Graham Burgess: Chess Opening Workbook for Kids

400 Eröffnungsstellungen für Schach-Kids

von Thomas Binder

Mit „Chess Opening Workbook for Kids“ komplettiert der angesehene englische Schach-Trainer und -Autor Graham Burgess seine Eröffnungs-Trilogie für Kinder. Zuvor hatte er in gleicher Aufmachung die Bücher „Schacheröffnungen für Kids“ und „Schach für Kids – Eröffnungsfallen“ vorgelegt. Es ist zu hoffen, dass auch vom neuesten Werk sehr bald eine deutschsprachige Ausgabe erscheint.

Chess Opening Book for Kids - Graham Burgess - Schachbuch-Cover - Gambit Verlag - Glarean Magazin
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Diesmal hat Burgess den Stoff als „Arbeitsbuch“ aufgearbeitet. Das bedeutet, dass in elf Kapiteln über 400 Eröffnungsstellungen präsentiert und jeweils mit einer konkreten Fragestellung verknüpft werden. Wir blicken in der Regel auf eine Stellung, die nach etwa sieben bis zehn Zügen entstanden ist, manchmal auch etwas später.
Welche Seite am Zug ist, wird durch die Buchstaben „W“ bzw. „B“ neben dem Diagramm angezeigt. Für diese Kennzeichnung fehlt in der Schachliteratur offenbar noch ein Quasi-Standard. Andere Autoren benutzen (neben der klassischen Textform) Pfeile oder farbige Kästchen. Chessbase (der Marktführer der Schachprogramme) setzt auf ein rundes schwarzes oder weisses Symbol rechts unten neben dem Brett.
Einige wenige Illustrationen von Shane Mercer lockern das Buch auf. Davon würde ich mir deutlich mehr wünschen.

Von Taktik bis Strategie

Chess Opening Workbook for Kids - Graham Burgess - Leseprobe Glarean Magazin
Leseprobe aus „Chess Opening Workbook for Kids“ zum Thema „Entwicklung und Zentrum“

Das Material ist nach Themen geordnet. Zunächst gibt es taktische Kapitel, wie Matt, Doppelangriff, Figurenfang oder Königsjagd. Unter dem Oberbegriff „Eröffnungsstrategie“ folgen dann Entwicklung, Zentrumsbeherrschung und Rochade. Das letzte dieser Kapitel ist mit „Does Bxh7+ work?“ überschrieben. Es hätte meines Erachtens allerdings in den Taktik-Abschnitt gehört. Der Leser soll hier unvoreingenommen entscheiden, ob sich das klassische Läuferopfer auf h7 oder h2 in der konkreten Stellung lohnt.
Abschliessend gibt es dann noch einige Testaufgaben mit Punktbewertung – ein offenbar unausrottbares Element vieler Schachlehrbücher, dessen Sinn sich mir noch nicht so recht erschlossen hat.

Überlegt ausgewählte Aufgaben

Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen Einführung ins Thema. Auch hier trifft Burgess nach Inhalt und Umfang genau ins Schwarze.
Die Aufgaben – je 6 Diagramme auf einer Seite – sind durchweg sehr überlegt ausgewählt. Es werden unterschiedliche Schwierigkeitsgrade bedient, ohne dass unbedingt eine Sortierung nach aufsteigender Schwierigkeit erkennbar ist. Im Rahmen des Kapitelthemas sind die Aufgaben wiederum recht vielfältig. Hervorzuheben ist auch, dass sich der Leser in manchen Fällen auf die Seite des Verteidigers begeben muss, der eine thematische Gefahr abwehrt. Insgesamt bleibt man immer auf einem Niveau, das es dem jungen Schachtalent ermöglicht, die Aufgaben ohne Schachbrett „vom Blatt“ zu bearbeiten. Genau so muss es ja für eine Vorbereitung unter turniernahen Bedingungen sein.
Im Anschluss an jedes einzelne Kapitel folgen dann die Lösungen. Sie werden schmucklos und ohne weitere Diagramme präsentiert. Das fordert die ambitionierten jungen Leser doch etwas mehr heraus, wenn sie auch hier noch allen Varianten folgen wollen. Auch wirken diese Seiten im Kontrast zu den Aufgabenblättern etwas zu eng bedruckt.

Junge Leser und Trainer als Zielgruppen

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Das Workbook wendet sich primär an die im Titel angesprochenen „Kids“, wobei ich die Altersuntergrenze bei 10 Jahren ansetzen würde. Da es aber keine wirklich auf Kinder zugeschnittenen Elemente enthält, können selbst ältere Jugendliche unbefangen damit arbeiten. Ja – man kann es mit wachsender Spielstärke und Erfahrung sicher auch mehrfach zur Hand nehmen. Neben den jungen Lesern sind deren Trainer eine genauso wichtige Zielgruppe. Sie können den hier vorgelegten Aufgabenschatz in ihren Unterricht einbauen oder für individuelle Aufgabenstellungen nutzen. Gerade Trainer mit wenig Literatur im Hintergrund (z.B. in Schulschachgruppen) finden für kleines Geld einen riesigen Aufgabenvorrat zum Eröffnungsspiel.

Geeignet auch fürs Selbststudium

Aus der Sicht des Trainers ist es allerdings etwas schade, dass die einleitenden Züge vor der Diagrammstellung nicht angegeben werden. Ja – das hätte etwas Platz gekostet, würde aber zusätzliche Einsatzmöglichkeiten im Training bzw. bei der Wettkampfvorbereitung eröffnen. Dass die Partiestellungen ohne Quellen angegeben sind, wirkt auf den ersten Blick ungewohnt, aber es geht eben um Eröffnungsstellungen, die so in der Turnierpraxis ungezählte Male auf dem Brett waren.
Fazit: „Chess Opening Workbook for Kids „ist eine sinnvolle Ergänzung zu den bisher vorliegenden Eröffnungsbüchern für Kinder des gleichen Autors. Sowohl für das Selbststudium als auch den Einsatz im Training ist der Band, der über 400 Aufgaben mit angemessen erklärten Lösungen enthält, hervorragend geeignet. ♦

Graham Burgess: Chess Opening Workbook for Kids – Schachlehrbuch für Kinder, 128 Seiten, Gambit Publications, ISBN 978-1911465379, 2019

Leseprobe (PDF)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Jugend-Schachbücher auch über das Lehrbuch des Circon Verlag: Schachtricks für Kinder

… sowie zum Thema „Schachspielen online“ über Stefan Breuer: Online-Schach für Amateur- und Hobbyspieler


English Translation

400 Opening Positions for Chess Kids

With „Chess Opening Workbook for Kids“ the renowned English chess trainer and author Graham Burgess completes his opening trilogy for children. Previously he had presented the books „Chess Opening Workbook for Kids“ and „Chess for Kids – Opening Traps“ in the same layout. It is to be hoped that a German-language edition of his latest work will also be published very soon.

This time Burgess has worked up the material as a „workbook“. This means that over 400 opening positions are presented in eleven chapters, each linked to a specific question. As a rule we look at a position that was created after about seven to ten moves, sometimes a little later.
Which side is the move is indicated by the letters „W“ or „B“ next to the diagram. Apparently there is still no quasi-standard for this marking in chess literature. Other authors use (besides the classical text form) arrows or coloured boxes. Chessbase (the market leader of chess programs) uses a round black or white symbol at the bottom right of the board.
A few illustrations by Shane Mercer loosen up the book. I would like to see much more of that.

From tactics to strategy

The material is arranged by topic. First there are tactical chapters, such as Matt, double attack, figure catching or king hunting. Under the generic term „opening strategy“, development, centre control and castling follow. The last of these chapters is titled „Does Bxh7+ work? In my opinion, however, it would have belonged in the tactics section. The reader should decide here without prejudice whether the classic runner sacrifice on h7 or h2 is worthwhile in the concrete position.
Finally there are some test exercises with point scoring – an apparently ineradicable element of many chess textbooks, the sense of which I have not yet quite understood.

Thoughtfully selected exercises

Each chapter begins with a short introduction to the topic. Here too, Burgess hits the mark in terms of content and scope.
The tasks – 6 diagrams on each page – have been carefully chosen throughout. Different levels of difficulty are used, without necessarily being sorted according to ascending difficulty. Within the chapter topic the tasks are again quite varied. It should also be emphasized that in some cases the reader has to take the side of the defender who defends a thematic danger. All in all one always stays on a level that allows the young chess talent to work on the tasks „off the page“ without a chessboard. This is exactly how it has to be for a preparation under tournament conditions.
Each chapter is followed by the solutions. They are presented unadorned and without further diagrams. This challenges the ambitious young readers a little bit more, if they want to follow all variants. Also, these pages appear a little too tightly printed in contrast to the task sheets.

Young readers and trainers as target groups

The workbook is primarily aimed at the „kids“ mentioned in the title, whereby I would set the age limit at 10 years. However, since it does not contain any elements that are really tailored to children, even older teenagers can work with it without any bias. Yes – with increasing playing strength and experience you can certainly use it several times. Besides young readers, their trainers are an equally important target group. They can incorporate the wealth of tasks presented here into their lessons or use it for individual tasks. Especially coaches with little literature in the background (e.g. in school chess groups) will find a huge pool of tasks for the opening game for little money.

Also suitable for self-study

From the trainer’s point of view, however, it is a bit of a pity that the introductory moves are not indicated before the diagram is drawn. Yes – this would have taken up some space, but would have opened up additional possibilities for training or competition preparation. The fact that the party positions are given without sources may seem unusual at first sight, but it is about opening positions, which have been on the board countless times in practice.

Conclusion: „Chess Opening Workbook for Kids „is a useful addition to the existing opening books for children by the same author. The volume, which contains over 400 tasks with appropriately explained solutions, is excellently suited for both self-study and training. ♦
(Thomas Binder, http://www.glarean-magazin.ch)

Musik-Psychologie: Das Mikrotiming im Rhythmus

Was bringt den Jazz wirklich zum Swingen?

von Walter Eigenmann

Dem Phänomen des Swing widmeten Duke Ellington und Irving Mills bereits 1931 einen speziellen Song, dessen erste Liedzeile bezeichnenderweise lautete: „It Don’t Mean a Thing, If It Ain’t Got That Swing“. Doch bis heute ist die Frage, was genau eine Jazz-Performance zum Swingen bringt, nicht wirklich geklärt. Ein Team des Göttinger Max-Planck-Institutes hat nun mit einer empirischen Studie die Rolle des sog. Mikrotiming im „Swing-Feeling“ bei 160 Profi- und Amateurmusikern untersucht.

