Erratisch, linear, fragmentarisch, geister- und dämonenfroh: Mit „Basquiat“ ist dem Duo Julian Voloj (Texte) & Sören Mosdal (Zeichnungen) eine weitgehend eindrückliche Graphic Novel gelungen, die passend zum Leben von Jean-Michel Basquiat starke Schlaglichter, Zerrungen und Verwirrungen aufgreift, um so dem Leser diesen kultischen, viel zu früh an Drogen verstorbenen schwarzen Pop-Künstler nahezubringen. Dies zu einem Zeitpunkt, da die Rassismus-Debatte brisanter und trauriger denn je ist…
Zunächst lässt sich die Geschichte sehr verständlich an, geschickt aufgebaut durch Vorwegnahme des Endes. Auf einer realen Ebene wird retrospektiv das Leben des jungen Basquiat in den wichtigsten Stationen abgeklappert. Dass der innere Blick durch das Äussere nicht getrübt wird, dafür sorgt der innere Monolog mit Basquiats lebenslangen Dämonen, visuell dargestellt durch wohl eines seiner prägnantesten Bilder.
Anstrengende Bruchstücke
Basquiat-Kunst hat inzwischen Millionen-Wert
Doch was zunächst gut funktioniert und den Leser zu fesseln vermag, wird durch diese bruchstückhafte Kürze/Versatzhaftigkeit schnell anstrengend. Wenn eine Frau der anderen die Klinke in die Hand gibt und man rätselt, ob die Blonde hinter dem Tresen, mit der er nun zusammenziehen will, jene ist, die sein Kind nicht will…
Abhilfe schafft zwar das Glossar, das der Novel zum Schluss angehängt ist! Doch manchmal ist weniger mehr, und viel hinten hilft nicht unbedingt viel vorne, salopp gesagt!
Insofern ist die Lektüre zwar kurzweilig, aber anstrengend. Zugleich hält sich der Mehrwert, wenn man z.B. eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit dem Schaffen, dem Kunstverständnis Basquiats oder auch mit der Popkultur erwartet, in Grenzen. Psychologisch zwar durchaus ausgefeilt und erzählerisch geschickt konstruiert, zeigt der Aufbau ab der Mitte Schwächen.
Zeichnerisch – zumindest für jemanden, der Wert auf klare Linienführung und zeichnerisches Detail legt und dabei umfassendere Graphic Novels bevorzugt – ist „Basquiat“ eher schwierig zu beurteilen. Sicherlich passt das Knallige, auch das Düstere, die Farbgebung insgesamt gut zum Big Apple der 1980er, zum Lebensgefühl der Popkultur. Und bringt zudem Basquiats lebenslange Zerrissenheit, seine Suche nach sich selbst, angefangen mit seinem dysfunktionalen Elternhaus, treffend auf den Punkt.
Trotzdem ist der Stil Sören Mosdals recht reduziert und auf die Dauer von 131 Seiten zu fratzenhaft. Graphisch wäre mehr mehr gewesen, aber über Geschmack lässt sich bekanntermassen trefflich streiten. Zu rudimentär und atavistisch, ist man versucht, es auf zwei Adjektive herunterzubrechen.
Dennoch hinterlässt Volojs Geschichte um Basquiats wechselhaftes Leben auf der Überholspur, nicht zuletzt durch Mosdals erratische Darstellung, einen gewissen Nachhall, der sowohl bei Basquiat-Kennern als auch bei solchen, die es eventuell werden wollen, einen bleibenden Eindruck. Viel Herzblut steckt in diesem Werk, wie auch das Nachwort sonnenklar bestätigt. Und wie die „Black Lives Matter“-Bewegung und die aktuellen Geschehnisse in den USA seit dem Sommer dieses Jahres zeigen: An der Realität afroamerikanischer Menschen hat sich seit dem sinnlosen Tod Michael Stewarts infolge polizeilicher Brutalität, die (natürlich) auch Eingang in Basquiats Oeuvre gefunden hat, wenig geändert.
Basquiats kurzes, aber intensives Leben in eine kleinformatige, „nur“ 136 Seiten lange Graphic Novel zu bannen war sicherlich eine Herausforderung, die allerdings Texter Julian Voloj – verbunden mit einem starken Interesse an dem Künstler – gut gemeistert hat. Alles, was er im Nachwort schildert, zeigt sich in den Notizen, die während meiner Lektüre entstanden sind. Insofern: Gelungener Comic – mit der Einschränkung, dass sich eine solche Lektüre auch ohne dauerhaftes Blättern im Glossar (zumindest für den interessierten Laien, der vielleicht nicht viel über Basquiat weiss) bewältigen lassen sollte. ♦
Der von lauter Tatendrang und Schaffenskraft nur so strotzende Satiriker setzt sich in bester Absicht vor den Computer, um eine knallend lustige Satire zu schreiben. Dabei soll ein wirklich gelungenes Stück Literatur mit gesellschaftskritischen Untertönen entstehen, das obendrein auch noch unterhaltend ist.
Der routinierte Schreiber sorgt für bestes Dichtungsambiente. Dafür lässt er die Jalousien halb herunter, um die richtige Lichtmenge hereinzulassen; nicht zu viel und nicht zu wenig, gerade mal so, dass ihn die Schatten der sanft schwankenden Pappel nicht vom kreativen Schaffen ablenken. Er rückt den Stuhl zurecht; dieses Möbelstück ist nicht zu unbequem, um die Arbeit zur Tortur zu machen, und auch nicht zu komfortabel, um ihn bei längeren Denkpausen matt werden zu lassen.
Die gelbe Quietschente, ein Geschenk seiner kleinen Nichte Lara und unentbehrliches Maskottchen des proliferativen Dichters, muss derweil hinter dem Bildschirm verschwinden. Dieses Ding könnte ihn mit seinem lächerlich grossen, roten Schnabel zu sehr von hochtrabenden, dichterisch wertvollen Gedanken ablenken. Lara hatte das undicht gewordene Spielzeug nicht mehr brauchen können und vermachte es unter gewissen Auflagen ihrem schreibenden Onkel. Rechts von der Maus dampft schon griffbereit die angenehm duftende Tasse Hagebuttentee und wartet nur darauf, ihren unterstützenden Beitrag zur Entwicklung wohlformulierter, künstlerisch überaus anspruchsvoller Eingebungen zu leisten.
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Nun rückt er sich den Stuhl unter dem Hintern zurecht, setzt sich mit einer weit ausholenden Geste erwartungsvoll hin und überprüft die Position der Tastatur, die sich genau auf Armlänge vor ihm im Panoramaformat ausbreitet. Ja, so ist es ideal! Mit einem elegant gesetzten Doppelklick öffnet er eine neue Worddatei im umlautfrei bezeichneten Ordner namens „Neue Entwuerfe“ und betrachtet zufrieden die blendend weisse Oberfläche, die sich so einladend auf dem picobello aufgeräumten Bildschirm vor seinen Augen ausbreitet.
Einem Klaviervirtuosen nicht unähnlich setzt der gefeierte Autor seine zartgliedrigen Hände auf die Tastatur, voller Erwartung, dass seine gewohnte Kreativität nun anspringen werde, was wiederum entsprechend sinnhafte Aktionsbefehle an seine zehn („Finger“ genannten) Ausführungsorgane auslösen würde. Noch ruhen acht seiner Aktionskünstler angespannt auf den Buchstaben A, E, R, N, I, O, K und Shift, während seine beiden Daumen symmetrisch auf der Pausentaste sitzen und bereitstehen, die erforderlichen Abstände zwischen den sogleich purzelnden, goldenen Worten des Meisters zu setzen.
Aber… aber es will einfach nichts purzeln.
„Was ist nur mit mir los?“ fragt sich der sichtlich verunsicherte Grafomane, der ganz überrascht ist vom nicht-einsetzen-wollenden Schreibschwall. „Das gibt’s doch nicht!“ murmelt er leise in sich hinein, „jetzt fällt mir gerade nichts ein. Ein wahrhaft ungewöhnliches Ereignis…“, denkt es in ihm in seiner gewohnt gepflegten Sprachmelodie und mit einem leisen Anflug von Beunruhigung.
Glücklicherweise ist bis zur Verzweiflung noch ein langer Weg, eine Zeitstrecke, die noch mancherlei Chancen auf eine interessante Wortfindung offenlässt. Wenn nur ein solches, wohlformuliertes, erlösendes Wort aufkommen könnte! Nur eines, welches das Potenzial in sich trägt, zu einer netten, kleinen Kurzgeschichte ausgewalzt zu werden. Ein anspruchsvolles, gerne auch ein wenig geheimnisvolles Wort wie „Hypertrophie“, oder „Hypotenuse“ zum Beispiel, oder gar „Hüttenkäse“, letzteres ein klassischer Anknüpfungspunkt für ganzheitliche, gesundheits- und ernährungsrelevante Ausführungen. Aber der einzige Begriff, der ihm jetzt aufkommt, ist nur: „Schreibblockade“, nichts Anderes. Und dazu fällt ihm partout nichts Verwendbares ein. Es liegt nun mal in der Natur der Sache.
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Nun verharrt er eine Weile inständig hoffend, dass irgendein halbwegs lustiger Gedankensplitter in seiner Phantasie aufkommt. Aber es kommt nichts. Nicht einmal irgendein plumpes Slapstick-Szenario, das er, wie gewohnt, bis auf viereinhalb Seiten ausführlich beschreibend ausdehnen könnte. Nein, es kommt immer noch nichts. Er steckt in einer veritablen Schreibblockade.
Mit gesenktem Blick schaut er auf die vor seiner Nase breit ausgelegte Tastatur, deren mit weissen grossbuchstaben bezeichnete Würfelchen herausfordernd auf den erlösenden Andruck warten. Sie harren jener erlösenden Bewegung, die sie, ihrem Bestimmungszweck entsprechend, zu einer mit Klickgeräuschen untermalten Choreographie verleitet, bei der dann lesenswerte Prosa entsteht. Deren Endergebnis wiederum sollte sich simultan auf der hell leuchtenden Oberfläche, direkt über den erwartungsvoll wartenden, kleinen Quadratschädeln ausbreiten. Doch nichts dergleichen geschieht. Er hat immer noch diese verdammte Schreibblockade.
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Verärgert sucht der ratlose Autor im mehrzeiligen Arrangement der besagten Tasten nach einer wegweisenden Botschaft, nach irgendeinem versteckten Hinweis, der zu einer sinnvollen, gleichgültig wie gearteten Phrase, führen würde. Wenigstens einen einleitenden Nebensatz, oder seinetwegen auch nur ein einziges, weiterführendes Wort.
Und dann passiert es! Es dämmert ihm plötzlich: „Oh ja, das ist es!“. Man muss nur genau hinsehen, da steht es weiss auf schwarz; links oben prangt das rettende Wort, zusammengesetzt aus den sechs ersten Tasten der obersten Buchstabenzeile: „QWERTZ“.
Erstaunlich, dass ihm das noch nie vorher aufgefallen war! „Qwertz“ ist ein Begriff, mit dem ein geübter Romancier etwas anfangen kann. „Qwertz ist Trumpf und Trumpf ist Qwertz!“. Das muss einmal klar gesagt und geschrieben werden.
Nun also, will er einen neuen Text auf „Qwertz“ aufbauen. Das Wort ist gut und noch nicht abgegriffen, da kaum benutzt. Trotz seiner scheinbaren Künstlichkeit existiert er sehr wohl im Wortschatz gebildeter Kulturmenschen, und zwar als namensgebende Variante der üblichen, deutschsprachigen Schreibmaschinen-Tastatur. Sachkundig sprechen Eingeweihte davon, ganz im Gegensatz zur Qwerty-Tastatur, die ausserhalb der deutschsprachigen Welt üblich ist und keinerlei literarisch verwertbare Assoziationen hervorzurufen vermag. Nur muss der findige Autor den Quertz-Begriff in einen wohlklingenden, sinnvollen Text giessen, was auch wieder nicht so einfach ist. Aber er müsste es hinkriegen, schliesslich ist er ein anerkannter Meister skurriler Phantastereien, und seine Neuentdeckung scheint als Ausgangspunkt einer neuen Geschichte brauchbar und obendrein originell zu sein.
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Und das geht dann so, dass er sich zunächst fragt: „Was will der geneigte Leser eigentlich von mir lesen?“. Und prompt gibt er sich selber die passende Antwort, die auch die meisten Fachleute geben würden: „Sex and Crime“. Erotisches mit einer Prise Gewaltanwendung. Das ist, was am meisten zieht.
„Also gut“, sagt er zu sich, dabei neue Hoffnung schöpfend, „versuchen wir mal aus diesem Qwertz eine prickelnde Kurzgeschichte mit erotischen Gewaltelementen rauszukitzeln“. Dann schreitet er zur Tat.
Teil 2 – Die Ausführung
Ort der Handlung: Dieser könnte praktischerweise ein abgelegenes Forsthaus sein, denn die Einsamkeit des Waldes kann den potenziellen Täter (vorzugsweise einen enthemmten Sittenstrolch mit unverarbeitetem Mutterkomplex) durchaus dazu verleiten, eine unsittliche Tat zu begehen – womit er erwartungsgemäss zur literarischen Entspannung des Lesers beitragen würde.
Personen: Für das hieraus entstehende erotomanische Drama genügen zwei erwachsene Figuren, mehr ist vorderhand auch nicht nötig, um eine qwertzinduzierte Liebesgeschichte mit milder, das heisst mit einer künstlerisch gerade noch verträglichen Gewaltdarstellung zu verfassen.
