigenes, Hip-Hop hat ein anderes“, sagt Danielsen.

Musik-Computer - Audio-Software - Mischpult und Künstliche Intelligenz - Glarean Magazin
„Musiker am Computer erhöhen rhythmische Präzision durch Jonglieren mit den Klängen“

Bei der Musikproduktion sieht der Produzent den Klang vor sich auf dem Bildschirm und kann die Musik drehen und wenden, indem er die Beziehung der Klänge zueinander bewegt: „Produzenten, die am Computer einen Groove erzeugen, wissen das. Sie bewegen Klänge im Takt hin und her und denken: ‚Wenn ich ihn dort hinstelle, funktioniert er, und wenn ich ihn dort hinstelle, funktioniert er nicht‘. Sie lernen also durch Erfahrung, und wenn etwas präzise klingen soll, müssen sie mit den Klängen ein bisschen herum jonglieren“.

Die menschliche Qualität in der KI-Musik

Die norwegischen Forscher glauben, dass unser Wissen darüber, wie verschiedene Arten von Schall das Timing beeinflussen, zur Entwicklung von Software genutzt werden könnte, die künstliche Intelligenz zur Erzeugung von Musik verwendet. „Wir können eine Sequenz bereits grooviger und menschlicher gestalten, so dass sie nicht völlig mechanisch klingt. Wenn wir mit einem programmierten Takt beginnen, dann können die Algorithmen die Klänge leicht bewegen, um den Stil zu beeinflussen. Wenn der Algorithmus auch die Form des Klangs berücksichtigt, können wir eine noch breitere Palette an rhythmischen Bedingungen erhalten, die die Musik auf ästhetisch ansprechendere Weise gestalten können“, sagt Câmara.

Spielraum für Fehler

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Denn wenn wir live spielen, wollen wir einen Spielraum für Fehler, wir sind keine Maschinen: „Es gibt immer ein gewisses Mass an Asynchronität“, sagt Câmara, der selbst Musiker ist. Obwohl es sich um winzige Verschiebungen handle, habe der Mensch ein geschultes Ohr dafür, mit Hilfe von Schall etwas in der Zeit zu platzieren: „In manchen Kontexten können 10 bis 20 Millisekunden ausreichen, um einen Unterschied zu hören. Wir müssen uns dessen nicht völlig bewusst sein, aber wir können es fühlen“.

Anne Danielsen weist darauf hin, dass dies nicht nur für Menschen gilt, die mit Musik arbeiten. „Im Vergleich zu dem, was wir mit unseren Augen wahrnehmen, ist unsere Präzision in Bezug auf Zeit und Klang äußerst präzise. Das macht uns sehr empfindlich für räumliche Klangunterschiede. Aber auch beim Hören von Stimmenunterschieden – ob jemand wütend, traurig, glücklich oder verärgert ist – verwenden wir feinmaschige Audioinformationen, um zu interpretieren, was diese Stimme tatsächlich vermittelt“, sagt sie. „Es mag unglaublich klein und unbedeutend erscheinen, aber in Wirklichkeit ist es eine sehr wichtige Information für uns“.

Musik fordert sensorische Grenzen heraus

Musik-Pop-Band - Gesang und Instrumente - Sound und Timing - Glarean Magazin
„Wenn man einen leisen Klang hat und möchte, dass er genau auf dem Schlag zu hören ist, dann muss man ihn etwas früher platzieren, damit man ihn auch so erleben kann“

Danielsen ist der Meinung, dass die Tatsache, dass die Musikforschung uns in die Lage versetzt hat, psychoakustische Regeln zu entdecken, die sich darauf beziehen, wie das menschliche Gehirn Schall wahrnimmt, etwas über die Bedeutung der Musikforschung aussagt. „Wir tun in der Musik extreme Dinge. Indem wir die Grenzen dessen ausloten, was wir ästhetisch ansprechend finden können, testen wir auch unseren Wahrnehmungsapparat. Man könnte sagen, dass Musik ständig mit unseren Sinnen experimentiert. Deshalb ist Musik ein gutes Forschungsthema, um herauszufinden, wie wir Klang wahrnehmen, wie wir zuhören und wie wir ihn zeitlich strukturieren“. ♦

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Rhythmus und Musikwissenschaft auch:

Die Halloween-Schach-Studie 2020

Verhexte Schach-Teufelei

von Walter Eigenmann

Heute ist die Nacht der Nächte. Es spukt und geistert, es heult und schreit in allen Ecken und an allen Enden – die Geister sind entfesselt. Rette sich wer kann, sonst gibt’s Saures statt Süsses!
Und auch auf dem Schachbrett ist der Teufel los, denn die GLAREAN-Hexe hat die gefürchtete Halloween-Schach-Studie 2020 aus der Tiefe geholt, die jeden Grossmeister und jedes Schachprogramm erzittern lässt.

Mit welchem teuflischen Zug bringt sie nicht nur alle menschlichen Schachspieler um den Verstand, sondern lässt auch Computer-Engines vor Angst mit den Bits klappern?