Das Thema Mikrotiming in Jazz-/Pop-/Rock-Rhythmen wurde bislang unter Musikwissenschaftlern kontrovers diskutiert. Als Mikrotiming-Abweichungen werden die winzigen Abweichungen von einem bestimmten Rhythmus bezeichnet. Zum Verständnis: Jazz-, Rock- und Popmusik können den Zuhörer buchstäblich mitreissen, indem sie ihn dazu bringen, unwillkürlich mit den Füssen zu klopfen oder den Kopf im Takt des Rhythmus zu bewegen. Zusätzlich zu diesem Phänomen, das als „Groove“ bekannt ist, verwenden Jazzmusiker den Begriff Swing seit den 1930er Jahren nicht nur als Musik-Stil, sondern auch als rhythmisches Phänomen.

Was ist Swing?

Musik-Swing-Rhythmus - Ternäre und Binäre Achtelnoten - Glarean Magazin
Der erste Swing-Ton wird etwas länger gehalten (Ternärer Rhythmus)

Bis heute fällt es den Musikern jedoch schwer zu verbalisieren, was Swing eigentlich ist. Bill Treadwell beispielsweise schrieb in der Einleitung zu seinem „What is Swing?“: „Man kann es fühlen, aber man kann es nicht erklären“. Musiker und viele Musikfans haben also durchaus ein intuitives Gespür dafür, was Swing bedeutet. Doch bisher haben Musikwissenschaftler vor allem nur eines seiner (ziemlich offensichtlichen) Merkmale eindeutig charakterisiert: Aufeinanderfolgende Achtelnoten werden nicht einfach gleich lange gespielt, sondern die erste Note (der sog. „Swing-Ton“) ist etwas länger gehalten als die zweite. Das „Swing-Verhältnis“, d.h. das Verhältnis der Dauer dieser beiden Töne liegt häufig nahe bei 2:1, und es hat sich herausgestellt, dass es bei höheren Tempi eher kürzer und bei niedrigeren Tempi eher länger wird.

Mal genau nach Takt, mal ganz „entspannt“

Musikwissenschaft - Theo Geisel - Referat Rhythmus und Algorithmus - Glarean Magazin
Dr. Theo Geisel bei einem musikwissenschaftlichen Referat über Rhythmus und Algorithmus in Göttingen

Musiker und Musikwissenschaftler diskutierten schon immer auch die rhythmische Schwankung als eines der besonderen Merkmale des Swing. So spielen Solisten beispielsweise gelegentlich für kurze Zeiträume deutlich nach dem Takt, oder sie spielen „entspannt“, um den Fachjargon zu verwenden. Aber ist dies für das Swing-Gefühl notwendig, und welche Rolle spielen viel kleinere Zeitschwankungen, die sich der bewussten Aufmerksamkeit selbst erfahrener Zuhörer entziehen?
Einige Musikwissenschaftler sind seit langem der Meinung, dass es nur solchen Mikrotiming-Abweichungen (zum Beispiel zwischen verschiedenen Instrumenten) zu verdanken ist, dass der Jazz „swingt“. Forscher des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation und der Universität Göttingen rund um Theo Geisel kamen kürzlich aufgrund ihrer empirischen Studie zu einem anderen Ergebnis. Sie vermuten, dass Jazzmusiker den Swing etwas mehr spüren, wenn das Swing-Verhältnis während einer Aufführung möglichst wenig schwankt.

Dem Swing-Geheimnis auf der Spur

Die Unzufriedenheit mit der Tatsache, dass das Wesen des Swing ein Geheimnis bleibt, war die Motivation der Forscher unter der Leitung von Theo Geisel, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation, die Studie durchzuführen: „Wenn Jazzmusiker es spüren, aber nicht genau erklären können“, sagt Geisel, der selber Jazz-Saxophonist ist, „dann sollten wir die Rolle der Mikro-Timing-Abweichungen operativ charakterisieren können, indem wir erfahrene Jazzmusiker Aufnahmen mit den originalen und systematisch manipulierten Timings auswerten lassen“.

Auswertung verschiedener Timing-Manipulationen

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Dementsprechend nahm das Team zwölf Stücke auf, die über vorgenerierte präzise Bass- und Trommelrhythmen von einem professionellen Jazz-Pianisten gespielt wurden, wobei das Timing auf drei verschiedene Arten manupuliert wurde. Zum Beispiel eliminierten sie alle Mikro-Timing-Abweichungen des Pianisten während des gesamten Stücks, d.h. sie „quantisierten“ seine Darbietung. Weiters wurde die Dauer der Mikrotiming-Abweichungen verdoppelt, und bei der dritten Manipulation kehrten sie diese um.
Wenn der Pianist also einen Swing-Ton 3 Millisekunden vor dem durchschnittlichen Swing-Ton für dieses Stück in der Originalversion spielte, verschoben die Forscher den Ton um den gleichen Betrag, d.h. 3 Millisekunden hinter dem durchschnittlichen Swing-Ton, in der umgekehrten Version.
Anschliessend bewerteten 160 Berufs- und Laienmusiker in einer Online-Umfrage, inwieweit die manipulierten Stücke natürlich oder fehlerhaft klangen, und insbesondere hatten sie den Grad des Swing in den verschiedenen Versionen einzustufen.

Swing-Coolness bei den Profis

„Wir waren überrascht“, sagt Theo Geisel über das Ergebnis dieser Untersuchung, „denn im Durchschnitt bewerteten die Teilnehmer an der Online-Umfrage die quantisierten Versionen, d.h. diejenigen ohne Mikrotiming-Abweichungen, als etwas schwungvoller als die Originale. Mikrotiming-Abweichungen sind also kein notwendiger Bestandteil des Swingings“, so Theo Geisel.

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Der „King of Swing“: Benny Goodman (1909-1986)

Stücke mit verdoppelten Mikrotiming-Abweichungen wurden von den Befragungsteilnehmern als am wenigsten schwungvoll bewertet. „Entgegen unserer ursprünglichen Erwartung hatte die Umkehrung der zeitlichen Mikrotiming-Abweichungen nur bei zwei Stücken einen negativen Einfluss auf die Bewertungen“, sagt York Hagmayer, Psychologe an der Universität Göttingen. Die Wirkungsstärke des Swingens, die jeder Teilnehmer den Stücken zuschrieb, hing auch von dem individuellen musikalischen Hintergrund der Teilnehmer ab. Unabhängig von Stück und Version gaben professionelle Jazzmusiker im Allgemeinen etwas niedrigere Swing-Bewertungen ab als die Amateure.

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Am Ende der Studie fragten die Forscher die Teilnehmer nach ihrer Meinung darüber, was ein Musikstück ausserdem zum Swingen bringt. Die Befragten nannten weitere Faktoren wie dynamische Interaktionen zwischen den Musikern, Akzentuierung und das Zusammenspiel von Rhythmus und Melodie. „Es wurde deutlich, dass zwar der Rhythmus eine grosse Rolle spielt, aber auch andere Faktoren, die in der weiteren Forschung untersucht werden sollten, wichtig sind“, sagt Annika Ziereis, die zusammen mit George Datseris Autorin der betreffenden Publikation der Studie ist. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Jazz-Musik auch über Jean Kleeb: Classic goes Jazz

… sowie zum Thema Rhythmus und Bewegung: Die auditiv-motorische Synchronisation – Über die Fähigkeit des Takthaltens

Frauen-Schach-Weltmeisterschaft 2020

Ju Wenjun verteidigt ihren WM-Titel

von Walter Eigenmann

Gestern ging in der „Blue Hall“ der FEFU-University von Vladivostok die Frauen-Schach-Weltmeisterschaft 2020 der FIDE zuende. Die amtierende Weltmeisterin Ju Wenjun verteidigte den Titel gegen ihre Herausforderin Aleksandra Goryachkina knapp mit einem Playoff-Resultat von 2½-1½, nachdem die vorausgegangenen regulären Partien ein Unentschieden von 6-6 gezeitigt hatten.

Die zwei Weltklasse-Spielerinnen fochten ihr WM-Match, dessen erste Hälfte im chinesischen Shanghai und anschliessend im russischen Vladivostok ausgetragen wurde, auf einem insgesamt sehr hohen Niveau aus. Jede der insgesamt 16 Partien war hart umkämpft, das längste Game dauerte gar über 100 Züge. Dazu motiviert mag auch das verhältnismässig hochdotierte Preisgeld haben: 300’000 Euro bekam die Gewinnerin, immerhin noch 200’000 die Unterlegene.
Dabei erwiesen sich die beiden Grossmeisterinnen als absolut ebenbürtig. Sechs der zwölf Partien endeten remis, die anderen sechs teilte man sich in je drei Siege.

Die amtierende Schach-Weltmeisterin Ju Wenjun (links) schickt sich zum ersten Zug an, gespannt erwartet von ihrer Herausforderin Aleksandra Goryachkina. Im Hintergrund die iranische WM-Schiedsrichterin Shohreh Bayat.
Die amtierende Schach-Weltmeisterin Ju Wenjun (links) schickt sich zum ersten Zug an, gespannt erwartet von ihrer Herausforderin Aleksandra Goryachkina. Im Hintergrund die iranische WM-Schiedsrichterin Shohreh Bayat, deren „Kopftuch-Skandal“ an der WM nicht nur in ihrem Heimatland, sondern auch in der Schachwelt für hitzige Diskussionen sorgte…

Knapper Sieg im Tiebreak

Im gestrigen Playoff hatte das Duo den Titelgewinn in vier Schnell-Partien mit je 25 Minuten Bedenkzeit auszumachen.
Goryachkina war dem Sieg im ersten Spiel sehr nahe, und auch im zweiten Spiel dominierte sie, aber die Herausforderin konnte ihren Vorteil in beiden Fällen nicht umsetzen.
Beim dritten Angriff tischte Ju Wenjun die gleiche Eröffnung wie im ersten Spiel auch, allerdings mit einer Verbesserung, die ihr eine aggressivere Vorgehensweise erlaubte und schliesslich den vollen Punkt einbrachte.

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Im letzten Spiel hatte die Russin also mit den weissen Figuren zu gewinnen. Dementsprechend setzte sie alles auf eine Karte, wagte ein Bauernopfer, um die Initiative ergreifen zu können. Aber ihre ältere und erfahrenere Gegnerin gab das Material zurück und vermochte die Balance bis zum Remis zu sichern, was ihr genügte, die Krone zu behalten. ♦ [Walter Eigenmann]

Nachfolgend einige Top-Shots aus den 16 Games. (Mausklick auf einen Zug oder eine Variante öffnet ein Analyse-Fenster, wo sich auch das betr. PGN-File downloaden lässt).
Hier kann man alle Partien im PGN-Format runterladen.

