Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Emmanuel Todd, Essays & Aufsätze, Politik, Politik&Gesellschaft, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 11. August 2008

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Europa: Lähmung durch Einheit

Emmanuel Todd

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Man muss kein Historiker oder Anthropologe sein, um in der Konzeption des europäischen Währungsprojektes an sich eine Missachtung der Realität zu erkennen, wie sie für alle Ideologien kennzeichnend ist. Die im Anschluss an Robert Mundell zur Theorie der «optimalen Zonen» arbeitenden Ökonomen betonen, dass ein vereinheitlichter Arbeitsmarkt für die Festlegung eines Währungsraums unabdingbar ist. Ein Mindestmaß an Empirie zeigt, dass die meisten Deutschen deutsch, die meisten Franzosen französisch sprechen und mit Ausnahme der Flamen, Wallonen, Österreicher und Irländer jedes Volk, das zur Europäischen Union gehört, seine eigene Sprache besitzt. Die Sprachgrenzen führen selbst in der Schweiz dazu, dass zwischen den Arbeitsmärkten kein Austausch stattfindet. Die allermeisten Menschen haben, solange sie in einer Nation mit annehmbarem Wohlstand leben, nicht das Bedürfnis, in ein Land zu emigrieren, dessen Sprache sie nicht kennen. Der geringe demographische Druck auf dem europäischen Kontinent verringert im Übrigen die Wahrscheinlichkeit, dass es zwischen den europäischen Nationen zu Migrationsbewegungen kommen wird, und fördert gleichzeitig die Einreise von Ausländern aus ferneren Regionen in alle Industrieländer. Je nach Wohnsitz werden die Immigranten also germanisiert, französisiert, italienisiert, anglisiert oder dänifiziert, ohne dass dabei je ein europäisierter Immigrant herausgekommen wäre. Denn eine europäische Sprache und Kultur gibt es nicht.

Emmanuel Todd - Literatur

Emmanuel Todd

Das ist die bittere Wahrheit der demographischen und sprachlichen Realität. Die Einheitswährung soll ein Instrument von Transaktionen zwischen Individuen sein, die in Untereinheiten zusammengefasst sind, zwischen denen hinsichtlich des Angebots und der Nachfrage an Arbeitern kein direkter Austausch stattfindet.

Jenseits dieses Widerspruchs, der für Ökonomen und vielleicht sogar für Spitzenbeamte einsichtig ist, zeigt ein die anthropologische Strukturiertheit menschlicher Gruppen berücksichtigender Begriff von Wirtschaft, dass es mit der Einführung der Einheitswährung zu weiteren praktischen Unvereinbarkeiten in der Verwaltung kommen wird, die nicht weniger gravierend sind. Er hilft verstehen, was in Europa seit rund zehn bis fünfzehn Jahren tatsächlich vor sich geht. In einer entwickelten Welt, deren Wachstumsraten im gleichen Maß sinken, wie sich der Freihandel ausbreitet, stellt der alte Kontinent, in dessen Zentrum der stabile französisch-deutsche Währungsraum einen Pol der Stagnation darstellt, einen Grenzfall gestörten Funktionierens dar. Es wird immer deutlicher, dass die europäischen Regierungen zu dieser Lähmung beigetragen haben, indem sie um jeden Preis die Stabilität der Währungsparitäten zwischen den EU-Ländern anstrebten. Da die Nationen von Natur aus unterschiedlich sind und jede ihren eigenen Währungsstil braucht, konnte die Konvergenz jenen Staaten nur schaden, die gegen ihre Natur ankämpfen mussten. ♦

Aus: Emmanuel Todd, Die neoliberale Illusion, Über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften, Rotpunkt Verlag 1999

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