FEN: 2k5/1p3pp1/p1p1p1p1/2P1P1P1/PP1P1P1P/K7/8/8 w

Halloween Hexe spielt Schach - Halloween Chess Witch plays Chess - Glarean Magazin 2020
Eine verhexte Halloween-Schachstellung: Weiss zieht und gewinnt…

Die Lösung finden Sie, wenn Sie „weiterlesen“ —>

Wer von Halloween 2020 noch nicht genug hat, kann sich noch zwei weitere gespenstische Halloween-Knacknüsse antun:

Das Halloween Chess Puzzle 2018  und  das Halloween Chess Puzzle 2009

English Translation

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Tonight is the night of nights. It haunts and ghosts, it howls and screams in every corner and at every end – the ghosts are unleashed.
And all hell is breaking loose on the chess board too, because the GLAREAN WITCH has brought the dreaded Halloween Chess Study 2020 out of the depths, which makes every grandmaster and every chess program tremble.

With which diabolical move does she not only drive all human chess players out of their minds, but also makes computer engines rattle with the bits in fear?

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Julia von Heinz: Und morgen die ganze Welt (Film)

Zwischen Antifa und Rechtspopulismus

von Katka Räber

„Und morgen die ganze Welt“ ist ein Film (Regie: Julia von Heinz) über das Aneinandergeraten der autonomen Jugend und der militanten Neonaziszene in Deutschland. Ein Abbild der jetzigen Gesellschaft an den politischen Rändern, wo Antifaschismus und Populismus die Stimmung zum Kochen bringen. Stark, leidenschaftlich, jung und sehr authentisch.

Und morgen die ganze Welt - Spielfilm 2020 - Julia von Heinz - Filmplakat - Glarean MagazinLuisa ist eine Jurastudentin im ersten Semester, Tochter aus „gutem Haus“ einer Familie des alten deutschen Adels, bei denen Jagden zum Alltagssport gehören. In der zuhause so angepassten Tochter brodelt starke Wut gegen die faschistischen Rechten. Luisa wird durch ihre beste Freundin aus früherer Schulzeit in eine politisierte WG aufgenommen, die im autonomen Jugendzentrum wohnt und Proteste gegen rechtsgerichtete Demonstrationen plant.

Politische und erotische Spannungsfelder

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Luisa’s Wut ist allerdings militanter als der politische Wille ihrer friedfertigen Freundin. In mehreren, sehr spannend dargestellten Szenen werden wir Zeugen verschiedener Manövern solcher Zusammenstösse zwischen Demonstrierenden beider militanter Gruppierungen und der Polizei. Luisa gerät politisch und erotisch ins Spannungsfeld von zwei jungen Führungskräften dieser Autonomen, Alfa (Noah Saavedra) und Lenor (Tonio Schneider). Alfa stiftet immer stärker zu gewalttätigen Aktionen an, Lenor will mit Gewalt nichts zu tun haben, was die Übernamen beider Protagonisten bereits suggerieren.
Als Publikum wird man Zeuge  spannender, meist illegaler Geschehnisse mit dem gedanklichen Hintergrund, die Demokratie retten zu wollen. Aber die jungen Leute sind nicht nur Polit-Aktivisten, sondern auch Menschen – voller Wut, voller Ängste, Zwiespalt und voller Leidenschaften.

Ideologien in den Vorgärten der Genügsamkeit

Julia von Heinz - Film-Regisseur - Glarean Magazin
Regisseurin Julia von Heinz

All das wird grossartig von viel Musik begleitet. Wer jagt wen? Während der Räumung des autonomen Jugendzentrums ertönt eine Verdi-Arie. Wessen Ideologie gewinnt in den Vorgärten der normalen Genügsamkeit? Der Film zeigt aber nicht verherrlichend die junge, ideologisch linke Seite, sondern auch die Zweifel, das Müffelnde und Allzumenschliche. Vielleicht sogar das Revoluzzertum auf Zeit, bevor das spätere, meist gesetzte Leben beginnt.

und morgen die ganze Welt - Film-Rezension - Polizei-Szene - Glarean Magazin
Szenen-Foto aus „Und morgen die ganze Welt“

Und morgen die ganze Welt ist ein gelungenes Polit-Plädoyer mit ausgezeichnet besetzten Rollen der beiden jungen Frauen und der Männer, aber auch des alten Revoluzzers der früheren Generation (Andreas Lust). Die Grundthematik des Filmes ist gleich zweimal explizit erwähnt: Der Artikel 129 des Grundgesetzes der dt. Bundesverfassung über das Widerstandsrecht wird anfänglich in schriftlicher Form in Erinnerung gerufen, zum Schluss nochmals hörbar im Wortlaut gemacht. Und die Frage ist immer präsent: Wer hat das Recht, die Staatsordnung zu schützen – und mit welchen Mitteln? ♦

Julia von Heinz (Regie): Und morgen die ganze Welt, Spielfilm mit Mala Emde u.a. 110 Minuten

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Rechtspopulismus auch über Beat Ringger: Die Zukunft der Demokratie

Stuart Hood: Das Buch Judith (Roman)

Weltrevolution vor Gleichberechtigung

von Bernd Giehl

Bücher über Heldinnen sind gerade in. Im April hatte die ZEIT Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ mit ihren abstehenden roten Zöpfen aus Anlass ihres 75. Geburtstages auf der Titelseite und konnte ihre Verfasserin nicht genug loben ob ihres Beitrags zu einem alternativen weiblichen Rollenbild. Und im Oktober bekam Anne Weber den deutschen Buchpreis für ihren Roman Annette – ein Heldinnenepos. Man könnte meinen, der schottische Schriftsteller Stuart Hood wolle sich in diese Tradition, falls es denn eine ist, einreihen. Immerhin heißt sein neuer Roman ja „Das Buch Judith“.

