Die Kunst, nicht zu lesen
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Über das Lesen von Büchern
Arthur Schopenhauer
Es ist in der Literatur nicht anders, als im Leben: wohin auch man sich wende, trifft man sogleich auf den inkorrigibeln Pöbel der Menschheit, welcher überall legionenweise vorhanden ist, alles erfüllt und alles beschmutzt, wie die Fliegen im Sommer. Daher die Unzahl schlechter Bücher, dieses wuchernde Unkraut der Literatur, welches dem Weizen die Nahrung entzieht, und ihn erstickt. Sie reißen nämlich Zeit, Geld und Aufmerksamkeit des Publikums, welche von Rechtswegen den guten Büchern und ihren edlen Zwecken gehören, an sich, während sie bloß in der Absicht, Geld einzutragen, oder Ämter zu verschaffen, geschrieben sind. Sie sind also nicht bloß unnütz, sondern positiv schädlich.
Neun Zehntel unserer ganzen jetzigen Literatur hat keinen andern Zweck, als dem Publikum einige Taler aus der Tasche zu spielen: dazu haben sich Autor, Verleger und Rezensent fest verschworen.
Ein verschmitzter und schlimmer, aber erklecklicher Streich ist es, der den Literaten, Brotschreibern und Vielschreibern gegen den guten Geschmack und die wahre Bildung des Zeitalters gelungen ist, dass sie es dahin gebracht haben, die gesamte elegante Welt am Leitseile zu führen, in der Art, dass diese abgerichtet worden, a tempo zu lesen, nämlich alle stets das Selbe, nämlich das Neueste, um, in ihren Zirkeln, einen Stoff zur Konversation daran zu haben… Was aber kann elender sein, als das Schicksal eines solchen belletristischen Publikums, welches sich verpflichtet hält, allezeit das neueste Geschreibe höchst gewöhnlicher Köpfe, die bloß des Geldes wegen schreiben, daher eben auch stets zahlreich vorhanden sind, zu lesen, und dafür die Werke der seltenen und überlegenen Geister aller Zeiten und Länder bloß dem Namen nach zu kennen!
Besonders ist die belletristische Tagespresse ein schlau ersonnenes Mittel, dem ästhetischen Publikum die Zeit, die es den echten Produktionen der Art, zum Heil seiner Bildung, zuwenden sollte, zu rauben, damit sie den täglichen Stümpereien der Alltagsköpfe zufalle.
Daher ist, in Hinsicht auf unsere Lektüre, die Kunst, nicht zu lesen, höchst wichtig. Sie besteht darin, dass man das, was zu jeder Zeit so eben das größere Publikum beschäftigt, nicht deshalb auch in die Hand nehme, wie etwa politische oder kirchliche Pamphlete, Romane, Poesien u. dgl. m., die gerade eben Lärm machen, wohl gar zu mehreren Auflagen in ihrem ersten und letzten Lebensjahre anfangen.
Vielmehr denke man alsdann, dass wer für Narren schreibt allezeit ein großes Publikum findet, und wende die stets knapp gemessene, dem Lesen bestimmte Zeit ausschließlich den Werken der großen, die übrige Menschheit überragenden Geister aller Zeiten und Völker zu, welche die Stimme des Ruhmes als solche bezeichnet. Nur diese bilden und belehren wirklich.
Vom Schlechten kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen: schlechte Bücher sind intellektuelles Gift, sie verderben den Geist. Um das Gute zu lesen, ist eine Bedingung, dass man das Schlechte nicht lese: denn das Leben ist kurz, Zeit und Kräfte beschränkt.
(Parerga und Paralipomena, § 295)
Arthur Schopenhauer (1788-1860)
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