Das Zitat der Woche
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Vom Recht auf Leben
John Leslie Mackie
Von einem Recht auf Leben können wir sinnvollerweise nur als einem Anspruchsrecht reden, das der Pflicht entspricht, nicht zu töten und nichts zu unternehmen, was voraussichtlich zum Tod eines Menschen führt. Obwohl ein solches Recht fundamental ist, kann es doch nicht absolut sein. So wie die Welt nun einmal ist, lassen sich Kriege und Revolutionen nicht ausnahmslos als moralisch verwerflich ausschließen. Für die Todesstrafe ist dies meines Erachtens möglich. Die vorsätzliche Tötung eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt stellt eine solche Herausforderung dar für jedes humane Empfinden, das für die Moral unabdingbar ist, daß sie sich durch keine zusätzlich abschreckende Wirkung aufwiegen läßt; tatsächlich ist die Vollstreckung der Todesstrafe sogar eher dazu angetan, die Kriminalität noch zu erhöhen. Doch zeitlich sehr lang bemessene Gefängnisstrafen sind vielleicht wenigstens genauso inhuman.
Es gibt viele Aktivitäten, die bekanntermaßen Lebensrisiken in sich bergen – Bergbau, Brückenbau, Kricket oder Autofahrt. Zweifellos sollten wir Vorkehrungen treffen, um dieses Risiko zu senken; doch nehmen wir um anderer Vorteile willen ein gewisses Risiko in Kauf. Ganz gewiß fielen weit weniger Menschen dem Verkehr zum Opfer, wenn für alle Fahrzeuge mit Ausnahme von Noteinsätzen eine Geschwindigkeitsbegrenzung etwa von 30 km/h eingeführt würde. Da wir keinesfalls die aktive Tötung einer vergleichbaren Zahl von Menschen in Kauf nähmen, um gleichgültig welche Vorteile auch immer aus einer höheren Verkehrsgeschwindigkeit zu ziehen, scheint es paradox, daß wir die statistische Gewißheit einer gleich hohen Zahl von Verkehrstoten hinnehmen, solange es sich für jeden (bis er tatsächlich zu Tode kommt) nur um ein Lebensrisiko handelt. Dies erscheint jedoch weniger paradox, wenn wir uns klarmachen, daß es hier nicht einfach um das Resultat – so viele Tote – geht, sondern um ein gedeihliches Leben bestimmter Art, das von entsprechenden Dispositionen getragen wird. Aus diesem Blickwinkel sind Lebensrisiken durchaus in Kauf zu nehmen, hingegen aktive Tötungshandlungen nicht – jedenfalls so lange, wie diejenigen, die die bekannten Risiken um irgendwelcher Vorteile willen in Kauf nehmen, sie für ihr eigenes Leben in Kauf nehmen. Unfair ist es, obwohl es häufiger vorkommt, daß man um eigener Vorteile willen Risiken für das Leben anderer in Kauf nimmt, die selbst eine solche Wahl nicht treffen und auch niemals treffen würden. Wenn sich jedoch die verschiedenen Parteien nicht voneinander isolieren lassen, so scheint eine moralisch annehmbare Lösung in irgendeinem Kompromiß zwischen denjenigen, die bereit sind, bestimmte Risiken in Kauf zu nehmen, und denjenigen, die dazu nicht bereit sind. zu bestehen.
Aus dem Recht auf Leben folgt ein Recht auf Beendigung des eigenen Lebens, obwohl auch dieses Recht nicht ausnahmslos gilt: Auf Seiten anderer können Ansprüche bestehen, die gegen eine Selbsttötung sprechen, die aus der Sicht allein des Handelnden als vorzugswürdig erscheint. Dennoch wäre es nicht schwierig, Umstände zu beschreiben, unter denen eine Selbsttötung erlaubt wäre. Auch kann es nicht moralisch falsch sein, Beihilfe zu einer freiwilligen Selbsttötung zu leisten. Dasselbe Prinzip läßt sich auch zugunsten der Erlaubtheit der Euthanasie anführen, unter der Voraussetzung, daß der Kranke unter Angabe einsichtiger Gründe wirklich und ernsthaft seinen eigenen Tod wünscht und darum bittet. Schwieriger ist die Frage, ob es jemals richtig sein kann, aufgrund eines beim Kranken nur vermuteten Wunsches, sein Leben zu beenden, aktiv zu werden. Meines Erachtens müßten die Gründe für eine solche Vermutung sehr stark sein. Wenn jemand jedoch unter beständigem Einsatz aufwendigster Apparaturen nur gerade noch am Leben erhalten werden kann, ohne daß sein Leben für ihn offensichtlich noch lebenswert ist, ist es richtig, ihn sterben zu lassen.
Vielleicht habe ich den Eindruck erweckt, als würde ich sehr voreilig über hochkomplizierte Sachverhalte urteilen. Ich gebe zu, daß diese Fragen einer sorgfältigeren Prüfung bedürfen. Doch meine ich, daß weder die Zitierung von Schlagwörtern wie «Mord» noch die Rede von der Heiligkeit des Lebens noch auch Versuche, aufgrund einer Abwägung aller Folgen in bezug auf das allgemeine Glück zu einem Urteil zu gelangen, hier hilfreich sein können. Vielmehr sollte man sich sein Urteil stärker von den für diese Fragen relevanten Werten, Rechten und Dispositionen her bilden und diese wiederum von gewöhnlichen und weniger umstrittenen Fällen her zu verstehen suchen.
(Aus John L. Mackie: Ethik / Elemente einer praktischen Moral, Reclam Verlag 1981)
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