Und gleich zu Anfang zitiert er das biblische Buch Judith, das sich in den Apokryphen zwischen Altem und Neuem Testament findet. Auch dort gibt es eine Heldin, eben jene Judith, die sich ins Lager des mächtigen Feindes schleicht, der gerade Israel erobert hat, und dem Feldherrn Holofernes den Kopf vom Rumpf trennt.

Stuart Hood: Das Buch Judith (Roman) - Edition 8Aber dann beginnt der Autor mit einem Mann, der sich mit Leib und Seele einer Sache verschreibt und dafür alles andere für unwichtig erklärt. Fergus Mc Iver ist ein schottischer Kommunist, der 1975 im Todesjahr des Faschisten General Franco für die BBC einen Film über den Freiheitskrieg Spaniens gegen Napoleon drehen will. Dafür reist er mit seiner Mitarbeiterin Judith, die zugleich seine Geliebte ist, nach Spanien. Im Gepäck hat er einen ecuadorianischen Pass für einen Genossen im Untergrund, der damit aus Spanien fliehen will, weil er von Francos Polizei gesucht wird.

In den Wirren der Franco-Diktatur

Als das erledigt ist, hofft Judith, sie könnten jetzt zum normalen Leben zurückkehren, aber stattdessen bekommt Fergus von den spanischen Genossen einen neuen Auftrag. Jetzt soll er ein Paket in dem mutmaßlich eine Bombe enthalten ist, nach Los Huertas schmuggeln. Auch das erledigt Fergus, weil er die Gefahr ebenso liebt, wie die Partei, aber diesmal sind es die eigenen Genossen, die ihm nicht vertrauen, weil er von einer Frau begleitet wird, die nicht Mitglied der Partei ist. Beide werden an verschiedenen Orten festgehalten. Schließlich entschließen sie sich, Fergus zu glauben, dass er kein Spion der CIA sei (oder vielleicht tun sie auch nur so), und geben ihm den nächsten Auftrag.

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Er soll die Bombe mit einem Wagen ins Zentrum von Madrid bringen. Alles ganz freiwillig natürlich, aber wenn er dazu bereit ist, darf er Judith zu sich holen. Fergus willigt ein. Bis zu seiner Rückkehr nach der Fahrt in die Stadt darf Judith das Haus nicht verlassen. Dass sie eine Geisel ist, die für das Gelingen des Attentats einstehen muss, wird zwar nicht gesagt, aber zumindest zwischen den Zeilen deutlich.

Geschichte aus zwei inneren Perspektiven

Judith wechselt also ihren Standort. Ob sie will oder nicht, wird sie nicht gefragt. Da Stuart Hood abwechselnd aus beiden Perspektiven erzählt, kennt der Leser auch ihre Gedanken. Fergus wird ihr immer fremder. Er entscheidet über ihrer beider Leben, ohne sie vorher zu fragen. Nach dem Ende dieser Reise wird sie ihn verlassen, beschließt sie. Am Abend liegen zwei Menschen, die sich einmal geliebt und gemeinsam tagelang in großer Gefahr geschwebt haben, voneinander abgewandt im selben Bett, ohne sich zu berühren.

Judith - Gemälde von August Riedel 1840 - Glarean Magazin
Kämpferisch, emanzipiert, feminin: Judith mit Schwert, nach einem Gemälde von August Riedel (1840)

Dabei gibt es zwischen Fergus und Judith durchaus Berührungspunkte. Beide haben Väter, die im Krieg gekämpft haben; Judiths Vater war Mitglied der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg 1936-39 und ist seither verschollen; Fergus‘ Vater kämpfte im Zweiten Weltkrieg, kehrte zurück und wurde zum Säufer, der seinen Sohn die Rute küsse ließ, bevor er ihn schlug.
Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – sucht Fergus die Gefahr, um den Vater zu übertrumpfen. Dabei nimmt er auf Judith keine Rücksicht. Dass sie ihn begleitet, um die Spuren ihres Vaters zu suchen, interessiert ihn wenig. Er entscheidet für sie mit; er bringt beide in große Gefahr, aber er fragt nicht, was sie dazu sagt. Sie ist eine Frau; sie hat sich dem Mann und der Sache, für die er kämpft, unterzuordnen. Ein Frauenbild wie aus den Fünfzigern.

Seitenlange Reflexionen

Judith mit dem abgeschlagenen Kopf des Holofernes, nach einem Gemälde von Gustav Klimt (1901) - Glarean Magazin
Judith mit dem abgeschlagenen Kopf des Holofernes, nach einem Gemälde von Gustav Klimt (1901)

Insofern finde ich den Namen des Romans sonderbar. Schwer vorstellbar, dass der Titel erst gewählt wurde, als das Buch schon fertig war. Immerhin hat Hood die Reminiszenz an die biblische „Heldin“ ja nicht zufällig gewählt. Insofern hätte man sich auch vorstellen können, dass Hood aus der Perspektive Judiths erzählt. Und wenn er schon beide Sichtweisen wählt, wünschte man sich, dass beide gleich stark ausfallen.
Aber es ist wieder einmal das alte Lied: Der Mann zieht hinaus ins feindliche Leben, und die Frau muss das Taschentuch schwenken und es dann benutzen, un ihre Tränen wegzuwischen. Anders gesagt: Die Passagen, in denen Judith zu Wort kommt, sind deutlich schwächer.