Die zwei Protagonisten seiner sich vor dem inneren Auge sogleich entfaltenden Geschichte sind:
– ein Jagdaufseher, namentlich Alois Mösenlechner
– eine Jägerin, mit vollem Namen Jolande Anastasia Van der Qwertz
Ausgangssituation: Jolande und Alois, die beiden heimlichtuenden Liebenden, haben sich für ein entspanntes Wochenende in dieses Forsthaus zurückgezogen, allerdings mit jeweils nicht ganz übereinstimmenden Hauptanliegen: Die Jägerin will Wild erlegen (das wäre das blutige Gewaltmotiv), während der Förster es vor allem auf die hübsche Jägerin selber abgesehen hat, und dieselbe nach seinen Vorstellungen „erlegen“ will (das ist das Erotikmotiv). Letzteres möglichst bald und nach allen Regeln der Jagdkunst. Er weiss auch schon wo: Direkt auf dem Bärenfell vor dem lodernden Kaminfeuer, versteht sich. Als der Sittenstrolch, der er nun mal ist, will Alois sich weder mit einleitendem intellektuellem Geschwafel aufhalten, noch hat er die Geduld, die ewig lang scheinende Reihe von Knöpfen am Wams der in voller Jagdmontur vor ihm stehenden Jolande aufzuknöpfen. Diese erwartet hingegen eine gepflegte Unterhaltung und erwägt erst hinterher zu techteln und vielleicht auch noch ein wenig zu mechteln, aber der brunftige Mösenlechner Alois ist nicht mal nach weidmannstechnischer Fachsimpelei zumute.
* * *
1. Akt, der Plot: Alois greift kurzerhand nach seinem Jagdmesser und schlitzt das Gewand der überrumpelten Van der Qwertzin mit einem einzigen, schwungvollen Sichelschnitt auf. Aus dem klaffenden Kleidungsstück quellen Jolandes bis dahin fest verzurrte, üppige Jagdtrophäen hervor, so prall und formschön, wie sie sich der erregt hechelnde Liebhaber nicht einmal in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte. Und von gewaltigen Dingen träumen, die er bei opulenter Schürzenjagd erlegen würde, das kann der Alois ohne Zweifel.
Und schon entrollt sich vor unseren Augen das vor erotischer Spannung aufgeladene Drama. Noch ahnt der Leser nicht, wie das alles mit dem ominösen Qwertz zusammenhängt. Der Autor übrigens auch nicht. Aber es wird sich schon weisen.
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Also zunächst mal packt der entflammte Jagdaufseher die nicht ganz unwillige Jägerin, die sich anstandshalber noch ein wenig ziert, aber dann nachgibt, da sie den überlegenen Körperkräften des Bärtigen ohnehin nicht standhalten kann. Wozu also das Unausweichliche unnötig hinauszögern, wenn dieses doch auch für sie Elemente lustvoller Erquickung beinhalten wird? Eng umschlungen wälzen sich die beiden eine Weile auf dem vernehmbar qwertzenden Bretterboden.
„Qwertz, qwertz“ knirschen die rohen Planken im monotonen Rhythmus seiner kräftigen Lendenstösse, bis er – und jetzt kommt der Höhepunkt – halb aufgerichtet den Brunftschrei eines röhrenden Hirsches ausstösst, und sie wiederum mit verkrampften Fingern sich in seinen schweissnassen Rücken krallt. Nach einem kleinen, innig zitternden Moment entspannt er sich mit einem Anflug von Erleichterung, und unter einem letzten, langgezogenen Qweeeeertz, welcher aus den staubigen Bodenbrettern erknarzt, dreht sich Alois auf den Rücken und bleibt verzückt liegen. In dramaturgischer Hinsicht handelt es sich hierbei bereits im ersten Akt um einen komplett vollzogenen ersten Akt. Später werden noch mehrere folgen, aber das überlässt der routinierte Dramatiker besser der Phantasie des Lesers.
Jolande Van der Qwertz muss nach einer angemessenen Verschnaufpause ins angrenzende und nach allerlei herben Waldbeeren-Seifen duftende Badezimmer gehen, um sich nach dem schweisstreibenden Liebesakt ein wenig aufzufrischen.
Denn jetzt ist sie an der Reihe, ihren Willen durchzusetzen. Vielen Leserinnen wird dieser feministische Ansatz gefallen und sie bei der Stange halten. Also macht sich Jolande nun für eine kleine Jagdpartie zurecht. Sie rasiert sich sorgfältig die Beine, die einem jungen Rehlein gleichen (nicht ganz so schlank, aber ebenso behaart), zupft sich die Augenbrauen, pudert sich die Schultern und lässt die Wangen mit etwas Mascara erröten. Wohl erfrischt und behände hüpft sie in die Ankleide, um sich in passende Jagdmontur zu werfen.
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2. Akt: Immer noch der gleiche Plot, aber mit Szenenwechsel vor der Jagdhütte: Nun erscheint in der Eingangstür der inzwischen ebenfalls adrett aufgemachte und gründlich befriedigt wirkende Förster. Dem feschen Alois folgt Jolande, die immer noch rotglühende Wangen aufweist. Sie verlassen unauffällig ihr heimeliges Liebesnest und dringen tief ins Dickicht des Waldes ein. Sie hat sich einen kecken, eleganten Qwertzhut mit Fasanenfedern aufgesetzt, während er höflichkeitshalber ihren schweren, doppelläufigen und mit silbernen Intarsien geschmackvoll dekorierten Bärentöter trägt. Während unterwegs die Beiden schon wieder oberflächliche Zärtlichkeiten austauschen, überprüft Jolande nebenbei ihre Munitionsvorräte und die Tuben mit Gleitcrème (sie reichen für mindestens vier weitere Akte).
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Sie gehen zu jenem Hochsitz, von welchem unser liebestoller Forstaufseher, im Rahmen seiner beruflichen Forstaufsichtspflichten, den Wald zu betrachten pflegt. Da kennt er sich aus und verspricht Jolande reiche Jagdausbeute. Dort oben richten sie sich erstmal häuslich ein, denn es dürfte etwas länger dauern, bis sich argloses Wild zeigen würde – das weiss er nur zu gut aus langjähriger Erfahrung. Die zwei Turteltäubchen werden sich selbstverständlich die Zeit mit jagdtechnischer Fachsimpelei und gelegentlichen, akrobatisch anmutenden Liebesakten vertreiben. Sowohl die engen Platzverhältnisse als auch die dramaturgischen Erfordernisse zwingen sie nun mal dazu.
Jolande setzt den gut dotierten Picknickkorb in eine Ecke, entnimmt ihm eine Flasche Waldmeistergeist und schenkt ihm und sich selber vom Zielwasser ein. Alois legt fürsorglich die Flinte für seine Jägerin zurecht, damit sie das zu erwartende Wild gebührend in Empfang nehmen kann (das Gewaltmotiv kündigt sich hier schon wieder an. Hoffentlich bemerkt der kundige Leser die raffinierte Verschachtelung der beiden Grundmotive).
3. Akt, der Höhepunkt: Siehe da, wie bestellt trottet eine junge und – weil noch unerfahren – eine besonders arglose Waldschnepfe in die Lichtung, direkt vor die Flinte der zunehmend erregten Jägermeisterin. Der ahnungslose Vogel pickt hier und da einen Samen aus den herumliegenden Tannenzapfen und ahnt nicht, in welcher Lebensgefahr er sich bereits befindet. Im Gegenteil, fröhlich gurrt die Schnepfe vor sich hin, dabei eindeutige Qwertz-Laute von sich gebend. Das bedeutet in der recht monotonen Sprache der Waldschnepfen so viel wie „Ach wie fein!“, manchmal aber auch „Hab’ ich aber ein Glück heute!“. Zu mehr reicht ihr Wortschatz nicht aus. Dabei bezieht sie sich auf die Körner, die reichlich vor ihr verstreut herumliegen. „Qwe-, qwe-, qwe-, qwertz, qwertz, qweeeeeertz“, kommentiert sehr zutreffend das naive Tier die reichhaltige Auslage vor ihrem Schnabel. Dabei merkt sie in ihrer tumben, schnepfischen Selbstzufriedenheit nicht, wie es plötzlich knallt. Es macht „Peng!“ – und nach einem dumpfen Schlag ist nur noch Stille. Und Dunkelheit.
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Schnell verklingt im dichten Laubwald der Nachhall des perfekt gesetzten Blattschusses, der mittig zwischen die erstaunt angehobenen Augenbrauen des glücklosen Vogels sass. Nur einige aufgewirbelte Schwanzfedern der bereits leblos darniederliegenden Jungschnepfe schweben sanft aufs Gras der Lichtung hernieder.
„Na also!“, sagt die zufrieden nickende Jägerin zu ihrem Begleiter.
„Na also!“ sagt sich der erleichtert wirkende Satiriker und setzt hinter seine Kurzgeschichte einen demonstrativen Schlusspunkt: Punkt. ♦
Glossar der Fachausdrücke und Neologismen
Dichtungsambiente (Subst.) – zweideutiger Begriff:
a) spezielle Rahmenbedingungen, unter denen ein talentierter Dichter seiner schöpferischen Arbeit nachgehen kann
b) ungünstige Begleitumstände, unter denen tropfende Wasserleitungen repariert werden
erknarzen (Verb): das Erschallen lassen eines deutlich vernehmbaren, rhythmischen Knarzgeräusches, der mittels Reibung zwischen trockenen Holzdielen entsteht
Grafomane (Subst.): proliferativer Schreiberling unernster Prosatexte, die er in grosser Menge erzeugt, obwohl sich dafür kein Schwein interessiert
picobello (Adj. Ital.): absolut sauber, makellos. So wie die Piazza San Marco
Qwerty (Subst.): im englischen Sprachraum verbreitete, ursprüngliche Belegung von Schreibmaschinen-Tastaturen
Qwertz (Subst.): die im deutschen Sprachraum übliche Tastenbelegung
Qwertzhut (Subst.): Modischer Frauenhut aus grünem Filz mit waldtypischen Dekorationselementen wie Moosbrocken, Fliegenpilzen und Fasanenfedern. Der Q. wird vorzugsweise von jungen Jägerinnen und Jagdaufseherinnen aufgesetzt, welche – beim Blasen des Jagdhorns – diesen typischerweise qwertz statt längs stellen, um besser an das Mundstück heranzukommen.
Schreibblockade (Subst. Psy.): sehr ärgerlicher, anfallsweise eintretender Zustand, der v.a. Autoren befällt, währenddessen sie nichts Lesenswertes erzeugen können. Eine Überwindung der S. ist nur durch aus dem heiteren Himmel kommende Eingebungen möglich
Schreibschwall (Subst.): Graphorrhö (griech.), i.d.R. das Gegenteil von Schreibblockade (siehe dort)
schnepfisch (Adj.): dumpf, treudoof und ingnorant, eben nach der bekannten Art von tierisch-naiven Waldschnepfen
umlautfrei (Adj.): korrekt ausgesprochene, aber ohne Umlaute niedergeschriebene Woerter wie z.B. „Fruechte“ oder „Oebst“
Geb. 1956 in Grosswardein (Rumänien), 1970 Emigration nach Deutschland, Medizinstudium in Frankfurt/Main, seit 1987 Anästhesist am Universitätsspital Zürich und Dozent für Anästhesiologie, schreibt kulturhistorische Essays und humoristische Kurzprosa, lebt in Feldmeilen/CH
Wie können Menschen sicher die Strasse überqueren, während sie den Gegenverkehr hören? Wie können sie zu neuer Musik tanzen oder Team-Synchronisierungen wie z.B. beim Rudern durchführen? Kurz: Wie koordinieren Menschen ihre Handlungen mit den Geräuschen, die sie hören? Die auditiv-motorische Synchronisation ist Gegenstand einer Studie unter der Leitung von Forschern an der kalifornischen McGill University um Caroline Palmer. Sie wirft ein neues Licht darauf, wie auditorische Wahrnehmung und motorische Prozesse zusammenwirken.
Takthalten – mehr als nur Bewegung oder gutes Zuhören
Musik-Neurologische Forschung mittels Elektroenzephalografie: Messung von Gehirnströmen bei kognitiv-motorischen Prozessen
In einem kürzlich im Journal of Cognitive Neuroscience erschienenen Artikel konnten die Forscher unter der Leitung von Caroline Palmer, einer Professorin der McGill-Abteilung für Psychologie, neuronale Marker der Schlagwahrnehmung von Musikern identifizieren. Überraschenderweise entsprachen diese Marker nicht der Fähigkeit des Musikers, einen Schlag zu hören oder zu produzieren – nur seiner Fähigkeit, sich mit ihm zu synchronisieren.
„Die Autoren sind als ausführende Musiker mit musikalischen Situationen vertraut, in denen ein Interpret nicht korrekt im Takt mit seinen Mitspielern ausgerichtet ist. Daher waren wir daran interessiert zu untersuchen, wie das Gehirn eines Musikers auf Rhythmen reagiert. Es könnte sein, dass manche Menschen bessere Musiker sind, weil sie anders zuhören, oder es könnte sein, dass sie ihren Körper anders bewegen“, erklärt die kanadische Neurowissenschaftlerin Palmer, verantwortliche Autorin des Artikels.
