Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Literatur by Walter Eigenmann on 9. Mai 2010

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Über die Bestimmung des Gelehrten

Johann Gottlieb Fichte

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Der Gelehrte ist ganz vorzüglich für die Gesellschaft bestimmt: er ist, insofern er Gelehrter ist, mehr als irgendein Stand, ganz eigentlich nur durch die Gesellschaft und für die Gesellschaft da; er hat demnach ganz besonders die Pflicht, die gesellschaftlichen Talente, Empfänglichkeit und Mitteilungsfertigkeit, vorzüglich und in dem höchstmöglichen Grade in sich auszubilden…
Seine für die Gesellschaft erworbene Kenntnis soll er nun wirklich zum Nutzen der Gesellschaft anwenden: er soll die Menschen zum Gefühl ihrer wahren Bedürfnisse bringen und sie mit den Mitteln ihrer Befriedigung bekannt machen. Das heißt nun aber nicht, er soll sich mit ihnen in die tiefen Untersuchungen einlassen, die er selbst unternehmen mußte, um etwas Gewisses und Sicheres zu finden. Dann ginge er darauf aus, alle Menschen zu so großen Gelehrten zu machen, als er etwa selbst sein mag; und das ist unmöglich und zweckwidrig. Das übrige muß auch getan werden; und dazu sind andere Stände; und wenn diese ihre Zeit gelehrten Untersuchungen widmen sollten, so würden auch die Gelehrten bald aufhören müssen, Gelehrte zu sein. Wie kann und soll er denn aber seine Kenntnisse verbreiten? Die Gesellschaft könnte ohne Zutrauen auf die Redlichkeit und Geschicklichkeit anderer nicht bestehen, und dieses Zutrauen ist demnach tief in unser Herz geprägt; und wir haben es durch eine besondere Wohltat der Natur nie in einem höhern Grade als da, wo wir der Redlichkeit und Geschicklichkeit des andern am dringendsten bedürfen. Er darf auf dieses Vertrauen zu seiner Redlichkeit und Geschicklichkeit rechnen, wenn er es sich erworben hat, wie er soll. –

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814)

Ferner ist in allen Menschen ein Gefühl des Wahren, welches freilich allein nicht hinreicht, sondern entwickelt, geprüft, geläutert werden muß; und das eben ist die Aufgabe des Gelehrten. Es würde dem Ungelehrten nicht hinreichen, um ihn auf alle Wahrheiten zu führen, deren er bedürfte; aber wenn es nur sonst – und das geschieht oft gerade durch Leute, die sich zu den Gelehrten zählen – wenn es nur sonst nicht etwa künstlich verfälscht worden ist, wird es immer hinreichen, daß er die Wahrheit, wenn ein anderer ihn darauf hinführt, auch ohne tiefe Gründe für Wahrheit anerkenne. -Auf dieses Wahrheitsgefühl darf der Gelehrte gleichfalls rechnen. – Also der Gelehrte ist, insoweit wir den Begriff desselben bis jetzt entwickelt haben, seiner Bestimmung nach der Lehrer des Menschengeschlechts.
Aber er hat die Menschen nicht nur im allgemeinen mit ihren Bedürfnissen und den Mitteln, dieselben zu befriedigen, bekannt zu machen: er hat sie insbesondere zu jeder Zeit und an jedem Orte auf die eben jetzt, unter diesen bestimmten Umständen eintretenden Bedürfnisse und auf die bestimmten Mittel, die jetzt aufgegebenen Zwecke zu erreichen, zu leiten. Er sieht nicht bloß das Gegenwärtige, er sieht auch das Künftige; er sieht nicht bloß den jetzigen Standpunkt, er sieht auch, wohin das Menschengeschlecht nunmehr schreiten muß, wenn es auf dem Wege zu seinem letzten Ziele bleiben und nicht von demselben abirren oder auf ihm zurückgehen soll. Er kann nicht verlangen, es auf einmal bis zu dem Punkte fortzureißen, der etwa ihm in die Augen strahlt; es kann seinen Weg nicht überspringen: er hat nur zu sorgen, daß es nicht stille stehe und daß es nicht zurückgehe. In dieser Rücksicht ist der Gelehrte der Erzieher der Menschheit.

Aus Johann Gottlieb Fichte, Über die Bestimmung des Gelehrten, Vorlesungen, Jena 1794

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