Weltrevolution vor Gleichberechtigung

Womöglich empfand Hood ja Sympathie für den Feminismus. Vielleicht wollte er ein Buch über ihren Kampf für die Gleichberechtigung schreiben. Aber dann kam ihm der Einsatz für die Weltrevolution in die Quere, und die war sowohl Fergus als auch dessen Autor, der selbst Kommunist war, wichtiger. Der Autor tritt öfter hinter seiner Person hervor und belehrt uns durch Fergus‘ Mund über bestimmte politische Probleme. Diese seitenlangen Reflexionen sind öde und führen auch nicht wirklich weiter.

Wirklich spannend wird Stuart Hoods „Das Buch Judith“ erst zum Schluss. Da tut Judith etwas Überraschendes: Sie befreit sich von dem, der bis dahin ihr Leben bestimmt hat. Damit wird sie in gewissem Sinn zur biblischen Judith, und der Leser wünscht ihr, dass sie aus dem Land des sterbenden (und zu diesem Zeitpunkt schon toten) Generalissimus entkommt… ♦

Stuart Hood: Das Buch Judith – Roman, 208 Seiten, Verlag Edition 8, ISBN 978-3859904064

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Emanzipation auch über die Biographie von Kerstin Decker: Lou Andreas-Salomé

…sowie zum Thema Feminismus über den Roman von Meg Wolitzer: Das weibliche Prinzip

Lili Reinhart: Swimming Lessons / freischwimmen (Gedichte)

Weihnachtsgeschenk für Teenager

von Stefan Walter

Lili Reinhart, US-amerikanische Schauspielerin und Aktivistin, hat Ende September ’20 ihr erstes Buch „Swimming Lessons“ veröffentlicht. Keine zwei Wochen später hat Fischer bereits eine zweisprachige Ausgabe (dt. Titel: „freischwimmen“) herausgegeben. Dass diese Entscheidung mehr auf der Bekanntheit der Autorin beruht als auf der Qualität des Werks, liegt nahe. Aber versuchen wir, vorurteilsfrei heranzugehen.

Was als erstes auffällt: Das gebundene Buch ist ziemlich dick, eher wie ein Roman als ein Gedichtband. Kein Schutzumschlag. Auch kein Lesebändchen. Zielgruppe ist vielleicht nicht der klassische Lyrikleser.

Lili Reinhart - Swimming Lessons - freischwimmen - Gedichte - Fischer VerlagDie Einsparungen gehen im Inneren weiter: Es gibt keine Seitenzahlen (ungefähr 270 Seiten dürften es nach meiner Zählung sein, darunter einige leere und einige nur mit Illustrationen), kein Inhaltsverzeichnis. Das Fehlen der Seitenzahlen ist besonders deshalb störend, weil nur eine Handvoll Texte so etwas wie einen Titel hat. Die Kurzbiographie macht die Autorin gleich einmal um sechs Jahre älter.

Der eigentliche Inhalt besteht aus gut hundert „Gedichten“ – auf die Anführungszeichen werde ich noch zurückkommen – im Umfang zwischen zwei Zeilen und sechs Seiten. Die Übersetzung findet sich jeweils im Anschluss an den Originaltext, für den Leser deutlich unpraktischer als eine links/rechts-Aufteilung. Auch mit bloßen Schulkenntnissen sollte man allerdings keine größeren Schwierigkeiten mit dem englischen Text haben.

Liebe und Liebeskummer

Lili Reinhart - Glarean Magazin
Lili Reinhart (geb. 1996)

Der weitaus größte Teil der Gedichte dreht sich um Liebe und Liebeskummer. Dazwischen finden sich einzelne Texte, in denen Lili Reinhart sich mit ihren Dämonen auseinandersetzt; dies sind auch die einzigen, die ernsthaft lesenswert sind. So erklärt sie etwa:
„This is how I explain it to someone / who can’t fully understand. (…) This is you, every day. (…) Elated. High. Full of energy (…) Of course I am able to feel these things. It’s / harder to achieve, but I can get there. // It’s just that I’ll have / a greater fall back down to reality. (…)” Eine der konzisesten Beschreibungen einer leichten Depression, die ich je gelesen habe.
Ein bisschen dunkler wird es mit:
„I tried explaining to my mother why / I was crying this morning. // It’s always different, / the reason or the circumstance. (…) Sometimes it just feels like sadness, / like a dark shadow / mirroring my every move. (…) I want to be alone, unbothered // And then I feel guilty / for being cold (…) Innocent volunteers that I’m / shutting down. (…)“

Ohne inhaltlichen Anspruch

Leider gibt es nur wenige dieser relevanten Texte. Der ganz überwiegende Teil klingt wie:
„Of all the elements, // I’ll say that I’m snow, // melting on impact // from your warmth”
oder:
„It is a privilege to know you / in such a way that no one else does. // To be the someone who sees / your intimate self so completely”
Es sind Texte, wie sie jeder zweite Teenager in sein Tagebuch kritzelt, ohne besonderen inhaltlichen oder sprachlichen Anspruch.