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Chinesisches Spitzenschach auch über das Super-GM-Turnier in Danzhou 2017

… sowie über den Titel-Gewinn von Ju Wenjun vor zwei Jahren: Chinesische Dominanz gefestigt

Das Zitat der Woche über „Musik und Emotionen“

Warum klingt Dur manchmal so traurig wie Moll?

„Nach dem für die Zwischendominante beschriebenen Prinzip erklärt sich auch die für die Wissenschaft verwunderliche Tatsache, dass Durakkorde bisweilen ebenso traurig klingen können wie Mollakkorde, wenn sie als Dominante einer Molltonart erscheinen. Die sonst übliche emotionale Dur-Moll-Kontrastwirkung ist dann nämlich vollständig erloschen:

Franz Schubert - Liederzyklus Die schöne Müllerin - Zitat Vorspiel Die liebe Farbe - Glarean Magazin
Die dominantischen Durakkorde im zweiten Takt des Vorspiels von „Die liebe Farbe“ aus dem Zyklus „Die schöne Müllerin“ (hier rot gekennzeichnet) klingen ebenso traurig wie die Mollharmonien des ersten Taktes, da sie deren emotionale Wirkung übernehmen.

Identifizieren wir uns bei einer Molltonika mit einem Gefühl des Nicht-Einverstanden-Seins und bei deren Durdominante […] mit einem Willen gegen den Wieder-Eintritt der Molltonika, dann ergibt sich für die Dominante eine Situation, die – konsequent formuliert – folgendermassen beschrieben werden kann:

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Bei der Dominante einer Molltonika identifizieren wir uns mit einem Gefühl des Nicht-Einverstanden-Seins mit einem Gefühl des Nicht-Einverstanden-Seins. Die Anwendung unserer Theorie auf die Harmoniefolge Dominante-Molltonika führt also zu einer Art Pleonasmus.
Das erklärt nun, dass der Harmoniewechsel Molltonika-Dominante-Molltonika nur einen gemeinsamen emotionalen Gehalt vermitteln kann, nämlich den der Molltonika, also wie im obigen Schubert-Beispiel einen traurigen“. ♦

Zitiert nach Bernd & Daniela Willimek: Musik und Emotionen – Studien zur Strebetendenz-Theorie, Deutscher Wissenschaftsverlag 2019

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Musikpsychologie auch über Kognitive Forschung: Musik als Universalsprache

… sowie über Christoph Drösser: Hast du Töne? (Warum wir alle musikalisch sind)

Das Sudoku-Quartett im Januar 2020

Unbeschwerter Zahlen-Puzzle-Spass

Um in Sachen Sudoku-Rätsel eine Menge Denksport-Spass zu haben, sind nur ein bisschen Logik, ein bisschen Vorstellungskraft und ein bisschen Erinnerungsvermögen nötig. Das GLAREAN wünscht viel Erfolg beim Knobeln des jüngsten Sudoku-Quartetts im Januar 2020!

Neue leichte Sudoku 1-4 Januar 2020 - Aufgaben Glarean Magazin

Rätsel zum Ausdrucken (pdf)

Sudoku – die Regeln

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Ein Sudoku besteht aus 9 x 9 Feldern, die zusätzlich in 3 x 3 Blöcken mit 3 x 3 Feldern aufgeteilt sind.
Jede Zeile, jede Spalte und jeder Block soll alle Zahlen von 1 bis 9 jeweils genau einmal enthalten.
In ein paar der Felder sind bereits Zahlen vorgegeben. Bei einem Sudoku darf es nur eine mögliche Lösung geben, und diese muss rein logisch gefunden werden können.

Knobeln Sie im Glarean Magazin zum Thema Rätsel auch
das
Sudoku-Quartett vom Juli 2016

… sowie das Sudoku-Quartett vom Mai 2016 mit unterschiedlich schwierigen Rätsel-Aufgaben

Auflösung der 4 Rätsel —> (weiterlesen)

 

Weiterlesen

Poetry Spam – Ein Facebook-Literatur-Experiment

Digitale Bühne für moderne Poeten

Poetry Spam - Facebook-Gruppe - Logo - Glarean MagazinPoetry Spam ist eine Facebook-Gruppe, die „modernen Poeten eine digitale Bühne“ bieten will: „Ob geschriebenes Wort oder Poetry Clip, bebilderte Poesie oder Mini-Drama; FB bietet spannende multimediale Verknüpfungen!“, schreiben die Initianten. Erklärtes Ziel ist es dabei, „digitale Formen zu suchen, um User/innen ein neues, sinnliches Erfahren von Texte zu ermöglichen“ und so eine „Poetisierung des Netzes“ zu erreichen.

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Dementsprechend lädt die Gruppe alle Autorinnen und Autoren laufend ein, ihre neuen Texte, Bilder, Videos und Links an Poetry Spam bzw. direkt als Nachricht zu senden. Dabei schliesst Poetry Spam weitergehende Publikationsmöglichkeiten dieses „einzigartigen Netz-Projektes“ nicht aus: Anthologie, Happenings oder Lesungen sind angedacht. Hier finden sich die weiteren Einzelheiten des Projektes. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Poetry-Literatur auch über
Julietta Fix: Ein Fest (Drei Gedichte)

… sowie die Ausschreibung zum Literaturwettbewerb der „Textgemeinschaft.de“ für Kurzgeschichten zum Thema „Urlaubsliebe“

Weitere interessante Beiträge zum Thema Poetry im Internet:

Claus Eurich: Radikale Liebe (Albert Schweitzer)

Herzensbildung als Menschheitsethik

von Heiner Brückner

Der emeritierte Hochschullehrer für Kommunikationswissenschaften und Ethik Prof. Dr. Claus Eurich betätigt sich weiterhin als Kontemplationslehrer und Buchautor. Sein neuestes, ambitiöses Werk ist „Radikale Liebe – Die Lebensethik Albert Schweitzers – Hoffnung für Mensch und Erde“. Anspruch und Inhalt dieser Schweitzer-Monographie klaffen allerdings weit auseinander.

Der Verlagstext verheisst einen „leuchtenden Hoffnungsstrahl für die Zukunft der Erde“ und behauptet, dass Albert Schweitzer „alles, was er sagte, selber lebte“. Auf Einzelheiten geht die Laudatio nicht näher ein. Der Autor verspricht im zweiten Teil seines Buches die propagierte „Ehrfurcht vor dem Leben“ in die Gegenwart zu holen und „uns den wohl einzigen Weg der Rettung“ zu zeigen.
Um es vorweg zu nehmen: Ermahnend ist Claus Eurichs Lobpreis auf den „Urwalddoktor von Lambarene“ zweifellos, überzeugend oder ermutigend ist der wortreiche Text keineswegs und schon gar nicht optimistisch gegenwartstauglich.

Claus Eurich - Radikale Liebe - Albert Schweitzer Monographie - Cover Via Nova Verlag - Rezension Glarean MagazinEs sei fünf nach zwölf, meint Autor Eurich und sieht in seiner Neuerscheinung „Radikale Liebe“ die Lebensethik des Friedensnobelpreisträgers von 1952, Albert Schweitzer, als den Erlösungsweg. Doch Eurich entwirft ein desaströses, destruktives Zeitszenario: „Und so steuert die Titanic mit dem Namen ,Homo sapiens‘ unbeirrt auf den Eisberg zu.“ Als Rettung bietet er die Theorien Albert Schweitzers mit dem Primat des Geistigen, der nur durch „unsere Vorstellung einer universalen Ethik“ seinen Sinn erhalte. Das kommt mir vor wie eine Geister-Scheinung, die bei mir aber keine Geist-Erscheinung, sondern Widerspruch und Unmut über die Allgemeinplätze und Paraphrasen hervorruft. Denn kurz darauf zitiert der Autor: „So, im Mitfühlen mit allen Geschöpfen und der entsprechenden ethischen Tat, verdient der Mensch erst den Namen Mensch.“

Gefesselt und geblendet von der Theorie

Albert Schweitzer beim Bach-Spiel an der Orgel - Original Columbia Masterworks 1952 - Glarean Magazin
Schweitzer beim Bach-Spielen an der Orgel – (Original Columbia Masterworks 1952)

Ich bezichtige ihn nicht der Sentimentalität, er scheint vielmehr gefesselt und geblendet von der Theorie, die er verficht, und nicht mehr in der Lage nachvollziehbar zu strukturieren, sondern landet immer wieder in den kurzschlüssigen Konklusionen seines selbstverliebten immanenten Denkschemas. Aufrüttelnd oder anrührend ist sein Gesinnungs-Hilferuf schon, aber nicht innovativ. Denn wer oder was ist der Rettungsengel, die Umkehr-Rettung?
Das intensiv gelobte und gehuldigte Übergenie Albert Schweitzer, der sich in nahezu allen wichtigen Lebensbereichen als Professor generalis gerierte, nämlich Theologe und Pfarrer, Musikwissenschaftler, Bach-Biograph, Orgelexperte, Konzertorganist, Mediziner, Kämpfer gegen Atomwaffen, Friedensnobelpreisträger, Philosoph, Ethiker, Kosmopolit, „schlichter Mensch und Diener der Mitgeschöpflichkeit“, war zu Lebzeiten auch ein Meister der Selbstinszenierung, hat sein Hospital nicht modernisiert, mit der Begründung von Tierliebe unhygienische Zustände zugelassen und einen kolonialen Führungsstil gepflegt.
Aus dem Elfenbeinturm einer Zitatenmühle antiquiert-nostalgischer Alma-Mater-Mentalität doziert Eurich in schwelgerischer Vorlesungsmanier und reiht die Widersprüchlichkeiten süffisant aneinander: „Dieses Fach in der Lebensschule trägt den Namen: Bildung des Herzens.“

Konkrete Lebensanhaltungspunkte vermieden

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Mit vagen Statements wie „Die Ethik der Ehrfurcht […] mischt sich in alles ein […] , wo dies notwendig ist“ vermeidet er konkrete Lebensanhaltspunkte überwiegend. Meine Geduld weiterzulesen war spätestens hier zu Ende, doch aus „Ehrfurcht“ vor dem Autor kämpfte ich mich auch durch die zweite Hälfte, denn da sollte es pragmatischer werden. Er verspricht die propagierte „Ehrfurcht vor dem Leben“ in die Gegenwart zu holen und „uns den wohl einzigen Weg der Rettung“ zu zeigen. Gelegentlich hält der Autor inne, um nicht falsch verstanden zu werden: „Menschheit als Schönheit in Entwicklung“, dann sofort aber hätten „wir das Gleichgewicht des Lebens so massiv gestört“ – “ […] dass das letztendlich im Suizid enden muss“. Und die Klage über den „schändlichen Umgang mit unseren nächsten Verwandten, den Tieren“, das Versagen der alten Ethik (sprich europäischen – ausser Albert Schweitzer – anthroposophischen Nische). Schweitzer stellt er als „Pate der modernen Tierschutzbewegung“ heraus.

