Das Zitat der Woche
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Über die Geschichte als Funktion unserer Gegenwart
Herbert Lüthy
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Die Versuchung ist gross, die Seite zu wenden und zu sagen: eine neue Epoche hat begonnen, und was war, ist abgetane und vergangene Vorzeit – morgen fahren wir in den Weltraum. Doch leider wird uns die Flucht aus der Geschichte in den Weltraum versagt sein, weil wir zuvor den Weltraum in unsere Geschichte reissen.
Zu wissen, wie es einst gewesen ist, das könnten wir uns zur Not ersparen, obwohl wir dabei unendlich viel an Einsicht und Tiefe des Erinnerns verlören. Doch zu wissen, wie es gekommen ist, den Prozess zu begreifen, den wir selbst weiterführen müssen, das können wir uns nicht ersparen, ohne uns selbst mit moralischer und physischer Blindheit zu schlagen.Worum es sich handelt, wird uns sogleich klar, wenn wir das Schlagwort von der unbewältigten Vergangenheit bedenken, das wie ein Gespenst in unserer Welt umgeht und sie daran hindert, aus den Katastrophen der Geschichtslüge in die heitere Geschichtslosigkeit des Wirtschaftswunders überzusiedeln. Denn die ganze unbewältigte Vergangenheit ist heute gegenwärtig als unbewältigte Gegenwart.
Wie der einzelne Mensch, so ist auch jede menschliche Gemeinschaft nicht mit sich im reinen, wenn sie mit ihrer Vergangenheit nicht im reinen ist. Und keiner Generation ist es erlassen, die Vergangenheit neu zu bewältigen, um aus ihr die Zukunft gestalten zu können. ■Aus Herbert Lüthy, Geschichte als Funktion unserer Gegenwart, in: Wege zur neuen Wirklichkeit, Vortragsreihe, Verlag Hallwag Bern 1960
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