Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Essays & Aufsätze, Philosophie, William James, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 12. Januar 2009

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Von der Wahrheit auf Kredit

William James

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Daß es für das menschliche Leben von Wichtigkeit ist, daß wir über Tatsachen wahre Urteile zur Verfügung haben, ist eine bekannte Sache. Wir leben in einer Welt von Wirklichkeiten, die uns unendlich nützlich und auch unendlich schädlich sein können. Gedanken, die uns sagen, was wir zu erwarten haben, gelten auf dieser primären Stufe als die wahren Gedanken, und das Streben nach dem Besitz solcher Gedanken ist eine der ersten menschlichen Pflichten. Der Besitz der Wahrheit ist hier keineswegs Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Befriedigung irgendeines Lebensbedürfnisses. Wenn ich mich im Walde verirrt habe und halb verhungert bin, und ich finde etwas, das wie ein Kuhweg aussieht, so ist es von der größten Wichtigkeit, daß ich mir am Ende des Weges ein Haus vorstelle; denn wenn ich das tue und dem Weg folge, so rette ich mich dadurch. Der wahre Gedanke ist hier nützlich, weil sein Gegenstand, das Haus, nützlich ist. Der praktische Wert nützlicher Vorstellungen läßt sich somit ursprünglich von der Wichtigkeit ableiten, die die Gegenstände der Vorstellungen für uns haben. Diese Gegenstände sind nun nicht zu allen Zeiten von Wichtigkeit. Für das Haus in dem oben angenommenen Fall habe ich vielleicht ein andermal keine Verwendung, und dann ist meine Vorstellung davon, obwohl verifizierbar, doch praktisch ohne Belang und würde besser unbewußt bleiben. Da jedoch fast jeder Gegenstand eines Tages bedeutungsvoll werden kann, so ist es offenbar von Vorteil, einen allgemeinen Vorrat von Wahrheiten zu besitzen, d.h. von Vorstellungen, die für bloß mögliche Situationen sich als wahr erweisen können. Wir speichern solche Wahrheiten in unserem Gedächtnis auf, und mit dem Überfluß derselben füllen wir unsere Nachschlagebücher. Wenn eine solche Wahrheit für eines unserer Erlebnisse bedeutsam wird, dann wird sie aus dem kalt gestellten Vorrat heraufgeholt, um in der Welt ihre Arbeit zu leisten, und dann wird unser Glaube an sie aktuell. Man kann dann sagen: «sie ist nützlich, weil sie wahr ist», oder «sie ist wahr, weil sie nützlich ist». Beide Sätze bedeuten dasselbe, nämlich, daß hier ein Gedanke da ist, der verwirklicht und verifiziert werden kann. «Wahr» ist der Name für jede Vorstellung, die den Verifikationsprozeß auslöst und «Nützlich» der Name für die in der Erfahrung sich bewährende Wirkung. Wahre Vorstellungen hätten sich nie von den andern abheben, hätten nie mit einem allgemeinen gleichen Namen bezeichnet werden können und ganz gewiß nicht mit einem Namen, der an etwas Wertvolles erinnert, wenn sie nicht von Anfang an in dieser Art nützlich gewesen wären.

william-james

William James (1842-1910)