Flugschrift für die Renaissance eines Humanisten

Claus Eurich - Glarean Magazin
Autor Claus Eurich (geb. 1950)

Die kämpferische Flugschrift für die Renaissance eines verdienten Humanisten, allerdings in einer Art und Weise, die jenseits von wissenschaftlicher Sachlichkeit liegt, liest sich wie das Skript zu einem kontemplativen Entspannungs- und Vertiefungsseminar im „Kampf“ gegen das „Desaströse“ ohne akademischen Diskurs. Bezeichnend auch die persönliche Anrede an den Leser im Stil gewisser Ratgeber-Literatur: du („Fang an, … Lebe schon jetzt deinen Traum und dein Ideal, unbeirrt, dem Leben dienend.“).
Zwar wird vorwiegend auf die Predigt von Albert Schweitzer „Ehrfurcht vor dem Leben“ Februar 1919 rekurriert und aus dessen Ethik-Philosophie zitiert, aber durch die Auswahl und die verwirrende Aneinanderreihung ergeben sich Gegensätze, Widersprüche und gehäufte Wiederholungen, die mehr über den Geschmack oder die Vorliebe des Autor aussagen, als dass sie Schweitzers Theorie schlüssig erhellen. Wenn Eurich am Schluss als Resümee an Franz von Assisi erinnert, dessen Armut Albert Schweitzer in ein „neuzeitliches Gewand“ gekleidet habe, dann erhebt er ihn zum Heiligen oder schwächt sein beabsichtigtes Hofieren des Urwalddoktors ab.
Da möchte ich ihn an sein Zitat aus der Kulturphilosophie Schweitzers verweisen: „Wahre Ethik fängt an, wo der Gebrauch der Worte aufhört“ – und dann das Buch zuklappen… ♦

Claus Eurich: Radikale Liebe – Die Lebensethik Albert Schweizers – Hoffnung für Mensch und Erde, Sachbuch, 120 Seiten, ViaNova Verlag, ISBN 978-3-866-16473-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Kulturgeschichte auch über den Essay von Georg Cavallar: Gescheiterte Aufklärung?

Weitere Internet-Beiträge über Albert Schweitzer

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Peter Biro: Raus aus der Klimafalle! (Satire)

Raus aus der Klimafalle!

Peter Biro

Die täglich eintreffende Nachrichtenflut über die sich anbahnende Klimakatastrophe ist selbst für habituelle Warmduscher wie mich beunruhigend. Natürlich freue ich mich über die Erwärmung der Meere und das Abschmelzen der Polkappen, denn dann werden die vorher vereisten Landstriche auch für die Liebhaber der tropischen Breitengarde verfügbar. Das erschliesst einem neue Orte für sonnenverwöhntes Strandleben und anverwandte Freizeitaktivitäten.
Aber so einfach ist die Sache auch wieder nicht. Einerseits könnten bereits jetzt heisse Gegenden völlig unbewohnbar werden. Was aber andererseits noch viel schlimmer wäre, ist dass durch das Ansteigen des Meeresspiegels selbst in Bergdörfern die Keller überflutet würden, und die dort gelagerten Kartoffeln entweder vollends verderben oder zumindest zu ungeniessbaren Salzkartoffeln aufweichen. Das wiederum ist gastronomisch betrachtet absolut untragbar.

Erderwärmung - Klimakatastrophe - Polabschmelzung - Eisbär - Eisschmelze - Glarean Magazin
„Grillwettbewerb kosmischen Ausmasses“

Doch wie alle globalen Entwicklungen sind auch die Klimaveränderungen von unzähligen Co-Faktoren beeinflusst, die nur schwer quantifizierbar sind und sich gegenseitig verstärken oder aufheben – je nach vorherrschender Glaubensrichtung. Die einen glauben, dass die Klimaerwärmung menschenverursacht ist, die anderen vertreten die Ansicht, dass das an Aliens liegt, die an einem Grillwettbewerb kosmischen Ausmasses teilnehmen, und uns arme Würstchen sachte durchzubraten versuchen.
Die Sachlage ist in Wahrheit allerdings weit komplizierter. So wurde einstmals berichtet, dass selbst der leichte Flügelschlag eines Schmetterlings im fernen Amazonien über eine komplexe Kette von Zwischenschritten zu einer vielzitierten Veröffentlichung in angesehenen Fachzeitschriften führen kann. Das ist besonders bemerkenswert, wenn wir bedenken, dass sogar aufsehenerregendere Phänomene es nicht schaffen, in die Spalten der Fachzeitschriften zu gelangen – es sei denn, der Autor ist mit dem Herausgeber verwandt oder verschwägert. Ebenso ist in diesem Zusammenhang der jüngst bekanntgewordene Umstand in Betracht zu ziehen, dass der enorme Fleischverbrauch der wachsenden Weltbevölkerung eine intensive Massentierhaltung erfordert, die ihrerseits zu einer gewaltigen Freisetzung von klimaschädlichen Darmgasen führt. Nebst der unangenehmen Geräuschentwicklung, welche zwischen den Bergweiden der Alpentäler erschallt, verstärkt dies vor allem den Treibhauseffekt in der Atmosphäre. Damit konkurrenziert das die Auswirkung von Haar- und Deo-Sprays, deren Gebrauch stark eingeschränkt werden musste, um die gestiegenen tierischen Ausdünstungen auszugleichen. Dieser Umstand hat hinwiederum zu drastischen Kürzungen in der Friseurbranche und im Kosmetiksektor geführt. „So kann es jedenfalls nicht weitergehen“, sagte jüngst sehr zutreffend Herr Waldemar Obersteubl, der Vizepräsident der „Westfälischen Interessensgemeinschaft der Coiffeure und Lizenzierten Schamhaarzupfer“, in einem dramatischen Appell vor den Kameras des WDR.

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Die von austro-kanadischen Agrarflautologen vorgeschlagene Lösung des Darmgasproblems bei Kühen (und nebenbei bei übergewichtigen Sopranistinnen ebenso) könnte in der Verfütterung von grossen Mengen Knoblauch und Meerrettich liegen. Bei Meerrettich sind die Grenzen der Anbaumöglichkeiten leider bereits erreicht, und noch mehr Rettich kann nur noch aus dem Meer beschafft werden. Der benötigte massive Ausbau der Knoblauchproduktion hinwiederum erfordert enorm viel tierischen Dung, was bei den Primärerzeugern derselben mit noch mehr Gasausstoss einhergehen würde. Das ist ein klassisches circulus vitiosus, wie wir, die wenigen wirklich humanistisch gebildeten Klimaschützer, das untereinander zu sagen pflegen. Dies wird einem dann vor allem klar vor Augen geführt, wenn wir zusehen, wie eine uns persönlich bekannte Hauskatze damit beginnt, in ihren eigenen Schwanz zu beissen.
Ich hoffe, Sie konnten bis hierher meinen Ausführungen noch folgen, denn ab hier wird’s komplizierter. Wenn nicht, widmen Sie sich besser weniger anspruchsvollem Lesestoff.

Tiere im Regenwald - Abholzung - Brandrodung - Glarean Magazin
„Holz-Brandrodung für die vitale Billardtisch-Herstellung“

Die drohende globale Klimakatastrophe veranlasst viele Regierungen teils zu unüberlegten und übereilten Massnahmen. Dem sich abzeichnenden Landverlust durch den erwarteten Anstieg des Meeresspiegels versuchen beispielsweise die brasilianischen Behörden durch verstärkte Rodung und Abholzung des Regenwaldes entgegenzuwirken. Damit soll erreicht werden, dass ein Teil der landlos gewordenen Bevölkerung aus den überfluteten Randgebieten weiter ins Inland umgesiedelt werden kann. Die Frage allerdings bleibt offen, ob die Landgewinnung im Landesinnern durch Abholzung mit dem Landverlust durch den Anstieg des Meeresspiegels Schritt halten kann. Die internationalen Holzverarbeitungskonzerne, die dankenswerterweise den Auftrag zur Baulandgewinnung angenommen haben, arbeiten bereits an der Obergrenze ihrer Kapazität und roden was die Kettensägen hergeben. Aber mehr und schneller geht es kaum, und das obwohl diese Konzerne aus der Vermarktung des geschlagenen Holzes auch noch Profit schlagen. Ein nicht unerheblicher Teil des geschlagenen Holzes wird dabei aus der vitalen Billardtisch-Herstellung für monegassische Rennfahrer abgezweigt, um für den Bau der Flösse verwendet zu werden, die für den Transport der ins Inland strömenden Neusiedler nötig sind.
Selbstverständlich wehren sich die Ureinwohner des Amazonasurwalds gegen die fortschreitende Abholzung, und es soll mehr als einmal beobachtet worden sein, dass Indios die riesigen Bagger und Planierraupen mit Holzspeeren und vor allem mit buntem Federschmuck aufzuhalten versuchten. Davon unabhängig bemüht sich die am Rand der Rodungsflächen verbliebene, tropische Vegetation, verlorenes Terrain zurückzugewinnen, indem sie kurzfristig unbewachtes, kahles Gelände sofort mit schnellwachsenden Ranken überzieht. Daraufhin erobern Kakao- und Nescafé-Bäume die zurückgewonnenen Flächen als Kulturfolger. Als nächstes lassen sich bunte Aras auf deren Ästen nieder, sehr zur Freude von ratlosen Kreuzworträtsel-Lösern, die dringend den Namen eines bunten Papageienvogels für „Senkrecht mit drei Buchstaben, beginnend und endend mit A“ suchen.
Um diesem schleichenden Landraub entgegenzusteuern, bemüht sich die einschlägige Industrie, den frisch gerodeten Waldboden mit Mikroplastik anzureichern, was der Unkrautwucherung wenigstens für eine begrenzte Zeit entgegenwirkt. Versäumt man es allerdings, nach dem Fällen der Bäume und der Entfernung des Mutterbodens rechtzeitig einige massiv energieverbrauchende Industrieanlagen hinzustellen – oder wenn’s nicht anders geht, zumindest genügend Sondermüll weitläufig zu verstreuen – dann entsteht dort ruck-zuck neuer Urwald, in welchem kurze Zeit später sich jede Menge giftiges Ungeziefer breitmacht und menschliche Neuansiedlung buchstäblich verunmöglicht.