„Wir fanden heraus, dass die Antwort eine Übereinstimmung zwischen dem Pulsieren oder den Schwingungen in den Hirnrhythmen und dem Pulsieren des musikalischen Rhythmus war. Es geht nicht nur um Zuhören oder um Bewegung. Es ist eine Verbindung des Gehirnrhythmus‘ mit dem Hörrhythmus.“
Neuronale Marker bei der Schlag-Wahrnehmung
Die Forscher benutzten die Elektroenzephalographie – bei EEGs werden Elektroden auf die Kopfhaut gelegt, um die elektrische Aktivität im Gehirn zu messen -, um die Hirnaktivität zu messen, während die Teilnehmer des Experiments, allesamt erfahrene Musiker, ihr Klopfen mit einer Reihe von musikalischen Rhythmen synchronisierten, die sie hörten. Auf diese Weise waren sie in der Lage, neuronale Marker der Schlagwahrnehmung bei Musikern zu identifizieren, die ihrer Fähigkeit, gut zu synchronisieren, entsprachen.
„Ob jeder gleich so gut wie ein Schlagzeuger werden könnte, ist noch nicht klar…“
„Wir waren überrascht, dass selbst hochtrainierte Musiker manchmal eine verminderte Fähigkeit zur Synchronisation mit komplexen Rhythmen zeigten, und dass sich dies in ihren EEGs widerspiegelte“, sagten die Co-Erstautoren Brian Mathias und Anna Zamm, beide Doktoranden im Palmer-Labor. „Die meisten Musiker sind gute Synchronisierer; dennoch war dieses Signal empfindlich genug, um die ‚guten‘ von den ‚besseren‘ oder ‚Super-Synchronisierern‘, wie wir sie manchmal nennen, zu unterscheiden“.
Synchronisierung kann trainiert werden
Die amerikanische Musik-Psychologin und Neurowissenschaftlerin Dr. Caroline Palmer
Es ist nicht klar, ob jemand ein solcher ‚Super-Synchronisierer‘ werden kann, aber laut Caroline Palmer ist es vielleicht möglich, die Fähigkeit zur Synchronisierung zu verbessern. „Die Bandbreite der von uns untersuchten Musiker lässt vermuten, dass die Antwort ‚ja‘ lauten würde. Ermutigend ist auch die Tatsache, dass nur 2-3 Prozent der Bevölkerung ‚gehörlos schlagen‘. Das Üben verbessert definitiv ihre Fähigkeit und verbessert die Ausrichtung der Hirnrhythmen auf die musikalischen Rhythmen. Aber ob jeder gleich so gut wie ein Schlagzeuger werden könnte, ist noch nicht klar…“ ♦
Graham Burgess präsentiert mit „An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire“ in umfangreichen und detaillierten Varianten ein Eröffnungs-Repertoire mit der Fokussierung auf sehr wenige Systeme. Damit soll dem unerfahrenen Spieler ein schadloses Überstehen der ersten Partiephase garantiert werden. Zielführend ist dieser Ansatz nur, wenn sich der Leser auf das Erlernen sehr konkreter Zugfolgen einlässt, statt allgemeinen Prinzipien zu vertrauen…
Um es vorweg zu nehmen: Ich schätze den englischen FIDE-Meister Graham Burgess als Schach-Autor vor allem für den Trainingswert seiner Bücher, insbesondere auch die zuletzt erschienenen Eröffnungslehrbücher „for kids“. Letztere habe ich trotz der Sprachbarriere meinen Schülern empfohlen.
Auswendiglernen von Theorie?
Burgess‘ neuestes Werk hinterlässt mich nun allerdings ratlos bis enttäuscht, und sei es nur, weil der Titel eine Erwartungshaltung weckt, die es nicht erfüllen kann.
Ich hätte erwartet, Richtlinien zu erhalten, anhand derer ein Spieler am Beginn seiner Laufbahn – also mit wenig Erfahrung und entsprechend noch entwicklungsfähiger Spielstärke – die Klippen der ersten Partiephase umschifft. Ich bin mir sicher, dass es dafür auch einen „idiot proof“ Weg gibt, doch besteht dieser sicher nicht im Auswendiglernen ausgefeilter Theorievarianten.
Dieser Weg könnte etwa folgende Elemente umfassen:
• Beherzige die allgemeinen Eröffnungsprinzipien (Figurenentwicklung, Königssicherheit, Zentrumsbeherrschung) und die dafür gegebenen Empfehlungen (jede Figur nur einmal ziehen, Rochade hinter sichere Bauernkette, wenig Bauernzüge in der Eröffnung)
• Erkenne rechtzeitig die wichtigsten taktischen Motive, auf denen die oft überschätzten Eröffnungsfallen beruhen (Opfermotive auf f7 oder h7, Fesselungen, Doppelangriffe,…)
• Mit wachsender Erfahrung und Spielstärke erkennst du die Besonderheiten von Zentrumsformen und Bauernstrukturen und richtest dein Eröffnungsspiel darauf aus.
Limitieres Programm mit klaren Zugfolgen
Produktiv und vielbeachtet: Schach-Autor Graham Burgess
Was bekommt die „Idiot-Proof“-Zielgruppe nun bei Burgess geboten? Er bleibt dem Repertoiregedanken treu und orientiert auf ein sehr limitiertes Programm aus klar vorgegebenen Zugfolgen:
• Mit Schwarz spielen wir gegen e2-e4 immer Skandinavisch und in der Folge die Modevariante 1.e4 d5 2.exd5 Dxd5 3.Sc3 Dd6
• Gegen d2-d4 spielen wir Slawisch, allerdings eingegrenzt auf die Variante 1.d4 d5 2.c4 dxc4 3.Sf3 c6 4.e3 Le6
• Gegen c2-c4 antworten wir symmetrisch mit c7-c5
• Gegen Sg1-f3 spielen wir d7-d5
• Mit Weiss spielen wir im ersten Zug immer c2-c4 und in der Folge sobald wie möglich ein Königsfianchetto mit g2-g3 und Lf1-g2
Damit wird doch sehr viel Schach ausgeblendet und die Sicht sehr verengt. Vor allem die offenen und halboffenen (ausser Skandinavisch) Spiele kommen gar nicht vor. Gerade mit diesen Eröffnungen wird aber jeder Schacheinsteiger zuerst konfrontiert, und gerade die dort lauernden taktischen und strategischen Motive bilden ein Grundwissen, ohne dass man keine dauerhafte Freude am Schach haben wird.
Knappe Text-Anmerkungen
Leseprobe aus „An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire“
Man könnte die Einengung des schachlichen Blickfeldes rechtfertigen, wenn das so verbleibende Eröffnungsrepertoire ausführlich und eben „idiot-proof“ erklärt würde. Doch leider sind auch die textlichen Anmerkungen zu knapp gehalten, um die Zielgruppe adäquat anzusprechen. Den Versuch, dies zu leisten, möchte ich Burgess nicht absprechen, doch die Variantenfülle lässt dafür keinen ausreichenden Raum.
Mit dem Stichwort „Variantenfülle“ sind wir beim nächsten Aspekt: Der Leser bekommt nichts anderes geboten als in einer gediegenen Eröffnungsmonographie. Nach der Kurzvorstellung des Repertoires folgen 180 Seiten mit zweispaltig engbedrucktem Varianten-Dschungel. Bis zu vier Diagramme pro Seite erleichtern die Orientierung etwas. Ein erfahrener Spieler wird sich zurechtfinden. Der Einsteiger wird von seinem möglicherweise ersten detaillierten Eröffnungsbuch eher abgeschreckt. Da hilft auch die systematische Gliederung bis hinunter zu Strukturen wie „Kapitel 8 – Abschnitt F2.2.1 – 5. Zug von Schwarz – Variante a.2.2“ nicht wirklich.
Für den erwartungsfrohen Einsteiger bleibt die ernüchternde Erkenntnis „Wenn ich schon für dieses schmalspurige Repertoire 180 Seiten Varianten lernen soll, ist dann Eröffnungsstudium überhaupt sinnvoll?“
Die vorstehende Kritik begründet sich ausschliesslich aus dem Ansatz von Burgess‘ Werk. Wer diesen Ansatz mitgehen möchte, der wird zu einem gänzlich anderen Fazit kommen und das Buch in höchsten Tönen loben – und auch dieses Urteil wäre gerechtfertigt.
Die vorgelegten Varianten decken das empfohlene Repertoire komplett ab. Vor Überraschungen wird der Leser weitgehend sicher sein – wenn er denn alles verstanden und verinnerlicht hat. Dass ihm grosse Teile der Schachwelt zunächst verborgen bleiben, merkt er erst nach und nach. Dann hat er hoffentlich eine Spielstärke erreicht, die auch risikolos den Blick über den Tellerrand des Burgess-Repertoires erlaubt. Insofern gleicht unser Buch einem Reiseführer, der nur zu den touristischen Highlights führt und die reizvollen Nebenstrassen einer späteren Tour vorbehält.
Schachlich fundierte Varianten
Häufigste Variante in der Praxis, Nebenvariante im Buch: Der Springerzug Sf6 nach 1. c4
Ausser Zweifel steht, dass alle Varianten schachlich fundiert und sicher auch computergeprüft sind. Das Partiematerial ist aktuell. Bei der Gewichtung der Varianten wird sich Burgess Gedanken gemacht haben, die sich an seinem Gesamtkonzept orientieren. Dennoch wäre auch hier ein Blick auf die „idiot-proof“-Zielgruppe hilfreich. Die Folge 1.c4 Sf6 kommt nur als Nebenvariante auf neun Seiten vor – vor allem mit dem Hinweis auf Überleitungen in bereits behandelte Systeme. In der Praxis ist aber (laut Megabase) der Springerzug die häufigste Antwort auf 1.c2-c4. Dem fortgeschrittenen Spieler werden die Überleitungen schnell klar sein, der unerfahrene Amateur könnte schon im ersten Zug irritiert dreinblicken.
Layout und Aufbau kennt man von vielen Büchern des Gambit-Verlages. Dieser hat hier eine Norm gesetzt, die man unbewusst mittlerweile auch für Werke anderer Verlage zum Massstab nimmt.
Allerdings wird dabei konsequent auf modernere Mittel der Visualisierung von Ideen verzichtet. Dem kann man sich aber kaum noch entziehen, denn gerade Eröffnungsmonographien geraten in eine Nische, in der sie bestenfalls als Nachschlagewerk überdauern können. Interaktive Formate, computergestützte Analysen, Video-Präsentationen und ähnliche Angebote laufen ihnen zunehmend den Rang ab. ♦
With „An Idiot-Proof Chess Opening Repertoire“ Graham Burgess presents in extensive and detailed variations an opening repertoire with the focus on very few systems. This should guarantee the inexperienced player a harmless survival of the first game phase. This approach is only effective if the reader is willing to learn very concrete moves instead of trusting general principles…
To anticipate: I esteem the English FIDE master Graham Burgess as chess author especially for the training value of his books, especially also the recently published opening textbooks „for kids“. I have recommended the latter to my students despite the language barrier.
Memorizing theory?
Burgess‘ latest work, however, leaves me helpless to disappointed, if only because the title arouses an expectation, which it cannot fulfil.
I would have expected to be given guidelines to help a player at the beginning of his career – i.e. with little experience and a correspondingly still developable playing strength – to avoid the pitfalls of the first phase of the game. I am sure that there is an „idiot proof“ way to do this, but it certainly does not consist of memorizing sophisticated theory variations.
This path could include the following elements:
– Keep the general opening principles (figure development, king safety, center control) and the recommendations given for them (move each figure only once, castling behind safe pawn chain, few pawn moves in the opening)
– Recognize in time the most important tactical motives on which the often overestimated opening traps are based (sacrificial motives on f7 or h7, bondage, double attacks, …)
– With growing experience and playing strength you will recognize the special features of center forms and pawn structures and adjust your opening game accordingly.
Limited program with clear move sequences
What does the „Idiot-Proof“ target group now get at Burgess? He remains true to the repertoire idea and focuses on a very limited program of clearly defined moves:
– With Black we always play against e2-e4 Scandinavian and in the following the fashion variant 1.e4 d5 2.exd5 Dxd5 3.Sc3 Dd6
– Against d2-d4 we play Slavic, but limited to the variant 1.d4 d5 2.c4 dxc4 3.Sf3 c6 4.e3 Le6
– Against c2-c4 we answer symmetrically with c7-c5
– Against Sg1-f3 we play d7-d5
– With white we always play c2-c4 in the first move and then as soon as possible a king fianchetto with g2-g3 and Lf1-g2
With this a lot of chess is hidden and the view is very narrow. Especially the open and half-open (except Scandinavian) games do not occur at all. However, it is precisely with these openings that every chess beginner is confronted first, and it is precisely the tactical and strategic motives lurking there that form a basic knowledge, without which one will not have lasting enjoyment of chess.
Short text notes
One could justify the restriction of the chess field of view, if the remaining opening repertoire would be explained in detail and just „idiot-proof“. Unfortunately, however, the textual comments are too brief to adequately address the target group. I don’t want to deny Burgess the attempt to achieve this, but the wealth of variations does not leave enough room for this.
The keyword „wealth of variants“ brings us to the next aspect: the reader is offered nothing but a solid opening monograph. The short introduction to the repertoire is followed by 180 pages with a jungle of variants printed in two columns. Up to four diagrams per page make orientation somewhat easier. An experienced player will find his way around. The beginner is rather deterred by his possibly first detailed opening book. Even the systematic outline down to structures like „Chapter 8 – Section F2.2.1 – 5th move of Black – Variant a.2.2“ does not really help.
