Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Essays & Aufsätze, Max Scheler, Philosophie, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 27. Oktober 2008

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Tod und Fortleben

Max Scheler

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Wir sehen in den letzten Jahrhunderten den Glauben an die Unsterblichkeit innerhalb der westeuropäischen Zivilisation im wachsenden Sinken begriffen. Was ist der Grund? Viele meinen, es sei das, was sie den Fortschritt der Wissenschaft nenne. Die Wissenschaft aber pflegt der Totengräber, nie die Todesursache eines religiösen Glaubens zu sein. Religionen werden geboren, wachsen und sterben; sie werden nicht bewiesen und nicht widerlegt. […]
Suchen wir also letzte Gründe für das Sinken des Glaubens an die Unsterblichkeit innerhalb der Völker westeuropäischer Kultur, so müssen wir unsere Blicke abwenden von allen jenen bloß symptomatischen Erscheinungen seines Sinkens, wie sie in allen bloß wissenschaftlichen Reflexionen darüber gegeben sind. Und wir müssen ihn hinwenden auf die prinzipielle Art und Weise, wie gerade der moderne Mensch sein Leben und seinen Tod sich selbst zur Anschauung und zur Erfahrung bringt.
Da ergibt sich nun der auf den ersten Blick merkwürdige Tatbestand, daß es an erster Stelle gar nicht das besondere neue Verhältnis des Menschen zur Frage, ob er nach dem Tode fortexistieren werde und was nach seinem Tode sei, welches Schicksal ihm da widerfahren werde, ist, was für jenes Sinken des Glaubens an das Fortleben bestimmend ist, sondern vielmehr das Verhältnis des modernen Menschen zum Tode selbst. Der moderne Mensch glaubt in dem Maße und so weit nicht mehr an ein Fortleben und an eine Überwindung des Todes im Fortleben, als er seinen Tod nicht mehr anschaulich vor sich sieht – als er nicht mehr «angesichts des Todes lebt»; oder schärfer gesagt, als er die fortwährend in unserem Bewußtsein gegenwärtige intuitive Tatsache, daß uns der Tod gewiß ist, durch seine Lebensweise und Beschäftigungsart aus der klaren Zone seines Bewußtseins zurückdrängt, bis nur ein bloßes urteilsmäßiges Wissen, er werde sterben, zurückbleibt. Wo aber der Tod selbst in dieser unmittelbaren Fom nicht gegeben ist, wo sein Herankommen nur als ein dann und wann auftauchendes urteilsmäßiges Wissen gegeben ist, da muß auch die Idee einer Überwindung des Todes im Fortleben verblassen.

Max Scheler (1874-1927)

Der Typus «moderner Mensch» hält vom Fortleben vor allem darum nicht viel, da er den Kern und das Wesen des Todes im Grunde leugnet.
Um die eben aufgestellte These zu begründen, ist es nötig, einiges über Wesen und Erkenntnistheorie des Todes voranzuschicken, d. h. auf die Frage einzugehen, was der Tod sei, wie er uns gegeben sei und welche Art von Gewißheit des Todes wir besitzen.
Es ist gegenwärtig die am meisten verbreitete Vorstellung, daß unser Wissen vom Tode ein bloßes Ergebnis der äußeren, auf Beobachtung und Induktion beruhenden Erfahrung vom Sterben der anderen Menschen und der uns umgebenden Lebewesen sei. Nach dieser Ansicht würde ein Mensch, der niemals mit angesehen oder davon gehört hat, daß nach einer bestimmten Zeit die Organismen aufhören, die ihnen vorher eigenen «Lebensäußerungen von sich zu geben», und schließlich in einen «Leichnam» verwandelt werden und zerfallen, keinerlei Wissen vom Tode und von seinem Tode besitzen.
Dieser Vorstellung, welche den Begriff des Todes zu einem rein empirisch aus einer Anzahl von Einzelfällen entwickelten Gattungsbegriff macht, müssen wir hier entschieden widersprechen. Ein Mensch wußte in irgendeiner Form und Weise, daß ihn der Tod ereilen wird, auch wenn er das einzige Lebewesen auf Erden wäre; er wußte es, wenn er niemals andere Lebewesen jene Veränderung hätte erleiden schon, die zur Erscheinung des Leichnams führen.
Man kann nun dies vielleicht zugeben, aber dazusetzen, dass es in diesem Falle eben doch auch einzelne Beobachtungen an seinem eigenen Leben sind, die ihm ein Aufhören seiner Lebensprozesse «wahrscheinlich» machen würden. Der Mensch macht die Erfahrungen des «Alterns». Er nimmt auch, abgesehen von den hiermit verbundenen Niedergangserscheinungen seiner Kräfte, in den Erlebnissen der Erkrankung und der Krankheiten irgendwie Kräfte wahr, die in ihrer weiteren Entwicklung ihm die ahnende Vorstellung eines Endes seines Lebensprozesses überhaupt suggerieren müßten. Oft zwingt ihn ein starkes Gefühl dazu, aus dem Sinn- und Zweckzusammenhang seines Wachlebens hinunterzusteigen in Schlaf und Traum; er muß es, obgleich er dabei die Hälfte seines Lebens verliert. Fr braucht gleichsam nur die Richtung der Kurve, die ihm jede dieser Erfahrungen des Alterns, der Krankheit, des Schlafes gibt, auszuziehen, um an ihrem Endpunkte gleichsam die Idee des Todes zu finden. Aber auch diese Vorstellung genügt nicht, das Problem zu lösen. Denn woher wußte der Mensch, daß diese Kurve nicht grenzenlos in diesem Rhythmus weitergehe? Nicht erst in der Beobachtung und der vergleichenden Erinnerung verschiedener Lebensphasen, hinzugenommen ein solches künstliches Vorwegnehmen der «wahrscheinlichen» Beendigung, liegt das Material zu jener Gewißheit, sondern sie liegt schon in jeder noch so kleinen «Lebensphase» und ihrer Erfahrungsstruktur. ♦

Aus Max Scheler, Tod und Fortleben, Francke Verlag 1957

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