Zurück zu den Anführungszeichen. Ungeachtet formaler Definitionen wirken die Texte nicht wie Gedichte. Ja, es gibt Verse, es gibt Strophen – wobei ein sehr großer Teil der Strophen nur aus einem einzigen Vers besteht –, es gibt ein Ich. Doch das Ich hört sich an wie der Sprecher eines Textes; die Aufteilung in Verse und Strophen scheint kaum inhaltliche oder klangliche Bedeutung zu haben, sondern nur kürzere oder längere Sprechpausen zu markieren.

Zitatensammlung als Telenovela

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Das Buch ist kein Gedichtband. Es ist eine Zitatsammlung. Reinharts Zitate aus der Rolle ihres Lebens, einer fiktiven Telenovela, in der die Hauptdarstellerin sich immer wieder unsterblich verlieben darf, immer wieder enttäuscht wird, ihrem Schatz Liebeserklärungen macht, ihn mit einer anderen sieht, ihn anschreit, verflucht, mit einer Freundin banale Diskussionen über den Sinn des Lebens führt, und ab und zu einmal einen großartigen Monolog halten darf.
Und erstaunlicherweise: Wenn man das Buch so liest, dann wird es plötzlich stimmig. Dann vermisst man keine Gedichttitel mehr, keine Seitenzahlen. Dann sind Pathos und Banalität keine lästigen Begleiter mehr, sondern notwendige Voraussetzungen für ein Gelingen. Und die guten Texte werden zu den Sternstunden der Serie und von den Fans hundertfach auf Pinterest gepostet.
Der durchschnittliche Lyrikleser wird dieses Buch nicht unbedingt benötigen. Als Weihnachtsgeschenk für einen Teenager, dem er das Konzept von Lyrik näherbringen möchte, scheint es mir aber bestens geeignet.

Lili Reinhart: Swimming Lessons / freischwimmen, zweisprachige Ausgabe englisch/deutsch, übersetzt von Anna Julia Strüh, 272 Seiten, FISCHER New Media, ISBN 978-3-7335-0615-5

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Neue Lyrik auch von Christl Greller: Ich denke positiv (Gedichte)

Weitere interessante Websites für Gedichte:

 


Internationaler Kompositionswettbewerb für Harfe 2022

Gesucht: Neue Werke für Harfe solo

Musik für Harfe - Glarean MagazinZum siebten Mal schreibt der USAIHC (USA-International-Harp-Competition) seinen internationalen Ruth-Inglefield-Kompositionswettbewerb für Harfe aus.

Eingesandt werden können unveröffentliche Solo-Stücke von einer Dauer zwischen sechs und acht Minuten für Pedalharfe.
Zusätzliche Instrumente dürfen einbezogen werden, falls sie vom Solisten gespielt werden.

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Der Preis ist mit 2’000 USD dotiert. Das Werk sollte noch nicht auf kommerziellen Tonträgern vertrieben worden sein.
Einsende-Schluss ist am 1. Oktober 2021, hier sind die weiteren Details der Ausschreibung zu finden (engl.) ●

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die anderen Ausschreibungen zu Kompositionswettbewerben

Weitere interessante Beiträge zum Thema Harfe:

 


Das Sudoku-Quartett im Oktober 2020

Rätsel-Spass von sehr einfach bis sehr schwierig

Das berühmte und millionenfach gespielte Zahlenrätsel Sudoku hat auch im Glarean Magazin eine lange Tradition. Hier kommt unser Sudoku-Quartett im Oktober 2020. Es präsentiert allen Freunden dieser raffinierten Zahlen-Knobelei wie immer ein vielfältiges Rätselvergnügen.
Denn wieder vereint es alle Schwierigkeitsstufen – von sehr einfach bis extrem schwierig. Wir wünschen viel Knobel-Spass!

Sudoku 1-4 - Oktober 2020 - Aufgaben - Glarean Magazin
Copyright 10/2020 by Glarean Magazin

Die Regeln des Sudoku-Zahlenpuzzles

…sind einfach. Ein Sudoku besteht aus 9 x 9 Feldern, die zusätzlich in 3 x 3 Blöcken mit 3 x 3 Feldern aufgeteilt sind.
Jede Zeile, jede Spalte und jeder Block soll alle Zahlen von 1 bis 9 jeweils genau einmal enthalten.

In ein paar der Felder sind bereits Zahlen vorgegeben. Bei einem Sudoku darf es nur eine mögliche Lösung geben, und diese muss rein logisch gefunden werden können.

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Hier können Sie das Sudoku-Quartett im Oktober 2020 ausdrucken als PDF-Datei.

Die Lösung der vier Rätsel finden Sie untenstehend – „weiterlesen“—>

Knobeln Sie im Glarean Magazin auch das Sudoku-Quartett im März 2017

… sowie das Sudoku-Quartett im Mai 2018

Weiterlesen

Internationaler Literaturwettbewerb für moderne Märchen

Es war einmal…

Verlag Traum3 - Logo - Glarean MagazinFür seine geplante Buch-Anthologie „Moderne Märchen“ sucht der deutsche Traum3-Verlag Geschichten, die beginnen mit „Es war einmal“.