Plastikmüll - Meer - Ozeane - Umweltkatastrophen - Glarean Magazin
„Plastikmüll auch auf der maritimen Seite vorantreiben“

Die landbasierte Ausbringung von Mikroplastik muss selbstverständlich auch auf der maritimen Seite ebenfalls vorangetrieben werden. Das ungehemmte Algenwachstum in den Ozeanen führt zur unkontrollierten Vermehrung von Plankton, und das wiederum zum Überhandnehmen der Wale, die mit ihren gewaltigen, tranigen Leibern den Schiffsverkehr behindern. So manches Containerschiff, welches lebenswichtigen Giftmüll transportierte, musste sinnlos herumalbernden Meeressäugern ausweichen und deshalb kostspielige Routenänderungen vornehmen. Mit Sorge müssen wir ausserdem feststellen, dass – trotz intensivierter Hochseefischerei mit langen Schleppnetzen – die Verminderung des ozeanischen Gewusels und Gekrabbels durch allerlei nutzlose Kreaturen noch sehr zu wünschen übriglässt.
Gerade aus dieser Sorge heraus haben einige internationale grosskonzerne, die sich der Erhaltung unseres Planeten widmen, eine raffinierte Kampagne gestartet und schicken die „kleine, pausbäckige Berta“ mit einem ganzen Tross von Betreuern, Kleinkinderzieherinnen und Cateringangestellten um die Welt, um den gedankenlosen Konsumfeinden und Fleischverschmähern die Leviten zu lesen.
Besagte kleine, pausbäckige Berta ist ein herziges Kleinkind von bereits über 5 Jahren, das sehr reif für sein Alter und bestens vertraut ist mit dem Vokabular der Klimabewegung. In mehrwöchigen Leistungskursen wurden ihr die wichtigsten Axiome und Argumente der globalen Klimaverbesserung eingetrichtert. Sie kann nun wie auf Knopfdruck bis zu vier Litaneien nacheinander abspulen und damit die Zuhörerschaft in den Bann schlagen. Ihr eindringlich genuschelter Vortrag in einer international verständlichen Babysprache lässt keinen Zuhörer unbeeindruckt, und ganze Veganer-Vereinigungen sind zu überzeugten Fleischkonsumenten geworden, noch bevor sie ihre Ansprache beendet hatte.

Greta Thunberg - Glarean Magazin
„Kleine, pausbäckige Berta“

Ein solcher Auftritt vor tausenden Umweltschützern läuft meist so ab, dass die kleine, pausbäckige Berta, hübsch angezogen und frisch gekämmt, an das Rednerpult gestellt wird, dann wartet man bis alle Film- und Fernsehkameras auf sie ausgerichtet sind und zu surren und blinken beginnen. Wenn daraufhin das Blitzlichtgewitter verebbt und endlich ergriffene Stille im Stadion herrscht, gibt die stets nah bei ihr stehende Dompteurin und oberste Ideologiechefin ein vorher vereinbartes Zeichen, und die kleine, pausbäckige Berta reisst sich entschlossen den Schnuller aus dem Mund und fängt an ins bereitstehende Mikrophon zu sprechen. Sie beginnt stets mit derjenigen ihrer 16 vorgefertigten Heilsbotschaften, die ihre plötzliche Bekehrung von der frühkindlichen veganen Lebensweise zur besorgten Steakliebhaberin zum Inhalt hat. Sie erklärt, wie sie sich plötzlich, von einem Tag auf den anderen geweigert hatte, die milchige Griespampe zu essen und stattdessen von ihren verblüfften Eltern ein T-Bone-Steak medium rare verlangte. Daraufhin erkannten ihre Eltern, dass die kleine, pausbäckige Berta zu Höherem berufen ist, als nur ihre Windeln vollzumachen. Mit ihren beeindruckenden Monologen bekommt die kleine, pausbäckige Berta die Aufmerksamkeit nicht nur der ganzen Welt, sondern auch spezieller Personal-Trainer, die sofort einspringen, wenn sie mit ihrem Redefluss ins Stocken gerät. Dann wedeln sie vor ihren Augen mit einem an einem Faden aufgehängten Gummibärchen, was ihr meist sehr gut über inhaltlich schwierigere Passagen hinweghilft, oder über solche, die eine deutliche Artikulation benötigen.

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Die kleine, pausbäckige Berta hat seit den Anfangserfolgen ihrer Auftritte – ohne ihre Eltern vorher zu konsultieren – den Besuch der Kinderkrippe abgebrochen. Dabei kündigte sie einen unbefristeten Krippenstreik ihrer solidarischen Altersgenossen für alle Werktage von Montag bis Freitag an, was sie demnächst auch im Parlament politisch durchsetzen möchte. Aufgrund der Bewegungsfreiheit, die sie sich durch die Abwesenheit von ihrer Kinderkrippe erkämpft hat, stattet sie zwischen ihren stadionfüllenden Ansprachen den wichtigsten Staatsoberhäuptern ihre Besuche ab und klärt sie über die desolate Lage des Weltklimas auf. Bei diesen hochkarätigen Begegnungen schreibt sie ihren andächtig lauschenden und unterwürfigen Gesprächspartnern gerne vor, was man dagegen machen soll. Denn die kleine, pausbäckige Berta drückt sich da ganz klar aus: Es geht um die junge Generation, und diese möchte noch zu Lebzeiten alle Fleischsorten und -sossen ausprobieren können. Es geht sogar die Kunde, dass die kleine, pausbäckige Berta demnächst auch dem Heiligen Vater eine Audienz gewähren wird, vorausgesetzt, dass dieser seine Enzyklika den Forderungen der Krippenverweigerer-Bewegung anpasst. Derweil hat ihre jüngere, dreijährige und noch pausbäckigere Schwester Myrta bereits mit dem Training angefangen und soll nach dem Plan ihrer Betreuer in die Fusstapfen ihrer grossen Schwester treten, sobald diese mit 10 Jahren viel zu alt für wirkungsvolle Auftritte in der Öffentlichkeit sein wird. ♦


Prof. Dr. med. Peter Biro

Prof. Dr. Peter Biro - Arzt und Schriftsteller - Glarean MagazinGeb. 1956 in Grosswardein (Rumänien), 1970 Emigration nach Deutschland, Medizinstudium in Frankfurt/Main, seit 1987 Anästhesist am Universitätsspital Zürich und Dozent für Anästhesiologie, schreibt kulturhistorische Essays und humoristische Kurzprosa, lebt in Feldmeilen/CH


Lesen Sie im Glarean Magazin auch die Medizin-Satire von Peter Biro:
Die Liebe zu den drei Organen – oder Wie es Herz-Terz, Leber-Kleber und Milz-Pilz im Spital erging

… sowie die Satire von Rainer Wedler: Ein Mann muss einen Bart haben

SAID: Magdalena und ihre Frage (Erzählung)

magdalena und ihre frage

SAID

niemand wusste, wovon der kerl lebte. er hatte eine vergangenheit, aber niemand erzählte davon. als hätten alle angst, er schlüge dann noch einmal zu.
er trug zu jeder jahreszeit einen mantel, schmutziggelb. wer weiss, was er darunter verbarg. immer eine schwarze wollmütze. stets die hände in den taschen, er grüsste niemanden, beantwortete keinen gruss und streifte herum. er wusste, was er suchte –  mich.
ich durfte sogar erfahren, dass er mich beschützt; als hätte er mich längst für sich reserviert.
man tuschelte bereits von uns, bis ich das nicht mehr aushielt. ich liess ihn wissen, dass ich zu einem gespräch bereit sei. dabei hat er mich nie darum gebeten.
ich richtete mich für das treffen her. ein kleid mit schmalen trägern, rückenfrei und kurz, ohne bh. meine brüste sollten ihre freiheit geniessen.
ich sass da, die beine übereinandergeschlagen, trank meinen campari und berührte immer wieder meine lippen.
natürlich liess er mich warten. als wüsste er, dass ich nicht ungern zapple.
ein hallo, und er sass mir gegenüber, ich versuchte die füsse still zu halten. der kerl schwieg, bis ich unruhig wurde. ich setzte mich um, schlug die beine erneut übereinander, wippte mit einem fuss und schaute ihm in die augen. kann meine haut die wut aufnehmen, die diesen kerl bedrängt? vor der antwort grauste es mir.
endlich machte er den mund auf.
– vor deiner tür heulen wohl nachts wölfe.
– aber echte wölfe haben mehr anstand.
er grinste und zeigte die gelben zähne.
dann wurde er deutlich.
– ich will dich, finde dich damit ab.
ich wippte wieder mit dem fuss und fuhr mit der zunge über die lippen. soll ich mich je seinem mund überlassen und diesen zähnen? ich wusste bereits eine lösung für mich.
erst will ich ein paar küsse. dann entscheide ich, ob der kerl hässlich ist.
er bestellte noch einen campari für mich und starrte mich an.
– was haben sie für ein gesicht, voller furchen.
– dir gefällt wohl meine visage nicht.
– das ist ansichtssache.
und schon versuchte ich, alles wieder gutzumachen.
– ich meine, man kann in diesem gesicht viel entdecken.
er beugte sich vor.
– und was entdeckst du darin?
ich öffnete leicht die beine unter dem tisch.
– ich versuche, sie und die welt zu verstehen.
er griff in meine beine.
– ich auch.
da wusste ich, dass ich besiegt bin. erleichterung ging durch meinen körper.
die frage, die mir herausrutschte, war eher rhetorischer natur.
– habe ich eine wahl?
er schüttelte den kopf.
meine haut wollte sofort ja sagen, aber ich machte wieder den mund auf.
– aber vielleicht eine frist?
– geh zu dem gefesselten christus.
– und dann?
– frage ihn nach seinem rat.
er stand auf, stupste auf meine nase und ging.