For the expectant beginner, the sobering realization „If I am to learn 180 pages of variations for this narrow repertoire, is it at all useful to study the opening section?
No surprises for the reader
The above criticism is based exclusively on the approach of Burgess‘ work. Anyone who wants to follow this approach will come to a completely different conclusion and praise the book in the highest possible terms – and this judgment would also be justified.
The presented variants cover the recommended repertoire completely. The reader will be largely safe from surprises – once he has understood and internalized everything. That large parts of the chess world remain hidden to him at first, he will only gradually notice. Then he will hopefully have reached a level of playing strength, which allows him to look beyond the edge of his nose of the Burgess repertoire without any risk. In this respect our book resembles a travel guide, which only leads to the tourist highlights and reserves the charming side streets for a later tour.
Chess based variations
There is no doubt that all variants are chess well-founded and certainly computer-tested. The game material is up-to-date. Burgess will have thought about the weighting of the variants, which are based on his overall concept. Nevertheless, a look at the „idiot-proof“ target group would also be helpful here. Episode 1.c4 Sf6 appears only as a secondary variant on nine pages – mainly with the reference to transitions to systems already covered. In practice, however, (according to Megabase) the Springer move is the most common answer to 1.c2-c4. The advanced player will quickly understand the transitions, the inexperienced amateur might already look irritated in the first move.
Excellent layout design
Layout and structure are familiar from many books published by Gambit Verlag. They have set a standard here, which is now unconsciously used as a benchmark for the works of other publishers as well.
However, they consistently avoid modern means of visualizing ideas. One can hardly escape this, however, because opening monographs in particular find a niche in which they can at best survive as reference works. Interactive formats, computer-aided analysis, video presentations and similar offerings are increasingly outstripping them. ♦ (Pictures and links are at the top of the German text)
Paris. Ein eisiger Januartag des Jahres 1855. Der im Exil lebende Literat Heinrich Heine gibt seinem stets mit einem Hummer an der Leine wandelnden Dichterkollegen Gérard de Nerval fünf Francs und bittet ihn, am Quai des Gesvres nebst einer Flasche Chablis und einer Schale Schalottenragout zwei Dutzend Austern zu besorgen. Beide sind unheilbar krank, bereits vom Tode gezeichnet. – So skizziert im Kapitel „Die Henkersmahlzeit“ der Schriftsteller Henning Boëtius in seinem grandiosen neuen Roman „Der weisse Abgrund“ die letzten Lebensjahre des deutschen Dichterfürsten Heinrich Heine nach.
Nerval lebt und schläft unter Brücken, und Heines nur noch 30 Kilo wiegender Körper ist, von Krämpfen geplagt, zu schwach, um noch einmal ans Meer reisen zu können. Das Rauschen des Verkehrs auf der Balkonbrüstung seiner Wohnung in der Rue Matignon in der Nähe der Champs-Elysées muss ihm das Meeresrauschen ersetzen. Am Abend findet Mathilde ihren Henri in der Pfütze seines Erbrochenen. „Ich war am Meer“, ächzt der Kranke. Sein Arzt Dr. Gruby flösst ihm einen Cannabisextrakt ein und überbringt ihm die Nachricht vom Tod seines Freundes Nerval, der sich am Gitter eines Abwasserkanals an der Rue de la Vieille Lanterne aufgehängt hat.
Faszinierendes Panorama der Pariser Künstlerwelt
Diese kurze Zusammenfassung des bereits erwähnten Buchkapitels umreisst nur eine von 24 stilsicher zusammengefügten Episoden in Henning Boëtius‘ neuem Roman, in dem der nicht nur für seine hervorragenden belletristischen Biographien (Günter, Lenz, Lichtenberg und Rimbaud) bekannte Autor ein einzigartiges Porträt der letzten Lebensjahre des Heinrich Heine zeichnet, eingebettet in ein faszinierendes Panorama der Seine-Metropole.
Heinrich Heine’s Pariser Exil-Adresse Rue de Faubourg-Poissonnière 46 (heute 72), wo er fünf Jahre lang mit seiner Frau Mathilde Mirat wohnte
Boëtius erweist sich darin als ein kluger, präziser Beobachter, ein kenntnisreich aus einem breiten kulturellen Fundus schöpfender Erzähler, der Heines letzten Jahre im französischen Exil unmittelbar zum wieder zum Leben erweckt. Wir erleben direkt die zwischen hohem Kunstideal und frivoler Banalität zerrissene Pariser Künstlerwelt (u.a. mit Gustave Flaubert, der an einem Buch über die menschliche Dummheit arbeitet), in die sich Heine nahtlos einzufügen scheint, wenn er, vom Tode und einem ausschweifenden Leben gezeichnet, bis zuletzt an seinem Opus magnum, den „Memoiren“ arbeitet.
Überlebenskampf einer Künstlerseele
„Der weisse Abgrund“ schildert den tragischen Überlebenskampf einer sensiblen Künstlerseele, die längst an den harten Wirklichkeiten des unbarmherzigen Lebens in der Fremde gereift ist, nicht ohne ihren Tribut an die grausamen Realitäten des literarischen Marktes und das Leben in der Fremde bezahlt zu haben. Es sind Heines an Balzacs mahnende „Illusions perdues“ – Glanz und Elend einer ironisch gebrochenen, romantischen Seele, die das Leben seziert und genossen hat und dem Tod ins Auge blickt, dem „weissen Abgrund“. Rückblick und Porträt eines Lebemanns, der – zierlich gebaut und zugleich muskulös, mit seinen weichen, hellbraunen Haaren, seiner Männlichkeit von kindlicher Grazie – den Damen gefiel und bei den Dirnen sogar mütterliche Gefühle erweckt.
So steht der Roman mitten im Paris des 19. Jahrhunderts und seinen vor dem Hintergrund von Industrialisierung und Modernisierung (Baron Haussmanns Umgestaltung der Pariser Strassenzüge) um den Realismus kreisenden künstlerischen Fragen, die sich auch in der Malerei (Courbet) und Musik (Chopin, Berlioz) stellen, eingebettet in das amüsant, tiefgründig, aber auch augenzwinkernd ausgebreitete Liebesleben der zwischen Prostitution und „amour fou“ pendelnden Pariser Bohème.
Soirées und Matinées zum Leben erweckt
Boëtius erweckt die Soirées und Matinées der illustren Gesellschaft zum Leben, skizziert ihre Garderobe und rezitiert die grossartigen Vorträge der mal mehr, mal weniger tragisch karikierten Künstlerexistenzen (u.a. Baudelaire). Das ist das einfach grandios, nebenbei tiefsinnig und doch kurzweilig. Und so nebenbei erhält der Leser einen erstaunlichen Einblick in die für unsere Zeit äusserst befremdlichen, quasi mittelalterlich anmutenden Methoden und bedauerlichen, weil begrenzten Kenntnisse der Medizin. Da werden Abszesse aufgeschnitten, Körper mit Morphium eingerieben, Augenleiden mit Blutegeln behandelt. Und: Starb Heine nicht an einer Bleivergiftung? Fiel er einem Komplott, das an seinen Memoiren interessiert war, zum Opfer?
Geniale Verknüpfung von Werk und Zeit
Dichter, Spötter, Künstler, Bohèmien, Genie: Heinrich Heine (in einer zeitgenössischen Zeicnnung)
Höhepunkt ist jedoch zweifellos das Kapitel von Heinrich Heines Ableben. Das darf man schon genial nennen, wenn alle Haupt- und Randfiguren seiner Vita wie ein Panoptikum seines Lebens aufmarschieren, quasi als Spiegel des Lebens fungieren und dem Dichter in einer geahnten Aufwartung die letzte zweifelhafte Ehre erweisen. Das muss man gelesen haben.
Henning Boëtius‘ Heine-Roman ist ein rundum gelungener Versuch, das schillernde Leben dieses Dichters und Kritikers des Spiessertums – in genialer Verknüpfung mit seinem Werk und seiner Zeit – von vielen Seiten zu beleuchten und aus seiner Matratzengruft wiederauferstehen zu lassen. Während viele solcher Versuche oft in epischer Breite verebben, gelingt dem erfahrenen Autor eine sehr konzentrierte und amüsante Darstellung auf rund 190 Seiten. Davon hätte man gerne noch mehr gelesen. Grossartig! ♦
Undine, die Wasserfrau, Rusalka oder der Wassergeist… Wenn sie sich in einen Menschen verliebt und dieser die Liebe durch Untreue verrät, muss sie, der Sage nach, den Geliebten töten und selber wieder ins Wasser zurückkehren. Christian Petzold schuf mit „Undine“ einen Film über die Abgründe der Liebe, die nicht nur im Alltäglichen liegen, die viel tiefer, in der Unterwelt, in den Untiefen, in den alten Mythen liegen, in denen auch erträumte Wahrheiten stattfinden. Und er besetzt die beiden Hauptprotagonisten mit den Darstellern aus seinem erfolgreichen Film ‚Transit’.
Die heutige Undine ist bei Regisseur Christian Petzold eine junge Kunsthistorikerin, die öffentliche Vorträge über die Stadtentwicklung von Berlin hält. Wir erfahren sogar einige Fakten über die Rekonstruktion des Schlosses aus dem 17. Jahrhundert, wobei die Vergangenheit in die Gegenwart gehievt wird und damit, wie gesagt, echten Fortschritt unmöglich macht.
In der ersten Szene sehen wir Undine, der ihr bisheriger Freund mitteilt, er werde sie verlassen. Lange Einstellungen, fast wortlos, die Blicke sprechen für sich. Undine warnt ihren scheidenden Freund Johannes, sie müsse ihn töten, falls er sie verlässt, denn er hätte geschworen, sie bis ans Lebensende zu lieben. Da kommt die Sage ins Spiel, die schon von Friedrich de la Motte Fouqué, von Ingeborg Bachmann, in der Musik von Peter Tschaikowski oder von Antonín Dvořák aufgegriffen wurde.
Filmisch meisterhafte Magie
Das (Unter-)Wasser als Verbindungselement einer leidenschaftlichen Liebe im Film „Undine“ von Christian Petzold
Durch einen glücklichen Zufall trifft bei Petzold der Industrietaucher Christoph in einem Café die gerade verlassene Undine und er zerschlägt in seiner verliebten Zerstreutheit durch ein Missgeschick ein Aquarium, und von da an verbindet das Element Wasser die beiden mit einer leidenschaftlichen Liebe. Die Szenen, in denen realistische Begebenheiten des Alltag in Bildmagie umgewandelt werden, sind hier filmisch meisterhaft vom Kameramann Hans Fromm umgesetzt.
Spannend und sehr sinnlich entwickelt sich diese neue Liebe zwischen Undine und dem Industrietaucher. Das Element Wasser verbindet die beiden Liebenden auf eine schicksalhafte Weise, metaphorisch und real. Doch mit der Zeit ahnt Christoph, dass Undine ein Geheimnis trägt. Undine bestreitet dies, was sie später bereut, doch es wirkt sich schicksalhaft auf die Weiterentwicklung aus.
Unterschiedliche Liebesformen
Zur gleichen Zeit hat Christoph einen schweren Berufsunfall, und Christophs Assistentin Monika, die ihn schon lange heimlich liebt, erweist sich als seine treue Begleiterin. In Gestalt dieser beiden Frauen treffen zwei unterschiedliche Liebesformen aufeinander. Realistische und traumhafte Bilder im Wasser des Stausees wie auch auf dem Trockenen lassen uns dieses sich zuspitzende Liebesdrama nicht so schnell vergessen.
Glaubwürdige Schauspiel-Präsenz
Märchenhaftes, doch glaubwürdiges Liebesdrama: Regisseur Christian Petzold
Undine, verkörpert von Paula Beer, die man z.B. aus dem Film „Frantz“ von François Ozon, aber auch wie bereits erwähnt aus Petzolds „Transit“ kennt, dort auch bereits an der Seite von Franz Rogowski, der hier sehr glaubwürdig den feinfühligen Industrietaucher wiedergibt, sowie seine Taucherassistentin Monika, von Maryam Zaree dargestellt. Sie alle tragen durch ihre glaubwürdige Schauspielpräsenz zum Gelingen dieses Mythenstoffes bei, der ein Liebesdrama schildert, leidenschaftlich und glaubwürdig, trotz seiner Märchenhaftigkeit, an die heutige Zeit angepasst. Ein Film voller Zärtlichkeit und vielschichtiger Anspielungen an die Geheimnisse der Liebe. Spannend, sexy, tiefgründig und aufwühlend zugleich. ♦
Christian Petzold (Regie): Undine (2020) – Spielfilm 90 Min – Mit Paula Beer, Franz Rogowski, Maryam Zaree, Jacob Matschenz
Drei Schachhistoriker und -autoren haben sich zusammengetan, um die 92 sonntäglichen Feuilletons von Ignaz Kolisch – erschienen 1886-1888 in dessen eigener Wiener Allgemeinen Zeitung – in einem kompakten Band zu vereinen, der weit über die Schachwelt hinaus Interesse beanspruchen darf. Denn diese Feuilletons tangieren und reflektieren nahezu alle Bereiche der Gesellschaft und vermitteln in der ausgefeilten Prosa des Autors ein Zeit- und Sittengemälde Westeuropas aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Erneut darf sich der Rezensent mit einer schillernden Figur der Schachgeschichte befassen. Diesmal ist es jedoch alles andere als ein Enfant terrible (wie zuletzt Hein Donner), sondern das Multitalent Ignaz Kolisch (1837-1889), ab 1881 Baron Ignaz von Kolisch, der ein weithin nomadenhaftes Leben führte und seine Feuilletons unter dem Pseudonym Ideka publizierte.