Im thematischen Mittelpunkt stehen soll „eine Tugend oder eine Todsünde“, wobei die handelnden Figuren Menschen sind, „damit eine Identifikation mit ihnen einfacher ist (keine Fabeln, keine Fantasiefiguren)“.

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Einzureichen sind ausschliesslich unveröffentlichte deutschsprachige Texte, und deren Länge soll zwischen 1’000 bis 2’000 Wörter umfassen. Die Teilnahme am Wettbewerb ist kostenlos.

Einsende-Schluss ist am 30. Juni 2021, hier finden sich die weiteren Einzelheiten. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die Ausschreibung des ETCETERA-Literaturwettbewerbes zum Thema „Umweg“

… sowie weitere Ausschreibungen zu Literaturwettbewerben

Maximilian Ehrhardt: None but the Brave (Harfenmusik)

Saitenzauber aus Wales

von Horst-Dieter Radke

1983 war es das Album „The Music of Turlough O’Carolan“ von Patrick Ball, das nicht mehr von meinem Plattenteller herunter wollte, wieder und wieder gehört werden musste. Natürlich lässt so etwas dann nach einer Weile nach, und auch andere Musik kommt zu ihrem Recht. So ähnlich ging es mir aber jetzt, fast vierzig Jahre später mit dem Album „None but the Brave“ von Maximilian Ehrhardt.

Während Patrick Ball auf der Langspielplatte ausschliesslich auf originäre, für die keltische Harfe geschriebene Musik setzte, spielt Maximilian Ehrhardt neben walisischen und schottischen Volksweisen Musik, die für die walisische Harfe adaptiert wurde, etwa von Vivaldi, Corelli oder Händel. Er benutzt dabei die Walisische Tripelharfe, bei der die Saiten in drei Ebenen angeordnet sind. Ehrhardt spielt ein neues Instrument, das nach einem historischen aus dem 18. Jahrhundert gebaut wurde.

Walisische Barockmusik

Walisische Tripelharfe - Tim Hampson - 18. Jahrhundert - Glarean Magazin
Walisische Tripelharfe, gebaut im 18. Jahrhundert von Tim Hampson

Die Musik, die auf dieser CD eingespielt wurde, stammt aus drei Manuskriptsammlungen der walisischen Nationalbibliothek in Aberystwyth, sowie aus einer Sammlung von John Parry (1710-1776). Dieser gilt als der berühmtestes walisische Harfenist seiner Zeit. Wie der ein halbes Jahrhundert früher lebende Ire Turlough O’Carolan war er blind. Bekannt war er damals als Parri Ddall, Rhiwabon (der Blinde Parry aus Ruabon). Rhiwabon/Ruabon war ein kleiner Ort in Wales.

John Parry arbeitete den grössten Teil seines Lebens für die Adelsfamilie Williams-Wynn in Wynnstay und in London. Sein Sohn William Parry (1792 – 1791) malte ein Bild von ihm, auf dem er mit geschlossenen Augen an der walisischen Trippelharfe zu sehen ist. Der introvertierte Ausdruck des Musikers passt gut zu den Stücken, die Maximilian Ehrhardt eingespielt hat. Das Bild ist heute im Walisischen Nationalmuseum in Cardiff zu sehen. Manche der Stücke und Bearbeitungen aus den Manuskriptsammlungen stammen ebenfalls von John Parry.

Der blinde Harfenist

John Parry - Harfenist England - Glarean Magazin
Der blinde englische Harfen-Virtuose John Parry (1710-1782)

Die Harfenmusik John Parrys ist Barockmusik mit folkloristischem Einschlag, wobei die traditionellen Elemente nicht störend oder nivellierend zwischen den barocken Melodien stehen, sondern sich einfügen, als gehörten sie da schon immer hin. Die Harfe klingt transparenter als das Cembalo, sicher weil das Spiel mit den Fingern direkt an den Saiten eine grössere Beeinflussung derselben zulässt, als die durch Kiele angerissenen Saiten des Tasteninstruments. Auch die bei Barockmusik üblichen forte-piano-Effekte klingen auf der Harfe weniger abrupt.
Beim Hören der CD bekomme ich Lust, den Musiker Ehrhardt live mit dieser Musik zu erleben. Ich hoffe, dazu habe ich einmal Gelegenheit…

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Die Musik wurde von Deutschlandradio aufgenommen und von Carpe Diem Records veröffentlicht (CD-16321). Das Booklet ist informativ, berichtet ausführlich über die walisische Harfe und ihre Musik. Dafür gibt es von mir eine Kaufempfehlung. ♦

Maximilian Ehrhardt: None but the Brave – Harfenmusik des 18. Jahrhunderts aus Wales, Audio-CD, Carpe Diem Records / Deutschlandfunk

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Harfen-Musik auch über Englichova (Harp) & Veverka (Oboe): Impressions (CD)

Serien-Report über Schachzeitschriften (4): SCHACH-AKTIV

Chronist des österreichischen Schachlebens

von Mario Ziegler

„Schach-Aktiv, das österreichische Schach-Magazin, wurde 1979 von den beiden Wienern Alfred Einöder und Lothar Karrer gegründet, mit dem Anspruch der österreichischen Schachbewegung zu dienen. Bereits 1981 hat der Österreichische Schachbund die Rolle des Herausgebers übernommen. Seither ist „Schach Aktiv“ das offizielle Organ des ÖSB und liefert eine nahezu lückenlose Chronik über das Schachgeschehen in unserem Land.“