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ich schaute ihm nach, er bewegte sich wie ein tier. er hatte etwas von der jungenhaften rauheit, die mich an männern reizt.
ich steckte zwei finger in den mund und beruhigte meine zunge.
– jetzt muss ich auch seine beziehung zum christus begreifen.
ich trank noch einen schluck und versuchte mir vorzustellen, wie der kerl mich anfasst.
widersprechende gefühle bestürmten mich. ich vertrieb sie und beschloss, morgen zu seinem christus zu pilgern.
mit meinem christus spreche ich oft. er braucht auch nicht zu antworten. es genügt, wenn er zuhört. aber warum ist sein christus gefesselt? hat dieser kerl vielleicht einen anderen gott?
am tag darauf zog ich mich sorgfältig an, züchtig wie mein geschmack es zuliess.
meinen mund aber habe ich geschminkt.
ich blieb vor diesem christus stehen und trug mein anliegen vor –
er schwieg.
wie ich da stand und wartete wie eine bettlerin, fiel mir augustinus ein. eigentlich habe ich sympathien für ihn, er war nie bieder. einmal beendete er seine predigt mit dem satz:
„am ende wird es nur noch christus geben, der sich selbst liebt!“
so viel eitelkeit für einen, der sich gott nennt?
heutzutage ist alles möglich. die welt steht kopf und produziert angst. die angst wird alle zähmen, selbst die ratten. auch die, die noch nicht zu ratten mutiert sind.
sein christus schwieg weiter. er hat mir nicht einmal etwas verboten. ist ihm gleichgültig, was der mann mit mir macht?
ich ging einen schritt näher und fragte, ob das begehren eine sünde ist?
auch da schwieg er.
doch dieses schweigen kannte ich nicht. hat der christus vielleicht zwei arten des schweigens? eine für mich und eine für meinen galan?
ich verliess die kirche, vernahm den widerhall meiner stöckelschuhe im raum und den gedanken, der mich bedrängte. sollte ich vielleicht einen anderen gott suchen, wenn dieser nicht antwortet?
draussen blieb ich stehen und stellte mir vor, wie ich mich ausnehme neben diesem kerl. ein plaid um die schulter, er lehnt sich seitlich an mich, die hände in den taschen und schaut in die stadt – als wolle er seinen neuen besitz vorführen.
jetzt fiel mir ein, ich kannte nicht einmal seinen klarnamen. wer kennt ihn schon? alle nannten ihn mit dem aliasnamen. er verlangte respekt ab, aber mir gefiel er nicht. möge mir sein christus tausend zungen schenken, auf dass ich dem kerl einen gebührenden namen verpasse.
ob ich bereits gefühle für ihn hatte?
ach, wo! aber er macht mir angst. die patrouillen am rande meines herzens wackelten schon.
dann musste ich an seine augen denken. ich werde wohl willfährig unter diesem blick. er wird sicher versuchen, mich abhängig zu machen – auf seine weise. und eben vor der art fürchtete ich mich.
seine fingernägel, so dreckig. ob er mit diesen fingern in meinen mund greift? aber man kann diese maniküren, darauf verstehe ich mich.
ich werde morgen noch einmal den gefesselten fragen, vielleicht antwortet er dann. auch ein gott hat seine launen, man muss ihm zeit lassen. froh über meine weisheit, stöckelte ich nach hause. vor meiner tür kam mir noch eine weisheit.
– ich werde auch meinen christus fragen, er kennt mich besser.
irgendwann wirft mich dieser ganove wie ein schlachtvieh hin und bedient sich.
und, wenn ich ihn das erste mal besuche, was mache ich, wenn eine andere frau da ist, nackt und erregt? renne ich hinaus, suche trost bei einer mauer, lege den kopf darauf und schluchze wie eine heulsuse, ich?
was, wenn er unerwartet von hinten heranpirscht und die pranke auf meine nackte schulter legt? er weiss ja, wie gerne ich schulterfrei herumstolziere. dann wäre ich ja ganz geliefert.
nein. die initiative für die erste berührung muss von mir ausgehen. ob der christus etwas dagegen hat? meiner bestimmt nicht.
wenn ich am ersten tag zu ihm gehe, nehme ich blumen mit?
rosen langweilen ihn sicher – ich gehe brennesseln pflücken für den herrn.

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in der nacht dachte ich an wachteln. sie lassen eindringlinge sehr nahe an sich herankommen, fliegen dann plötzlich auf und lassen sich schnell wieder in eine deckung fallen. oh ja, dieser herr muss eine weile zappeln, bis ich mich fallen lasse. er kennt nicht alle meine waffen.
jedenfalls will ich nicht eine der damen sein, die sich mit einem hundeblick ergeben.
was er über mich denkt, kann ich mir vorstellen.
magdalena wartet schon länger. sie braucht einen mann, der sie richtig anfasst.
wehe ihm, wenn er mich magda nennt.
der kerl kommt auf mich zu wie ein nahendes gewitter. ich sage nein, bestimmt. selbst, wenn berittene polizisten mich am strick abführen würden. als hätte ich je angst vor männern. ihr zorn amüsiert mich nur.
der mann versucht nicht einmal geschickt zu sein, und mir gefällt das gerade. und dann dieser blick, der mich immer weiter und weiter raten lässt, bis ich alles von mir erzähle.
kümmert er sich auch um meinen blick, wenn ich verlegen bin und nicht weiss, wohin damit?
ich werde den kerl schon zähmen mit meinem fleisch und seinem salz.
wir werden einander anblicken, ohne zu verraten, was jeder für sich bewacht. er seine gefährlichkeit ohne gesinnung. und ich? bewache ich da noch meine begierde, die mich triefend heimsucht bei seinem anblick?
für das erste treffen habe ich bereits ein szenario im kopf. ein kleid, ganz züchtig, schwarz. stöckelschuhe in rot als kontrast. und dazu ein kopftuch. er soll etwas zum enthüllen haben.
meine handtasche hänge ich über die türklinke. ich setze mich auf die couch – hoffentlich besitzt dieser barfüssige eine. ich schlage die beine übereinander, meine kräftigen schenkel für seine augen. und ich verdecke das gesicht mit beiden händen. ganz die unschuld vom lande. diese hände muss er schon mit nachdruck zurückdrängen. so einen griff beherrscht er gewiss. dann schaue ich ihm direkt in die augen. reagiert er immer noch nicht, öffne ich den mund. sagen muss ich ja nichts. der mund verrät alles, wenn ich erregt bin. wenn er dann nicht reagiert, dann hat er mich nicht verdient – aber er wird schon angreifen.
versteht er etwas von komplimenten? begreift er, dass ich komplimente nur dann ertrage, wenn sie frivol sind oder zumindest fragwürdig? soll ich ihm das verraten, damit er nicht daneben greift? ach was. er soll sein, wie er ist. einen schosshund kann ich nicht gebrauchen.
was auch kommt, ich halte fest an meinem christus und erzähle ihm alles.
er kennt mich ja so lange und auch meine begierde. er wird auf meiner seite bleiben.
zu beschützen braucht er mich nicht, das ist das vorrecht meines liebhabers.
mein christus wartet im hintergrund und gibt mir das gefühl der geborgenheit –
wie er es oft getan hat.
dann kehrt die heitere ruhe wieder in meinen körper ein. ♦


S A I D (Pseudonym)

SAID - Exil-Schriftsteller - Glarean MagazinGeb. 1947 in Teheran geboren, 1965 Übersiedlung als Student in die BRD, 1979 Rückkehr in den Iran, jedoch bald darauf und seither aus politischen Gründen wieder im deutschen Exil lebend; zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Träger verschiedener internationaler Literatur- und Kultur-Preise; 2000 bis 2002 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland; lebt in München

Lesen Sie im Glarean Magazin auch Kurzprosa von Michaela Seul: Eine Liebe im Herbst

Ausserdem zum Thema Liebe über die Gedichte von Lili Reinhart: Swimming Lessons (Freischwimmen)

Richard Harvey: Evensong – New Choral Music (CD)

Musik für den Abend und für die Nacht

von Horst-Dieter Radke

Mein erster Eindruck von „Evensong“, der neuen CD von Richard Harvey war dieser: Klingt irgendwie nach Gregorianik. Aber dann auch wieder nicht: zu gross sind die Sprünge innerhalb der Melodie. Mehrstimmigkeit und Harmonien passen auch nicht zu diesen alten Klängen. Also doch modern und neu? Ja – irgendwie kommt das Alte aber immer wieder durch. Manches klingt nach Madrigal und Motette, anderes nach Pärt oder Whitacree. In der Summe ist es aber kein Abklatsch, sondern ein eigenständiges Werk, das ich gerne in Folge gehört habe.

Intelligente Titelwahl

Richard Harvey - Evensong - New Choral Music - Cover Naxos - Musik Review Glarean MagazinDen Titel kann man vielfältig interpretieren: Abendgesang (dazu passen Titel wie Night Song, The Call, Lullay, Et in Arcadia, Evensong), oder auch Abendandacht, Abendgebet (Dona Nobis Pacem, Sanctus, Credo). Das dritte Stück – The Call – kommt ganz ohne altes Pathos aus. Es klingt eher wie ein für Chor umgesetzter Popsong. Das ist nicht negativ gemeint, zumal die Sopranistin Amy Haworth, bekannt auch schon als Ensemblemitglied von The Tallis Scholars, beeindruckend aus dem Chor hervorsticht. Das wiederholt sie noch einmal beim Titelstück Evensong. Lullay klingt dann fast schon wieder wie ein altenglisches Lied, etwa von Dowland oder Purcell. Sanctus erinnert stellenweise an alte Madrigale, besonders die letzten von Gesualdo.

Chor im Vordergrund

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Der Chor steht unüberhörbar im Vordergrund. Instrumente, die eingesetzt werden – bei den Titeln 3 und 4 auch Streichorchester – unterstützen und ergänzen den Chor, ohne ihn zu verdrängen. Beim letzten Stück begleitet der Komponist selber dezent mit Panflöte und Psaltererium.

Der Estnische Philharmonische Chor unter der Leitung von Heli Jürgenson macht seine Sache gut. Aufgenommen wurde im St Nicholas Kirchen Museum in Tallinn, und zwar ausschliesslich nachts. Diese Atmosphäre kommt spürbar in der Aufnahme beim Hörer an. Natürlich kann man sagen, dass dies ein subjektives Empfinden ist, was auch stimmt, aber ich habe die CD nach dem ersten Hören in der Folge vor allem spätabends und nachts wiederholt gehört, weil mir einfach die Ruhe dieser Zeit zu dieser Musik am besten zu passen schien.

Wanderer zwischen Klassik und Pop

Richard Harvey - Komponist - Flötist - Glarean Magazin
Richard Harvey

Richard Harvey ist kein Unbekannter. Der britische Komponist und Musiker hat eine unorthodoxe Karriere gemacht. Nach dem Studium schlug er ein Angebot des London Philharmonic Orchestra aus und spielte lieber in der Progressive Rock-Gruppe Gryphon mit, die stark von Folk- und Mittelalter-Einflüssen profitiert. Harvey brachte Krummhorn, Harmonium, Mandoline und andere Instrumente mit ein.
Er schrieb auch Filmmusik („Lady Chatterleys Liebhaber“, „Das dreckige Dutzend Teil 2“, „Luther“, „Eichmann“ u.a.). Er dirigierte das London Symphony Orchestra bei einigen Klassik-Rock-Alben und nahm mit dem Gitarristen John Williams das Afrika-orientierte Album „Magic Box“ auf.