Aus dieser einfachen Überlegung gewinnt der Pragmatismus seinen Begriff der Wahrheit. Diese ist im wesentlichen nichts anderes als der Weg, auf dem wir von einem Stück der Erfahrung zu andern Stücken hingeführt werden, und zwar zu solchen, die zu erreichen die Mühe lohnt. Ursprünglich und auf dem Boden des gesunden Menschenverstandes bedeutet die Wahrheit eines Bewußtseinszustandes nichts anderes als diese Funktion des Hinführens, das der Mühe lohnt.
Wenn im Verlaufe unserer Erfahrung, von welcher Art sie auch sei, ein Augenblick uns mit einem Gedanken erfüllt, so bedeutet das nichts anderes, aIs daß wir, von diesem Gedanken geleitet, wieder in die Einzelheiten der Erfahrung eindringen und vorteilhafte Verbindungen mit ihnen stiften. Unsere Erfahrung ist von Regelmäßigkeiten ganz durchflossen. Ein Stück von ihr kann uns auf ein anderes Stück vorbereiten, kann «intentional» auf einen entfernteren Gegenstand «hinweisen». Tritt dann der Gegenstand wirklich vor uns, so ist der Hinweis verifiziert. Wahrheit bedeutet in diesen Fällen nichts anderes als eventuelle Verifikation und ist mit Launenhaftigkeit unvereinbar. Weh dem, dessen Überzeugungen mit der Ordnung, die in der Wirklichkeit seiner Erfahrungen besteht, ein willkürliches Spiel treiben. Seine Überzeugungen werden ihn nie zu etwas Wirklichem hinführen, oder sie werden falsche Verbindungen stiften. Unter «Wirklichkeiten» und «Gegenständen» verstehen wir entweder die sinnenfälligen Dinge oder auch die Beziehungen des gewöhnlichen Denkens, wie z. B. Zeiten, Orte, Entfernungen, Gattungen, Tätigkeiten. Wenn wir in dem obigen Beispiel den Kuhweg einschlagen und dem in uns lebendigen Bilde des Hauses nachgehen, so kommen wir dazu, das Haus wirklich zu sehen. Das Bild in unserem Kopfe erhält dadurch seine volle Verifikation. Ein derartiges einfach und vollständig sich bewährendes Hinführen, das ist das wahre Prototyp des Wahrheitsprozesses. Die Erfahrung bietet uns auch andere Formen des Wahrheitsprozesses, allein man kann sie alle als gehemmte, verdichtete, oder für einander substituierte primäre Verifikationen auffassen.
Nehmen wir z.B. jenen Gegenstand dort an der Wand. Sie und ich betrachten ihn als eine Wanduhr, ob zwar keiner von uns das innere Uhrwerk gesehen hat, welches ihn zur Uhr macht. Wir lassen unsere Auffassung als wahr gelten, ohne erst die Verifikation zu versuchen. Wenn die Wahrheiten im wesentlichen Verifikationsprozesse sind, sollten wir dann vielleicht derartige nicht verifizierte Wahrheiten als etwas Unfruchtbares ansehn? Nein, denn sie bilden einen überwältigend großen Teil aller Wahrheiten, von denen wir leben. Wir lassen indirekte Verifikation ebenso gelten, wie direkte. Wo die umgebenden Umstände Beweis genug sind, da können wir des Augenscheins entraten. Genau so wie wir annehmen, daß Japan existiert, auch wenn wir nie dort waren, weil seine Tätigkeit uns zu der Annahme veranlaßt, weil alles, was wir wissen, mit dieser Annahme übereinstimmt und nichts sie stört, so nehmen wir auch an, dies Ding dort sei eine Uhr. Wir gebrauchen es als Uhr, indem wir die Dauer der Vorlesung darnach bemessen. Die Verifikation der Annahme besteht hier darin, daß sie nicht zu einer Täuschung oder zu einem Widerspruch führt. Die Verifizierbarkeit der Uhrräder, der Gewichte und des Pendels ist ebensoviel als wirkliche Verifikation. Auf einen ganz vollständigen Wahrheitsprozess kommt im Leben eine Million anderer, die in diesem embryonalen Zustand der Verifikation bleiben. Sie geben uns nur die Richtung zu direkter Verifikation, führen uns in die Umgebung des Gegenstandes, den sie im Auge haben. Wenn dann alles entsprechend verläuft, sind wir von der Möglichkeit der Verifikation so überzeugt, daß wir auf wirkliche Verifikation verzichten, und gewöhnlich rechtfertigen die Ereignisse unser Verhalten.
Die Wahrheit lebt tatsächlich größtenteils vom Kredit. Unsere Gedanken und Überzeugungen «gelten», so lange ihnen nichts widerspricht, so wie die Banknoten so lange gelten, als niemand ihre Annahme verweigert. Dies alles weist aber auf augenscheinliche Verifikationen hin, die irgendwo vorhanden sind. Ohne diese muß unsere Wahrheits-Fabrik ebenso zusammenbrechen, wie ein finanzielles Unternehmen, das überhaupt keine Kapitals-Grundlage hat. Sie nehmen von mir eine Verifikation an und ich eine andere von Ihnen. Wir verkehren untereinander mit unsern Wahrheiten. Aber die Grundpfeiler des ganzen Oberbaues sind doch immer Überlegungen, die von irgend jemandem anschaulich verifiziert worden sind.

Aus William James, Der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus, in R.Wiehl (Hrsg.): Geschichte der Philosophie/20.Jahrhundert, Reclam Verlag 1981

 

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