Abraham Verghese: «Rückkehr nach Missing»
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Über allem die Liebe zu den Menschen
Alexander Remde
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«Rückkehr nach Missing» ist auch ein Roman. Nur reicht dieses Wort nicht aus, um zu beschreiben, was in den 770 Seiten des neuesten Werkes von Abraham Verghese steckt. Es ist auch Saga, medizinisches Lehrbuch, Plädoyer – und eine Liebeserklärung an einen Beruf und einen Kontinent.
Mit Sicherheit keine leichte Literatur, aber ein Werk, das berührt und das mit tiefen Emotionen den geduldigen Leser belohnt, geschrieben in einem Stil, den ich schon verloren glaubte, und an dem Thomas Mann seine helle Freude gehabt hätte. Wer es altmodisch nennt, trifft den Kern, denn Präzision und Emotion werden hier wieder vereint und geben eine Nähe zum Geschehen, die den Leser, falls er dazu bereit ist, in einen zeitlosen Raum entführt. Und ist es nicht genau das, wonach wir uns sehnen? Wer nah am Wasser gebaut ist, wird bei der Lektüre die eine oder andere Träne vergießen, ohne es zu bereuen. Es verbietet sich hier, auch angesichts der Vielfältigkeit und Bodenlosigkeit der Handlung, ein Protokoll anzufertigen und weiterzugeben. Viele Geschichten spinnen sich um den Kern und vereinen sich letztendlich zu dem, was man wohl Sinn nennt.
Im Mittelpunkt steht die Geschichte der Zwillingsbrüder Marion und Shiva, die als Waisen in Äthiopien ihren Weg suchen. Die Mutter, eine indische Nonne, stirbt bei der Geburt; der Vater, ein britischer Chirurg, verschwindet spurlos. Die Brüder erlernen beide des Vaters Beruf, werden sich auf tragische Weise trennen, und einer wird sich in die Hände des anderen und zwangsläufig auch in die Hände des verlorenen Vaters begeben müssen. Beide Brüder wird die Liebe zu einer Frau quälen, beide leben im Addis Abeba der sechziger Jahre, einer von politischen Unruhen erschütterten Hauptstadt. New York wird eine Rolle spielen, ebenso die Gesundheitssysteme der Reichen und der Dritten Welt.
Sicherlich klingt hier einiges nach Pathos, wird doch mit Nachdruck jeder Zwang in Frage gestellt, der sich ergibt, werden ökonomische Möglichkeiten mit medizinischen Notwendigkeiten auf einer Ebene notiert. Doch hier setzt der Hebel an, den uns Abraham Verghese als Botschaft zwischen die Zeilen schreibt. Eine Ausbildung, die Überflüssiges lehrt und Notwendiges nicht nachhaltig genug vermittelt, eine Heimat, die keine mehr ist, und ein Vertrauensverhältnis zwischen Abhängigen (hier Arzt und Patient), welches auf dünnstem Eis wandelt.
Über allem steht die Liebe zu den Menschen und damit ja auch die Liebe zu sich selbst. Vielleicht ist «Rückkehr nach Missing» eine Geschichte über das Vertrauen, das schnell verloren geht und schwer wiedergewonnen wird. Oder es ist eine Erzählung vom Glauben an die Unendlichkeit der Mutterliebe, die alles in jeder Zukunft zusammenfügen wird, gleich welcher Wirklichkeit, Region und Gesellschaft wir angehören. Dass ein Buch Farben in uns malt, Stimmen schafft und Figuren entstehen lässt, nehmen wir als selbstverständlich an. Wie Abraham Verghese diesen Anforderungen genügt, wird uns zuvorderst etwas fremd erscheinen, dann erstaunen und letztendlich erlösen. «Rückkehr nach Missing» ist ein Buch, das nie zu schwer wiegt und doch kein leichtes Lesen verspricht. Wer bereit ist, sich auf ein tragisches Abenteuer einzulassen, der wird genießen können.
Abraham Verghese, als Sohn indischer Eltern geboren in Äthiopien, spendet wohl einiges an eigenem Leben dem Roman; das macht ihn echt. Wie viel der Leser davon annehmen und verstehen will, bleibt ihm selbst überlassen. Die schöne Kunst des Erzählens dürfen wir hier genießen und zahlen als Preis dafür nur Aufmerksamkeit und Auffassungsgabe, sofern wir geneigt sind, uns in eine fremde Welt fallen zu lassen. ■
Abraham Verghese, Rückkehr nach Missing, Roman, Insel Verlag, 770 Seiten, ISBN 978-3-458-17450-9
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Nach der Leseprobe muss ich sagen: ich liebe genau diesen Schreibstil! ;-)*
*Der Smiley bedeutet keineswegs Ironie, sondern ist ein Ausdruck meiner außerordentlichen Freude, einmal wieder so etwas Schönes zu lesen.