Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Dieter Henrich, Essays & Aufsätze, Philosophie, Psychologie, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 15. September 2008

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Über das Glück und die Not

Dieter Henrich

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Wer in Not ist, der weiß wohl, was es heißt, glücklich zu sein. Aber dieser Zustand des Bewußtseins ist für ihn unwirklich geworden. Denn in der Not ist gewußt, daß im Glück nicht erfahren werden kann, was in Wahrheit Leben heißt. In der Not ist das Glück nicht wie dem nur entzogen, der sich unglücklich nennt und der sich nach Glück sehnt, entzogen also wie unerfülltem Verlangen die Befriedigung. Das Glück ist vielmehr verschlossen, wie etwas, von dem man nur weiß, ohne es noch als eine eigene Möglichkeit auffassen zu können. Denn man weiß vom Glück auch, daß es eine Affirmation von der gleichen Art zur unerläßlichen Bedingung hat, nur daß die Affirmation des Glücks die Affirmation abweist, welche die Not eigentlich erst begründet, indem sie nämlich die Wahrheit des Glücks dementiert. Denn <Not> heißt hier nicht die Situation des Lebens vor naher Gefahr, der nicht auszuweichen ist. Not ist auch verschieden von einem Leid, das weiß, was Heilung wäre, ohne sie finden zu können. Auch die bewußte Person kann als solche in Not sein – ein Zustand, in dem Leid erfahren und Gefahr erkannt ist, der aber anders als jene in sich selbst eingeschlossen bleibt, und zwar deshalb, weil er von Evidenzen für eine Deutung der Welt beherrscht ist.

Dieter Henrich (*1927)

Diese Deutung kann, solange der Zustand dauert, überlegene Wahrheit für sich beanspruchen. Im Glück aber herrscht die entgegengesetzte Evidenz. In der Terminologie von Bedürfnis und Befriedigung läßt Glück sich nicht beschreiben, auch nicht als Zufriedenheit in letzten Strebenszielen oder als Genuß ohne den Gedanken weiterer Steigerung. Dem allen fehlt die Affirmation in einer nicht mehr hintergehbaren These über das, was überhaupt ist, welche alle Erfahrung durchherrscht. Dabei besagt die These des Glücks etwa, daß bewußtes Leben vollendbar ist, weil es in Übereinstimmung mit Grundbedingungen von allem, wovon es Kenntnis hat, ermöglicht ist. Dagegen sagt die These der Not, Vollendung finde das Bewußtsein in der einzigen Einsicht, daß die Überzeugung, es bestehe solche Konkordanz, nur die Fiktion eines fundamentalen Bedürfnisses zur Angstbewältigung ist. Die Affirmation der Not ist die Unbegründbarkeit des Weltlaufes, damit auch die Bodenlosigkeit bewußten Lebens. In solcher Einsicht kann bewußtes Leben sich noch weiter vollziehen, obgleich es sich nur noch als bloßen Ablauf zu verstehen vermag. Auch Aggression gegen sich selber kann es in solcher Erfahrung nicht produzieren. Deshalb ist Not durchaus mit Normalität im Sinne der Psychopathologie vereinbar, wie denn auch Glückserfahrung ein Krankheitssymptom sein kann. Das aber schließt wiederum gar nicht aus, daß beide Weisen der Selbsterfahrung grundlegende Möglichkeiten bewußter Personalität sind. ♦

Aus Dieter Henrich, Selbstverhältnisse, Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Reclam Verlag 1982

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