Das Zitat der Woche
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Über die Willensfreiheit
Gottfried W. Leibniz
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Die Prävalenz der Neigungen hindert durchaus nicht, daß der Mensch nicht Herr über sich sei, wofern er nur von seiner Macht Gebrauch zu machen weiß. Sein Reich ist das der Vernunft, er braucht sich nur rechtzeitig zum Widerstande gegen die Leidenschaften zu rüsten, und er vermag dem Ungestüm der heftigsten Leidenschaften Einhalt zu gebieten. Angenommen, Augustus wolle gerade den Befehl zur Hinrichtung des Fabius Maximus geben, und bediene sich gewohnheitsgemäß des Rates, den ihm ein Philosoph gegeben: nichts in der Aufwallung des Zornes zu tun, sondern das griechische Alphabet zu rezitieren. Diese Überlegung vermag das Leben des Fabius und den Ruhm des Augustus zu retten. Doch wird die Leidenschaft ohne eine glückliche Überlegung, die man mitunter einer ganz besonderen göttlichen Güte verdankt, oder ohne eine im voraus erworbene Angewohnheit, geeignet, wie die des Augustus, uns zu den für Zeit und Ort passenden Überlegungen zu bringen, den Sieg über die Vernunft davontragen. Der Kutscher ist Herr über die Pferde, wenn er sie lenkt, wie er soll und kann, es gibt jedoch Gelegenheiten, wo er sich vergißt, und dann muß er für eine Zeit die Zügel fahren lassen.
Immer besitzen wir genügend Macht über unseren Willen, aber man denkt nicht immer daran, sie anzuwenden. Daraus ersieht man, wie wir mehr als einmal erwähnt haben, daß die Macht der Seele über ihre Neigungen eine Macht ist, die sich nur auf indirekte Art ausüben läßt. In Wirklichkeit hängen die äußeren Handlungen, wenn sie nicht unsere Kräfte überschreiten, ganz und gar von unserem Willen ab, unsere Willensakte selbst aber hängen vom Willen nur auf gewissen Umwegen ab, die uns ein Mittel an die Hand geben, unsere Entschlüsse aufzuhalten oder zu verändern. Wir sind bei uns Herr, nicht etwa wie Gott Herr der Welt ist, dessen Wort Schöpfung bedeutet, aber so wie ein weiser Fürst Herr in seinem Staat ist oder ein guter Familienvater seinem Diener gegenüber. Herr Bayle (=Pierre Bayle, 1647-1706, französischer Aufklärer und Skeptiker, berühmter Leibniz-Antipode / Die Red.) faßt dies bisweilen anders auf, wie wenn es eine absolute Macht bedeutete, die von Gründen und Mitteln unabhängig ist und die wir bei uns haben müßten, um uns einer freien Willensentscheidung rühmen zu können. Aber darüber verfügt Gott selbst nicht und kann diese Freiheit in bezug auf seinen Willen in diesem Sinne auch gar nicht haben, kann er doch sein Wesen nicht ändern und nicht anders als der Ordnung gemäß handeln.
Aus Gottfried W. Leibniz, Über die Willensfreiheit, in: Theodizee (1710)
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