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«Klassik – wer hört sich sowas
eigentlich noch freiwillig an?»
(Thread-Titel in einem groβen deutschen Musik-Forum)
Seit Jahren beklagen führende «öffentliche» Kulturträger im Bereich «Klassik» (Opernhäuser, Orchester, Tonträger-Firmen, Musikschulen usw.) einen kontinuierlichen Rückgang sowohl des Publikums als auch der aktiv Musizierenden – und damit einhergehend eine dramatische «Vergreisung» der Klassik-Hörerschaft. Zitat des Bonner Kultur-Forschungszentrums: «Alarmierend ist der zunehmende Wegfall von Besuchergruppen mittleren Alters und jüngeren Senioren. Dies hat Auswirkungen auch auf die Jugend, die heute wesentlich seltener über das Elternhaus an die Klassik herangeführt wird als früher. 1965 gingen noch 58% der Bevölkerung im Alter bis 40 Jahre mindestens einmal jährlich in die Oper, heute sind es nur noch 26%».
Auch rein kommerziell verzeichnet die Klassik» eine mittlerweile ungebremste Talfahrt, wie die Statistik beweist.
Auslauf-Modell Klassik?
Das Problem ist gigantisch komplex, und man müsste ne Riesenmenge akademischer Diszipline (von der Neurophysiologie über die Kunsthistorik bis hin zur Musiksoziologie) involvieren, um ihm auch nur ansatzsweise gerecht zu werden. Wenn man aber einfach oberflächlich den einigermaβen beängstigenden Befund mit simplen Stichworten versehen will, drängen sich auf:
1. Adäquate Rezeption von Kunstmusik (was der Volksmund eben landläufig als «Klassik» bezeichnet), hat – so versnobt-elitär das rüberkommt – mit Bildung zu tun. Wer bei «Ta-Ta-Ta-Taaaa…» an «Karajan» oder «Schicksal» oder «Waldo de los Rios» denkt statt an Motiv-Entwicklung in der Sonaten-Form, der kann anstelle von Beethoven auch gleich einen Film über Bernhardiner-Zucht einlegen.
2. Die Politiker (nicht nur in der Schweiz…) reißen sich den Kultur-Sparstift nur so aus der Hand. Die Schamlosigkeit, mit der sie die schulische Musik-Erziehung zusammenstreichen, wird nur noch überboten von der Obszönität der TV-Werbe-Industrie beim Verwursten von «Classic-Highlights».
3. «Klassische» Kunstmusik bedarf u.a. einer gewissen – ja: Muße. Anders ist die notwendige Kompetenz und Intimität für dieses fundamentale, menschheitsgeschichtlich völlig unverzichtbare Kulturphänomen nicht herstellbar. Doch daran ist in unserem Wettbewerb-zerfressenen Wirtschaftsbetrieb der Börsen-Maximierung bei den wenigsten «Normalbürgern» zu denken: Nach einem 9-Stunden-Tag (voller Angst um den Arbeitsplatz) zieht man sich nicht noch einen «schwierigen» Rihm oder Stockhausen rein – da reicht’s allenfalls für was leichtes Melodisches, lieber überhaupt nur Rhythmisches, am besten gleich «Rap»…
4. Man mag die klavierspielende «Höhere Tochter» von anno altundstaub belächeln – doch sie musizierte wenigstens. Heutzutage sind die Zeiten eines breiten Bildungsbürgertums, dem die aktive Beschäftigung mit zeitgenössischer(!) Musik noch gesellschaftliche Verpflichtung war, endgültig vorbei – gewichen der neuen Generation omnipotent konsumierender L’oreal-Jugend, welche die Noten durchaus noch kennt, nämlich die Banknoten, und die als hörgeschädigte Headphone-Autistiker allenfalls noch den Bass-Bereich des riesigen Musikstile-Spektrums mitkriegt.
5. Eine Konsequenz von 1 bis 4 ist, dass der «Klassik» langsam aber sicher die Hörer ausgehen müssen. Nur wer das Glück hatte und in jungen Jahren musikalische Sozialisation erfahren durfte, geht als Erwachsener in die Oper oder in die Sinfonie. (Die Rezeption von Avantgarde-Musik ist wieder ein anderes, immenses Thema).
6. Ist also die Frage tatsächlich legitimiert, ob die Gesellschaft auf das Faszinosum «Klassische Musik» mit seinem unendlichen geistes-geschichtlichen Reichtum auch verzichten könnte?
Ja, warum eigentlich nicht!
Wenn bei Musik genau wie bei Yogurts alleine noch das Verfallsdatum zählt – und genau dies suggeriert die moderne «Hit»-Kultur -, ist’s womöglich wirklich besser, wir lassen Bach & Co. sein. Denn schlieβlich: Eine Gesellschaft hat nicht nur die Politiker, sondern auch die Musik, die sie verdient… Walter Eigenmann
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