Lust auf Live-Performance geweckt

Richard Harvey - Notenzitat Filmmusik Da Vinci Code
Zitat aus Harveys Filmmusik zu „The Da Vinci Code“ („Kyrie For The Magdalena„)

Seit 2005 tourt Richard Harvey mit Williams unter „John Williams & Richard Harvey’s World Tour“ weltweit, wobei ihr Programm eine Mischung aus klassischer Musik und Weltmusik aus allen fünf Kontinenten umfasst.
Harvey schrieb auch Konzerte, die von anderen Musikern aufgeführt wurden (John Williams mit klassischer Gitarre, Michaela Petrie für Blockflöte u.a.). Der Komponist bewegt sich als Komponist und Musiker souverän zwischen den Polen anspruchsvoller klassischer Musik, Weltmusik und populärer Musik.

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Fazit: „Evensong“ ist ein Album, das sich zu hören lohnt, das vor allem Lust macht, die Lieder einmal live zu geniessen. Und es motiviert dazu, sich auch mit den anderen Arbeiten des Komponisten zu beschäftigen. Ich kannte bis anhin nur die Zusammenarbeit mit John Williams („Magic Box“), werde aber in der nächsten Zeit auch in andere verfügbare Aufnahmen hineinhören. ♦

Richard Harvey: Evensong – New Choral Music, Chorwerke, Estonian Philharmonic Chamber Choir, Heli Jürgenson (Audio-CD – 50 min.)

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über die CD von Martin Grubinger: Drums `N` Chant (Gregorianik und Percussion)

… sowie zum Thema Chormusik über die „Chorbibliothek“ für Männerchor („Quo vadis, Chorgesang?“)


English Translation

Music for the evening and for the night

by Horst-Dieter Radke (Glarean Magazin)

My first impression of the new CD by Richard Harvey: Evensong was: Sounds like Gregorianik somehow. But then again not: the leaps within the melody are too big. Polyphony and harmonies don’t fit to these old sounds either. So modern and new after all? Yes – But somehow the old comes through again and again. Some sounds like Madrigal and Motette, others like Pärt or Whitacree. In sum, however, it is not a copy, but an independent work that I liked to hear in a row.

The title can be interpreted in many ways: Evening singing (songs like Night Song, The Call, Lullay, Et in Arcadia, Evensong fit to it), or also evening prayer (Dona Nobis Pacem, Sanctus, Credo). The third piece – The Call – gets along without any old pathos. It sounds more like a pop song realized for choir. This is not meant negatively, especially since the soprano Amy Haworth, already known as a member of The Tallis Scholars, stands out impressively from the choir. She repeats this once again in the title track Evensong. Lullay almost sounds like an Old English song again, for example by Dowland or Purcell. Sanctus reminds in places of old madrigals, especially the last ones of Gesualdo.

The choir is unmistakably in the foreground. Instruments that are used – including string orchestras in Titles 3 and 4 – support and complement the choir without displacing it. In the last piece, the composer himself accompanies discreetly with pan flute and psaltererium.

The Estonian Philharmonic Choir under the direction of Heli Jürgenson is doing a good job. It was recorded in the St Nicholas Church Museum in Tallinn, exclusively at night. This atmosphere is noticeably reflected in the recording. Of course one can say that this is a subjective feeling, which is also true, but I listened to the CD repeatedly after the first listening in the episode, especially late in the evening and at night, because simply the tranquillity of this time seemed to me to fit this music best.

Richard Harvey is no stranger. The British composer and musician has had an unorthodox career. After his studies, he turned down an offer from the London Philharmonic Orchestra and preferred to play in a progressive rock group Gryphon, which profited greatly from folk and medieval influences. Harvey brought in Krummhorn, harmonium, mandolin and other instruments.
He also wrote film music („Lady Chatterley’s Lover“, „Das Dreckige Dutzend Part 2“, „Luther“, „Eichmann“ and others). He conducted the London Symphony Orchestra on several classical rock albums and recorded the Africa-oriented album „Magic Box“ with guitarist John Williams.

Since 2005 Richard Harvey has been touring the world with Williams under „John Williams & Richard Harvey’s World Tour“, where their program includes a mixture of classical music and world music from all five continents.
Harvey has also written concerts performed by other musicians (John Williams with classical guitar, Michaela Petrie for recorder and others). As a composer and musician, the composer moves confidently between the poles of sophisticated classical music, world music and popular music.

Conclusion: „Evensong“ is an album which is worth listening to and which above all makes you want to enjoy the songs live. And it also motivates you to take a closer look at the composer’s other works. Until now I only knew the collaboration with John Williams („Magic Box“), but in the near future I will also listen to other available recordings. ♦

Das Musik-Weihnachtsrätsel 2019

Der Kreuzworträtsel-Spass zu Weihnachten

von Walter Eigenmann

Musik-Kreuzworträtsel - Weihnachtsrätsel - Glarean Magazin (Walter Eigenmann) - Aufgaben
Musik-Kreuzworträtsel – Weihnachtsrätsel – Glarean Magazin (Walter Eigenmann) Dezember 2019

Sie können das Weihnachtsrätsel 2019 hier ausdrucken!

Knobeln Sie im Glarean Magazin auch das Weihnachts-Kreuzworträtsel vom Dezember 2015

… sowie das Musik-Kreuzworträtsel vom März 2016

Weiterlesen

Simone Frieling: Peter Handke (Scherenschnitt)

Literatur-Nobelpreis 2019 an
Peter Handke

von Simone Frieling

Peter Handke

Dichter der Nähe,
der einen Stein aufhebt und ihn wie ein Kind
an sein Ohr hält, um der Stille zu lauschen,
der seinen Weg mit Muscheln säumt,
der einen Fuss vor den anderen setzt,
um die Welt zu erkunden und sich dabei
manchmal verirrt.

Simone Frieling - Peter Handke - Scherenschnitt - Karikaturen - Glarean Magazin
„Literatur ist nichts Künstliches, sie ist die Mitte der Welt.“ (Peter Handke)

Finden Sie im Glarean Magazin weitere Scherenschnitte von
Simone Frieling: Der Kopf des Monats

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… und sehen Sie zum Thema Karikaturen von
Christian Born: Mensch und Computer (Cartoons)

Viola Sanden: Playground Chess (Schach-Roman)

Schach auf amourösen Pfaden

von Ralf Binnewirtz

Der Debütroman der Wuppertaler Autorin Viola Sanden (alias Manuela Sanne) „Playground Chess“ ist dem noch jungen New Adult-Genre zuzurechnen: In diesem Fall ein Liebesroman, der die Altersgruppe der etwa 18- bis 30-Jährigen im Visier hat. Das Ungewöhnliche an dieser Lovestory ist zweifellos deren allmähliche virtuelle Anbahnung auf einem Schachserver, wo schnelle Partien zwischen gemeinhin anonymen Kontrahenten ausgetragen werden.
Das in zarter Rosatönung gehaltene Buchcover ist durch ein attraktives Design marketingwirksam gestaltet und legt dem Betrachter nahe, dass eine vornehmlich weibliche Leserschaft angesprochen werden soll. Werfen wir einen kurzen Blick auf den Verlauf seiner Story.

Online Chess mit Nickname Caissa

Playground Chess - Berührt Geführt - Liebesroman Viola Sanden - Piper Verlag - Glarean MagazinCatrin (Cati), 28, studierte Ökotrophologin (also Ernährungswissenschaftlerin) aus Düsseldorf, ist seit einiger Zeit solo, nachdem sie sich von Daniel getrennt hat – der ihr nichtsdestotrotz ein Freund und Helfer in allen Lebenslagen geblieben ist und im Buch eine substanzielle Nebenrolle spielt. Letzteres gilt auch für Catrins beste Freundin Anett, die ihr Privatleben – weniger zurückhaltend und besonnen als Cati – mit häufigen kurzlebigen Affären anreichert.
Catrin spielt in ihrer Freizeit vorzugsweise Schach auf der Onlineplattform „Playground Chess“ (unter ihrem Nickname „Caissa“ – die Nymphe/Göttin des Schachs) und trifft dort auf den ihr schachlich weit überlegenen „Magnus“ (wem kommt da nicht sofort der amtierende norwegische Schachweltmeister in den Sinn?), der mit bürgerlichem Namen Jon heisst und als Lehrer für Englisch und Mathematik in Bonn lebt. Beide sind offenbar direkt voneinander angetan, Neugier und Faszination wachsen sukzessive im Verlauf einiger Wochen, katalysiert durch einen zunehmenden E-Mail-Austausch und durch begleitende Online-Chats. Aber die derart voneinander erlangten Eindrücke und Kenntnisse bleiben naturgemäss unvollständig oder unsicher, woran auch ein von Jon initiiertes „Game“, ein auf Ehrlichkeit beruhendes Frage-und-Antwort-Spiel zwecks gegenseitigen besseren Kennenlernens, nichts grundlegend ändert.

Virtuality vs Reality

Schach Liebe Sex - Chess Love - Glarean Magazin
Liebesnacht via Online-Schach: Virtuality oder Reality?

In diesem ersten Teil des Buchs, überschrieben mit Virtuality, wird somit ein merklicher Spannungsbogen erzeugt: Die Frage und die sich steigernde Erwartung, ob, wann, wo und wie den Wort-Spielereien im ausschliesslich virtuellen Raum letztlich ein Nachspiel in der realen Welt folgt, harrt der Auflösung. Diese wird in Teil 2 des Romans – Reality – gegeben. Anhänger des Problemschachs mögen in diesem Kontext eine Schachkomposition assoziieren, bei der das virtuelle Spiel (Verführungen, Probespiele) zum reellen Spiel (eigentliche Lösung) hinführt, aber diese formale Analogie soll hier nicht überstrapaziert werden. Im Buch verabreden sich Catrin und Jon zu einem unverbindlichen Date in einem Kölner Hotel, und es kommt, wie es kommen muss: Das Treffen kulminiert in einer leidenschaftlichen Liebesnacht.