Mit diesen Worten charakterisiert der Österreichische Schachbund das von ihm seit fast 40 Jahren publizierte, monatlich erscheinende Magazin auf seiner Verbandshomepage. Ständige Mitarbeiter sind IM Georg Danner, GM Andreas Diermair, FM Hartmut Metz, IM Gert Schnider, Dr. Martin Stichlberger und FM Anatol Vitouch. „Schach Aktiv“ erscheint im Format A5, der Umfang beträgt etwa 60 Seiten pro Ausgabe. Die Fotographien sind durchgängig farbig gedruckt.
Grundlage der folgenden Besprechung bilden die beiden Ausgaben 5 und 6/2020, die stark von den Corona-bedingten Einschränkungen und der Verlagerung des Schachspiels ins Internet geprägt sind, auch wenn in Heft 5 noch Rückblicke auf die letzten Turniere vor der langen Nah-Schach-Pause gegeben werden.

Corona-Ausweg: Online-Turniere

Schach Aktiv Heft 5-2020 - Cover - Rezension Schachmagazine Glarean MagazinGeradezu programmatisch leitet ein Schreiben des ÖSB-Präsidenten Christian Hursky mit der Darstellung der aktuellen Situation und der Pläne für die Zukunft das Heft 5 ein („Ein Virus hebelt auch den Schachalltag aus“). Im weiteren Verlauf beider Ausgaben spielen Online-Turniere aus dem In- und Ausland eine gewaltige Rolle: Die 1. Österreichische Internet-Schachmeisterschaft, der Mädchen- und Frauenländerkampf Österreich-Deutschland-Schweiz, ein Frauen-Schnellschach-Match zwischen Team Österreich und einer Mannschaft aus internationalen Titelträgerinnen, aber auch Online-Turniere unter Beteiligung der Weltspitze: Der FIDE Nations Cup, das Magnus-Carlsen-Invitational oder das Steinitz-Memorial.
Dazwischen findet sich in der Rubrik „Jugendschach“ ein Bericht von Gert Schnider über Trainings- und Spielmöglichkeiten im Internet und ein längeres Interview mit dem Schachjournalisten und Internationalen Meister Georgios Souleidis mit dem Untertitel „YouTube statt Schreiben über die Großen“ – es fällt nicht schwer, den Schwerpunkt dieses Interviews zu erahnen!

Vom Jugendschach zum Rösselsprung

Mit den letztgenannten Beiträgen sind bereits zwei der sich wiederholenden Rubriken angesprochen: „Jugendschach“ widmet sich verschiedenen Aspekten, die im Spiel der jungen Schachfreunde und mit ihnen eine Rolle spielen. In Heft 6 sind dies „Lustige Schachvarianten“, also „Horde“, „Racing Kings“, „Atomschach“ und „Fressschach“. In Interviews kommen bekannte Persönlichkeiten der Schachwelt zu Wort: Neben dem erwähnten Georgios Souleidis sind dies in den zu besprechenden Ausgaben GM Baskaran Adhiban und der Vorarlberger Funktionär Albert Baumberger.

Arianne Caoili - Glarean Magazin
Thema in „Schach-Aktiv“: Der tragische Unfalltod von Arianne Caoili (1986-2020), der australischen Spitzenspielerin und Ehefrau von Grossmeister Levon Aronian

Eine sehr interessante Rubrik stellt „Der Rösselsprung“ des vielseitigen Wiener Autors Anatol Vitouch dar, der als Mitbegründer der Künstlervereinigung „Die Gruppe“ in verschiedenen literarischen Genres publiziert hat. Hier werden Themen angesprochen, die jenseits der üblichen Schachberichterstattung liegen: In 5/2020 ist dies – unter dem Titel „Das fragile Glück“ – ein sehr trauriger Sachverhalt, nämlich der Tod der australischen WIM Arianne Caoili, Ehefrau von Levon Aronian, mit nur 33 Jahren in Folge eines Verkehrsunfalls.

Schach und Fussball

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In 6/2020 („Schach, Fußball und die Ewigkeit“) geht es um das deutlich erfreulichere Thema der neuerdings durch ChessBase „live“ übertragenen historischen Partien aus berühmten Turnieren der Schachgeschichte. Diese interessante Idee kam während des Corona-bedingten Stockens des aktuellen Spielbetriebs auf und wurde von vielen schachhistorisch Interessierten sehr positiv aufgenommen, so auch von Vitouch, der folgenden bemerkenswerten Vergleich zieht: „Fußball ist, wie vielleicht Sport an sich, reine Gegenwart, und nur als solche erleb- und genießbar; sich ein Fußballspiel nicht live anzusehen, hat deshalb eigentlich einzig und allein dann Sinn, wenn man das Ergebnis noch nicht kennt. Schach dagegen gehört wie die Kunst der Ewigkeit und nicht dem Augenblick. Zwar wird Schach als Sport betrieben, und für diejenigen, die sich unter Zeitdruck mitten in einer wichtigen Partie befinden, ist es in diesem Moment nichts als Sport. Aber das Wesen des Schachspiels ist, wie das des Kunstwerks, der Welt entrückt.“

Weder Elos noch Computer: Progressivschach

Noch eine weitere Rubrik ist mir besonders aufgefallen. In „Stichls Stolpersteine“ entführt uns der Autor Martin Stichlberger, dessen Homepage übrigens ebenfalls zum Schmökern einlädt, in die Welt des Progressivschachs und stellt dem Leser Aufgaben, „wo weder Elos noch Computer nützen“, wie der Untertitel seiner Kolumne lautet.