Hilfreicher Fussnoten-Service
Der vorliegende Sammelband ist keineswegs eine reine Kompilation, denn die Herausgeber Fabrizio Zavatarelli, Luca D’Ambrosio und Michael Burghardt haben über 1100 erhellende Anmerkungen in Fussnoten hinzugefügt, um die Verständlichkeit der Texte für die heutige Leserschaft zu verbessern. Der hochgebildete und äusserst sprachgewandte Kolisch kultivierte nämlich nicht nur im gesprochenen, sondern auch im geschriebenen Wort die Vorliebe, seine Ausführungen mit fremdsprachigen Sentenzen anzureichern (in Latein, Französisch, Englisch, usw.). Sehr hilfreich ist auch die „Übersetzung“ von regional-zeitgenössischen Ausdrücken im Text, zudem wurden zahllose, heute meist unbekannte Personen recherchiert, die daselbst auftauchen.
Diversität ohne Schach-Fokus
Vom Schachmeister zum Finanzmogul: Ignaz Kolisch (1837-1889)
Die inhaltliche Mannigfaltigkeit der Beiträge wird bereits durch das Inhaltsverzeichnis angedeutet, dort erfolgt auch eine thematische Zuordnung, indem den einzelnen Feuilletons bestimmte Themenbereiche (wie Aktuelles, Finanzwelt, Kurzweiliges, Zeitgeschichte, etc.) zugewiesen werden. Lediglich in wenigen Fällen bilden zwei bis drei Feuilletons eine lockere Fortsetzungsgeschichte, ansonsten sind eigenständige Einzelepisoden die Regel. Das Buch lädt daher dazu ein, kreuz und quer zu lesen oder auch eine thematische Auswahl bei der Lektüre vorzunehmen. Dem Thema „Schach“ ist keine dominierende Rolle zugedacht, es taucht bei den 92 Feuilletons nur zwölf Mal auf; sowie zusätzlich in Anhang A, der fünf unkommentierte Partien von Kolisch in Kurznotation verzeichnet. Demzufolge ist das Buch für einen breiten Leserkreis (selbst ohne Schachkenntnisse) prädestiniert, aber natürlich auch empfehlenswert für Schachfreunde, die über den Tellerrand der eigenen Passion hinausblicken möchten.
Angaben zum Inhalt müssen naturgemäss fragmentarisch bleiben, wenige subjektiv herausgegriffene Beiträge und wiederkehrende thematische Motive will ich aber – quasi als appetizer – kurz erwähnen.
Esoterik und Aberglaube
Weitgehend von der Ratio geleitet, stand Kolisch esoterischen Modetrends wie dem Spiritismus und verwandten Phänomenen ungläubig-kritisch gegenüber (siehe Feuilleton 2; auch F. 25), von kleinen abergläubischen Überzeugungen war aber auch er nicht völlig frei (F. 20). Ob Kolisch sonderlich religiös war, bleibt offen; seine jüdischen Wurzeln erwähnte er nicht, allzu verständlich angesichts eines progressiven Antisemitismus in Wien, dem er auch in seinen Feuilletons immer wieder vehement entgegentrat.
Politisch war Kolisch liberal eingestellt, seine kleinen Polemiken haben häufig kaum an Aktualität eingebüsst. Ein für sich selbst sprechendes Zitat (aus F. 52, S. 317) kann ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen:
„Die Zerfahrenheit unserer öffentlichen Zustände, die Unsicherheit in den politischen Programmen, die Schwankungen unserer hoch- und niedertrabenden Volkstribunen und vor Allem die Unverlässlichkeit unserer grossen Parteiführer berauben mich nachgerade jedes bürgerlichen Vergnügens. Ich weiss heute nicht mehr, wem ich glauben soll, ich komme in die peinlichste Verlegenheit, wenn ich zu entscheiden habe, welchem Volksbeglücker ich mein Vertrauen schenken soll, und gerathe in helle Verzweiflung, wenn ich vor der Frage stehe, wessen beredte Auslassungen ich vorzugsweise auf mich wirken lassen darf“.
An anderer Stelle beschreibt Kolisch den radikalisierten Pöbel, der sich in gewalttätigen Demonstrationen Bahn bricht – bis hin zur (gerade noch verhinderten) Lynchjustiz (F. 21). Und er geisselt die „gewissenlosen Phrasendrescher“, die als mentale Brandstifter die leichte Verführbarkeit der Massen ausnutzen.
Betrüger und Scharlatane
„Das Gespräch drehte sich um Geister“: Leseprobe aus „Die Feuilletons von Ignaz Kolisch“ (Vergrösserung mit Mausklick)
Von ungebrochener Aktualität ist wiederum das Unwesen der Betrüger und Kleinkriminellen, die sich in den Metropolen Europas tummelten (siehe insb. F. 23): Praktisch ungestört konnten diese „Industrieritter“ (d.h. Nepper und Bauernfänger, Scharlatane und Rosstäuscher) ganze Stadtviertel in Beschlag nehmen. Heutzutage haben sich derlei Aktivitäten zu weiten Teilen globalisiert bzw. ins Internet verlagert, bei weiterhin geringer Erfolgsquote der Strafverfolgungsbehörden.
Ein spezieller Fall ist die lesenswerte Episode über einen verarmten, des Praktizierens längst entwöhnten Medicus, der infolge Kolischs Ratschlägen ein Vermögen im Orient erwerben kann (F. 65): Mit einer Therapie, die lediglich auf der Anwendung von frischem kalten Wasser beruht, „heilte“ er eingebildete Kranke in der Hautevolee (somit ein reiner Placeboeffekt) und liess sich dafür fürstlich entlohnen – wenigstens hat es bei den derart Gesundeten keine Armen getroffen. Fazit: Kurpfuscherei lohnt sich, wenn man es richtig anstellt – zumindest war dies noch im 19. Jahrhundert so.
Russische Verhältnisse
Kolisch scheute sich auch keineswegs, Missstände im östlichen Teil unseres Kontinents aufzuzeigen. So nahm er schonungslos das mächtige Reich der Russen ins Visier, wo sich das Geschwür der Korruption und die Schmiergeld-Kultur wie Mehltau über das ganze Land gelegt hatten (F. 45).
In diesem bunten Potpourri der Unterhaltungsbeilagen sind diejenigen, die sich ganz oder teilweise der reinen Erheiterung widmen, durchaus gut vertreten. Wer einmal herzhaft lachen möchte, mag beispielsweise F. 55 „Nicht für Damen“ lesen, das zudem mit einem geradezu märchenhaften Finale aufwartet. Unvergessen in ihrer ergötzenden Komik bleiben auch die trefflich geschilderten „Eroberungsversuche“ eines gealterten Lebemanns auf einem Pariser Boulevard (Passage auf S. 320) – und vieles andere mehr.
Exkurs: Kolisch als Schachmeister
W.E./Ignaz Kolisch konnte hervorragend mit dem Geld und mit dem Wort umgehen – aber auch mit den Schachfiguren. Als Erz-Schachromantiker des 19. Jahrhunderts führte er eine scharfe Angriffsklinge, die auch vor bekannten Grössen seiner Zeit keinerlei Respekt zeigte.
Hier ein paar Kostproben:
Famoser Unterhalter
Bereits von seinen Zeitgenossen wurde Kolisch attestiert, ein famoser Unterhalter zu sein, und in der kleinen Form des Feuilletons mit maximal 5-7 Seiten konnte er seine Fähigkeiten offenbar besonders vorteilhaft zur Geltung bringen. Eine überaus gelungene Mischung aus Witz, Ironie und tieferer Bedeutung, die seine Beiträge charakterisiert, war sicherlich ein Garant des Erfolgs. Dazu gesellte sich seine glänzende Formulierungskunst und ein (für einen Bankier!) wohl singulärer literarischer Schachzug: Mit frappierender Offenheit liess er sein Lesepublikum teilhaben an seinen Gedanken, seinen Interessen und Emotionen, was seinen Schriften eine hohe Authentizität verlieh und die Anhänglichkeit seiner Leserschaft immens vertiefte.
In welchem Ausmass Kolischs Schilderungen mit realen Begebenheiten seines bewegten Lebens übereinstimmen und welche Anteile auf Fiktion beruhen, ist nicht immer klar. Auch sind zeitlich auseinanderliegende Ereignisse wohl vereinzelt zusammengeführt worden. All dies mag jedoch von untergeordneter Bedeutung gewesen sein, solange seine Anekdoten geistreiche und amüsante Unterhaltung boten.
Ich finde das Buch inhaltlich hochinteressant und auch in der Ausstattung bestens gelungen (solide Hardcover-Ausgabe mit Fadenheftung). Ein biografisches Vorwort „Der literarische Schachmeister“, ein vorangestelltes Kapitel „Kolisch als Feuilletonist“ sowie mehrere Anhänge rahmen das Werk ein. Unbedeutende Druckfehler im Original wurden von den Herausgebern korrigiert, verbliebene kleine Vertipper haben Seltenheitswert. Insgesamt verspricht das Buch einen ungetrübten Lesegenuss, daher gebe ich die uneingeschränkte Empfehlung: Kaufen und lesen! ♦
Fabrizio Zavatarelli, Luca D’Ambrosio und Michael Burghardt (Hrsg.): Die Feuilletons von Ignaz Kolisch, 544 Seiten, Edition Marco, ISBN 978-3-924833-82-4
Mit ein wenig Verwunderung dürfte die literarische Welt aufnehmen, dass der jüngst so erfolgreiche österreichische Schriftsteller Robert Seethaler sich in seinem neuesten Werk, dem Roman „Der letzte Satz“ mit den letzten Tagen Gustav Mahlers befasst. Gewiss, bereits in bisherigen Werken bewegte Seethaler sich in der Zeit der Jahrhundertwende („Der Trafikant„) oder berührte die Motive Tod („Das Feld“) und Lebensbilanz („Ein ganzes Leben“). Oder liegt es daran, dass über Gustav Mahler bereits Entscheidendes vorliegt? Mahlers 160. Geburtstag am 7. Juli dürfte wohl ebenfalls nicht der Anlass gewesen sein. Viel eher scheint das Interesse an einer überragenden, doch zwiespältigen Künstlerexistenz sein Motiv geworden sein.
Wie steht der Künstler, der sich in seiner eigenen Welt seiner Kunst verschrieben hat, zum Leben, zur Natur und zu den Menschen, die er liebt und doch gleichsam vernachlässigen und entbehren muss – und das im Angesicht des nahenden Todes? Seethalers Roman beginnt an Deck des von New York nach Europa kehrenden Schiffes „Amerika“, auf dem Gustav Mahler, von Krankheit und Todesahnung gezeichnet, seine letzte Reise antritt. Dort erleben wir ihn im Gespräch mit dem respektvollen, aber mitleidlosen Schiffsjungen, meist aber – mit Blick auf das endlos offene Meer – allein in seinen Gedanken und Erinnerungen, die um seine letzten Erfolge in München kreisen, seine bahnbrechende Umgestaltung des Wiener Opern- und Musiklebens, den Sommer in den Bergen, den Tod seiner Tochter Marie und natürlich um seine geliebte Frau Alma, die er schon verloren hat.
Fehlende Tiefenschärfe
Gustav und Alma Mahler (rechts) auf ihrer Schiffsreise im April 1911 nach Amerika
Das scheint insgesamt durchaus stimmig und fügt sich zu einem geschlossenen Bild, wird aber weder den Mahler-Liebhaber noch den an der Künstlerexistenz an sich interessierten Leser zufrieden stellen. Denn es fehlt dem 125 Seiten langen Skript an Umfang und Tiefenschärfe, so dass man allenfalls von einer Novelle sprechen kann, die scheinbar vieldeutig – mit Blick auf Mahlers Neunte Sinfonie – auf den „letzten Satz“ hinsteuert, am Ende aber recht eindimensional in sich zusammenfällt. Seethalers Sprache ist dabei fraglos kunstvoll und bedächtig, aber doch auch impressionistisch geglättet mit Oberflächenspiegelung, dramatische Ausbrüche ausschliessend, letztlich teilnahmslos.
Dass dabei Mahler aus der personalen Erzählperspektive dargestellt wird, ist zunächst als Ausdruck des Respektes angemessen. Doch dieser Respekt erweist sich im Verlauf der Erzählung als hohl und aufgesetzt. Auch der Schiffsjunge ist eben nur ein gewöhnlicher Schiffsjunge, der nie auch nur einen Ton Mahlerscher Musik vernommen hat und vernehmen wird. Er wird lediglich artig bedauern, dass die Musik des grossen Mannes, die er sich als etwas „Grosses, Unberechenbares“ vorstellt, verloren ist. Warum behält er das letzte Wort? Der Ignoranz das Wort?
Damit erweist Seethaler der Kunst und dem Künstler einen Bärendienst. Womit wir beim grössten, unverzeihlichen Versäumnis des Skripts sind: Mahlers Werk. Es bleibt völlig ausgespart, von ein paar Vögeln, die Mahler inspiriert haben, sowie einem Faust-Zitat abgesehen. Wie kann man einen Künstler quasi ohne sein Werk darstellen? Wie kann man Mahlers letzte Reise fassen, ohne etwa seine letzte Symphonie in Betracht zu ziehen? Denn so bleibt Seethalers Novelle eben nur die letzte Reise eines kranken Mannes, der gerne noch ein wenig länger gelebt hätte. Das ist banal.