Viola Sanden - Manuela Sanne - Schriftstellerin - Playground Chess - Glarean Magazin
Unterhaltsam schreibend und intelligent konzipierend: Debüt-Romancière Viola Sanden (©Wynn Photodesign)

Aber alsbald ziehen dunkle Wolken am Horizont auf, Jon versetzt Catrin bei einem anschliessenden Date, und (mehr soll hier nicht verraten werden) letztlich bleibt es offen, ob die Beziehung langfristig Bestand haben kann. Wer ein Happy End à la Rosamunde Pilcher erwartet haben sollte, wird daher mehr oder weniger enttäuscht sein. Indes ist es aus Sicht des Rezensenten positiv zu werten, dass die Autorin keinen solch trivialen Schlusspunkt gesetzt hat. Zudem erhält sie sich die Option, in einem Folgeband die Geschichte von Catrin und Jon weiterzuspinnen, was sich natürlich anbietet, sofern sich dieser erste Band auch als kommerzieller Erfolg erweisen sollte.

Romanhandlung ohne Konflikte

FAZIT: „Playground Chess“ ist ein ungewöhnlicher Liebesroman, in dem sich das Online-Schach als Vehikel für eine Liebesaffäre entpuppt. Für die anfangs erwähnte Zielgruppe und diejenigen, die diese Art von Literatur mögen, verdient der unterhaltsame, gut geschriebene und intelligent konzipierte Roman sicherlich eine nachdrückliche Empfehlung. Und wer weiss, vielleicht wird die eine oder der andere durch die Lektüre angeregt, sich etwas näher mit dem königlichen Spiel zu befassen?

Die wesentlichen Figuren des Romans sind generell positiv gezeichnet und können als Sympathieträger gelten. Keinen Platz gibt es für den klassischen Bösewicht, der als Gegenspieler bedrohlich dazwischenfunkt und Unheil anrichten will. Ernste Konflikte sind in der Romanhandlung nicht vorgesehen. Die im Buch aufgebaute Spannung hält sich damit in gewissen Grenzen, wer atemberaubenden Thrill sucht, sollte zu anderen Büchern greifen.
Der Schreibstil der Autorin ist durchweg flüssig und leicht verständlich, der Satzbau übersichtlich, so dass das Lesepublikum ihren Gedankengängen mühelos folgen kann. Bei diversen Kapiteln wechselt die Erzählperspektive von der Ich-Erzählerin Catrin auf andere Protagonisten (Jon, Anett, Daniel), ein dramaturgisch geschickt eingesetztes Mittel, das uns die Sichtweise der anderen beteiligten Personen auf das Geschehen nahebringt. Da diese Kapitel jeweils durch den Namen des Erzählers in der Überschrift kenntlich gemacht sind, sollte dies keine Irritationen bei der Lektüre auslösen.

Schachwissen unnötig

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Ausgesprochen gefallen hat mir, dass die Autorin sämtlichen Kapiteln ein beziehungsreiches Zitat bzw. eine Weisheit von mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten vorangestellt hat, wofür sie offenbar nicht nur die Schachliteratur durchforsten musste. Als Auftakt zu ihrem Werk hat sie zudem ein Schachsonett von Christian Morgenstern reproduziert. Der insgesamt positive Eindruck wird noch durch den Befund gestützt, dass im Text bemerkenswert wenige Tippfehler verblieben sind. Erwähnt sei lediglich, dass der niederländische Schach-GM J. van der Wiel durch einen Buchstabendreher etwas unglücklich zu „van der Weil“ mutiert ist (S. 120 oben) – vielleicht eine Auswirkung der unseligen automatischen Rechtschreibkorrektur….

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Was die schachlichen Inhalte des Romans betrifft, so dürfen Schachfreunde nicht allzu viel Tiefgang erwarten. Dies ist offenbar der unausgesprochenen Forderung geschuldet, die Mehrheit einer schachunkundigen Leserschaft nicht durch übermässiges Expertenwissen zu vergraulen. Playground Chess ist daher auch ohne spezifische Schachkenntnisse gut lesbar. Ansonsten scheint die Autorin in ihrem Schachwissen gefestigt, im Text sind ihr keine fundamentalen s(ch)achlichen Fehler unterlaufen. Dies ist erfreulich angesichts der bereits bestehenden schachbelletristischen Literatur, in der sich teils eklatante Fehler versammelt haben. ♦

Viola Sanden: Playground Chess – Berührt. Geführt, Roman, 212 Seiten, Piper Verlag, ISBN 978-3-492-50264-1

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… sowie zum Thema Online-Dating in der Romanliteratur über Anke Behrend: Fake Off!

Gedicht des Tages von Georg Trakl: Im Winter

Schilfrohr im Winteracker - Georg Trakl - Lyrik - Glarean Magazin

Im Winter

Der Acker leuchtet weiss und kalt.
Der Himmel ist einsam und ungeheuer.
Dohlen kreisen über dem Weiher
Und Jäger steigen nieder vom Wald.

Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt.
Ein Feuerschein huscht aus den Hütten.
Bisweilen schellt sehr fern ein Schlitten
Und langsam steigt der graue Mond.

Ein Wild verblutet sanft am Rain
Und Raben plätschern in blutigen Gossen.
Das Rohr bebt gelb und aufgeschossen.
Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain.


Georg Trakl - Glarean MagazinGeorg Trakl

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… sowie das Gedicht des Tages von Walter Gross: Dezembermorgen

 

Kognitive Forschung: Musik als Universalsprache

Musikalität vereint die Weltkulturen

von Walter Eigenmann

Musik ist die einzige Sprache, die jeder versteht“ – stimmt das wirklich, oder ist das einfach schöngeistiges Wunschdenken, übrigens seit Jahrhunderten postuliert, aber nie verifiziert? Was meint eigentlich die Wissenschaft zum vielfältig diskutierten Thema „Musik als Universalsprache“? (Über den Themen-Komplex „Musik als Sprache“ im engeren Sinne wurde und wird schon seit Jahrzehnten geschrieben und geforscht – ein besonders anregender Beitrag hierzu findet sich in dem Essay von Ernst Krenek: Musik und Sprache).

Zwei wissenschaftliche Forschungsbeiträge in der jüngsten Ausgabe des renommierten Science Magazine untermauern nun die Idee, dass Musik auf der ganzen Welt trotz vieler Unterschiede tragende Gemeinsamkeiten hat.

"Das Medley der menschlichen Musikalität vereint alle Kulturen auf dem Planeten"
„Das Medley der menschlichen Musikalität vereint alle Kulturen auf dem Planeten“

Denn Wissenschaftler unter der Leitung des amerikanischen Kognitionsforschers Samuel Mehr (Harvard University) haben eine gross angelegte Analyse von Musik aus Kulturen auf der ganzen Welt durchgeführt, und die beiden Kognitionsbiologen Tecumseh Fitch und Tudor Popescu von der Universität Wien gehen davon aus, dass die menschliche Musikalität alle Kulturen auf der Welt vereint.

Gemeinsamkeiten heterogener Musikstile

Samuel Mehr - Kognitionsforscher und Musikwissenschaftler Harvard University - Glarean Magazin
Samuel Mehr, Kognitions-Forscher und Musik-Wissenschaftler an der Harvard University: „Es gibt eine Art grundlegende menschliche Musikalität“

Die vielen Musikstile der Welt sind so unterschiedlich – zumindest oberflächlich betrachtet -, dass Musikwissenschaftler oft skeptisch sind, ob sie tatsächlich wichtige gemeinsame Merkmale haben. „Universalität ist ein grosses Wort – und ein gefährliches“, sagte schon der grosse Leonard Bernstein. In der Tat, in der Ethnomusikologie wurde „Universalität“ zu einem Dirty Word – eine inhaltslose Worthülse. Aber Mehr’s neue Forschungen stellen in Aussicht, dass die Suche nach tieferen universellen Aspekten der menschlichen Musikalität neu entfacht wird.

Tonalität als „menschliche Prädisposition“?

So stellte Samuel Mehr fest, dass alle untersuchten Kulturen Musik machen und dabei sehr ähnliche Arten von Musik in ähnlichen Kontexten verwenden, mit jeweils einheitlichen Eigenschaften. Zum Beispiel ist Tanzmusik schnell und rhythmisch, und Schlaflieder weich und langsam – überall auf der Welt.
Darüber hinaus zeigten gemäss Mehr alle Kulturen Tonalität: Sie bauten aus einer Basisnote eine kleine Teilmenge von Noten auf, genau wie in der westlichen diatonischen Skala. Heilende Lieder neigen dazu, weniger Noten und dichtere Abstände zu verwenden als Liebeslieder.
Diese und weitere Ergebnisse deuten darauf hin, dass es tatsächlich universelle Eigenschaften der Musik gibt, die wahrscheinlich tiefere Gemeinsamkeiten der menschlichen Wahrnehmung widerspiegeln – quasi eine grundlegende „menschliche Musikalität“.

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In einer wissenschaftlichen Perspektive in derselben Ausgabe kommentieren die Forscher an der Universität Wien Tecumseh Fitch und Tudor Popescu die Auswirkungen. „Die menschliche Musikalität ruht grundsätzlich auf einer kleinen Anzahl von festen Säulen: Fest kodierte Prädispositionen, die uns die früheste physiologische Infrastruktur unserer gemeinsamen Biologie bietet. Diese ‚musikalischen Säulen‘ werden dann mit den Besonderheiten jeder einzelnen Kultur ‚gewürzt‘, was zu dem schönen kaleidoskopischen Sortiment führt, das wir in der Weltmusik finden“, erklärt Tudor Popescu. Und Fitch fügt hinzu: „Diese neue Forschung belebt ein faszinierendes Studiengebiet wieder, das von Carl Stumpf zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin entwickelt wurde, das aber von den Nazis in den 1930er Jahren tragisch beendet wurde“.

Das Musik-Medley aller Kulturen des Planeten

Musik-Konzert - Musiksoziologie - Musikpsychologie - Glarean Magazin
„Grundlegende Prädisposition musikalischer Inhalte in den menschlichen Weltkulturen“

Mit der Annäherung der Menschheit wachse gemäss Popescu und Fitch auch unser Wunsch zu verstehen, was wir alle gemeinsam haben – in allen Aspekten des Verhaltens und der Kultur. Die neue Forschung aus Harvard deute darauf hin, dass die menschliche Musikalität einer dieser gemeinsamen Aspekte der menschlichen Kognition ist. „So wie europäische Länder als ‚United In Diversity‘ bezeichnet werden, so vereint auch das Medley der menschlichen Musikalität alle Kulturen auf dem Planeten“, so Tudor Popescu abschliessend. ♦

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… sowie zum Thema Musik und Intelligenz über Lutz Jäncke: Macht Musik schlau?

Verwandte Thematik: Humanmedizin – Musik und Herzinfarkt (Musikforschung)

ausserdem zum Thema „Musik in der Sprache“: In der Sprache liegt Musik (Max-Planck-Gesellschaft)

Bücher-Liste zum Themenkreis „Musik und Sprache“