Schach-Humorist Martin Stichlberger - Probeseite Schach-Aktiv Oesterreich - Glarean Magazin
Leseprobe von „Stichls Stolpersteine des Humoristen und autors Martin Stichlberger

Neben diesen außergewöhnlichen Bestandteilen weist „Schach Aktiv“ natürlich auch Inhalte auf, ohne die ein Schachmagazin kaum auskommt: Berichte über aktuelle Schachereignisse samt umfangreichen Partieanalysen durch österreichische Spitzenspieler (in den angezeigten Ausgaben sind dies neben den bereits genannten Online-Turnieren die beendete Saison der österreichischen Ligen, das Kandidatenturnier in Jekaterinburg und das Accentus Young Masters in Bad Ragaz), Kombinationen zum Selberlösen, die Trainingsrubrik „Endspielbausteine“ mit den Themen „Zwei gegen einen“ im Bauernendspiel und „Läufer-Springer“, „Internationale News“, Schachprobleme, Fernschach, Rezensionen und ein Turnierkalender.
Im Teil „Aus den Bundesländern“ wird das Magazin seinem Anspruch gerecht, möglichst umfassend über das Schachleben in Österreich zu berichten. Hier werden Turniere und Ligabetrieb aus den verschiedenen Bundesländern zusammengefasst, was in etwa den regionalen Berichten aus den deutschen Bundesländern in der „Rochade Europa“ entspricht.

Schach mit Alpha-Zero & Co.

David Silver - Entwickler von Alpha-Zero - Deep Mind - Künstliche Schach-Intelligenz - Glarean Magazin
Thema in „Schach-Aktiv“: David Silver, Chef-Entwickler der AI-Schachsoftware Alpha-Zero von Deep Mind (Google)

Zuletzt seien Artikel genannt, die aus aktuellem Anlass verfasst wurden. Der Hype um AlphaZero scheint in den letzten Wochen etwas abzuflauen, dennoch rechtfertigt dieses vielleicht stärkste Schachprogramm der Welt natürlich jederzeit eine tiefergehende Beschäftigung. Im Artikel „Wie AlphaZero spielt“ widmet sich Valeri Beim dieser Software, analysiert umfänglich eine Partie gegen Stockfish 8 und kommt zu dem Ergebnis:
„AlphaZero zeigte mit seinen Siegen, die vorwiegend durch extrem energetische Offensivaktionen eingespielt wurden, der Schachwelt überzeugend, dass der Anteil der Dynamik im Schach als höher angesehen werden kann als bis vor kurzem. Und die Schachwelt nahm diese Kernbotschaft gerne an.“
Ein weiteres Treffen zwischen den erwähnten Programmen wird im Artikel „Holländische Phantasie“ analysiert, wo die Leningrader Variante zur Diskussion stand (daher die Überschrift).
Ein ganz anderes Ereignis, das die Schachwelt aber seinerzeit ebenso bewegte wie heute die Erfolge von AlphaZero, war der Titelgewinn des jungen „Schachzauberers“ Michail Tal vor 60 Jahren. Ein gleichnamiger Artikel in „Schach Aktiv“ widmet sich diesem Ereignis und geht zugleich auf Tals „Hassliebe“ zur Französischen Verteidigung ein.

Material auf hohem Niveau

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Zusammengefasst: „Schach Aktiv“ bietet neben all den Inhalten, die man bei einer zeitgemässen Schachzeitschrift erwarten kann, einiges Überraschendes. Die Rubriken „Jugendschach“ mit den besprochenen Schachvarianten, „Stichls Stolpersteine“ und „Der Rösselsprung“ blicken über den Tellerrand einer Berichterstattung über aktuelle Schachereignisse hinaus. Man kann solche Exkurse mögen oder auch nicht, aber es führt den Leser in jedem Fall zu Aspekten des Schachs, die originell sind und zum Nachdenken anregen.
Für den Freund anspruchsvoller Analysen bietet „Schach Aktiv“ etliches Material auf hohem Niveau. Besonders gefallen haben mir in diesem Zusammenhang die ausführlichen Kommentare der österreichischen Nummer Eins GM Markus Ragger.
Da insgesamt ein breites Spektrum an Inhalten geboten wird, werden viele Leser mit unterschiedlichen Interessen bedient. Dass dabei im Einzelfall auch Themen vorkommen, für die man sich weniger interessiert, ist unausweichlich und angesichts des sehr abwechslungsreichen Inhalts gut zu verschmerzen. ♦

Zeitschrift Schach Aktiv (Verbandsorgan des Österreichischen Schachbundes), erscheint monatlich

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schachzeitschriften auch über die Schweizerische Schachzeitung