Das Zitat der Woche
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Über die Lesesucht
Heinz Schlaffer
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»Lesesucht« ist an den Roman gebunden. Daher erreichen beide zu gleicher Zeit, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ihren geschichtlichen Höhepunkt. Um das neue Leseverhalten zu verstehen, ist gerade die äußerlichste Bestimmung des Romans – fiktive Prosaform von größerem Umfang – die wesentlichste. Ihrer Herkunft nach steht die Prosa des bürgerlichen Romans der Zeitung näher als der Poesie. Wie der Zeitungsleser das Papier überfliegt, um auf neue, spannende Nachrichten zu stoßen, so vergißt auch der Leser des Romans, der »Novel«, die sinnliche Gestalt der hörbaren Sprache über den Inhalten, die seine Vorstellung fesseln. Prosa ist die Sprache, die den Rhythmus des Körpers – Herzschlag, Atem, Schritt – verloren hat. Im Metrum der Verse lebt immer noch deren Ursprung aus Tanz und Musik weiter: jenes rhythmische Zeitmaß, das den eigenen Körper mit dem der anderen zusammenschloß. Wer Verse spricht, ist nicht ganz allein, weil er den Takt noch fühlt, den vor ihm alle anderen verspürt haben. Den verschiedenen Zeilen eines Gedichts, sogar mehreren Gedichten ist das Metrum gemeinsam, weshalb es nicht schwerfällt, Gedichte auswendig zu lernen. Dagegen ist der Duktus jedes prosaischen Satzes einmalig und unwiederholbar. Auch in tausend Exemplaren gedruckt, bleibt doch seine Gestalt ephemer. Sie existiert nur im Augenblick der Lektüre und ist danach vergessen. Deshalb läßt sich Prosa kaum ohne das Buch zitieren.
Beim Lesen ist der Körper stillgestellt. Wir sitzen oder liegen, um ihn möglichst wenig zu spüren. Nicht einmal den Mund bewegen wir mehr, während die Antike keine andere Form von Lektüre kannte als lautes Vorlesen (in der bürgerlichen Lesekultur wird Vorlesen zur aristokratischen Ausnahme). Selbst der einsame Leser sprach sich damals das Gelesene vor, so daß er eigentlich nicht einsam war, sondern ausnahmsweise die Rollen von Sprecher und Hörer in sich vereinigte. Augustinus berichtet von der Überraschung, mit der er seinen Lehrer Ambrosius ohne Bewegung der Lippen lesen gesehen habe – der ganzen Antike war also die Technik des stummen Lesens unbekannt gewesen. Wer laut liest, muß den äußeren, weiten und langsamen Weg von Auge über Mund und Ohr zum Bewußtsein nehmen. Wer leise liest, durcheilt den inneren, kurzen und raschen Weg vom Auge zum Bewußtsein. Jener hält sich an die natürliche Zeitspanne, die das gesprochene Wort zur Reproduktion des geschriebenen braucht; dieser nützt die Chance, daß wir schneller lesen als sprechen können. Die Geschwindigkeit des Sprechens hat enge Grenzen, die des lautlosen Lesens läßt sich bedeutend steigern, zumal wenn die Aufnahme des Inhalts genügt. Eben dies ist bei der Prosa der Fall. Die Möglichkeit des >diagonalen< Lesens hat nicht erst das moderne Management entdeckt, um den Überfluß an Informationen trotz des Mangels an Zeit zu verarbeiten. Komprimierte Lektüre zählt zu jener Art von Fortschritt, deren Kennzeichen die Beschleunigung herkömmlicher Aufgaben ist. Der erste jedoch, der diese Technik entdeckte, war der Romanleser, der langweilige Passagen überfliegt, um möglichst schnell zu den erregenden zu gelangen. Wie anders nimmt sich neben solcher Willkür im Umgang mit dem Zeitfluß der Erzählung die gelassene Gerechtigkeit aus, mit der der Hörer dem epischen Rhapsoden beim gleichmäßigen Vortrag der unerschütterlich wiederkehrenden Hexameter gefolgt war!
Die Rezitation des Rhapsoden ist wie das Spiel des Akteurs an engere physische Grenzen gebunden als die Lektüre. Nach der Anstrengung weniger Stunden benötigt die Stimme eine längere Pause. Deshalb fügt sich alles Gesprochene, mag sein Inhalt auch noch so ungewöhnlich sein, in die gewohnte Einteilung der alltäglichen Zeitordnung und Lebenspraxis. Dagegen hat sich der Akt des Lesens viel weiter von körperlichen Schranken befreit; er ist nahezu unerschöpflich. Über seinem Roman vergißt der Leser Stunde und Tag. Von lesend durchwachten Nächten berichten fast alle Autobiographien des 18. Jahrhunderts. In der Nacht verschwimmen die Konturen der Wirklichkeit; die Kontrollen durch Verstand, Moral, Gesellschaft sind aufgehoben; dem freien Flug der Phantasie steht nichts mehr ihm Wege. Die Imagination, durch nächtliche Lektüre erregt, setzt die Ordnung des Tages außer Kraft. Daher stimuliert die Erzählung vom Verbotenen, von der Übertretung der bürgerlichen Gesetze am stärksten die Lesesucht: das Exotische, das Erotische, das Kriminelle bilden seine Nahrung. Abenteuerroman, Pornographie und Detektiverzählung sind die Genres, die speziell für die Anregung und Ausbeutung der Lesesucht eingerichtet sind. Früh schon sorgen sich die Wächter der gesellschaftlichen Ordnung und der bürgerlichen Tugend um die Folgen der »Lesesucht«. Durch sie werde, so warnt Heinrich Zschokke in den >Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christentums und häuslicher Gottesverehrung<, die Jugend verdorben, werde »ihre Einbildungskraft mit unanständigen Vorstellungen, mit verschönernden Gemälden viehischer Triebe, mit Verzierungen des Verbrechens vertraut gemacht – wer rettet dann das schirmlose Herz vor der vergifteten Phantasie?« Die Phantasie allerdings war nicht zu retten, ihr Übertritt in die Helle des Bewußtseins und des Tages jedoch kaum zu befürchten. So sehr hat sich der süchtige Leser der Wirklichkeit der Zeit, des Raumes und seines Körpers enthoben, daß er nie anders als gänzlich ernüchtert in sie zurückkehren kann. ■Aus Heinz Schlaffer, Lesesucht, in: Neue Rundschau, S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1995
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