An dieser Stelle bleibt nur der Hinweis auf Guy Wagners deutlich umfangreicheren, vielschichtigeren und akribisch recherchierten Roman mit Dokumenten-Collage Die Heimkehr – Vom Sterben und Leben des Gustav Mahler.
Fazit: Operation gelungen, Patient tot. Robert Seethaler hat sich in seinem neuen Werk sichtbar verhoben, indem er – allen erzählerischen Fähigkeiten zum Trotz – den grossen Komponisten, Dirigenten und Opernregisseur Gustav Mahler fernab seiner Musik und gestalterischen Absichten dargestellt hat. Er öffnet daher nicht den Zugang zu ihm, sondern verschliesst ihn. Schade. ♦
Robert Seethaler: Der letzte Satz – Roman, Hanser Verlag, 124 Seiten, ISBN 978 3 446 26788 6
Der in Schweden lebende 40jährige Regisseur Levin Akin kehrt mit seinem neuen Film „And Then We Danced“ zu den Wurzeln seiner Eltern zurück und behandelt eindrücklich die Diskrepanz zwischen Tradition und Moderne im jetzigen Georgien. Ein Film voller Lebenskraft, Jugendlichkeit, Sinnlichkeit und Tanz. Und das alles in der Hauptstadt Georgiens, in Tiflis, wo das nationale georgische Staatsballett hart an den traditionellen Tänzen trainiert.
Der junge Tänzer Merab tanzt seit seiner Jugend in diesem Corps, er geht in den Fussstapfen seiner Eltern, die zwar als Startänzer und Solosängerin ebenfalls an der Spitze der Kunstszene gestanden hatten, heute aber ein trauriges Dasein fristen. Der Vater verkauft an einem Flohmarkt, und die Mutter lebt ihre Depression nur noch zu Hause aus. Und doch bedeutet für Merab das Tanzen das Leben. Seit seiner Kindheit tanzt er mit der gleichen Tänzerin, die sich auch im Leben als seine Freundin sieht.
Jugendlichkeit zwischen Tradition und Moderne
„Hinreissendes gesellschaftspolitisches Kunsterlebnis voller Lebensgefühl“: „Szene aus „And Then We Danced“
Alles wird erschüttert und in Frage gestellt, als der lebensfrohe und ebenfalls sehr tanzbegabte Irakli im Ensemble auftaucht, der sich schnell als Konkurrent von Merab entpuppt. Der traditionelle Nationaltanz in besonderen Kostümen duldet keine sinnlichen Anspielungen, das Training ist streng und hart.
Im Gegensatz dazu erleben wir sehr sinnlich die jugendliche Körperlichkeit des Ensembles und auch das private Alltagsleben seiner Mitglieder. Vor diesem Hintergrund erwachen natürlich auch sexuelle Begehrlichkeiten nicht nur zwischen den Tanzpaaren, sondern auch unverhofft zwischen den beiden Hauptprotagonisten und Rivalen.
Dies alles wird sehr feinfühlig, aber auch vielschichtig dargestellt. Wir nehmen teil an georgischen Trink- und Essgewohnheiten, an der georgischen Freude an Festivitäten, aber auch am sparsamen, bescheidenen Alltags- und Familienleben.
Die beiden Hauptprotagonisten Levan Gelbakhiani und Bachi Valishvili tanzen hinreissend, sind aber auch sehr überzeugende Schauspieler. Der Film wird damit zu einem allumfassenden, auch gesellschaftspolitischen Kunsterlebnis und zu einer Kinoreise ins ferne Georgien, das sicher vom Humor und von der Menschlichkeit her gar nicht so weit entfernt liegt. In der ursprünglichen „Kulisse“ des traditionellen Tanzes wird ein jetziges, sprudelndes, aufbrechendes Lebensgefühl gezeigt, mit grosser Spannung auch zur Kirche, der jetzigen Moral.
Die jungen Leute sehen sich konfrontiert mit der ursprünglich abgelehnten Homosexualität und den tradierten Familienbanden, zwischen dem Druck der Tradition und der Sehnsucht nach Offenheit und Freiheit stehend, in der aber auch die eigenen Talente ausgelebt werden können.
Wie noch selten auf einer Leinwand erleben wir den prickelnden Wunsch nach Verbindung von Tradition und Moderne, natürlich und voller jugendlicher Lebensenergie, die sich auch aufs Publikum überträgt.
„And Then We Danced“ feierte letztes Jahr in Cannes Weltpremiere und wurde von Schweden als Oscarbeitrag eingereicht. ♦
Am 14. August dieses Jahres starb 87-jährig der englische Gitarrist und Lautenist Julian Bream. Auch wenn manch einer ob des unvermeidlichen Todes und des doch langen Lebens mit den Schultern zuckt: Ich finde es immer wieder bedauerlich, wenn jemand stirbt, den ich zeitlebens sehr geschätzt habe, mag er oder sie noch so alt geworden sein. Dies trifft auf Julian Bream ganz besonders zu.
Erste Erfahrungen mit der Gitarre machte Bream mit der Jazzgitarre seines Vaters. Im Alter von 11 Jahren bekam er eine spanische Gitarre geschenkt, auf der er Unterricht von Boris Perott erhielt. Mit 12 Jahren gewann er einen Preis für sein Klavierspiel, der es ihm ermöglichte, am Royal College of Music zu studieren. Gitarre lernte er autodidaktisch weiter und gab im Alter von 13 Jahren sein erstes Konzertdebüt. Mit 18 Jahren trat er mit der Gitarre in der Londoner Wigmare Hall auf. Während seiner Militärzeit kamen ihm die frühen Erfahrungen auf Vaters Jazzgitarre zu Gute, denn er spielte in dieser Zeit Gitarre in der Royal Artillery Band.
Mit Klassik durch Europa
Julian Bream (15. 7. 1933 – 14. 8. 2020)
Nach seiner Militärzeit nahm er jeden musikalischen Job an, den er bekommen konnte. Er spielte Filmmusik für die BBC und tourte mit klassischem Gitarrenrepertoire durch Europa (ab 1954) und den Rest der Welt (ab 1958). Nebenbei entdeckte er die Laute, passte das Instrumente an seine Bedürfnisse an – er spielte ein relatives grosses Instrument, und nicht nur mit einer einzelnen hohen Saite sondern deren zwei –, brachte mit dem Tenor Peter Pears die Lieder von John Dowland wieder in die Konzertsäle und gründete das Julian Bream Consort, das zu den ersten Ensembles gehörte, das alte Musik auf Originalinstrumenten spielte. Er spezialisierte sich jedoch nicht nur auf alte Musik, traf Musiker anderer Kulturen (etwa Ali Akbar Khan und Paco Pena), und spielte auch Kompositionen zeitgenössischer Komponisten, von denen eine ganze Reihe speziell für Bream komponierten. Benjamin Brittens „Nocturnal“, oder Hans Werner Henze die Sonaten „Royal Winter Music“. Die spanische Gitarrenmusik legte er in Einspielungen von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert vor. Seine Einspielungen auf CD sind auch heute noch verfügbar, einzeln und in Sammlungen.
In erster Linie Musiker
Julian Bream war der erste Gitarrist, der mich für die klassische Gitarre einnahm. Segovia liess mich kalt, und andere waren mir noch nicht untergekommen. Bream war Gitarrist, natürlich, aber in erster Linie Musiker. Er brillierte nicht vordergründig mit stupender Technik, sondern interpretierte die Musik, die Komponisten niedergeschrieben hatten. Seine Technik ist selbstverständlich enorm, man kann keine Begrenzungen hören, aber sie tritt hinter der Musik zurück.
Legendäres Bream-Album auf Vinyl: „Gitarrenmusik aus drei Jahrhunderten“
Meine Begegnung mit diesem Ausnahmegitarristen geschah folgendermassen: Als Schüler war ich immer knapp bei Kasse, doch einmal hatte ich Dank eines kurzen Jobs etwas mehr Geld als üblich in der Tasche und ging in einen Plattenladen. Heraus kam ich mit einer Kassette, die zwei LPs von Julian Bream enthielt. Titel: „Gitarrenmusik aus drei Jahrhunderten“. Ursprünglich wollte ich etwas von Jimi Hendrix oder ähnliches kaufen. Da man sich damals aber die Platten noch im Laden anhörte und die Kassette von Bream vor der Ecke ‚Rock/Pop‘ stand, kam ich gar nicht erst bis dahin. Ich hörte nur bis zum dritten Stück („Tombeau sur la mort de M. Comte de Logy“ von S.L. Weiss, nach zwei Stücken von Bach), danach gab es kein Überlegen, kein ‚Für und Wider‘ mehr. Mein finanzieller Etat war wieder auf dem üblichen Niveau, und ich zog mit den neuen Platten heimwärts.
Die Laute der Gitarre angepasst
Tatsächlich enthielten die beiden Platten der Kassette wenig originäres Gitarrenrepertoire. Da war unweigerlich das d-moll Präludium von Bach, da war Villa-Lobos mit seinem Choros Nr. 1. Und da waren die Spanier Torróba, Albéniz, de Falla und Turina, von denen nur der erste tatsächlich für die Gitarre geschrieben hatte, die Musik der anderen Spanier von den Gitarristen aber schon so vereinnahmt war wie die Lautenmusik von Bach. Zusätzlich fand sich auf den Platten aber auch Musik von Domenico Scarlatti, Maurice Ravel, Luigi Boccherini, Joaquin Rodrigo und Benjamin Britten. Letzterer mit dem Nocturnal, das er nach Motiven Dowlands extra für Julian Bream geschrieben hatte.
Aber, ob nun für Gitarre komponiert oder nur für Gitarre arrangiert – die Musik klang authentisch, und Willkürlichkeiten wie bei Segovia, bei aller interpretatorischen Freiheiten die sich Bream nahm, konnte man nicht finden. Bald darauf bekam ich mit „The Woods so Wild“ eine LP geschenkt, auf der Bream Laute spielte. Auch das hat mich damals berührt und für die Laute interessiert, die ich nur am Rande und eher oberflächlich beachtet hatte bis dahin. Heute weiss ich, dass Bream kein originärer Lautenist war, dass er das Instrument seiner Gitarrentechnik angepasst hat. Ich höre trotzdem noch ab und an seine Lauten-Alben, weil auch da das Phänomen, dass er als Musiker unabhängig vom Instrument das Werk darbietet, trotz allem überzeugt. In letzter Konsequenz ziehe ich das aller vermeintlichen Werktreue vor.
Gitarrenmusik als Trost und Freude
Nun ist er also abgetreten. Sein letztes Konzert liegt schon 18 Jahre zurück. Die beiden Schallplatten höre ich nicht mehr so oft wie seine CDs, aber sie sind mit mir durch all die Jahrzehnte meines Lebens gegangen und waren mir oft und oft Genuss, Entspannung, Trost und Freude, das wird auch sicher so bleiben. Und jedes Mal wenn ich sie höre, höre ich Musik und nur nebenbei Gitarre. Ich bedauere seinen Tod sehr, auch wenn ich weiss, dass er letztendlich für jeden unvermeidlich ist. ♦
Das neue grosse Musik-Kreuzworträtsel im Juli 2020 sucht wieder nach Begriffen aus allen Bereichen der Musik. Dabei hält unser Crossword Puzzle viele einfache, aber auch zahlreiche schwierige Aufgaben aus Pop und Rock, Folk und Jazz, Klassik und Schlager parat.
Downloaden Sie das Kreuzworträtsel mit der Funktion „PDF herunterladen“ und drucken Sie die Datei aus – aber ohne sofort auf der separaten Seite mit den Lösungen zu kiebitzen… 😉
Östliche und westliche Musiker-Gehirne im Vergleich
von Walter Eigenmann
Arbeiten die Gehirne von japanischen Klassik-Musikern anders als jene von westlichen oder von Nichtmusikern? Eine neue Studie untersuchte die spezifischen Arten neuronalen Verhaltens bei den Teilnehmern, wenn sie ungewohnten Rhythmen und nicht-rhythmischen Melodie-Mustern ausgesetzt waren. Ausgebildete Musiker zeigten im Vergleich zu Nichtmusikern eine grössere Fähigkeit zur Rhythmus-Vorhersage – mit subtileren Unterschieden zwischen denen, die in japanischer oder westlicher klassischer Musik ausgebildet waren. Diese Forschung könnte Auswirkungen haben auf weitere Studien über den kulturellen Einfluss auf das Lernen und die Gehirnentwicklung überhaupt.
„Musik ist allgegenwärtig und unverzichtbar in unserem täglichen Leben. Musik kann uns belohnen, uns trösten und uns emotional befriedigen“, sagt Projekt-Assistenzprofessor Tatsuya Daikoku vom Internationalen Forschungszentrum für Neurointelligenz der Universität Tokio. „Es ist also keine Überraschung, dass die Wirkung von Musik auf das Gehirn gut erforscht ist. Viele Studien konzentrieren sich jedoch auf westliche klassische Musik, Pop, Jazz usw., während unsere Studie die erste ist, die neuronale Mechanismen bei Praktikern der japanischen klassischen Musik, bekannt als Gagaku-Musikstil, untersucht“.
