Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Alexander Mitscherlich, Politik&Gesellschaft, Psychologie, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 14. Juli 2008

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Von der Notwendigkeit der Selbstwahrnehmung

Alexander Mitscherlich

Die Kulturleistungen der großen Religionen nehmen sich aus wie der Diamant in der Kohlenhalde. An der vitalen Kraft, aus der Grausamkeit und Zerstörungslust leben, hat sich im Grundsatz nichts geändert. Unser Jahrhundert der Folter setzt mit neuem Schwung und ungeniert fort, worüber sich zuletzt auch das bürgerliche Jahrhundert in seinen imperialen Besitzungen nicht geschämt hat: den Stolz auf seine Brutalität.
Die Produktionskraft der Industriegesellschaften ist in wenigen Jahren schwindelhaft gestiegen. Aber auch das Ausmaß der Schrecken tat es. Es ist nicht mehr Not wie vor 30 Jahren, die neidisch, hämisch, unversöhnlich, boshaft machen müßte. Es ist überhaupt nicht nur die böse Gesellschaft, die uns da entfremdet. Die Quellen der Aggression sind vielmehr Quellen, die in uns fließen, zu unserer Natur gehören.
Zu hoffen, daß wir von außen, von einem Heilbringer, von unseren Triebwünschen erlöst werden, ist leere Hoffnung. Wir können uns nur so weit frei oder unfrei fühlen, wie wir Kenntnis von uns selbst haben.: nicht verklärte, sondern unbeschönigte Kenntnis. Zu dieser Einsicht gehört, daß wir in dauerndem Konflikt mit den Triebbedürfnissen, den Glückswünschen der anderen leben. Im besten Fall ist Kultur Anweisung zur Harmonisierung unserer Bedürfnisse. Dieser beste Fall ist selten. Erst wenn wir in uns erfahren haben, wie zäh wir an den Befriedigungen, die wir einmal kennengelernt haben, hängen, wie sehr uns der Sinn auch nach der kleinen Münze der Grausamkeit steht, können wir uns selbst Verzichte auferlegen.

Alexander Mitscherlich

Angesichts der verdeckten und unverdeckten Grausamkeit in aller Welt, müssen wir uns eingestehen, daß die großen Sittenlehrer und Sittenlehren der Menschheit gescheitert sind. So wenige sich ans große Vorbild halten konnten, wo sie selbst ins Gedränge der Versuchung kamen, so viele vergaßen total am Wochentag, was sie am Sonntag vielleicht dumpf zu begreifen begonnen hatten. Freud nannte das «Kulturheuchelei» und fand das durchschnittliche Individuum der Kultur von seiner Moral und ihrem Anspruch auf Triebverzicht überfordert. Hier scheint abermals die Grausamkeit geheimer Sieger zu bleiben. Verbirgt sie sich nicht in jenen verbietenden Moralen, die dem schwächlichen Individuum immer die Fehlerrechnung präsentieren und sich an der Qual seines Versagens verlustieren? Der große Rückzug aus dem moralischen Engagement, die verächtliche Auflehnung gegen die Großmeister der Verbotsmoral, hat seine starke Wurzel darin, daß wir heute den geschichtlichen Weg der Menschheit besser kennen als je Menschen zuvor. Wir wissen z.B., daß während wir uns noch vom Exzeß unserer kollektiven Grausamkeit im Zweiten Weltkrieg erholten, an anderen Stellen der Erde schon neue Exzesse aufbrachen.
Die Ermahnung, nett zueinander zu sein und einen Völkerbund zu gründen, ist eben keine Vorbeugung. Die Autorität, die uns belehren könnte, müßte uns durch mehr Wissen über uns befreiend helfen, statt uns vorzuspiegeln, mit gutem Willen wären in Jahrtausenden ausgetretene Fußstapfen der Brutalität zu vermeiden.

Von den wissenschaftlichen Erforschern des menschlichen Verhaltens haben wir zu lernen, daß die Zerstörungsleidenschaft einem Trieb in uns korrespondiert; und zwar geschieht das in jedem von uns. Diese Zerstörleidenschaft entspringt einer der Anlagen des Menschen; keine noch so fürsorgliche Gesellschaft kann uns die Aufgabe der Aggressionsmeisterung abnehmen. Dazu gehört die Überwindung des Wunsches, den Schwächeren zu quälen und in seinem Selbstwert zu erniedrigen. Unsere Gesellschaft kann uns zur Aufmerksamkeit erziehen, Selbsteinsicht nicht aufzugeben, wo wir rücksichtslos fordern und handeln wollen. Meist verdeckt sie aber gerade diese Aufgabe, wo geheiligte Vorrechte zu opfern wären.
Soll Moral im Zeitalter perfekter Vernichtungsmittel nicht zur privaten Kuriosität absinken, zum Deckmantel für Taten, die es zu verschleiern gilt, dann kann die Funktion der Moral nur darin bestehen, uns sanft, aber beharrlich zur Erweiterung unserer Selbstwahrnehmung anzuhalten. Wo sie sinnlos Tugenden fordert, die nicht ohne Schaden erreichbar sind, arbeitet sie im Dienst der Zerstörung: die verwüsteten Landschaften, die ermordeten namenlosen Scharen der Geschichte beweisen es. Sie wurden immer im Namen einer Tugend vernichtet, die sich selbst als die höhere – und deshalb zur Zerstörung privilegierte – verstand. Produktives Schuldgefühl (und nicht bloß quälendes) kann erst entstehen, wo die Lust an der Zerstörung innerlich voll erlebbar wird. Erst dann kann man darangehen, sich von ihrer überrumpelnden Herrschaft zu befreien.
Auf Vorbilder wird es auch weiterhin in jeder menschlichen Gesellschaft ankommen; die, nach denen wir suchen, müssen Ähnlichkeit mit uns selber haben. Sie müssen die Spuren unserer Sorgen und Nöte verraten. Auch die rettende Moral kann nicht mehr von außen erwartet werden: vielmehr geht die Forderung dahin, uns nach Kräften so zu entscheiden, daß andere sich nach uns richten können, ohne dadurch allzu heftig Schaden zu nehmen. Das erspart das Warten auf Wunder, die sicher nicht eintreten werden.

(Aus: Alexander Mitscherlich, Die Idee des Friedens, Suhrkamp&ExLibris 1969)

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