Das Zitat der Woche
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Über das dogmatische Christentum
Ernst Haeckel
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Im Laufe von fast zwei Jahrtausenden hat sich der ethische Wert des echten Christentums – trotz aller Verunstaltungen durch seine «Kirche» und deren Diener – so vielseitig fruchtbar bewährt und ist so eng mit den verschiedensten Einrichtungen des höheren Kulturlebens verwachsen, daß es in der Hauptsache deren Grundlage auch in der Zukunft bilden wird.
Anders ist der Wert des dogmatischen Christentums, welchem als Hauptpflicht der blinde Glaube an einen bunten orientalischen Sagenkreis gilt, an Wunder und Zaubermärchen und an Legenden von übernatürlichen Erscheinungen, welche im Lichte der reinen Vernunft als unmöglich erscheinen. Dieses dogmatische Lehrgebäude ist im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts haltlos zusammengebrochen.
Die scharfsinnige Kritik der Kirchengeschichte hat gelehrt, daß die Lehren des Alten und Neuen Testamentes auf Traditionen von sehr verschiedenem Alter und Werte beruhen. Die Archäologie des Orients hat nachgewiesen, daß ein großer Teil der Bibel von Babel stammt und daß der Monotheismus der Hebräer schon lange vor Moses in Babylon Wurzel hatte. Die kritischen Forschungen nach dem «Leben Jesu» haben uns überzeugt, daß diese herrliche Ideal-Figur des christlichen Trinitäts-Glaubens nicht der «Sohn Gottes», sondern ein edler Mensch von höchster sittlicher Vollkommenheit war (vorausgesetzt die historische Existenz seiner Person, die doch auch von kritischen Theologen bestritten wird!).
Die fortgeschrittene Kosmologie und Astronomie hat das geozentrische Himmelsbild des Altertums ebenso zerstört wie die moderne Biologie das anthropozentrische Menschenbild des Christentums. Endlich hat uns die Entwicklungslehre bewiesen, daß das Menschengeschlecht weiter nichts ist als ein spät aus Primaten-Ahnen entstandener Zweig des Säugetierstammes und daß die Seele der einzelnen Personen ebensowenig unsterblich sein kann, wie die der anderen Wirbeltiere. […]Unzweifelhaft besitzen viele Sagen und Legenden der «Biblischen Geschichte» – nicht alle! – einen hohen ethischen und namentlich pädagogischen Wert, ebenso wie viele Mythen und Erzählungen anderer Religionen und wie diejenigen des klassischen Altertums. Auch sind die Phantasie-Gebilde derselben von höchster Bedeutung für alle Zweige der Kunst, der Dichtkunst und der Tonkunst ebenso wie der bildenden Kunst. Wir verdanken ihnen eine Fülle der herrlichsten Schöpfungen des Menschengeistes; und für unser Gemüt ist diese Ideal-Welt eine unerschöpfliche Quelle der Erbauung und des Trostes inmitten unseres unvollkommenen realen Lebens.
Aber dieselben Ideal-Gebilde bergen in sich die höchsten Gefahren, wenn sie als reale Wahrheiten gepredigt werden, von deren Anerkennung Seligkeit oder Verdammnis abhängt; und wenn sie zur Grundlage oder gar zur Voraussetzung der Wissenschaft gemacht werden. Dann gleitet die letztere unaufhaltsam auf der schiefen Ebene der Mystik in die Arme des Aberglaubens; sie wird zur Todfeindin der reinen Vernunft.
Vollends verderblich werden diese Ideal-Gebilde der Dichtung, wenn sie als übernatürliche «Offenbarungen» gedeutet und von der praktischen Vernunft zu politischen und weltlichen Zwecken gemißbraucht werden. Dann entwickelt sich jenes verderbliche Übergewicht der geistlichen über die weltliche Macht, jene unzähmbare Herrschsucht der Kirche, welche den Staat lediglich zu ihren egoistischen Zwecken ausbeutet. Je höher und anspruchsvoller sich die einheitliche Organisation der Kirche erhebt, desto gefährlicher wird sie für den von ihr bedrohten Kulturstaat. ■Aus Ernst Haeckel, Die Welträtsel, Jena 1903
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