Japanische Musik ohne regelmässiges Taktmuster
Musik ohne regelmässiges Taktmuster: Das japanische Rhythmus-Instrument Binzasara
Viele japanische Aufführungskünste, wie z.B. im Noh- oder Kabuki-Theater, beinhalten Musik, die nicht unbedingt einem regelmässigen Taktmuster folgt, wie dies bei der westlichen klassischen Musik typischerweise der Fall ist. Das heisst, die japanische klassische Musik dehnt sich manchmal aus oder zieht Beats ohne mathematische Regelmässigkeit zusammen. Dieses Zeitintervall wird oft als MA bezeichnet – ein wichtiger Begriff in der gesamten japanischen Kultur ist.
Daikoku und sein Forschungspartner, Assistenzprofessor Masato Yumoto von der Graduierten-Schule für Medizin, untersuchten, wie verschiedene Gruppen von ausgebildeten Musikern und Nichtmusikern auf unterschiedliche Rhythmusmuster reagierten. Die Idee war, herauszufinden, wie die musikalische Ausbildung das statistische Lernen, die Art und Weise, wie unser Gehirn sequenzielle Informationen – in diesem Fall Rhythmen – interpretiert und antizipiert, beeinflussen könnte.
Rhythmus-Lernen in der linken Gehirn-Hemisphäre
Hirnströme von Musikern untersucht: Magnetoenzephalographie
Die Forscher zeichneten die Hirnaktivität der Teilnehmer direkt auf, indem sie eine Technik namens Magnet-Enzephalographie verwendeten, bei der magnetische Signale im Gehirn untersucht werden. Anhand der Daten konnten Daikoku und Yumoto feststellen, dass das statistische Lernen der Rhythmen in der linken Hemisphäre des Gehirns der Teilnehmer stattfand. Und, was wichtig ist: Es gab ein höheres Aktivitätsniveau bei denjenigen mit musikalischer Ausbildung, sei es in der japanischen oder der westlichen klassischen Musik.
„Wir erwarteten, dass Musiker im Vergleich zu Nichtmusikern ein starkes statistisches Lernen von ungewohnten Rhythmussequenzen aufweisen würden. Dies wurde in früheren Studien beobachtet, die sich mit Reaktionen auf unbekannte Melodien befassten. Also war dies an sich keine solche Überraschung“, sagte Daikoku. „Was aber wirklich interessant ist, ist dass wir Unterschiede in den neuronalen Reaktionen zwischen denjenigen feststellen konnten, die in japanischer oder westlicher klassischer Musik ausgebildet wurden“.
Gehirnentwicklung bei unterschiedlichen Erziehungskulturen
Diese Unterschiede zwischen japanischen und westlichen klassischen Musikern sind offenbar viel subtiler und zeigen sich in der neuronalen Verarbeitung von Komplexität im Rhythmus höherer Ordnung. Obwohl es nicht der Fall ist, dass die eine oder andere Kultur besser oder schlechter als die andere abschneidet, impliziert diese Erkenntnis, dass unterschiedliche kulturelle Erziehung und Bildungssysteme einen spürbaren Einfluss auf die Gehirnentwicklung haben können.
Japanische Musikerin mit der Bambusflöte Shakuhachi
„Diese Forschung ist Teil eines grösseren Puzzles, das wir erforschen wollen – das der Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen und der Musik der Kulturen, und wie sie das Lernen und die Entwicklung beeinflussen“, sagte Daikoku. „Wir untersuchen auch die Musik als Mittel zur Behandlung von Entwicklungsstörungen wie etwa Sprachstörungen. Ich persönlich hoffe, dass das Interesse an klassischer japanischer Musik wieder erwacht; vielleicht wird diese Studie diejenigen, die mit solcher Musik nicht vertraut sind, dazu inspirieren, diesen wichtigen Teil der japanischen Kulturgeschichte zu hören und zu schätzen“. ♦
Der Feminismus, die weltweite Frauenbewegung hat einen weiten Weg zurückgelegt – der noch lange nicht zu Ende ist. Weltweit herrschen immer noch Verhältnisse, die Frauen systematisch benachteiligen. In Saudi-Arabien haben Frauen bis heute kein Recht auf freie Meinungsäusserung, sie dürfen nicht zusammen mit Männern studieren, und viele Dinge sind ohne Einwilligung eines männlichen Vormundes verboten. Weltweit hat sich in den vergangenen 150 Jahren viel getan, aber selbst in Europa verdienen Frauen immer noch deutlich weniger als Männer. Die auf US-amerikanische Geschichte spezialisierte Historikerin Jane Gerhard hat gemeinsam mit Dan Tucker dieses Coffee Table Book zur Geschichte des Feminismus herausgebracht.
„Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann.“ (Margaret Mead)
Warum ein Bildband? Bilder vermitteln die Dynamik und die emotionalen Botschaften sehr viel intensiver, als ein Text dies könnte. Und es geht auch darum, dass Bilder „die Besonderheiten einer Kultur, einer bestimmten Aufmachung, eines Auftritts und anderer Details, die einer Geschichte erst die Würze verleihen, besonders gut zu transportieren vermögen.“ (Seite 6)
Breit gestreute Themenfelder
Die Bilder (Fotos, Plakate, Gemälde) vermögen tatsächlich, einen sehr lebendigen Eindruck zu vermitteln. Sie zeigen hervorragend auf, wie Frauen aus vergangenen Zeiten und fremden Kulturen alle für eine Sache gekämpft haben: Gleichberechtigung.
Das Buch ist nach unterschiedlichen Themenfeldern gegliedert. Zunächst geht es um politische Mitbestimmung, insbesondere um das Recht zu wählen („Eine Stimme haben“). Hier wird die Situation in den USA sehr stark ins Zentrum gerückt. Dies ist natürlich vor allem dem Umstand geschuldet, dass das Buch eine Übersetzung ist und von US-AmerikanerInnen herausgegeben wurde. Beginnend bei der Seneca Falls Convention, die am 19. und 20. Juli 1848 in Seneca Falls (New York) abgehalten wurde und die „Declaration of Sentiments“ hervorbrachte, wird die Geschichte der Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten sehr gut in Wort und Bild vermittelt.
Interessant fand ich in diesem Zusammenhang auch die oftmals enge Verbindung zwischen der Frauenbewegung und der Abstinenzbewegung, weil Frauen extrem unter dem Alkoholmissbrauch ihrer Männer litten. Die grösste Abstinenzbewegung war die Woman’s Christian Temperance Union (WTCU). Auch die Situation in anderen Ländern (Grossbritannien, Deutschland, China, Saudi-Arabien…) wird aufgegriffen, aber in weitaus geringerem Umfang als diejenige in den USA.
Die weibliche Selbstbestimmung
New Yorker Zeitungs-Illustration aus dem Jahre 1870, die Amerikas erste und einflussreichste Frauenärztin Elisabeth Blackwell bei einer ihrer Anatomie-Lektionen zeigt
Im zweiten Kapitel, „Das Recht auf Selbstbestimmung“, geht es um Bürgerrechte und ganz zentral um das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Es werden beeindruckende Persönlichkeiten wie Elizabeth Blackwell vorgestellt, die als erste Ärztin der Vereinigten Staaten gilt und mehrere medizinische Hochschulen für Frauen gründete. Im Zusammenhang mit den Protesten von AbtreibungsbefürworterInnen fällt eine Person auf, die einen erstaunlichen Sinneswandel durchgemacht hat: Die ehemalige Aktivistin Norma McCorvey (Pseudonym Jane Roe), die noch 1989 für das Recht von Frauen, über ihren Körper selbst zu bestimmen demonstrierte, konvertierte 1994 zum Katholizismus und wurde zur Abtreibungsgegnerin, die ihre Rolle in der Frauenbewegung plötzlich bedauerte.
Das weitverbreitete Abtreibungsverbot
In vielen Ländern ist Abtreibung – selbst nach einer Vergewaltigung oder einer Gefährdung der Mutter – immer noch strikt verboten. In Irland hat das u.a. dazu geführt, dass ein 13-jähriges Vergewaltigungsopfer nicht nach England ausreisen durfte, um dort eine Abtreibung vornehmen zu lassen – und zum Tod einer Frau, bei der eine bereits beginnende Fehlgeburt festgestellt worden war, und die trotzdem nicht abtreiben durfte und schliesslich infolge einer Blutvergiftung starb. Seit 1984 gibt es in den USA (immer wieder durch einzelne Präsidenten gelockert), den Global Gag Rule (Globale Knebelvorschrift), die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Gesundheitswesen eine Aufklärung bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen verbietet – andernfalls droht eine vollständige Streichung der finanziellen Unterstützung durch die US-Regierung.
Die Gleichstellung der Ehepartner
Müssen Frauen gleichberechtigt sein – Strassen-Statements in den 1950er Jahren – Glarean Magazin
In „Raus aus dem Puppenhaus“ geht es um die Ehe und die wirtschaftlichen Rechte von Frauen. Die Gleichstellung der Ehepartner vor dem Gesetz ist dabei ebenso Thema wie die Kinderehe.
„We can do it“ widmet sich der Frau in der Arbeitswelt. Heute noch müssen vor allem Frauen unter katastrophalen Bedingungen arbeiten, die sie oft das Leben kosten. Die Brände in Textilfabriken haben insbesondere die Leben weiblicher Arbeiterinnen gefordert. Frauen verdienen immer noch weniger als Männer und müssen in vielen Fällen Haushalt und Pflege von Kindern und Alten zusätzlich zur Erwerbstätigkeit erledigen.
Sexismus und Rassismus
„Männliche Schönheitsvorstellungen prägten das Bild einer idealen Frau und waren damit Teil männlicher Machtausübung“
Im fünften Kapitel, „Im Auge des Betrachters“, rücken Frauenbilder in den Mittelpunkt. Männliche Schönheitsvorstellungen prägten das Bild einer idealen Frau und waren damit Teil männlicher Machtausübung. Feministische Künstlerinnen setzten dieser Tradition etwas entgegen und ermöglichten auf diese Weise eine Neuidentifikation mit dem weiblichen Äusseren.
Das letzte Kapitel schliesslich, „Gleiches Recht für alle“, widmet sich schliesslich der Gleichberechtigung aller Menschen, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht. Während sich die frühe Suffragettenbewegung weitgehend aus der Oberschicht rekrutierte, setzte sich im Lauf des vergangenen Jahrhunderts (u.a. in der zweiten Feminismuswelle in den 1970er Jahren) zusehends die Einsicht durch, dass es um Gleichberechtigung für alle Menschen gehen muss. Und so wird im im letzten Abschnitt die Überwindung von Rassismus sowie der Sexismus und die LGBTQIA-Bewegung untersucht.
Fokus auf dem Anglo-Amerikanischen
Den ungewöhnlichen, bis anhin kaum gesehenen Ansatz, einen Bildband über Feminismus zu veröffentlichen, finde ich grossartig. Die Umsetzung ist auch sehr gelungen. Ich empfehle, zunächst jeweils den Bildteil und anschliessend den Textteil (oder umgekehrt) durchzulesen, weil der Lesefluss sonst ständig durch den Bildteil (mit umfangreichen Bildunterschriften) unterbrochen wird.
Der Fokus liegt hier ganz klar auf dem anglo-amerikanischen Kulturraum, was ich anfangs etwas irritierend fand. Letztendlich wird aber auch die Entwicklung der weltweiten Frauenbewegung sehr gut umrissen. Ein schöner und gut lesbarer Bildband, den ich allen, die am Thema Feminismus interessiert sind, empfehlen kann. ♦
Wir leben im digitalen Zeitalter – auch das Schach und seine millionenfachen Adepten. Persönliches Handy und heimische Computersoftware geben längst den Takt an beim Königlichen Spiel. Daneben existieren aber nach wie vor eine Reihe traditionsreicher Print-Medien. Der neue Serien-Report im Glarean Magazin über Schachmagazine stellt die wichtigsten nationalen und europäischen Titel vor.
Heute: Die SCHWEIZERISCHE SCHACHZEITUNG.
„Nicht in meinen schlimmsten Träumen hätte ich mir jemals vorstellen können, solche Schreckens-Schlagzeilen über News auf der Website des Schweizerischen Schachbundes (SSB) platzieren zu müssen. Doch die Folgen des tückischen Corona-Virus zeitigten auch auf den Schachsport gravierende Auswirkungen.“
Mit diesen Worten beginnt der Chefredakteur der Schweizer Schachzeitung Dr. Markus Angst sein Vorwort der Ausgabe 3/2020. Das Corona-bedingte Erstarren des weltweiten Spielbetriebs sind seit dem Ausbruch der Pandemie beherrschende Themen aller Schachmedien. Seit dem Abbruch des Kandidatenturniers in Jekaterinburg Ende März herrschte zumindest „offline“ Flaute im Schach, was sich natürlich auf die Berichterstattung aller Schachzeitschriften auswirkte. Ich nehme in der folgenden Besprechung die „Schweizer Schachzeitung“ in den Blick und beziehe mich auf die Ausgaben 1, 2 und 3 des Jahres 2020, also das letzte „normale“ Heft vor dem Ausbruch der Pandemie und die beiden folgenden, in denen sich die Einschränkungen immer stärker widerspiegelten.
Chefredakteur seit 26 Jahren: Markus Angst
Aktuell, kompetent, schachbegeistert – und seit über 25 Jahren im Amt: Chefredakteur und SSB-Mediensprecher Markus Angst
Die „Schweizer Schachzeitung“ (SSZ), das offizielle Organ des Schweizerischen Schachbundes, wurde 1900 begründet, womit sie das älteste noch existierende deutschsprachige Schachmagazin ist. Sie erscheint sechsmal im Jahr in einer Auflage von 6000 Exemplaren und wird allen aktiven Schweizer Schachspielern und -spielerinnen zugestellt. Das Format ist A5, der Druck schwarzweiss, der Umfang etwa 50 Seiten (die Ausgabe 3/2020 umfasst lediglich 36 Seiten, was aber sicher der skizzierten Corona-Flaute geschuldet ist).
