Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in André Comte-Sponville, Essays & Aufsätze, Philosophie, Politik&Gesellschaft, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 15. Dezember 2008

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Über den Nihilismus

André Comte-Sponville

 

Nihilismus spielt der Barbarei in die Hände. Davon gibt es zwei Typen, die man keinesfalls verwechseln darf: Die irreligiöse Barbarei ist nichts anderes als ein allgemeiner oder triumphierender Nihilismus; die fanatische Barbarei will ihre Religion mit Gewalt durchsetzen. Nihilismus führt zum ersten Typ und lässt dem zweiten freie Bahn.
Die Barbarei der Nihilisten hat kein Programm, kein Projekt, keine Ideologie. Das braucht sie nicht. Solche Leute glauben an nichts. Sie kennen nur Gewalt, Egoismus, Verachtung und Hass. Sie sind in ihren Trieben, ihrer Dummheit, ihrer Unbildung gefangen, Sklaven dessen, was sie für ihre Freiheit halten. Sie sind Barbaren aus Mangel an Glauben oder Überzeugungen: Sie sind die Partisanen des Nichts.

andre-comte-sponville

André Comte-Sponville (*1952)

Die Barbarei der Fanatiker kommt ganz anders daher. Diesen fehlt es nicht an Glauben oder Überzeugungen, ganz im Gegenteil: Sie bersten geradezu vor Gewissheit, Enthusiasmus und Dogmatismus. Sie halten ihren Glauben für Wissen und würden jederzeit für ihn sterben oder töten. Zweifel kennen sie nicht. Aber das Wahre und Gute. Wozu Wissenschaft? Wozu Demokratie? Es steht doch alles geschrieben. Man muss nur daran glauben und gehorchen. Zwischen Darwin und Schöpfungsgeschichte, Menschenrechten und Scharia, Völkerrecht und Tora haben sie sich endgültig für ein Lager entschieden. Sie sind an der Seite Gottes. Wie könnten sie unrecht haben? Wie etwas anderes glauben, etwas anderem dienen? Fundamentalismus. Obskurantismus. Terrorismus. Sie wollen Engel sein und werden zu Tieren oder Tyrannen. Sie sehen sich als Reiter der Apokalypse, sind aber Janitscharen des Absoluten, das sie für sich reklamieren und auf die sehr beschränkten Ausmaße ihres guten Gewissens reduzieren. Sie sind Gefangene ihres Glaubens, Sklaven Gottes oder dessen, was ihnen – ohne jeden Beweis – als Sein Wort oder Sein Gesetz gilt. Spinoza hat schon das Wichtigste über sie gesagt: «Sie kämpfen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil.» Sie wollen sich Gott unterwerfen. Das steht ihnen frei, solange sie nicht auf unserer Freiheit herumtrampeln. Aber sie sollten nicht versuchen, uns zu unterwerfen!
Was ist das Schlimmste, das wir befürchten müssen? Der Krieg der Fanatismen. Oder dass wir den unterschiedlichen Fanatismen der einen ebensowenig entgegenzusetzen haben wie dem Nihilismus der anderen. In beiden Fällen würde die Barbarei gewinnen, ganz gleich, ob sie von Norden oder Süden kommt, aus dem Orient oder aus dem Okzident, ob sie sich auf Gott oder auf das Nichts beruft. Und dann ist es äußerst zweifelhaft, ob unsere Welt überlebt.

Aus André Comte-Sponville, Woran glaubt ein Atheist? – Spiritualität ohne Gott, Diogenes Verlag 2008

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