Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Essays & Aufsätze, Germanistik, Literatur, Volker Klotz, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 25. Mai 2009

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Über «triviale» Literatur

Volker Klotz

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Was ist dran, ungeachtet germanistischer Gütestempel, an jenen Werken, die wieder und wieder durch Seminare und Schulen geflößt werden, als müßt’s so sein? Die Fragen wie die Antworten werden ganz sicher oft daneben gehen oder zehn Jahre später neu zu stellen sein. Aber sie sind unerläßlich. Wie in früheren, unbefangenen Jahrhunderten auch. Also: Was geht uns derzeit der geschwätzige Schiller an? Mir scheint: wenig. Desto mehr der wilde Kleist. Wer zöge, unbefleckt von feierlichen Exegeten, die harschen göttermurmelnden Verse von Hölderlin den klingenden wassermurmelnden Versen von Mörike vor? Falls doch: warum wohl? Wie kommt’s, daß man Hartmann von Aue für besser weil tiefer hält als Chrestien? Lohnt es, ein zusammengeschustertes Erzeugnis wie die Wanderjahre zu lesen oder gar zu interpretieren – wenn daneben Manzonis Verlobte liegen bleiben? Was kommt dabei heraus, wenn man seit gut hundert Jahren dem sogenannten Bildungsroman nachsinnt und seine Nöte zu Tugenden erklärt? Statt an Dickens, Balzac, Stendhal, Gogol, Turgenjew, Galdos zu zeigen, was Erzählen vermag? Warum nicht eine verdiente lange Weile Stifter, Raabe, Storm bis zu ihrem zierlichen Nachzehrer Handke in die Quarantäne schicken? Was gibt die deutsche Aufklärungskomödie her, verglichen mit Marivaux und Holberg, mit der englischen Restauration Comedy und mit Goldopi? Kaum mehr als den Befund, daß und warum es hierzulande nicht geklappt hat. Muß man sich mit Gryphius’ und Lohensteins verrenkten Trauerspielen abquälen oder auch mit den minder steifen, aber bläßlichen Stücken Grillparzers – wo es Shakespeare, Calderon, Lope gibt?

Volker Klotz

Volker Klotz

Solche Fragen kommen freilich dann nur auf, wenn wir uns nicht eingrenzen auf ein paar Provinzen innerhalb der deutschen Dichtung und Denkung, sondern ausgreifen auf andere Literaturen. Hierzu braucht’s keine eigens bestallte Komparatistik. Es genügt eine ausgeprägte, aber auch wählerische Lesevöllerei. Denn das Handwerk, mit poetischen Texten umzugehen, das beherrschen wir ja. Bisher war nur von offiziell anerkannter Literatur die Rede. Plebiszitäre Literaturwissenschaft hat aber auch mit populären Werken zu tun, ohne sie priesterlich abzukanzeln als »trivial«. Wenn ich über Abenteuer-Romane und über Operetten geschrieben habe, dann gerade nicht, um ideologiekritisch allerlei falsches Bewußtsein aufzuspüren und anzukreiden. Denn das ließe sich auch bei feinsinniger Literatur besorgen. Es ging vielmehr darum, die Faszination dieser landläufigen Künste (auch auf mich) zu durchschauen und durchschaubar zu machen. Nicht etwa, um sie zu entzaubern, sondern um sie daraufhin potenziert auskosten zu können.
Dabei hat sich gezeigt, falls ich nicht ungewollt gemogelt habe: Abenteuer-Romane wie auch Operetten – üblicherweise von jenen, die sie kaum kennen, abgetan als Beschwichtigungsfutter für Zukurzgekommene – entfachen mehr lustvoll kritische Energien als beispielsweise Romane von Thomas Mann oder Tragödien von Hebbel. Wer unverkrampft und intensiv auf derlei Künste eingeht, kann an und mit ihnen überraschende Entdeckungen machen. Nur gradweis, aber nicht qualitativ ist ihre poetische Sensation eine andere als etwa die von Leopardi-Gedichten, von Goethes Iphigenie oder von Faulkners Romanen.

Aus Volker Klotz, Interpretieren? Zugänglich machen! – in: Literatur und Lernen, Zur berufsmäßigen Aneignung von Literatur, Luchterhand Verlag 1985

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