Als besonderen Service bietet die „Schweizer Schachzeitung“ alle Ausgaben seit 2000 zum Download an, die jeweils aktuelle allerdings mit einer zeitlichen Distanz zur Printausgabe. Chefredakteur ist seit 1994 Markus Angst, seines Zeichens Mediensprecher des Schachbundes und Leiter der Schweizer Mannschaftsmeisterschaft. In der Schachwelt wurde er nicht zuletzt durch seine Tätigkeit als einer der Schiedsrichter der Weltmeisterschaft 2004 zwischen Kramnik und Léko in Brissago bekannt.
Schach in drei Landessprachen
Interview in der SSZ 3/2020 mit dem Schweizer Grossmeister Yannick Pelletier – auf französisch
Was sofort auffällt ist die Mehrsprachigkeit: Entsprechend den Amtssprachen der Schweiz sind die Artikel entweder in deutscher, in französischer oder in italienischer Sprache verfasst, einige wurden übersetzt und parallel in deutscher und französischer Fassung abgedruckt. Einige feste Rubriken wiederholen sich in jedem Heft: „Seniorenschach“, „Fernschach“ (bearbeitet durch Oliver Killer), „Problemschach“ (Martin Hoffmann) und „Studien“ (Roland Ott), sowie eine mehrere Seiten umfassende Ergebnisübersicht über nationale Turniere. Wer nicht nur über Schach lesen, sondern auch sein Spiel verbessern möchte, kann dies durch das Lösen der Kombinationen (jeweils 9 Aufgaben aus einem aktuellen Turnier) sowie das Studium der Partien tun, die teilweise kommentiert sind. Am umfassendsten fällt die Analyse einer kürzlich gespielten Weltklassepartie aus, für welche der französische Grossmeister Romain Édouard verantwortlich zeichnet. Diese Analyse ist der einzige Teil der Hefte ohne unmittelbaren „Schweiz-Bezug“. Ansonsten konzentrieren sich die Themen auf den nationalen Spielbetrieb: Schweizer Turniere und Mannschaftswettbewerbe, die Nationalmannschaft, Portraits und Interviews mit bekannten Persönlichkeiten des Schweizer Schachs.
Mir gefällt dieses Konzept: Wo viele andere Publikationen einen Überblick über das internationale Geschehen anstreben, fokussiert sich die SSZ bewusst auf das nationale Schachleben. Zwar kann der Leser sich auf diese Weise nicht über die jüngsten Glanztaten der Carlsen, Caruana und Vachier-Lagrave informieren, aber statt dieser Informationen, die ja vergleichsweise leicht im Internet zugänglich sind, erhält er Berichte über Turniere, die weniger im Fokus der Berichterstattung stehen, ihm aber vielleicht näher liegen (nicht nur geographisch, sondern auch was die Teilnehmer angeht). Dadurch begibt sich die SSZ von vorneherein weniger in Konkurrenz mit Schachseiten im Internet als andere Magazine. Ich könnte mir vorstellen, dass solch ein Konzept durchaus auch für die deutsche Schachszene tragfähig wäre. In der ersten und zweiten Ausgabe des Jahres, wo noch die „normalen“ Themen im Vordergrund standen, wurde etwa über das Zürcher Weihnachts-Open 2019, das Schachfestival Basel oder das Accentus Young Masters in Bad Ragaz sowie verschiedene Mannschaftswettbewerbe berichtet.
Portraits, Berichte, Interviews
Interview-Partner der SSZ 3/2020 und aktuell der Schweiz erfolgreichster Grossmeister: Noel Studer
Auch hier tritt die Schweizer Perspektive in den Vordergrund: Beim Bericht über das Zürcher Weihnachtsopen wird ein Schlaglicht auf das 12jährige Nachwuchstalent Dorian Asllani geworfen (1/2020, S. 4), im Zusammenhang mit dem Accentus Young Masters, einem Vergleich zwischen einer Mannschaft aus jungen Schweizer Meistern und einer Weltauswahl, wird weniger auf das Turnier selbst eingegangen (es wird noch nicht einmal die Mannschaftsaufstellung der Weltauswahl genannt), sondern der Fokus auf die Leistungen des erfolgreichsten Schweizers, GM Noël Studer, gelegt. Wie zu erwarten werden auch in Portraits und Berichten Personen und Institutionen aus der Schweiz vorgestellt: der Schachklub Payerne (1/2020, S. 14-15), der Präsident der Schiedsrichterkommission Josef Nemecek (1/2020, S. 22-29), WIM Camille De Seroux (2/2020, S. 12-15), verschiedene Initiativen zu Schach-Feriencamps in der Schweiz (2/2020, S. 34-35). Wie gesagt: Man kann unterschiedlicher Meinung über dieses Konzept sein, mir ist es sympathisch.
Eine Fülle von Informationen
Werden in Heft 2/2020 die ersten Folgen der Corona-Pandemie thematisiert (eine Unterbrechung der Schweizer Ligen, die Absage des Mitropacups, der für Anfang Mai in Davos geplant war), so steht Heft 3/2020 voll im Zeichen des Virus und der mit ihm verbundenen Einschränkungen. In einem Artikel behandelt Oliver Marti, Geschäftsführer des Schweizerischen Schachbundes, die Historie des Online-Schachs. Die Grossmeister Noël Studer und Yannick Pelletier machen sich in Interviews ebenso zur Corona-Krise und der aktuellen Situation Gedanken wie der Präsident des Schachbundes Peter Wyss sowie der Präsident der Schweizer Schach Senioren Anton Brugger.
Traditionsreich und vielbeachtet seit Jahrzehnten: Die Problemschach-Spalte der Schweizerischen Schachzeitung
Wenn man ein Fazit ziehen möchte: Die „Schweizer Schachzeitung“ beinhaltet, im Vergleich zu anderen Magazinen, weniger eigentliches Schachmaterial, also Analysen, Kombinationen usw., auch wenn sie mit GM Édouard und GM Nico Georgiadis hochrangige Kommentatoren aufbieten kann. Dafür versieht die SSZ den Leser mit einer Fülle von Informationen: Neben Berichten und Interviews auch Turnierresultaten und Statistiken, also Materialien, die gerade nicht so leicht im Internet zu bekommen sind. Damit geht die SSZ einen deutlich anderen Weg als viele andere Publikationen: Mit einem klaren Schweiz-Fokus wird der Kreis der potentiellen Leser von vornherein beschränkt, diese werden aber umfassend über dieses eingegrenzte Thema informiert.
Schliessen möchte ich dann doch mit einem praktischen Endspiel-Zitat aus der Fernschach-Rubrik der SSZ-Ausgabe 2/2020 – ein wunderschönes Beispiel für die Bedeutung der Aktivität in der letzten Partiephase:
(Mausklick auf einen Zug oder eine Variante öffnet das Analysefenster inkl. PGN-Download)
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schachzeitschriften auch den Report über die deutsche ROCHADE
Lina Fritschi (1919–2016) war eine der grossen italienischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Nördlich der Alpen blieb sie trotz ihrer Schweizer Abstammung praktisch unbeachtet. Dies dürfte sich mit dem vorliegenden zweisprachigen Band „Ein anderer Traum / Un altro sogno“ ändern.
66 Gedichte hat der Übersetzer Christoph Ferber aus Lina Fritschis umfangreichem Werk ausgewählt, die Mehrzahl davon aus ihrem Schwanengesang „Poesie estreme“, im Jahr 2000 erschienen. Jede Doppelseite enthält konsequent links den italienischen Originaltext, rechts die deutsche Übersetzung. An der gesamten Gestaltung gibt es nichts zu bemängeln.
Der entgleitende Hintergrund
Das grosse Thema der Sammlung ist der Umgang mit Verlust, insbesondere dem frühen Tod ihres Ehemannes. Im Traum begegnet sie ihm immer wieder, ob in „Auch nach dem Tod“:
Auch nach dem Tod, hab ich gefragt. Auch nach dem Tod, hat er geantwortet – und gelächelt
… im titelgebenden „Ein anderer Traum“:
Immer verschwinden sie alle (…) Wenn ich mich an seine Schulter lehne und frage, wo denn die anderen seien, antwortet er, ich weiss nicht, das war ein anderer Traum.
… oder in den Betrachtungen zum Tavoliere:
Immer, jedes Jahr zu Weihnachten, kehrt diese Reise zurück. Und wir drei, der Zeit und dem Tod enthoben, spielen unsere Rolle vor dem uns entgleitenden Hintergrund.
Lina Fritschi schafft es, sich und den Leser davon zu überzeugen, dass sie in diesen Momenten glücklich ist.
Doch nicht jede Erinnerung endet so gut:
Doch war es Sommer? Ich weiss es nicht mehr, denn sogleich ist wie ein Falke der Winter auf mich gestürzt und hat unter Eis mich begraben
… heisst es in „Winter“. Und erst die Evidenz des Sarges lässt Fritschi den Tod ihres Gatten überhaupt zur Kenntnis nehmen:
Ich konnte dem Telegramm nicht glauben, ein Irrtum, sagte ich zum Soldaten, (…) tut mir leid, gnädige Frau, die Beerdigung findet in Lecce statt.
Auch der Vater stirbt in einem Gedicht, eine Freundin, eine Katze, der Sommer. Und als früheste Kindheitserinnerung ein junger Onkel, umrahmt – die vielleicht einzige humoristische Szene der Sammlung – von seinen beiden Verlobten.
Selbstreflexive Poesie
Ihren eigenen Tod spürt Lina Fritschi in zahlreichen Gedichten näherkommen, so etwa in Abschied:
Ich verabschiede mich von den Versen, vielleicht auch vom Leben.
… oder in „Naher Tod“:
Man sagt, im Alter, wenn der Wunsch nach Liebe zurückkehre, sei dies ein Zeichen des nahen Todes.
Teilweise wünscht sie den Tod auch herbei (in „Gebet“):
Wüsste ich nur zu welchem Gott beten, dass die Zeit, die mir bleibt, eiligst vergehe.
Als Grund dafür findet sich immer wieder ihre Blindheit, die ihr offensichtlich schwer zu schaffen gemacht hat. Diese war auch die Ursache dafür, dass sie ihre geliebte Heimat im Piemont verlassen musste, um sich in der Toskana von der Tochter versorgen zu lassen. Auch wenn das für uns deutsche Touristen nicht so weit klingt, liegt es immerhin 400 km auseinander.
Ein etwas zwiespältiges Verhältnis hat Fritschi zur Dichtkunst. Mal bezeichnet sie (in „Überlebt“) die Poesie als
Hexe, Gefährtin und Feindin. Auch jetzt noch bedrängst du mich, jetzt, wo ich alt bin.
… mal erklärt sie:
Ich habe keine Angst vor dem Wort, ich liebe es, manipuliere es, wälze es um.
… und lässt sich vorsorglich vom Pfarrer bescheinigen, dass dies gottgewollt sei („Noch ein Dialog“).
Lyrik-Sprache nahe an der Prosa
Die Sprache ist klar, direkt, konzise, oft lakonisch, oft nahe an der Prosa. Auffällig ist die Häufung von relativierenden Begriffen wie „forse“ („vielleicht“) und „a volte“ („manchmal“). Es gibt keine Reime, kein durchgehendes Metrum, noch nicht einmal Strophen. Die Vers-Aufteilung ist nur vereinzelt sinngebend. Es sind das durchwegs klar hervortretende lyrische Ich und seine reflektierende Beschäftigung mit seiner eigenen Stellung in der Welt, die die Texte fraglos zu Gedichten machen.
Die Übersetzung ist, soweit ich das mit meinen bescheidenen Italienisch-Kenntnissen beurteilen kann, gelungen. Natürlich ist Übersetzung immer auch Auslegung, aber nur an ganz wenigen Stellen hatte ich den Eindruck, dass der Sinn des Originals – nach meinem natürlich ebenso subjektiven Verständnis – verfehlt wurde, etwa wenn in Der Engel „L’avvertimento è una spada nel cuore“ mit „Die Warnung ist: im Herzen ein Schwert“ wiedergegeben wird anstatt mit „Die Warnung ist ein Schwert im Herzen“. Doch das Schöne an zweisprachigen Ausgaben ist, dass man sich auch dazu eine eigene Meinung bilden kann.
Anregungen für den Umgang mit Krankheit und Einsamkeit
Grösster Schwachpunkt des Buches ist das Nachwort, das sich ein bisschen wie der überlange Entwurf für einen Klappentext liest, die dürftigen biographischen und bibliographischen Angaben, die man im deutschsprachigen Internet findet, wenig liebevoll mit nochmaligem Abdruck einiger Gedichte aus dem Buch auf ein paar Seiten ausgedehnt. Aber natürlich, das darf man so deutlich sagen, ist das ein echtes Luxusproblem.
Wer Anregungen benötigt, wie man mit Verlust, Trauer, Krankheit, Einsamkeit oder Tod umgehen kann – und wer benötigt die nicht? –, wird in diesem Gedichtband von Lina Fritschi fündig. Definitive Kaufempfehlung. ♦
Lina Fritschi: Ein anderer Traum / Un altro sogno – Gedichte Italienisch und Deutsch, übersetzt von Christoph Ferber, 152 Seiten, Limmat-Verlag, ISBN 978-3-85791-896-4