Das Zitat der Woche
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Über die Wahrheit in der Wissenschaft
Paul Häberlin
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Wahrheit ist eine strenge Herrin. Wo es um Erkenntnis geht, da darf keine andre Rücksicht walten. Vieles ist brauchbar, was gar nicht wahr ist, und was wahr ist, braucht nicht wirtschaftlich verwendbar zu sein. Eine Wissenschaft, die nach solcher Verwendbarkeit schielt, läßt sich von ihrer eigentlichen Bestimmung ablenken, und sei es auch nur dadurch, daß sie sich ihre Aufgaben oder ihre Forschungsgebiete von außen her vorschreiben läßt. Es gibt nicht nur eine Politisierung der Wissenschaft, deren Bedenklichkeit wir alle einsehen, sondern auch eine Kommerzialisierung oder Ökonomisierung, die nicht minder an das Herz der Wissenschaft greift.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen, das mir selber naheliegt: die Psychologie. Die Anwendung psychologischer Einsichten auf das Wirtschaftsleben, auf den Verkehr, auf die Behandlung der Menschen ist möglich, und gegen «angewandte Psychologie» in diesem $inne möchte ich nichts sagen. Etwas anderes aber ist es, wenn Psychologie selber wesentlich unter dem Gesichtspunkt solcher Verwendung arbeitet. Dann fragt sie nicht mehr – wie sie als Wissenschaft ausschließlich immer müßte – nach der Wahrheit über den Menschen als Menschen, sondern sie fragt nach dem Menschen gerade nur so weit, als er für die Wirtschaft in Betracht kommt, wenn sie sich nicht gar darauf beschränkt, zu fragen, wie er, der Mensch, als Subjekt oder vor allem als Objekt der Wirtschaft verwendbar sei.
Derartiges Fragen aber wird dem Menschen, und der Aufgabe der Wissenschaft vom Menschen, in doppelter Weise nicht gerecht. Einmal kann die psychologische Wahrheit überhaupt nicht angegangen, geschweige denn gefördert werden, wenn nicht von vornherein und jederzeit der ganze Mensch im Blickfeld steht, nicht nur das, was an ihm ökonomisch in Betracht kommt. Vor allem aber tötet solche Einstellung den Willen zur Wahrheit selbst. Denn sie ist zufrieden, wenn sie gewisse menschliche Züge oder Verhaltensweisen festgestellt hat, welche ihr wirtschaftspraktisch relevant erscheinen. Das ist, grob gesagt, nicht anders, als wenn etwa Botanik sich damit begnügen wollte, festzustellen, welche Pflanzen oder Pflanzenteile eßbar oder sonstwie verwendbar seien, oder wie man sie zu diesem Zweck behandeln müsse. Daß es da Hintergründe, Rätsel, Geheimnisse, Probleme gibt, auf die es eigentlich ankommt und denen gegenüber jedes zufriedene Haltmachen ein Verrat an der wissenschaftlichen Ehrfurcht vor der Wahrheit ist, dies sieht solches Genügen an der Aufdeckung von Verwendbarkeiten nicht; ja es hindert, darnach überhaupt zu fragen. Wahrheit läßt nicht mit sich markten; wer nicht für sie ist, ist wider sie. ■Aus Paul Häberlin, Philosophie und Wirtschaft, Zürich 1948
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