Das Zitat der Woche
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Über gute literarische Texte
Mario Andreotti
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Gute literarische Texte sind Texte, die authentisch, sprachlich glaubwürdig sind, die eine auf ,leeres’ Wortgetön, auf Effekthascherei angelegte Sprache strikte meiden. Eine etwas kühlere, fast spröde Sprache sagt meist mehr aus, ist vor allem hintergründiger als beschwörende Worthäufungen und Metaphern. Gute Texte beschreiben, stellen dar, schlechte werben, etwa durch eine Anhäufung von Adjektiven, besonders von schmückenden („epitheta ornans”), um Stimmung. Eines der Hauptmerkmale gerade des Kitsches ist die wahllose Häufung ästhetischer Reize.
Gute literarische Texte sind auch Texte, in denen nicht alles gesagt wird, was es zu sagen gäbe, die immer wieder aussparen, verschweigen, so dass der Leser die ,Leerstellen’ selber ausfüllen muss. Sie bleiben in ihrem ,Sinn’ ,offen’; provozieren, indem sie z.B. Motive in der Schwebe lassen, verschiedene Deutungsmöglichkeiten, zwingen den Leser gerade deshalb immer wieder zur Deutung. Es gilt, jede Mechanik und eindeutige Vorhersehbarkeit zu vermeiden!
Gute literarische Texte sind weiters Texte, die längst verfestigte sprachliche Wendungen und Bedeutungen möglichst vermeiden, in denen es aber auch gelingt, häufig gebrauchte Wörter und Sätze, indem sie in einen neuen Zusammenhang gestellt werden, mit neuem Gehalt zu füllen. Die Qualität der Bildersprache, auch das Übersetzen von abstrakten Ausdrücken und Wendungen in Bilder, gilt, vor allem in der Lyrik, als eines der Kriterien für den Rang einer Dichtung. Mittelmässige Autoren zehren von einem traditionellen Vorrat an poetischen Bildern, gute hingegen versuchen, durch die Ablagerungern der Worthülsen hindurch zu stossen, unverbrauchte Bilder zu finden.
Aus Mario Andreotti, Die Struktur der modernen Literatur – Neue Wege in der Textinterpretation, Haupt Verlag Bern 2009
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